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2. Plan

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Wir sagten Sofia nichts von ihrer drohenden Abschiebung, doch ich bemerkte, wie auch sie zunehmend unruhig wurde. Sofia war damals schon ein kluges, sensibles Mädchen. Sie schien das Unausgesprochene mit ihren kindlichen Sinnen wahrzunehmen, ohne es aber in Worte fassen zu können. Sie spürte die Kluft zwischen dem Schein, den ich für sie aufrechterhielt, und meiner emotionalen Wirklichkeit, und das machte sie aggressiv. In Momenten, in denen sie früher diskutiert oder nachgefragt hätte, schrie sie. Auch mit ihrer Zuneigung zu ihrem kleinen Halbbruder Philip schien es in dieser Phase vorbei zu sein. Statt ihn wie sonst immer liebevoll zu umsorgen und mit ihm zu spielen, brüllte sie ihn einfach an, oder versteckte sich in ihrem Zimmer.

Mein Plan stand fest. Unterzutauchen war die einzige Lösung. Es war mir egal, dass ich dabei die Grenzen der Legalität überschreiten würde, und Raimund war es auch egal. Für uns beide waren die Kinder immer das Wichtigste gewesen. Alles andere war Nebensache. Da durfte uns auch kein Gerichtsbeschluss in die Quere kommen, schon gar nicht der eines Richters, der sich offensichtlich nur sehr oberflächlich mit dem Fall befasst hatte. Sofia musste das Recht haben, bei uns zu bleiben, bei mir, Raimund und ihrem Halbbruder Philip, den sie doch immer zärtlich geliebt hatte.

Der 24. Juli rückte immer näher. Einen Plan zu erstellen, war das eine, aber ihn auch umzusetzen, war dann doch noch einmal ein großer Schritt, besonders da der Plan aus der Verzweiflung geboren war. Ich war nervös. Wir waren alle nervös. Doch es half nichts. Wir mussten handeln.

Wieder saß ich mit Raimund an unserem Wohnzimmertisch. Die Kinder hatten wir schon zu Bett gebracht und nun grübelten wir. Wir hatten die Fenster geschlossen und die Vorhänge zugezogen, und wir sprachen instinktiv leiser als sonst, ohne uns dessen richtig bewusst zu sein.

»Wohin gehen wir?«, fragte ich.

Raimund nickte. Das war der Punkt. Eine Antwort hatte er auch nicht parat.

»In ein Hotel?«

Raimund dachte nach.

»Zu Freunden?«

»Wem können wir das zumuten, wenn uns die Polizei auf den Fersen ist?«, sagte er.

»Genau. Und wer hält dann dicht?«

»Ich nehme jedenfalls Urlaub«, sagte er.

Damit stand unversehens die Frage im Raum, wie lange unsere Flucht dauern würde. Dieser Frage wollten wir uns jetzt nicht stellen. Es ging vorerst um das Notwendigste. Hier konnten wir nicht bleiben. Wohin sollten wir gehen? Alles andere würde sich finden. Das Gefühl, das Richtige zu tun, gab uns Hoffnung, dass diese Episode bald vorbeigehen würde. Mir wäre es am liebsten gewesen, ein Versteck in der Nähe unseres Hauses zu finden, doch da gab es ein Problem. Wegen einer Unterschriftenaktion, die Freunde zu meiner Unterstützung organisiert hatten, war die Sache zuerst in die Regionalmedien gelangt, und schließlich waren auch die großen Tageszeitungen und das Fernsehen auf uns aufmerksam geworden. Nachdem der erste Beitrag einer überregionalen Tageszeitung erschienen war, meldete sich Ludwig bei mir. Er hatte mich einfach im Telefonbuch gesucht, war auf meine Tante gestoßen und über sie zu mir vorgedrungen. Ludwig betrieb eine kleine Presseagentur, die sich auf Boulevardthemen spezialisiert hatte und laut ihrer Homepage Medien wie »Bild«, den Schweizer »Blick«, die britische »Sun« und »Österreich« mit Recherchen und Beiträgen versorgte.

»Wir sollten zusammenarbeiten«, sagte Ludwig mit seiner rauchigen Stimme. »Ich kann Ihnen helfen. Ich habe einige Erfahrungen mit derartigen Fällen. Ich hatte einen ähnlichen, bei dem es um Kolumbien ging.«

»Was wollen Sie dafür von mir?«, fragte ich.

