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Das falsche Profil

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Roman

von

Doris Woggon

Herausgeber:

Gedankenflut

D. Woggon

Kajedeich 28

26386 Wilhelmshaven

buchseite@email.de

Lektorat: Dr. Anne Diefenbach



Prolog Ein leises Klopfgeräusch, ähnlich, als ob man über Platten fährt. War ich wach oder träumte ich? Plopp – plopp – plopp. Dazu Lichtspiele, die, in den gleichen Abständen wie das Klopfen, hell und wieder dunkel wurden. Ich hatte große Mühe, meine Augen zu öffnen, sie waren schwer wie Blei und erlaubten nur ein kurzes Blinzeln, bevor sie wieder zufielen, mein Kopf hämmerte. Doch selbst durch meine geschlossenen Lider nahm ich das Wechselspiel der gespenstischen Schatten wahr. Wo war ich? Mir war so schlecht und ich zitterte am ganzen Körper. Ich vernahm Stimmengewirr und fühlte einen harten, kalten Untergrund. Es roch fast unerträglich nach Benzin.

»In Wilhelmshaven wurde die Leiche der 42jährigen Linda Wagner gefunden«, ertönte eine Stimme, die scheinbar aus dem Radio kam.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Hatte die Stimme wirklich »Linda Wagner aus Wilhelmshaven« gesagt oder hatte ich Wahnvorstellungen? Das musste ein Albtraum sein, aus dem ich gleich erwachen würde.

»Ich bin Linda Wagner und ich lebe«, wollte ich schreien. Aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich brachte keinen Ton raus. Unfähig, mich zu bewegen, versuchte ich mich an die Geschehnisse zu erinnern und meine Gedanken zu ordnen. Es gelang mir nicht. Meine Erinnerung zeigte mir stattdessen bruchstückhafte Sze-nen eines Horrorfilmes, die sich so echt anfühlten wie die Handschellen an meinem Handgelenk. Nein! Ich erschrak, Panik überfiel mich: Das war gar kein Horrorfilm. Ich riss an meinem Arm und mir wurde schlag-artig klar, dass genau das meine Situation war. Ich fühlte die Handschellen an meinem Gelenk, man hatte mich wie ein Tier angekettet.

Ich versuchte wieder zu schreien, aber es kam immer noch kein Ton aus meiner Kehle, Todesangst ergriff mich. Ich erinnerte mich an die letzten Szenen in meinem Haus. Da waren Schritte, ich sah eine dunkle, große Gestalt auf mich zukommen und es gab einen Kampf. Ich weiß noch, wie ich zu Boden fiel. An das, was dann geschah, habe ich keine Erinnerung mehr. Ich versuchte, meine Augen wenigstens einen Spalt zu öffnen, eine totale Finsternis umgab mich. Nur kurz tauchten immer wieder gelbliche Lichter auf, die sofort darauf wieder verschwanden. War es Nacht? Ich hatte keine Orientierung, kein Zeitgefühl mehr. Wie lange hatte ich geschlafen, wo war ich und warum wurde ich entführt? Ich war nicht reich, bei mir gab es nicht viel zu holen. Meine Augen brannten, mein Mund war völlig ausgetrocknet und der schale, pelzige Geschmack brachte mir die grausame Erinnerung zurück, dass man mir eine Flüssigkeit eingeflößt und mich betäubt hatte. Ich spürte wieder diese bleierne Schwere meines Körpers, und obwohl ich alles wahrnahm, schien es doch so weit weg. Ich hörte zwei Männer, die sich nun laut und aufgebracht in einer mir völlig fremden, arabisch klingenden Sprache unterhielten. Die Stimmen wurden leiser und verstummten schließlich ganz. Ich hörte nur noch das monotone Surren des Motors und schlief kraftlos darüber ein.


Wie es begann Es war Freitag, der 06. Februar 2009. Im Treppenhaus stieß ich mit ihm zusammen. Eine imposante Gestalt, der Körper durchtrainiert, groß, dunkle Haare und fast schwarze Augen. Im allerersten Moment eine attraktive Erscheinung. Ich kam gerade von einem Einsatz als mobile Tierärztin zurück. Frau Behrends, die Katzenmutti von Emmi, hatte mich gerufen. Dick und schwerfällig, wie Emmi ist, war sie hinter das Sofa gerutscht und hatte sich ein Bein ausgerenkt. Mit zwei, drei Handgriffen war das im Nu erledigt. Ich schrieb Frau Behrends noch einen Essensplan für Emmi auf.

»Wenn Ihr Schatz noch etwas länger leben soll, müssen Sie sich unbedingt daran halten«.

Erschrocken sah sie mich an, gelobte Besserung und umarmte mich zum Abschied, als ob ich ihrer Emmi zehn weitere glückliche Jahre geschenkt hätte. Darum liebe ich meinen Beruf so sehr. Ich mache die Menschen glücklich, indem ich ihren Tieren helfe. Als ich dann schließlich durch das kalte Treppenhaus ging, stieß ich mit ihm zusammen.

»Melli«, rief er aus und sah mich mit aufgerissenen Augen an.

»Tut mir leid, mein Name ist nicht Melli, Sie scheinen mich zu verwechseln.«

Sollte das etwa eine Anmache sein, dachte ich mir.

»Melanie«, stieß er mit heiserer Stimme nochmals hervor und ignorierte offensichtlich, was ich sagte. Seine schwarzen Augen schienen mich zu durchbohren und sein Blick glitt an meinem Körper hinunter.

»Bitte entschuldigen Sie«, versuchte ich nun mit Nachdruck zu sagen, denn seine Blicke hatten nun auf einmal etwas Bedrohliches. Er wirkte nicht mehr attraktiv, sondern eher beängstigend auf mich.

