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Die Fähre gleitet aus dem Hafen. Kinder winken aufgeregt vom Moleturm. Ein vorwitziger Junge spuckt in die Luft. Lautes Gejohle, als die Spucke auf dem Jackenärmel einer Frau landet.

Passt irgendwie, denkt Marthe, wirft den Kindern einen müden Blick zu und wischt das Nasse am Geländer ab. Ein Schwan versucht, dem Wellengang des Schiffs zu entkommen. Wie er sich müht und müht. Er rudert mit den Flügeln, patscht mit den Füßen aufs Wasser, ein endloser Anlauf, bis er endlich abhebt und seinem vorgereckten Hals hinterherfliegt, über herbstlich verfärbte Bäume in Richtung Schlosskirche.

Marthe zieht ihre Jacke enger. Der Fahrtwind macht sie frösteln, trotz der Oktobersonne. Zeit für ein heißes Getränk.

Am Tresen hat es sich bereits wieder gelichtet. Nur noch ein Mann steht da, nimmt eine Bierflasche entgegen und zwei Obstwasser. Die beiden Schnäpse kippt er gleich vor Ort, bestellt einen weiteren. Wie ein Säufer sieht er eigentlich nicht aus. Er ist schlank, trägt einen Kaschmirmantel. Vielleicht hat er Marthes Blick gespürt. Jedenfalls fühlt er sich bemüßigt, sich zu erklären.

"Aller guten Dinge sind drei", sagt er zu ihr gewandt.

"Könnte ich jetzt auch gebrauchen, leider hab ich mein Auto dabei."

"Tja, Zug fahren hat Vorteile."

Er kippt das dritte Obstwasser, während Marthe für sich ein Haferl Ovomaltine bestellt. Dann legt er abgezählte Münzen aufs Resopal, nimmt sein Bier und geht.

Die Fähre vibriert. Der Horizont schwankt sachte im Fensterrahmen.

Der Steward bringt den fertigen Kakao und Marthe mustert den Raum auf der Suche nach einem Platz. Voll ist es nicht. Aber auf der Fähre nehmen Einzelreisende gern mal einen ganzen Tisch für sich allein in Anspruch, wollen die Zwischenzeit auf ihre Weise nutzen, diese geschenkte Stunde zwischen Himmel und Wasser.

Ein Mann im Businessanzug hat seinen Laptop installiert und wirkt abweisend. Die junge Frau mit Minirock über der Hose und Ökoschuhen hat Kopfhörer auf und strickt. Eine afrikanische Familie ist sich selber genug. Das Schweizer Ehepaar mit den Einkaufstüten schweigt sich an. Zu den Radlern will Marthe sich nicht setzen. Und das Appenzeller Urgestein, das den verfilzten Haarschopf zum Schlafen auf die Tischplatte gelegt hat, wirkt auch nicht gerade einladend. Bleibt der Obstwasserfreund und Bahnfahrer.

Der sieht mit einem ironisch gefärbten Lächeln zu ihr hin und wartet ab. Warum nicht, denkt Marthe. In der Schweiz angekommen wird er zum Bahnhof gehen und sie in ihr Auto steigen, soviel ist schon mal klar. Sie geht zu seinem Tisch.

"Ist es recht?"

Er macht eine einladende Geste. Sie nimmt Platz und stellt erst einmal eine neue Distanz her, indem sie sich ganz auf ihre Tasse konzentriert. Der erste Schluck ist enttäuschend. Heiß und sahnig, aber nicht besonders süß. Auf dem Tisch steht Zucker. Sie könnte nachsüßen, vernünftig wäre das nicht. Während sie noch mit sich ringt, eröffnet ihr Tischnachbar das Gespräch.

"Und, warum könnten Sie einen Obstler gebrauchen?"

Das ist ziemlich direkt. Schweizer ist er wohl nicht. Auch sonst hat er keinen identifizierbaren Akzent. Ein Charaktergesicht, sauber rasiert, nicht unsympathisch.

"Ach, bloß frisch getrennt."

Marthe versucht, es beiläufig klingen zu lassen.

"Wenn das alles ist."