»Nichts«, sagte er. »Ich bekomme die Storys und Sie die Öffentlichkeit. Sie haben das letzte Wort. Ich tue nichts, das Ihnen schaden könnte.«

Ich war völlig ahnungslos in diesen Dingen, doch ohne zu wissen, warum, hatte ich das Gefühl, dass es Ludwig ehrlich mit mir meinte. Vermutlich funktionierte sein Geschäftsmodell wie die meisten auch nur, wenn er ehrlich war. »Wir können es ja versuchen«, sagte ich.

Von da an hatte ich einen Medienprofi an meiner Seite, der abgebrüht war und gleichzeitig tatsächlich sorgsam mit der medialen Seite meines Schicksals umging. Das bedeutete aber auch, dass unsere Gesichter landesweit bekannt wurden. Die Polizisten würden uns umso eher erkennen.

Es machte mir Mut, dass wir mit unserem Problem nicht allein waren. Trotzdem stieg der Druck zu Hause stetig, bis ich es nicht mehr aushielt. »Wir machen Urlaub im Waldviertel«, entschied ich, nachdem ich einen Tag lang mit summendem Kopf im Haus auf und ab gelaufen war, und die Stimmen der Kinder sich mit der Intensität von Sirenen in mein Bewusstsein gebohrt hatten.

Ein paar Tage am Land zwischen den dichten Wäldern und den Äckern weit nördlich der Donau würden uns allen gut tun. Wir würden Kraft tanken, für den 24. Juli und für alles, was danach kommen würde. Etwas zu planen, war mir zudem schon immer außerhalb meiner vertrauten Umgebung am leichtesten gefallen. »Vorsorglich verwischen wir schon einmal unsere Spuren«, sagte ich zu Raimund. Das bedeutete, dass wir einen anderen Wagen und andere Handys brauchten und von nun an kein Plastikgeld mehr verwenden durften.

Ich packte zwei riesige Koffer. Zwar war ich es gewohnt, uns auch auf längere Urlaube vorzubereiten, aber diesmal war die Situation eine andere. Dieser Urlaub bedeutete den Anfang einer möglicherweise langen Flucht. Es waren nur noch wenige Tage bis zum 24. Juli, und ich hielt es für möglich, dass wir dazwischen nicht mehr nach Hause zurückkehren würden.

Der Moment des Packens erschien mir wie eine Ewigkeit. Ich konnte nicht anders, als beim Zusammenlegen der Wäsche ständig an Sofias Hemdchen und Pullovern zu schnuppern. Mich überkam immer wieder das Gefühl, als wären beide Koffer nur für sie, als wäre sie schon erwachsen geworden und dabei, von zu Hause weg zu gehen, hinaus in die weite und gefährliche Welt. Zugleich beschlich mich die Besorgnis, unser Haus vielleicht für immer verlassen zu müssen. Doch ein Entschluss, der aus der Verzweiflung geboren ist, entwickelt eine seltsame Kraft des Faktischen. Weil ich keine Alternativen sah, fühlte sich mein Plan wie Schicksal an, und alles, was mir blieb, war, dabei die Haltung zu bewahren.

Wir fuhren zu einem hübschen kleinen Hotel in der Nähe des Ottensteiner Stausees, in dem wir ein großes Familienzimmer hatten und von dem aus wir Bootsfahrten, Radfahrten und Ausflüge zu den Mohnfeldern machen konnten. Ein guter Ort für Kinder. Sie entspannten sich ein wenig. Raimund und ich sorgten für Beschäftigung. Wir genossen unser gefährdetes Familienglück in vollen Zügen. Ich kannte das Ablaufdatum, doch um nicht daran zu denken, stürzte ich mich umso mehr in den Moment und genoss die Tage wie schon lange nicht mehr. Es lag eine merkwürdige Leichtigkeit darin, alles hinter sich zu lassen, das alte Leben, das alte Zuhause, und auch die schreckliche Verpflichtung, Sofia den Behörden zu überlassen.

Sofia lernte wieder lachen. Ihr zuzusehen, wie sie auf der Wiese in der Sommersonne herumtollte und in ihren Kinderfantasien versank, löste in mir zum ersten Mal seit Langem wieder ein kleines Glücksgefühl aus. Sie so zu sehen, gab mir Kraft. Sie plauderte mit den Schmetterlingen und Hummeln und tänzelte durch das hohe Gras. Sie war abgelenkt und zufrieden, ganz anders als noch vor wenigen Tagen in unserem Haus in Berndorf, und ihre Ruhe strahlte auf uns alle ab.