»Ich bin nicht Melli oder Melanie«.

Mit schnellen Schritten ging ich zu meinem Auto und ließ ihn fassungslos zurück. Im Rückspiegel konnte ich beobachten, dass er zum Straßenrand lief und hinter mir hersah. Ich malte mir aus, wie er sich mein Kennzeichen aufschrieb, um mich aufzuspüren. Bei dem Gedanken lief mir ein kalter Schauer über den Rücken und ich fuhr unwillkürlich schneller, als ich es üblicherweise tat und vor allem, als es erlaubt war.



Seit gut 3 Jahren bewohnte ich nun schon das kleine Haus am Hafen von Rüstersiel, einem alten Stadtteil von Wilhelmshaven mit dorfähnlichem Charakter. Durch Zufall erfuhr ich von dem Verkauf. Ich hatte mich gerade von meinem Mann getrennt und war auf der Suche nach einer neuen Bleibe. Eines Tages rief ein unbekannter Mann an und erzählte, dass er ein Objekt gefunden hatte, das meinen Vorstellungen entsprach. Merkwürdig, ich hatte niemanden von meinen Plänen erzählt, und wie sich herausstellte, hatte sich der alte Mann schlicht und einfach verwählt. Da ich aber schon immer an Schicksal glaubte, musste ich dieses Haus sehen und konnte den Mann überreden, einen Termin mit mir zu vereinbaren. Noch am gleichen Tag sah ich es: alt, ungepflegt und restaurationsbedürftig. Aber es lag in meiner Preiskategorie und ich hatte mich vom ersten Moment an in dieses kleine, zurückliegende Backsteinhaus mit dem roten Dach und den grünen Fensterläden verliebt. Ein richtiges Friesenhaus mit einem schicken Vorgarten. Das Grundstück mit seinem alten Baumbestand grenzte im Hof direkt an den Deich, nach vorne raus hatte es einen kleinen Erker mit einem himmlischen Blick auf den malerischen Hafen.

»Das Haus ist von 1938«, unterbrach der alte Mann meine Gedanken.

»Mit ein wenig handwerklichem Geschick kann man ein Schmuckstück daraus machen«, fuhr er fort.

Ich konnte es mir lebhaft vorstellen. Ob ich überhaupt handwerkliches Geschick hatte, wusste ich allerdings nicht. Während meiner Ehe konnte ich es nicht ausprobieren, wir lebten in einer klassischen Rollenverteilung und mein Mann war für Veränderungen nicht zu haben. Ich hatte aber jede Menge Ideen und sah in Gedanken schon das fertige Schmuckstück vor mir.

»Ich nehme es«, hörte ich mich sagen.

Zum ersten Mal traf ich eine Entscheidung, die nur mich anging, und mein Herz schlug so wild, dass es bis zu meinen Schläfen hart pochte. Es dauerte jedoch nicht lange, bis mich erste Zweifel überfielen. Was wusste ich schon? Von Bausubstanz hatte ich keine Ahnung. Ich ging am nächsten Tag nochmals mit einem befreundeten Architekten zum Haus, er bestätigte mir: zwar viel Arbeit, aber dennoch eine solide Substanz.

Schon als ich in die kleine Straße am Hafen einbog, überkam mich ein Gefühl der tiefen Dankbarkeit und der absoluten Entspannung. Ich fühlte mich so wohl in meinem Zuhause. Jede Ecke, jeder Winkel war nach meinem Geschmack gestaltet und liebevoll eingerichtet worden. Das Haus hatte vier Zimmer, eine kleine aber geräumige Wohnküche mit einem großen alten Holztisch und meinem absoluten Lieblingsplatz, einen Erker mit Kamin und von dort einen traumhaften Blick zum Hafen. Mit warmen Orangetönen und der gemütlichen Einrichtung hatte ich den Spagat geschafft, das Haus urgemütlich und trotzdem absolut schick zu gestalten. Die Renovierung des Hauses habe ich in Eigenregie gemeistert. Ohne jemals zuvor auch nur einen Hammer oder Tapetenkleister in der Hand gehabt zu haben. Es war ein Riesenspaß und ein superschönes Gefühl, etwas nach seinem eigenen Geschmack zu gestalten, ohne auf jemand anderen Rücksicht nehmen zu müssen. Na ja, etwas Hilfe hatte ich schon. Zum Beispiel mussten das Dach, die Heizung und alle elektrischen Leitungen neu gemacht werden, das konnte ich natürlich nicht alleine. Ich schloss mich aber einer »Arbeitsgemeinschaft« an. Den Anschub dafür bekam ich von dem Herrchen eines meiner Patienten. Er gehörte diesem Kreis schon lange an und schlug mir vor, ebenfalls beizutreten. Das war wirklich ein Glücksfall. Diese Arbeitsgemeinschaft bestand aus vielen Leuten verschiedenster Berufe, die alle in einem Pool waren und sich gegenseitig halfen. Wobei Hilfe zur Selbsthilfe das oberste Gebot war. Kam man aber gar nicht weiter, war immer jemand zur Stelle. So waren immer Dachdecker, Fliesenleger, Maler und Lackierer, aber auch Steuerberater, Rechtsanwälte, Leihomas und viele andere mit dabei. Ein bunt gemischter Haufen, der über das Internet vernetzt war. Ich brachte mich mit ein, indem ich anbot, für das Wohl der Tiere zu sorgen. Und ich konnte noch etwas anderes sehr gut. Ich konnte zuhören und trösten. Auch das wurde schon hin und wieder gebraucht. So haben wir zum Beispiel einen 40-jährigen namens Paul, unseren Heizungsinstallateur. Paul ist in seiner Art eher zurückhaltend und hat etwas fast Kindliches an sich. Seine Mutter leidet an Altersdemenz. Er hängt sehr an ihr und kümmert sich rührend um sie, ist aber auch manchmal am Rande der Verzweiflung. Gerade die Phasen, in denen sie ihren Sohn nicht mehr erkennt oder ihn beschimpft und des Diebstahls bezichtigt, machen ihm sehr zu schaffen. Dann werde ich gerufen und entlaste ihn mal für ein paar Stunden. Wir haben wirklich alle etwas davon. Jeder gibt das, was er geben kann und keiner reizt die Situation aus. Tolle Leute sind das! Na ja, bis auf zwei Personen, die nicht immer sehr einfach sind. Da gibt’s zum einen Werner, einen etwas fettleibigen älteren Herrn, der sich für unwiderstehlich hält und gerne anzügliche Bemerkungen macht, die völlig fehl am Platz sind. Bei einer Feier, die wir anlässlich des 10jährigen Bestehens in feuchtfröhlicher Runde begangen hatten, ist er derart aus dem Ruder gelaufen, dass es allen anwesenden Personen hochgradig peinlich war. Und man sagt ja, kleine Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit. Das war dann wohl sein wahres Gesicht. Vulgär, einfach widerlich.