Eine solche Geringschätzung ist Marthe nun auch wieder nicht recht. Sie selber darf ihre Trennung niedrig hängen, aber diesem Fremden steht es nicht zu.

"Danke, mir reicht es", schnappt sie zurück, leert nun doch ein Tütchen Zucker in ihre Tasse und rührt so heftig darin herum, dass der Schaum zerfällt.

"Ja, mir hätte es auch gereicht", sagt er leise. Seine Stimme klingt aussichtlos. Er trägt eine randlose Brille, zwei scharfe Falten ziehen sich von der Nase zum Mund.

Jetzt, wo Marthe ihn ansieht, weicht er aus, blickt aus dem Fenster. Draußen glitzert eine schräge Sonne auf schier endlosem Wasser. Irgendwo dahinten, wo der Horizont verschwimmt, könnte Konstanz sein. Marthe versucht, das lastende Schweigen mit Konversation aufzulockern.

"Mir hat mal jemand erzählt, dass der See so groß ist, dass man von einem Ende zum anderen die Erdkrümmung wahrnehmen kann. Bei klarem Wetter soll man von Bregenz aus die Spitze vom Konstanzer Münster sehen können. Aber nur die Spitze, denn der Rest ist unter der Erdkrümmung verschwunden."

"Interessant", sagt er und verreibt einen Tropfen, der sich an seiner Bierflasche kristallisiert hat.

"Haben Sie Kinder?" fragt er dann.

"Nein."

"Da haben Sie Glück."

"Na ja."

Marthe hätte sich sehr wohl ein Kind gewünscht. Aber nun ist ihr der Vater abhanden gekommen und der Wunsch hängt im Leeren.

"Doch! Sie haben Glück!" bekräftigt er.

Was für ein Ton! Wieso bildet er sich ein zu wissen, was Glück für andere Menschen ist?! Marthe wird ihren Kakao austrinken und dann nach draußen gehen.

"Ich bin Vater, Vater von einem behinderten Kind."

Was soll Marthe jetzt dazu sagen?

Er holt eine Zigarettenpackung aus seiner Jackentasche.

"Rauchen Sie?"

"Manchmal."

Sie nimmt die angebotene Zigarette.

"Auf der windstillen Seite ist es nicht so kalt", verkündet er, steht auf und geht vor. Marthe lässt sich Zeit und trinkt ihren Kakao aus. Dann knöpft sie ihre Jacke zu und folgt ihm.

Er will ihr Feuer geben, aber der Wind bläst die Flamme aus. Da zeigt er ihr, wie sie die Hände halten muss. Es ist eine zweckmäßige Berührung, kein Flirt, aber geduldig. Endlich glimmt auch Marthes Zigarette.

Sie lehnen nebeneinander an der Reling und starren auf die Seitwärtswellen, die vom Schiffsrumpf abgehen. Das weiße Gekräusel verliert sich rasch im schwarzen Wasser.

"Meine Frau war schwanger. Es ging ihr nicht gut. Wir hatten schon lange nicht mehr..."

Er trinkt aus der Flasche, die er mit nach draußen genommen hat.

Orale Kompensation, diagnostiziert Marthe und denkt darüber nach, ob Fremdheit eine gewisse Vertraulichkeit befördert.

"Dann ein Kongress, ein langer Abend an der Bar, eine attraktive Kollegin, naja, das Übliche halt. - Dummerweise hat meine Frau etwas gemerkt."

Er inhaliert tief.

"Von mir aus hätte ich mich nicht getrennt, aber sie meinte, sie hätte kein Vertrauen mehr."

Er schnippt den Rest seiner Zigarette ins Wasser.

"Bei der Geburt wollte sie mich nicht dabei haben. So habe ich es erst nach Tagen erfahren."

"Das mit der Behinderung?"

Er nickt.

"Später hat sich herausgestellt dass meine Frau eine Meningitis hatte, eine unerkannte. Ihr Immunsystem hat das irgendwie ausbalanciert, aber der Fötus... Statt Gehirnzellen - Wasser im Kopf."