Das war die eine Seite. Die andere holte mich nachts in meinen Träumen ein. Obwohl es nur ein Kurzurlaub war, fühlte ich mich jetzt schon wie eine Untergrundkämpferin. Bisher hatte ich solche Geschichten nur aus Büchern und dem Kino gekannt. Raimund und ich hatten unsere Handys zu Hause gelassen und uns stattdessen Wertkartenhandys zugelegt. Die neuen Nummern hatten wir nur ausgewählten Menschen gegeben. Menschen, denen wir zu hundert Prozent vertrauten. Das waren meine Mutter, meine beste Freundin, meine Freundin Karoline, die ein ähnliches Schicksal hatte wie ich, und meine neue Anwältin Astrid.

Wir verwendeten unsere Bankomatkarten nicht mehr. Raimund hatte auch ein neues Auto besorgt. Jetzt fuhren wir einen silbernen Škoda.

Als mein neues Wertkartenhandy zum ersten Mal läutete, war unsere Anwältin Astrid dran. Dass wir trotz unserer inzwischen erschöpften finanziellen Möglichkeiten überhaupt eine Anwältin hatten, verdankten wir Ludwig. Er brachte mich mit dem Verein »helphilft« in Kontakt, dessen Obmann Christian war. Christian engagierte sich mit seinem Verein eigentlich in Asylfragen, doch er war bereit, auch für mich etwas zu tun. »Ich kann dir eine Anwältin besorgen«, sagte er. »Das ist das Erste, was du jetzt brauchst.«

»Mein Budget ist inzwischen leider äußerst begrenzt«, sagte ich. »Besser gesagt, es ist gar nicht vorhanden.«

»Mach dir darüber erst einmal keine Gedanken«, sagte Christian. »Das kriegen wir schon irgendwie hin.«

Obwohl mein Vertrauen der Welt gegenüber in den letzten Jahren beträchtlich gesunken war, hatte ich auch bei Christian von Anfang an das Gefühl, in guten Händen zu sein. Dasselbe galt auch für Astrid. Sie war eine drahtige Frau mit braunen Haaren in mittleren Jahren, die abwinkte, als ich bei unserem ersten Treffen das heikle Thema Honorar ansprach. »Jetzt sehen wir einmal zu, dass deine Sache wieder in Ordnung kommt«, sagte sie.

Sie sagte, dass sie für den Verein »helphilft« teilweise auch ehrenamtlich arbeitete, jedenfalls wollte sie die finanziellen Fragen vorerst mit Christian klären. Sie hatte auch die Kommunikation mit meiner neuen italienischen Anwältin übernommen und versorgte sie mit den nötigen Informationen. Das machte mir das Leben leichter. Ich war ihr dankbar dafür.

»Wie geht es euch?«, fragte sie am Telefon.

»Wir genießen das Leben, so lange es geht«, sagte ich. »Ein Ablaufdatum macht das Glück womöglich noch intensiver. Komisch eigentlich.«

Ich wusste, dass ihr Anruf nur bedeuten konnte, dass das Ablaufdatum schon sehr nahe gekommen war. Ich hatte Lust, mit ihr über den Sommer zu plaudern, über das Wetter im Waldviertel, über Sofia und die Hummeln, und darüber, wie der kleine Philip die Tage genoss. Als könnte ich unser kleines, bescheidenes, intensives Glück dadurch in alle Ewigkeit ausdehnen.

Astrid zerstörte diese Illusion jäh. »Doris«, sagte sie, »RTL will die Kindesabholung am 24. Juli filmen. Die haben gerade bei mir angefragt.«

»Was?«

Das Anliegen des Fernsehsenders wunderte mich nicht. Ich war in den vergangenen Monaten kein Fernsehprofi geworden, aber ich hatte immerhin einen klaren Eindruck davon bekommen, wie diese Welt funktionierte. Mutterliebe war ein Quotenbringer. Eine Frau, der die Behörden ihre Tochter wegnehmen wollten, eine weinende Tochter, die von Polizisten fortgetragen werden sollte, das funktionierte. Umso mehr, wenn diese Tochter so ein hübsches Mädchen wie Sofia war. Ich fand das nicht einmal zynisch. Ich hatte mich oft genug selbst dabei ertappt, wie ich betroffen solche Geschichten im Fernsehen verfolgte, ohne mich zu fragen, wie sie eigentlich zustande gekommen waren. Doch jetzt hatte ich ein ganz anderes Problem. »Woher wissen die davon?«, fragte ich.