Dann gibt es noch die Frau von Jörg, Angela. Jörg ist der Steuerberater aus unserer Runde, und wenn er nicht verheiratet wäre, wer weiß – wer weiß. Vielleicht hätten wir eine kleine Romanze miteinander, denn wir mögen uns sehr. Er sieht einfach blendend aus, groß, dunkelhaarig, und wenn er mich mit seinen grünlich funkelnden Augen ansah, ging mir schon ein kleiner Schauer durch meinen Körper. Auch seine Art gefällt mir sehr, nicht zu aufdringlich, höflich und humorvoll. Ein toller Typ eben. Seine Frau Angela, eher ohne Interessen – jedenfalls, wenn man von Nageldesign und Mode absieht –, dafür aber sehr besitzergreifend, ist sehr eifersüchtig. Wir haben leider schon so manche Eifersuchtsszene mitbekommen.

»Einen schönen Mann hast du nie für dich alleine«, pflegte meine Mutter immer zu sagen. Und da ist wohl etwas dran. Er zieht die Frauen an, wie die Motten das Licht. Angela bildet sich leider ein, ich sei an ihrem Jörg interessiert. Ich würde niemals etwas mit einem verheirateten Mann anfangen, schließlich habe ich in meiner Ehe Erfahrungen damit gesammelt. Mein Mann nahm es auch nicht so genau und war dem weiblichen Geschlecht sehr zugetan. Einer der Gründe, warum er heute »Ex« heißt.

Als ich schon fast zu Hause war, dachte ich wieder an den Fremden, der mich so eindringlich »Melli« gerufen hatte. Schon bei dem Gedanken an seine schwarzen Augen bekam ich eine Gänsehaut. Kann es ein, dass man einen Doppelgänger hat, der einem wie aus dem Gesicht geschnitten ist? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Es war schließlich nur wenig Licht in dem Treppenhaus. Vielleicht deshalb die Verwechslung. Das beruhigte mich etwas, schließlich wohnte ich alleine in meinem Haus und die Mutigste war ich auch nicht. Ich schalte schon das Fernsehprogramm um, wenn die Durchsage kommt, »dieser Film ist für unter 16jährige nicht geeignet« – und ich war bereits mehr als doppelt so alt. Na ja, ganz alleine wohnte ich nicht in meinem Häuschen. Anton war bei mir eingezogen, nachdem ich mich von meinem Mann getrennt hatte. Anton ist ein Labradorrüde und viel zu gutmütig, um Einbrecher zu verjagen. Im Gegenteil, er begrüßt stets alle Menschen freundlich.

»Du sollst mich doch beschützen«, habe ich ihm oft gesagt. Mit einem herzhaften »Wuff« reagiert er dann und springt freudig an mir hoch. Ich redete mir aber ein, dass er im Ernstfall eingreifen würde, und das beruhigte mich ungemein. Ich fuhr in die Einfahrt und Anton erwartete mich schon sehnlichst. Schnell noch eine Runde mit ihm und dann ab an den Kamin. Hier konnte ich meinen Gedanken freien Lauf lassen. Ich saß gerne dort und genoss die Tatsache, dass ich vieles – wenn auch nicht alles – richtig gemacht hatte in meinem Leben. Es waren mitunter schwere Entscheidungen zu treffen. Meine Scheidung, nach über 15 Ehejahren, das war nicht leicht, oder die Aufgabe meiner Tierarztpraxis. Ich führte meine Praxis direkt in der Marktstraße von Wilhelmshaven mit zwei Mitarbeitern. Aber die Zeiten wurden härter, die Mieten kontinuierlich erhöht und die Lohnnebenkosten brachten mich in manchen Nächten um den Schlaf. Das Geld wurde knapper, man spürte es überall. So beschloss ich eines Tages, meine Praxis aufzugeben und einen mobilen Tierarztservice anzubieten. Der Plan ging auf, meine Mitarbeiterinnen konnte ich bei einem befreundeten Tierarzt unter-bringen, dort führe ich auch heute noch größere Operationen aus und ich habe genug Aufträge, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ich freute mich also auf einen gemütlichen Abend vor dem leise knisternden Kamin, ein gutes Buch und einen leckeren, vollmundigen Rotwein. Ines, meine beste Freundin, hatte mir aus Südafrika einen besonders guten Tropfen mitgebracht. Er stammte aus der bekannten Weingegend Stellenbosch, im Westen Südafrikas in der Nähe von Kapstadt. Nach einem stressigen Tag gönnte ich mir diese dunkelrote Köstlichkeit, die angenehm nach Beeren roch und weich und samtig durch meine Kehle floss. Noch einmal schossen mir kurz die Gedanken durch den Kopf, wie eindringlich mich der fremde Mann mit Melli ansprach. Doch Anton riss mich schnell aus meiner Nachdenklichkeit, er kam mir schon schwanzwedelnd entgegen.