Er fährt sich mit den Händen durchs Haar. Sensible Hände, dunkle Locken mit silbrigen Einsprengseln. Marthes Zigarette brennt unbeachtet vor sich hin und versengt ihr den Finger.

"Au", entfährt es ihr unwillkürlich. "Gelegenheitsraucherin" kommentiert sie sich selber, lacht verlegen und wirft die Zigarette über Bord. Der Mann neben ihr beachtet sie nicht. Er hängt seinen eigenen Bildern nach.

"Das Kind war lebensfähig, alles dran. - Nur kein Gehirn."

Ein bitteres Auflachen. Dann holt er eine neue Zigarette aus der Packung.

"Ich wollte mich kümmern. Aber meine Frau hat das nicht zugelassen."

Jetzt klopft er mit der Zigarette aufs Geländer. Das ist sinnlos bei einer Filterzigarette. Vielleicht hat er früher einmal Selbstgedrehte geraucht, denkt Marthe. Früher, bevor er sich Kaschmirmäntel leisten konnte.

"Alle sechs Wochen fahre ich ins Heim. Das Besuchsrecht musste ich mir bei der Scheidung erstreiten. Wahrscheinlich wollte sie, dass ich ein schlechtes Gewissen habe."

Er zündet die Zigarette an, nimmt einen Zug.

"Normal wäre mein Sohn jetzt in der Pubertät. Er ist vierzehn."

Vierzehn. - Vierzehn Jahre ohne Gehirn. Das übersteigt Marthes Vorstellungskraft.

"He Sie! Rauchen verboten!"

Ein korpulenter Mann baut sich neben ihnen auf.

"Wir sind doch extra rausgegangen!" fährt Marthe den Mann an. Aber der lässt sich nicht beirren.

"Rauchen ist auf der ganzen Fähre verboten."

"Wie schön, wenn jemand Polizei spielen kann!"

Marthe versucht, den Dicken mit ihrem Blick wegzubeißen.

"Schon gut, regen Sie sich nicht auf."

Eine beruhigende Hand auf ihrer Schulter. Für einen Moment gehören sie zusammen. Im Protest gegen den selbst ernannten Ordnungshüter sind sie sich nah. Sie tauschen ein Lächeln. Dann fixiert Marthes Begleiter den Dicken mit seinem Blick und drückt die Zigarette an seiner Schuhsohle aus.

"Recht so?"

"Geht doch", sagt der Dicke und rührt sich nicht von der Stelle. Offensichtlich wartet er ab, was mit dem Stummel passiert. Der Mann im Kaschmirmantel zelebriert nun die Beseitigung der Kippe. Er lässt sie mit einer eleganten Drehung in der Packung verschwinden, so als handele es sich um einen Zaubertrick.

"Zufrieden?"

Der Dicke grummelt vor sich hin und geht weiter.

"Idiot", schickt Marthe ihm hinterher.

"Ich hab dann wieder geheiratet. Wir haben jetzt auch ein Kind. - Ein gesundes."

Es klingt so, als wäre das noch nicht richtig bei ihm angekommen.

Bläuliche Gebirgslinien staffeln sich über der Nebelwatte, die aus den Schweizer Tälern steigt. Das andere Ufer hat Konturen bekommen. Schon sind die Silhouetten einzelner Bäume auszumachen.

"Wir sind gleich da", sagt Marthe.

"Danke fürs Zuhören."

"Kein Problem. Alles Gute."

"Ihnen auch."

Er wendet sich zur vorderen Treppe. Eine straffe Gestalt. Der knallrote Schal, den er locker über den Mantel geworfen hat, gibt ihm etwas Verwegenes. So einem hätte Marthe kein Schicksal zugetraut.

Der Schiffsmotor verändert sein Geräusch. Der Bug dreht in Richtung Hafeneinfahrt. Plötzlich freut sich Marthe über ihre Freiheit. Sie freut sich auf die Autofahrt, die vor ihr liegt. Sie nimmt die hintere Treppe, will dem Fremden nicht noch einmal begegnen.

*Literaturpreis JULL Ü70 Zürich


Von Liebe und anderen Auswegen

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