»Ihr seid eine öffentliche Familie geworden«, sagte Astrid. »Damit musst du leben.«

Sie hatte recht. Ich hatte selbst dazu beigetragen, aus dem Gefühl heraus, von den Behörden ungerecht behandelt zu werden, und mir eine möglichst breite Unterstützung holen zu müssen. Ich hatte dabei wissentlich meiner Tochter einen Teil ihrer gesunden Anonymität genommen. Aus Notwehr zwar, aber das änderte nichts am Effekt. Ich hatte deshalb ein schlechtes Gewissen, aber nun hatte ich mich eben darauf eingelassen und konnte mich nicht darüber beschweren, wenn mir dieses neue Anliegen des Senders so schwer im Magen lag. Aber irgendwo war es mit der Öffentlichkeit doch zu viel.

»Das geht nicht«, sagte ich zu Astrid.

Als wir aufgelegt hatten, betrachtete ich den dunkelblauen Abendhimmel, der aussah, als würde nie wieder eine Wolke da oben stehen, und als würde es für immer Sommer bleiben, ein milder, glücklicher Sommer, mein Leben lang, und dann Sofias Leben lang, und das Leben ihrer Kinder lang, die sie vielleicht einmal haben würde. Ich stützte meine Hände auf die Knie, als ich mich erhob. Langsam ging ich nach hinten in den Garten, wo Raimund unsere Badesachen zum Trocknen aufhängte. Philip saß im Gras und spielte mit ein paar bunten Wäscheklammern.

Raimund hatte in der Stille des tiefen Waldviertler Sommers mein Telefon bis nach hinten läuten gehört. Er sah mir ernst in die Augen, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. »Wer hat angerufen?«, fragte er.

»Es sieht so aus, als wäre es jetzt fix«, sagte ich zu ihm. »Wir können nicht mehr zurück.«

Wir sahen beide Philip an. Er hielt eine gelbe Wäscheklammer in den Händen, und sie schien ihn mehr zu faszinieren als alles Spielzeug, das wir ihm je geschenkt hatten.

»In Ordnung«, sagte Raimund.

Er wollte die Erklärung gar nicht wissen. Er nahm Philip auf den Arm und trug ihn hinein. »Wir könnten heute draußen essen«, sagte er.

Ich nickte. Gedankenverloren folgte ich ihm. Ich wusste nur zu genau, was uns drohte, wenn wir heimkehren würden. Medienleute ließen sich nicht so einfach abschütteln. Wer sich mit ihnen einließ, gab die Hoheit darüber, was sie aus einem machten, ab. Wenn wir Pech haben, werden sie vor unserem Haus in Berndorf auf uns warten, dachte ich, mit ein bisschen Pech verraten uns die Journalisten noch an die Polizei. Aber eine Kindesabholung wird es jedenfalls nicht geben. Nicht mit uns.

Jetzt war es gut, dass wir unsere Vorkehrungen getroffen hatten. Als ich mit Sofia und Philip am nächsten Morgen aus dem Haus kam, hatte Raimund unsere Sachen schon im Škoda verstaut. Als er losfuhr, wurde mir endgültig klar, dass unsere Reise ins Ungewisse längst begonnen hatte.

Wir fuhren etwa eine Stunde, bis wir unser Ziel erreichten. Ein vierzig Jahre alter grauer Wohnbau. Eine riesige Siedlung mit einem Block neben dem anderen. Als Landmensch fand ich sogar die Grünflächen dazwischen ein wenig deprimierend.

Meine Knie waren weich, als wir ausstiegen, aber nicht, weil ich hier in etwas Neues und Fremdes eintauchen würde. An diesen Gedanken hatte ich mich schon gewöhnt. Bloß gehörte es zu unserem Plan, dass Raimund uns mit Philip vorübergehend verlassen musste. Der 24. Juli stand unmittelbar bevor, und er hatte noch ein paar Vorbereitungen zu treffen.

Als wir uns verabschiedeten, waren wir beide gefasst, obwohl wir nicht wussten, was in den kommenden Tagen geschehen würde. Es wäre auch nicht gut gewesen, wenn ich geweint hätte, weil das Sofia von Neuem verstört hätte. Sie sollte nicht merken, dass es jetzt erst richtig ernst wurde. Wir standen neben dem Auto, als er mich in die Arme nahm. »Wir schaffen das«, sagte er. Es war erstaunlich, wie viel Kraft in diesen oft gebrauchten Worten liegen konnte.

»Ich weiß«, sagte ich, während ich unseren Sohn hochhob. »Pass gut auf dich und Philip auf.«

Sofia war verwirrt. »Wieso fahren wir nicht auch nach Hause?«, fragte sie mich.

»Weil wir beide noch ein wenig Urlaub machen«, sagte ich.

»Und warum bleibt Philip nicht bei uns?«

»Er hilft dem Papa bei der Arbeit.«

Sofia sah mich zweifelnd an.

»Alles ist in Ordnung«, sagte ich.