»Ja, mein Großer, nun machen wir eine schöne große Runde, damit du auch auf deine Kosten kommst«. Nach eineinhalb Stunden waren wir beide geschafft und froh, wieder zu Hause zu sein. Der Anrufbeantworter blinkte. Zwei neue Nachrichten, hoffentlich kein Notfall dachte ich mir, ich war echt geschafft an diesem Tag. Der erste Anruf kam von meinem Ex-Mann.

»Hallo Linda, ich würde gerne auf ein Glas Wein vorbei kommen, bist du da«?

Nee, bin ich nicht, dachte ich mir.

Er hatte sich mit unserer Trennung immer noch nicht richtig abgefunden, obwohl es nun schon 3 Jahre her war. Nein, auf ein Gespräch mit ihm hatte ich heute keine Lust mehr. Die zweite Anruferin war Frau Behrends, die Katzenmutti. Sie bat für den nächsten Tag um einen Rückruf. Wenn ich erst am nächsten Tag zurückrufen soll, ist es nicht so wichtig, dachte ich mir. Es geht sicher um den Speiseplan der kleinen Emmi. Ich machte es mir also noch für ein Stündchen vor dem Kamin gemütlich, bis mir die Augen zufielen. Anton ging es scheinbar genauso, er hatte sich in seinem Korb regelrecht eingerollt. Leise schlich ich mich an ihm vorbei nach oben ins Schlafzimmer. Doch in dieser Nacht schlief ich nicht wie gewohnt ein, ich träumte wirres Zeug, immer wieder hörte ich jemanden den Namen »Melli« rufen. Schweißgebadet wurde ich nachts wach, sah eine große dunkle Gestalt auf mich zukommen. Ich rief mich selbst zur Ordnung. Was war denn schon passiert? Ich wurde im Treppenhaus mit einer anderen Frau verwechselt. Na und, dachte ich mir, dass passiert anderen auch und sie machen kein Drama daraus. Warum brachte mich das so aus der Fassung? Am nächsten Morgen stand ich wie gerädert auf. Meine Haare standen kreuz und quer, ein untrügerisches Zeichen einer unruhigen Nacht. Und es sollte nicht die letzte unruhige Nacht gewesen sein. Nach einer heißen Dusche und einem frisch gebrühten Kaffee ging es mir aber schon wesentlich besser. Mein Spiegelbild zeigte mir eine Frau im besten Alter, ich war 42, die an diesem Tag halt ein paar Augenringe mehr als sonst hatte. Was soll´s. Ich sah mich prüfend an, eigentlich fand ich mich noch ganz passabel für mein Alter.

»Immer noch schlank mit strahlend blauen Augen«, sagte Jörg neulich zu mir und fügte hinzu

»Du bist und bleibst eben eine attraktive Frau.«

Das schmeichelt natürlich und aus seinem Mund habe ich es besonders gern gehört. Allerdings hatte Angela, Jörgs Frau, das auch mitgekommen und der Ärger war natürlich vorprogrammiert. Sie machte eine Szene vor allen Leuten – sehr unangenehm, ich mag da gar nicht mehr dran denken. Ich konnte eigentlich nicht verstehen, dass Jörg so ruhig dabei blieb. Man hatte ihm angesehen, dass auch ihm der Auftritt seiner Frau sehr peinlich war. Na ja, nicht mein Problem. Ich zupfte mir meine dunklen Haare ins Gesicht und warf noch einen letzten Blick in den Spiegel. So, genug der Tagträumerei. Der Besuch bei Bauer Renken stand auf dem Programm.


Es war zwar ein sonniger Samstag und eigentlich hatte ich frei. Aber eine seiner Stuten war trächtig und stand kurz vor dem Abfohlen und ich hatte Bauer Renken versprochen, nach dem Rechten zu sehen. Wenn ich die Bauernhöfe abfuhr, um nach dem Großvieh zu sehen, durfte Anton immer mit. Das gefiel ihm. Er sprang mit einem Satz ins Auto und wir machten uns auf den Weg. Nelly, so hieß die Stute, stand tatsächlich kurz vor der Entbindung. Ich untersuchte Nelly ausgiebig.

»Alles im Lot«, rief ich dem Bauern zu.

Nelly zeigte erste Anzeichen, sie fing an zu schwitzen, setzte mehrere kleine Pferdeäpfel ab und war nervöser als sonst. Wie bei einer Kolik lief sie kurze Strecken hin und her und stampfte mit den Hufen kräftig auf das Heu.

»Behalten Sie sie im Auge, ich denke, heute oder morgen ist es soweit. Aber sie bekommt das hin, da bin ich mir sicher.«

Der Bauer kam alleine zurecht, es war ja nicht das erste Fohlen, das bei ihm das Licht der Welt erblickt hatte. Und Nelly war ansonsten kerngesund. Ich konnte mich getrost auf den Weg machen.

»Ich schaue morgen noch mal vorbei«, rief ich und pfiff laut hinter Anton her, der gerade auf der Weide mit Sam, dem Schäferhund des Bauern, herumtollte. Anton kam fast herangeflogen und sprang wieder mit einem Satz ins Auto.

»So, was machen wir zwei denn heute noch?«, sagte ich zu Anton, ich sprach immer mit ihm, als ob er mir antworten würde. Mir fiel Frau Behrends ein, sie hatte ja um einen Rückruf gebeten. Ich rief sie von unterwegs an.

»Hallo Frau Behrends, ich sollte mich noch einmal bei ihnen melden, ist alles in Ordnung mit Emmi?«.

»Ja, ja, mit Emmi ist alles gut«, beeilte sie sich zu sagen. »Aber gestern Abend, nachdem Sie weggefahren waren, hat ein Mann bei mir geklingelt. Er hat mich nach ihnen ausgefragt und gemeint, Sie wären eine Melanie sowie-so.«

Ich erschrak, an diesen Mann hatte ich gar nicht mehr gedacht.

»Was haben Sie ihm gesagt?«, fragte ich wohl eine Spur zu nervös. Frau Behrends entschuldigte sich sofort:

»Es tut mir leid, aber ich habe ihm Ihre Karte gegeben, weil er nicht glaubte, dass Sie mit Vornamen in Wirklichkeit Linda heißen.«

Ihre Stimme klang nun auch aufgeregt. »Ich habe doch wohl nichts falsch gemacht?«

»Nein, nein, es ist alles in Ordnung.«

Schnell verabschiedete ich mich von Frau Behrends und fuhr erst einmal an den Straßenrand. Hm, nun kannte dieser fremde und unheimliche Mann also auch meine Adresse. Was macht man in solch einem Fall? Die Polizei einschalten? Sicher nicht, er hatte mir ja nichts getan, was sollten sie also unternehmen? Ich startete den Motor wieder. Linda reiß dich zusammen, wenn er dich am Tage sieht, klärt sich die Sache sicher auf. In diesem Moment hoffte ich, er würde gleich vor meiner Haustür stehen und auf mich warten. Es war ja noch hell und am Hafen war eine Menge los. So konnte er sich davon überzeugen, dass ich nicht die Gesuchte war, und er würde mich in Ruhe lassen. Nervös bog ich in unsere kleine Straße ein. Von dem Mann aber fehlte jede Spur. Ich ließ Anton aus dem Wagen und schaute mich im Hafen um. Vielleicht stand er da irgendwo, um mich zu beobachten. Aber würde ich ihn überhaupt wiedererkennen? Ja, da war ich mir ganz sicher. Zum einen fällt ein Fremder sofort in unserem Dorf auf und zum anderen war er einfach ein Typ, der nicht zu übersehen wäre. Nachdem ich Anton ins Haus brachte, ging ich noch einmal zum Hafen runter. Dort unten befand sich ein kleines, sehr gediegenes Cafe und die Besitzer kannte ich schon lange. Vielleicht saß er dort? Ich bestellte mir ein Kännchen Tee. Das wurde hier mit Kluntjes und Sahne serviert und vermittelte mir immer das Gefühl, geborgen zu sein. Ich kannte dieses Ritual von zu Hause. Das Teetrinken wurde bei uns zum Ereignis, das man nicht zwischendurch machte, sondern dann, wenn man gemütlich beieinandersaß. Während ich auf meinen Tee wartete, sah ich mich genau um. Aber nichts, keine Spur von diesem Fremden. Na ja, vielleicht hatte sich die Verwechslung aufgeklärt und er dachte schon gar nicht mehr an mich. Ich klönte noch ein bisschen mit Eva und Frank, den netten Café-hausbesitzern und ging dann zum Haus zurück. Anton lag schon im Erker und freute sich, mich zu sehen. So einen treuen Begleiter müsste jeder haben, dachte ich mir. Der AB blinkte wieder, nun hatte ich den Anruf meines Sohnes Kai verpasst. Er war 21 und studierte in Münster.

»Hey Mum, ich muss den Termin absagen, Freddy hat sich gemeldet und wir machen uns heute an den PC.« Mein Sohn wollte am Wochenende eigentlich zum Essen kommen. Aber sein Freund Freddy und er bas-telten an seinem PC und ich verstand, dass ihm das wichtig war. Er brauchte ihn ja für sein Studium. Das Essen konnten wir schließlich nachholen. Ich sah im Vorratsschrank nach. Für mich alleine sollte das reichen, dann musste ich auch nicht mehr einkaufen gehen. Mit ein paar Zutaten zauberte ich mir eine herzhafte Wurst-pfanne, es reichte sogar für zwei Tage. Seitdem ich alleine lebte, kochte ich nicht mehr jeden Tag und war immer froh, wenn ich es auf Vorrat tun konnte. Anton lief nervös hin und her.


»Was ist mit dir, Anton? Musst du noch mal raus? Ich habe heute eigentlich keine Lust mehr auf eine große Runde«, sagte ich mehr zu mir selbst.

Unser Garten war so schön groß und ringsherum eingezäunt, Anton hatte da genug Auslauf. Er hatte heute schon beim Bauern reichlich Gelegenheit gehabt, sich ausgiebig auszutollen.