Sie merkte natürlich, dass nichts in Ordnung war. Im Stiegenhaus roch es ein wenig modrig und nach zu fettem Essen. Wir stiegen in einen Lift mit zwei sich gegenüberliegenden Türen. Es polterte. Die Wohnung, in der uns Bekannte Unterschlupf gewährten, lag im Dachgeschoß. Ein sehr alter Freund meiner Mutter namens Anton stand mit seinem kleinen Hund in der Tür und lächelte ein bisschen unsicher. »Herzlich willkommen«, sagte er, doch mir war auf den ersten Blick klar, dass er mit der Situation leicht überfordert war. So wie wir alle. »Fühlt euch wie zu Hause«, sagte er, hob seinen Hund auf und streichelte ihn.

Die Wohnung bestand aus einem Wohnzimmer, einem Schlafzimmer, einer geräumigen Küche und einem langen Gang. Die Einrichtung war vorwiegend in Weiß gehalten und sehr modern. Es war offensichtlich, dass hier keine Kinder wohnten. Trotz der hellen Einrichtung machten die Dachschrägen die Wohnung enger, als sie eigentlich war.

Sofia war es gewöhnt, ihr eigenes Zimmer zu haben, aber hier stand uns nur ein Bett zur Verfügung. Wir schliefen zusammen darin, und ich war froh darüber. Auf die Art fühlte ich mich weniger dem Schicksal ausgeliefert. Wir kuschelten uns im Bett aneinander. Ich wusste, dass Sofia darauf wartete, dass sich meine Nervosität wieder legen würde. Ich fühlte, dass ich es ihr schuldig war, ruhig zu bleiben, und wartete meinerseits auf eine Nachricht von Raimund.

Der Sommer erreichte in diesen Tagen in ganz Österreich seinen Höhepunkt. Die Tage waren heiß, und nicht einmal nachts kühlte es richtig ab. Das spürte ich auch in der ersten Nacht in der Fremde. Ich konnte lange nicht schlafen, wegen der Hitze und weil ich so aufgewühlt war. Meine Gedanken kreisten um unsere Zukunft und um die Frage, ob unsere Entscheidung wirklich die richtige war. Ich nickte immer nur kurz ein. Doch der tiefe Schlaf, den ich zur Erholung so dringend gebraucht hätte, stellte sich nicht ein. Um fünf Uhr morgens wachte ich auf, weil die Sonne ins Zimmer knallte. Ich öffnete meine Augen und brauchte eine Weile, um mich in meinem neuen Leben auf der Flucht zurechtzufinden.

Niemand würde uns hier finden. Es hätte schon eines kriminalpolizeilichen Einsatzes wie in CSI: Miami gebraucht, um uns hier aufzuspüren. Die Schlampigkeit des Richters machte mir jetzt Hoffnung. Wenn die Polizei auch so arbeitete, dann konnte uns nicht viel passieren. Doch trotz dieser vermeintlichen Sicherheit war an Ruhe nicht zu denken. Durch die Hitzewelle, die gerade über das ganze Land hereinbrach, wärmte sich unser Zimmer schon am Vormittag extrem auf. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht die Fassung zu verlieren. Auch Sofia war unruhig. Ihr war ständig heiß.

»Mama, es ist Hochsommer«, sagte sie. »Ich will hinaus.«

»Der Fernseher hier ist viel toller als unserer«, sagte ich.

»Du willst doch nicht, dass ich so viel fernsehe.«

Wie schlampig die Behörden auch immer arbeiten mochten, es war zu gefährlich für uns, hinauszugehen. Wenn uns jemand sah, würde die Nachricht rasch die Runde machen, dass wir hier waren. Hätte ich damals, als ich mich mit den Medien eingelassen hatte, die weitere Entwicklung der Dinge abgesehen, hätte ich aber wahrscheinlich trotzdem nicht auf ihre Unterstützung verzichtet.

Ich hatte noch immer das Gefühl, dass uns haarsträubende Ungerechtigkeit widerfuhr, und dass es im Prinzip gut war, möglichst viele Menschen darüber zu informieren. Denn so trivial die Welt der Medien auch sein mochte, so sehr folgte sie im Grunde doch einer menschlicheren Logik als die Behörden. Die Medien mochten sich in den voyeuristischen Aspekt eines Falles hineinsteigern, in dem einer Mutter ihre süße kleine Tochter weggenommen wird, und was aus der Mutter und der süßen kleinen Tochter wurde, mochte den Redakteuren und ihren Chefs egal sein. Doch den Menschen, die auf diese Art unser Schicksal miterlebten, war es nicht egal. Sie mussten verstehen, dass es nicht gut war, was hier geschah, dass es nicht richtig war. Vielleicht war ich naiv, aber ich hoffte, dass das die Behörden früher oder später unter Druck bringen würde.