»Das muss dir heute reichen«, sagte ich und öffnete die knarrende Hintertür, die in den Garten führt. Es roch nach Schnee und die Dämmerung setzte schon ein, nur schemenhaft konnte ich die letzten Bäume am Ende des Grundstücks erkennen. Ich nahm noch schnell etwas Holz für den Kamin mit und ging wieder ins Haus. Mir war es wieder einmal viel zu kalt. Der Duft meiner Wurstpfanne stieg mir in die Nase und ich spürte, wie hungrig ich doch war, heizte noch schnell den Kamin an und zog schon meine alte Jogginghose an. Nachdem ich noch einmal nach Anton gesehen hatte, er hatte im Garten wohl einen alten, verbuddelten Knochen wiedergefunden, machte ich es mir im kleinen Eker gemütlich und aß mit großem Appetit mein Leibgericht. Anton würde sich schon melden, wenn er soweit war. Ich war gerade mit dem Essen fertig, als meine Freundin anrief. Wir hatten uns wie immer viel zu erzählen, sie lebt in München und arbeitet in einer renommierten Kanzlei als Anwältin. Na ja, und sie hatte einen neuen Freund, da gab es jede Menge zu berichten. Mindestens einmal die Woche telefonierten wir und das konnte schon mal eine Stunde oder länger dauern. Ich vergaß völlig die Zeit, und als wir uns verabschiedeten, fiel mir Anton ein. Der arme Kerl, warum hat er nicht gebellt. So lange blieb er sonst nicht draußen. Ich ging wieder durch die knarrende Hintertür. Anton war nicht zu sehen. Ich rief und pfiff, nichts. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Es nützte nichts, weiter konnte ich nicht gehen. Es war mittlerweile so dunkel da draußen, man sah fast die Hand vor Augen nicht mehr. Ich musste umkehren, um eine Taschenlampe zu holen. Richtig unheimlich dachte ich mir. Mein Hund ist noch nie weggelaufen, ob er sich verletzt hat und sich nicht bemerkbar machen kann? Meine Sorge um Anton wuchs. Was knackte da, was war das? Da bewegte sich doch etwas.

»Hallo, ist da jemand, Anton?«, rief ich und schaute angestrengt nach hinten zum Deich. Waren es die Bäume? Ein merkwürdiges Schattenspiel war hinten am Deich zu sehen. Zu allem Überfluss musste ich nun an diesen Fremden denken. Ich bekam es mit der Angst zu tun, doch meine Sorge um Anton war größer. Ich brauchte diese Taschenlampe, er musste schließlich hier sein. Ich lief schnell ins Haus, durch den kleinen, eigentlich viel zu schlecht beleuchteten Flur zum Abstellraum. Seit wann war diese verflixte Lampe im Flur nun schon kaputt? Ich ärgerte mich über mich selbst, das hatte ich nun davon. Im Halbdunkel tastete ich nach der Taschenlampe. Hammer, Nägel alles war da, nur die Taschenlampe war nicht zu finden. Wo hatte ich sie zuletzt gebraucht? Ich machte mir solche Sorgen um Anton, er war noch nie weggelaufen. Die knarrende Hintertür fiel auf einmal zu, ich erschrak. Mir ging durch den Kopf, dass es windstill draußen war, warum also fiel die Tür zu? Ich drehte mich um, was war das, waren da Schritte? Ich blieb ganz still stehen, wagte kaum zu atmen. Nun hörte ich es genau, es war tatsächlich jemand im Haus. Die Schritte kamen näher und näher. Das Blut gefror mir in den Adern, mein Herz raste und die Angst schnürte mir die Kehle zu. Ich war unfähig zu atmen, konnte mich nicht mehr bewegen. Auf einmal stand er vor mir, dieser fremde, große Mann mit den schwarzen Augen. Er kam auf mich zu.

»Hab ich dich endlich«, flüsterte er fast und griff nach meinem Arm.

Ich schrie und griff in Panik nach dem Hammer, den ich kurz zuvor im Abstellraum gefunden hatte. Ich hob meinen Arm und war wild entschlossen, mein Leben mit diesem Hammer zu verteidigen. Der Fremde war so viel größer als ich, ich hatte keine Chance. Er riss mich herum und stieß mich zu Boden. Hastig schlug er mir erst den Hammer aus der Hand, um ihn dann wieder aufzuheben. Bedrohlich hielt er ihn in der Hand und nun schrie er mich an:

»Warum tust du das? – Sag mir, warum du das tust?«

Was meinte er damit? Was sollte ich ihm angetan haben, ich kannte ihn nicht einmal. Rasend vor Wut schlug er mir immer wieder mit der flachen Hand ins Gesicht und schrie mich an. Er packte meinen Arm und warf mich wie einen nassen Sack in die Ecke. Ich fiel nach hinten und schlug mit dem Kopf gegen einen harten Gegenstand. Nur kurz spürte ich einen stechenden Schmerz, dann wurde es dunkel um mich herum …

Die Tür wurde geöffnet.

»Wir machen hier einen kurzen Stopp«, hörte ich eine raue, dunkle Männerstimme. Ich versuchte zu blinzeln, meine Augenlider waren immer noch schwer und nach der Dunkelheit, die mich die ganze Zeit umgeben hatte, tat die Sonne, die nun auf mein Gesicht fiel, weh. Ich sah erst jetzt, dass ich in einer Art Wohnmobil lag. Es war ein alter Lieferwagen, ausgestattet mit einer Pritsche und einem an der Wand angebrachten kleinen Tisch. Darüber hing eine kleine Lampe. Es war schmutzig hier drin und es roch jetzt noch mehr nach Benzin, als ich es beim ersten Mal wahrgenommen hatte. Ich erkannte meine blaugrüne Tasche, man hatte mir also meine Tasche gepackt.

»Ich öffne die Handschellen jetzt«, sagte er mit rauer Stimme, die mir einen Schauer über den Rücken jagte. Er beugte sich zu mir runter und kam mir dabei so nahe, dass ich den Duft seiner Haut einatmete.

»Trink das«, er hielt mir eine Flasche entgegen. Ich dachte wieder daran, wie er mir eine Flüssigkeit ein-geflößt hatte, und bekam unbeschreibliche Angst.

»Trink!«, befahl er wieder, »so schnell bekommst du nichts mehr.«

Er hielt mir die Flasche noch näher ans Gesicht, ich nahm die Flasche und tat so, als ob ich davon trinken würde.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte ich und meine Stimme klang fremd und zitterte. Mit einem Schlag änderte sich sein Gesichtsausdruck. Jähzorn, Wut, ja regelrechter Hass schlug mir entgegen.

»Bist du immer noch nicht bei Verstand!«, schrie er mich an und schlug zu.

Was meinte er nur? Der zweite Mann, der ebenfalls im Auto saß, eilte herbei. Er war etwas kleiner als der andere, aber auch er hatte dunkle Haare und fast schwarze Augen und er zog sein rechtes Bein leicht nach. Aufgebracht unterhielten sich die beiden, sie schrien sich geradezu an. Der Größere schlug mit der Faust gegen die Tür, sodass sie ans andere Ende des Wagens krachte, er war außer sich vor Wut und schien gleichzeitig völlig verzweifelt zu sein. Ich hatte doch nur gefragt, was er von mir wolle. Warum brachte ihn das so aus der Fassung. Er musste krank sein, dachte ich mir. Mir fiel der Satz von Prof. Brockmann, einem meiner Professoren aus der Uni, ein: »Menschen, die ein Verbrechen begehen, haben eine psychisch deformierte Seele, das macht sie so gefährlich und unberechenbar.« Dass ich gerade jetzt daran denken musste, war na-türlich gar keine Hilfe. Der Kleinere von beiden drehte sich zu mir um und fragte hasserfüllt:

»Warum hast du Sadri so verletzt?« Verächtlich sah er mich an und stieg wieder ins Auto, bevor ich überhaupt antworten konnte.

Sadri hieß er also, der Fremde. Was war das für ein Name, konnte ich die Nationalität daraus schließen? Vielleicht ein Türke oder ein Araber? Und was meinte er mit »verletzt«. Ich hatte diesen Mann noch nie zuvor in meinem Leben gesehen, wie konnte ich ihn verletzen. Aber ich sagte nichts mehr. Meine Angst war zu groß. Sadri schnappte meinen Arm.

»Da vorne ist ein Fluss, mach dich ein bisschen frisch, und falls du zur Toilette musst, da ist ein Gebüsch.« Seine Stimme klang absolut bestimmend und ließ keinen Widerspruch zu. Er streckte mir eine Rolle Klopapier entgegen. Ich hatte Angst etwas zu erwidern. Wortlos nahm ich die Rolle und ging das kurze Stück bis zum Fluss hinunter. Ich spürte seinen Blick in meinem Rücken, er würde mich keinen Moment aus den Augen lassen. Ich zitterte und versuchte, meine Gedanken zu kontrollieren. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder die beiden waren wirklich gestört und hatten wer weiß was mit mir vor oder sie verwechselten mich tatsächlich. Mir fiel wieder ein, dass zumindest dieser Sadri mich Melli nannte. Ich wünschte mir fast, dass es sich »nur« um eine Verwechslung handelte, das konnte man schließlich aufklären. Da war ich mir ganz sicher. Ich habe zwar Tiermedizin studiert, aber wäh-rend des Studiums hat man auch mit Psychologie zu tun. Ich wusste, was zu tun war. Ich musste unbedingt Ruhe bewahren, um so viele Informationen wie möglich zu erhalten. Ich sah mich um, ich war noch nie zuvor hier gewesen und ich wusste nicht, wo ich war. Ich wusch mir in dem kleinen Fluss mein Gesicht und kühlte mein Handgelenk. Es war ganz angeschwollen und schmerzte. Ich hatte scheinbar eine längere Zeit mit der Handfessel in dem Wohnmobil gelegen. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass dieser Sadri mich beobachtete. Eine Chance zu fliehen, gab es hier nicht. Ich ging noch kurz hinter das Gebüsch, bevor ich wieder zu dem Wohnmobil zurückkehrte. Wenn die mich umbringen wollten, hätten sie schon ausreichend Gele-genheit dazu gehabt. Mit solchen Gedanken versuchte ich, mich zu beruhigen. Vielleicht konnte ich gleich ein paar Schilder finden, um mich daran zu orientieren.

»Willst du etwas essen?«, unterbrach Sadri meinen Gedankengang. Er sprach fast akzentfrei Deutsch.

»Nein danke«, mir war übel und schwindelig. Was war das nur für ein Mensch, der auf der einen Seite dafür sorgte, dass ich zu Essen und Trinken bekam und meine Notdurft verrichten konnte, und auf der anderen Seite ein Mensch, der von einer Sekunde zur anderen ein völlig anderes Gesicht zeigte und eine Frau so brutal und erbarmungslos niederschlug. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Aber gerade diese Unberechen- barkeit machte mir große Angst. Als ich wieder zum Fahrzeug kam, fiel mir auf, dass die Scheiben verdunkelt waren. Sie waren mit einer Art Folie verklebt, die mir den Blick nach draußen versperrte. Ich konnte also nicht sehen, wohin man mich brachte. Er sah mich schweigend an, seine schwarzen Augen, hatten wieder etwas Bedrohliches, aber gleichzeitig sah er mich irgendwie verletzlich und auch hasserfüllt an. Ich wusste nicht, ob er ruhig bleiben würde, wenn ich etwas sagte.

Doch mir brannte so vieles auf der Seele und ich fasste mir ein Herz: »Darf ich etwas fragen?«, und sah ihm direkt in die Augen. Ich bemerkte wieder, dass er eigentlich ein sehr gutaussehender Mann war, sein welliges Haar passte gut zu seinen markanten Gesichtszügen. Sein Alter schätzte ich zwischen 40 und 45.