Die Konsequenz davon war jedenfalls, dass wir jetzt nicht hinaus konnten. Ich stellte mich darauf ein, hier in dieser heißen Wohnung noch einige Zeit auszuharren. Den ganzen Tag lang befasste ich mich damit, Sofia bei Laune zu halten, trotzdem konnte ich den Kopf nicht frei bekommen. Da waren diese bohrenden Fragen, die mich in dieser Dachwohnung des Miethauses immer wieder heimsuchten. Warum Sofia? Warum ich? Warum wir?

Unser erster Tag im Versteck war der 23. Juli, der Tag vor der geplanten behördlichen Abholung von Sofia. Er ging nur langsam vorüber. Minuten waren wie Stunden, Stunden fühlten sich wie Tage an. Inmitten der Ängste vor der Zukunft und meiner Erinnerungen an die Vergangenheit holte mich abends ein Anruf aus meiner Lethargie. Ich zögerte, weil ich die Nummer nicht kannte. Ich wusste genau, wem ich die Nummer gegeben hatte, und jeden von ihnen hätte ich an der ihren sofort erkannt. Als ich schließlich trotzdem den grünen Knopf drückte, und die Stimme am anderen Ende erkannte, war ich erleichtert. Karoline. Seit mehr als drei Jahren war sie eine meiner besten Freundinnen. Nachdem sie einige Zeitungsberichte über unseren Fall gelesen hatte, hatte sie mich auf Facebook angeschrieben, und mit der Zeit war unser Kontakt enger geworden.

»Ich wollte dir nur noch viel Glück wünschen«, sagte sie. »Ich kann mir vorstellen, wie das ist.«

»Ich weiß«, sagte ich.

Karoline ist eine Leidensgenossin. Eigentlich hatte sie noch Schlimmeres durchgemacht als ich. Ihr Mann, ein Spanier, hatte sie geschlagen. Zwei Jahre lang hatte sie mit ihrer Tochter in einem Frauenhaus gelebt, nachdem sie von ihm losgekommen war. Weil er sie auch nach der Scheidung nicht in Ruhe gelassen hatte, war sie nach Österreich ausgewandert. Auch sie war von einem Gericht im Heimatland ihres Exmannes wegen Kindesentführung schuldig gesprochen worden, und jetzt kämpfte sie von Österreich aus um ihre Tochter.

Karoline hatte gerade eine Verhandlung hinter sich, und das war auch der eigentliche Grund für ihren Anruf. »Am Ende nahm mich der Richter beiseite«, erzählte sie. »Er vertraute mir an, dass er sich erst kürzlich mit einem befreundeten Kollegen aus Wiener Neustadt über einen ähnlichen Fall beraten hatte.«

Ich hatte erwartet, mich mit irgendeiner staubigen juristischen Facette ihrer Verhandlung befassen zu müssen, für die ich doch keine Aufmerksamkeit aufbringen würde. Doch jetzt schreckte ich auf. Wiener Neustadt? Das Wiener Neustädter Gericht war für mich zuständig. Dort saß der Richter, der Sofia für eine Schülerin gehalten hatte. »Weiter«, sagte ich zu Karoline, die eine Pause eingelegt hatte, wohl damit ich mir der Tragweite ihrer Nachricht bewusst wurde.

»Mein Richter meinte, dass in Wiener Neustadt gerade ein Prozess über eine Kindesrückführung nach Italien anhängig sei«, sagte sie. »Und jetzt kommt es, aber freu dich bitte nicht zu früh. Der Richter aus Wiener Neustadt hat meinem Richter angeblich gesagt, dass er die Kindesabholung jetzt doch nicht vollstrecken will, weil ihm nun ein neues Gutachten vorliegt.«

Meine Stimme überschlug sich. »Aber das muss mein Fall sein«, sagte ich.

»Das glaube ich auch«, sagte Karoline. »Wie viele Verhandlungen mit Italien wird es in Wiener Neustadt wohl geben?«

Hoffnung keimte in mir auf. Ich sah zu Sofia und obwohl sie beschäftigt tat, wusste ich genau, dass sie lauschte. Hatte es sich der Richter vielleicht wirklich anders überlegt? Ich hatte zuletzt zu viele schlechte Nachrichten bekommen, als dass ich so einfach an eine gute glauben konnte. Lag da vielleicht eine Verwechslung vor? Hatte Karoline etwas aus einer Bemerkung ihres Richters herausgehört, das er gar nicht gemeint hatte? Einfach, weil es für mich eine so gute Nachricht gewesen wäre? »Was meinst du mit ›freu dich nicht zu früh‹?«, fragte ich.

»Ach, nur so«, sagte Karoline. »Damit du dann nicht enttäuscht bist. Hast du eine Ahnung, von welchem Gutachten da die Rede sein könnte?«

Natürlich hatte ich das. Ich hatte sofort gewusst, wovon die Rede war. Vor wenigen Wochen hatte ich einen Sachverständigen beauftragt, Sofias seelischen Zustand zu prüfen. Der Psychologe und Psychotherapeut hatte ein langes Gespräch mit ihr geführt und dann ein Gutachten erstellt. Dieses Gutachten war einer der Gründe dafür gewesen, weshalb ich unsere Flucht als unausweichlich betrachtet hatte. »Mit der unter den gegebenen Rahmenbedingungen unvorbereiteten Übergabe des Kindes an den Kindesvater bzw. der zwangsweisen Abnahme kommt es kurzfristig zu einer schweren akuten Belastungsreaktion der Minderjährigen«, schrieb er darin. »Dabei tritt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein gemischtes, ungewöhnlich wechselndes Bild auf. Mit einem anfänglichen Zustand von ›Betäubung‹ entwickeln sich depressive Symptome, Ängste, Ärger, Verzweiflung, Überaktivität und Rückzug, vergleichbar mit einem psychischen Schock, […] sodass sich nicht selten im späteren Lebensalter ab zehntem, elftem oder zwölftem Lebensjahr suizidale Ideen einstellen oder die Minderjährige überhaupt zu einem Suizidversuch oder sogar Suizid provoziert wird. […] Ohne langsame und behutsame, über Monate hinweg vorbereitete Kontaktaufnahme des Kindesvaters mit seiner Tochter wäre die Übergabe der Minderjährigen an den Kindesvater für sie mit einer Naturkatastrophe, einer Geiselhaft oder einer Gefangenschaft vergleichbar, die unweigerlich zu einer schweren psychischen Beeinträchtigung und Traumatisierung führen würde.«

Mir war als ihre Mutter selbst klar genug gewesen, was die Übergabe Sofias an ihren Vater für sie bedeuten würde, doch die Ausführungen des Experten hatten mir Sofias Situation noch einmal eindringlich und in aller Härte vor Augen geführt.

»Wenn der Richter das Gutachten auch nur einigermaßen ernst nimmt, kann er gar nicht anders, als Sofia bei dir zu lassen«, sagte Karoline, nachdem ich ihr von dem Gutachten erzählt hatte.

»Hoffen wir es.«

Nach dem Telefonat lag ich mit Sofia auf der Couch und streichelte ihre blonden Locken. Ich hatte schon beinahe vergessen, wie sich Hoffnung anfühlt. Ein Hochgefühl breitete sich in mir aus, und auf einmal erinnerte ich mich an einen besonders emotionalen Moment ein halbes Jahr zuvor.

Es war der 5. Dezember 2012 gewesen, der Tag vor Sofias sechstem Geburtstag. Ich hatte mich gerade an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt, weil die Urteile aller anderen Instanzen schlecht ausgefallen waren. Der Europäische Gerichtshof hatte tatsächlich meinem Antrag auf vorläufige Aussetzung der Rückführung Sofias stattgegeben. Das Schlimmste war abgewendet.

Es kam mir damals so vor, als wäre in mir ein 3 000 Meter hoher Berg mit einem Mal zu einer gewaltigen Steinlawine zerbröckelt. Ich jubelte laut, dann sperrte ich mich im Badezimmer ein und sprang dort mit Freudentränen in den Augen herum. Danach fühlte ich mich wie neugeboren, als würde mein Blut auf einmal schneller durch meine Adern zirkulieren. Leben erfüllte mich, mein Kopf und meine Schultern waren plötzlich leicht, und jeder Druck war von mir gewichen. Jeder Schritt, den ich setzte, war wie ein Schweben im Weltall, wie das Hüpfen von Astronauten auf dem silbernen Mond.