»Wir reden zu Hause«, entgegnete er schroff und machte ein unmissverständliches Zeichen, dass ich wieder einsteigen sollte. Mein Zuhause, ich dachte an Anton, an meinen Sohn und sogar an meinen Ex-Mann. Würde man mich schon vermissen, was für ein Tag war heute? Ich hatte so viele Fragen und keine Antworten.

»Was ist mit meinem Hund, was …?«

»Wir haben genug Hunde«, fiel er mir ins Wort.

Er stieg mit mir in den hinteren Teil des Fahrzeugs ein und wollte mich wieder festbinden. »Bitte binden Sie mich nicht fest«, meine Stimme klang jetzt fast weinerlich. Ich sah, wie sich seine Augen und sein gesamter Gesichtsausdruck blitzartig wieder verdunkelten.

»Hör auf, mich zu siezen!«, schrie er mich an.

»Lass endlich dieses Theater, sonst bringe ich dich um. Du wirst mir nie wieder entkommen, das schwöre ich dir.« Bedrohlich bäumte er sich vor mir auf. Seine Stimme überschlug sich, und er war nahe dran, mich wieder zu schlagen.

»Sadri«, hallte es aus dem vorderen Bereich des Wohnmobils. Sie unterhielten sich wieder in dieser fremden Sprache und Sadri beruhigte sich etwas.

Ohne ein weiteres Wort verließ er das Wohnmobil. Er schloss die Tür ab, ich war aber wenigstens nicht mehr angekettet. Nach einer Weile stieg er vorne ein und das Wohnmobil setzte sich in Bewegung. Er zog den dunklen Vorhang, der zwischen dem Fahrerbereich und dem hinteren Teil angebracht war, zu und es wurde wieder dunkel in dem Wagen. Aber ich hatte ja zuvor die kleine Lampe entdeckt und tastete danach. Ich knipste sie an und sah in meiner Reisetasche nach, was er alles für mich eingepackt hatte. Eine Jacke, eine Hose, ein Pullover und etwas Unterwäsche. Meine Kulturtasche fehlte. Keine Zahnbürste, kein Kamm und keine Creme. Meine Haut spannte, die Creme fehlte mir sehr. Es waren auch keine Papiere, kein Geld und kein Handy in der Tasche. Nicht einmal eine Uhr hatte ich bei mir. Mir liefen die Tränen übers Gesicht. Ich weiß nicht, wie lange wir schon wieder fuhren. Ich musste an Anton denken. Wie ging es ihm, was hatte er ihm angetan? Wo er jetzt wohl in diesem Moment ist, all das ging mir durch den Kopf. Ich sah ihn in Gedanken vor der alten knarrenden Hintertür kauern. Sicher würde er solange dort warten, bis ihm jemand die Tür öffnet. Vielleicht würde er auch bellen und so die Nachbarn auf sich aufmerksam machen. Warum hat er nicht gebellt, als dieser Eindringling kam? Tausend Fragen, auf die ich keine Antworten wusste.

Nach ewig scheinenden Stunden verlangsamte sich plötzlich die Fahrt und das Wohnmobil hielt wieder an.

»Wir sind jetzt in Frankreich und in wenigen Minuten erreichen wir die Fähre«, mit diesen Worten kam Sadri in den hinteren Bereich des Wohnmobils. Mein Herz raste, jetzt wo er wieder vor mir stand, so entschlossen und kalt, überfiel mich erneut diese Panik. In Frankreich sind wir also. Wo wollen sie nur mit mir hin? Meine geografischen Kenntnisse waren so schlecht. Wohin fährt eine Fähre ab Frankreich? Ich hatte immer noch keine Ahnung, wohin die Reise ging, aber ich sagte nichts. Mein Plan war, einfach einen kühlen Kopf zu bewahren und eine passende Gelegenheit zu finden, um wegzulaufen oder mich vielleicht jemanden anzuvertrauen. Wir mussten bald auf andere Menschen stoßen, wir waren ja sicher nicht alleine auf der Fähre. Als ob er es geahnt hätte:

»Ich kann mir das Risiko, das du mir auf der Fähre Schwierigkeiten machst, nicht leisten«, sagte er und hielt mir einen Becher hin.

»Trink das«, befahl er. Ich dachte wieder an den Moment, als er mir irgendeine Flüssigkeit eingeflößt hatte. Er wollte mich nicht vergiften, nur außer Gefecht setzen. Ich hatte Angst vor diesem Zustand der Däm-merung.

»Ich will das nicht trinken«, rief ich verzweifelt und schlug ihm panikartig den Becher aus der Hand. Er ergriff den Becher und beugte sich blitzschnell zu mir herunter. Brutal fasste er in meine Haare und zog meinen Kopf nach hinten, um mir die Flüssigkeit zu verabreichen. Ich presste meine Lippen so fest ich konnte aufeinander, aber das machte ihn nur wilder und wütender.

»Du wirst das jetzt trinken, du wirst mir nie wieder entkommen«, schrie er und schlug wieder auf mich ein. Vor Schmerz schrie ich auf und öffnete den Mund dabei. Er nutzte den Moment, um mir den Inhalt des Bechers einzuflößen. Ich verschluckte mich, er hielt mich immer noch an den Haaren fest und drückte meinen Kopf nach hinten. Ich konnte nur schlucken oder ersticken. Reflexartig schluckte ich schließlich die seltsam schmeckende Flüssigkeit und merkte ziemlich schnell, dass alles um mich herum wieder in Nebel fiel.


Das falsche Profil

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