Für Sofia war dieser Geburtstag mit Sicherheit der schönste ihres bisherigen Lebens. Endlich hatte sie eine Mutter zu Hause, der nicht bei jeder Gelegenheit die Hände zitterten, die nicht ständig mit den Tränen kämpfte, bei jedem Kinderlied, bei jeder Werbung für Kindernahrung im Fernsehen, bei jeder Erinnerung an etwas, das mit ihren Kindern zusammenhing. Schon allein der Anblick eines fremden Kinderwagens hatte mich in den vielen Prozessjahren traurig gemacht, weil ich mich immer fragte, warum andere Mütter und Kinder ihr Glück unbekümmert genießen durften, während das unsere ständig bedroht war. Jeder Waldweg hatte mich auf bedrückende Weise an einen Familienspaziergang in fröhlicheren Tagen erinnert, jedes Krankenhaus an die Geburt, und in jedem Sonnenstrahl hatte ich das Leben meiner Kinder gesehen, ihr Heranwachsen und die Wärme ihrer Körper gespürt. Nachdem ich den positiven Bescheid des Europäischen Gerichtshofs bekommen hatte, erfüllten mich solche Assoziationen für kurze Zeit nicht mehr mit Angst, sondern mit reiner Freude. Unter solchen Umständen war es ganz anders, die Tortenkerzen anzuzünden, die Torte zu schneiden, zuzusehen, wie sich Sofia über die Geschenke freute.

»Bist du jetzt wieder fröhlich, Mama?«, fragte sie an ihrem Geburtstag.

»Ja, das bin ich. Mein Schatz.«

»Wirklich?«

»Ich habe gestern einen Brief bekommen, in dem es heißt, dass alles gut ist. Diesen Brief hat ein europäischer Richter geschrieben. Europäische Richter sind viel stärker als zum Beispiel österreichische Richter, weil Europa größer ist als Österreich. Was ein europäischer Richter sagt, das gilt.«

Das war natürlich ein Irrtum.

»Sind die Richter in Österreich böse?«, fragte Sofia.

Ich wusste keine Antwort und wunderte mich darüber, wie viel Sofia aufgeschnappt hatte, und wie viel sie bereits über unsere Situation wusste. Einmal würde ich ihr die ganze Wahrheit anvertrauen müssen, das war mir klar. Sie wusste damals nur, dass sie noch einen anderen Papa in einem anderen Land hatte, an den sie sich nicht erinnerte, den sie aber eines Tages kennenlernen würde.

Raimund beantwortete ihre Frage statt mir. »Böse sind die österreichischen Richter nicht«, sagte er. »Bloß sind die Gesetze so kompliziert, dass die Richter manchmal verwirrt sind.«

Damals ahnte ich noch nicht, dass ich ein paar Monate später mit Sofia allein auf der Flucht in dieser Dachgeschoßwohnung sitzen würde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte seine vorläufige Aufhebung der Vollstreckung inzwischen wieder rückgängig gemacht.

Nun war ich wieder mit einer guten Nachricht konfrontiert, und wagte es kaum, ihr Glauben zu schenken. Ich griff nach dem Handy und wählte Raimunds Nummer. Ein Gespräch mit ihm konnte die Sache wirklich wahr werden lassen, so kam es mir zumindest vor.

Doch auch er war misstrauisch. »Ich weiß nicht recht«, sagte er. »Bitte verlasst vorläufig auf keinen Fall das Versteck. Solange wir keine offizielle Bestätigung dafür haben, bleiben wir genau bei unserem Plan.«

Nachdem er mich danach Karolines Bericht ein zweites und ein drittes Mal wiederholen hatte lassen, erkannte ich an seiner Stimme, dass auch er zuversichtlicher und hoffnungsvoller geworden war.

Auch in der zweiten Nacht in unserem Versteck im Dachgeschoß, kaum 50 Kilometer von unserem Zuhause entfernt, konnte ich nicht schlafen. Ich lag in Gedanken neben Sofia und schwitzte wie im Fieber. Erinnerungen an die Trennung von Raffaele und an die Flucht aus Italien kamen in mir hoch. Zuversicht und Zorn rangen in meinem Herzen um die Vorherrschaft. Im Halbschlaf dämmerte ich dem 24. Juli entgegen, jenem Tag, an dem mir die Republik Österreich gemäß letzter mir vorliegender Information mittels Amtsgewalt meine Tochter wegnehmen wollte, um sie nach Italien in die Fremde zu schicken.

Ich öffnete die Augen, und mein erster Blick wanderte direkt zu Sofia, die an mich gekuschelt friedlich zu meiner Rechten schlief. Sie war noch da. Gott sei Dank. Der Termin für die Abholung war für fünf Uhr morgens festgelegt worden. Um sechs Uhr schickte ich Raimund eine SMS und fragte ihn, ob schon jemand gekommen sei.

»Alles ruhig«, schrieb er zurück. »Anscheinend haben sie es sich wirklich anders überlegt. Ich lege mich wieder hin.«

Vielleicht wird jetzt wirklich alles gut, dachte ich. Für immer.

Nicht mit uns

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