Читать книгу Amir und die Säbelzahnwurstkönigin - Dorothee Bernhardt - Страница 6

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I. Die Begegnung

1. Das Pfeifen auf dem Heimweg

Amir rannte über den staubigen Weg, um schnell nach Hause zu kommen. Seine Schulmappe hielt er fest an sich gedrückt. Seine Gedanken kreisten wie immer um Fußball, genauer um die neusten Erfolge seines Lieblingsfußballclubs. Obwohl die Sonne unbarmherzig vom Himmel brannte, lief Amir ohne Pause immer weiter. Für den Heimweg brauchte er ziemlich genau eine Stunde. In seinem Dorf Morongo gab es keine Schule, wie in vielen Dörfern von Somaliland. Deshalb musste er jeden Morgen bis zur nächsten Stadt laufen. Das war Gudubi. Und am Nachmittag natürlich wieder zurück.

Ein ganzes Stück vor dem Dorf war der Platz, an dem er sich immer mit seinem Freund Sadiq zum Fußballspielen traf. Er befand sich nicht weit von der Landstraße, die in die großen Städte des Landes führte.

Als Amir an seinem Fußballplatz eintraf, war niemand zu sehen. An der einzigen schattigen Stelle neben einem großen Felsen regte sich nichts.

»Salam, sei gegrüßt mein Freund, bist du da?«, rief Amir. Sein Ruf verhallte am Felsen. Sadiq war nicht da, vielleicht war es noch zu früh für ihn und er musste seine Ziegen noch ins Nachtlager bringen. Sollte er hier auf ihn warten? Nein, besser war es, er würde zuerst nach Hause laufen, etwas essen und trinken und später zurückkommen. Amir fächelte sich mit seiner Mappe Luft zu und setzte dann seinen Weg fort.

Wenn Amir woanders gelebt hätte, zum Beispiel in Europa, hätte er vermutlich einen Kopfhörer aufgehabt oder im Gehen auf seinem Smartphone getippt. Dann wäre ihm das Pfeifen entgangen, das hinter dem Platz und kurz vor dem Abzweig nach Morongo auf einmal aus dem Boden drang. Aber in Amirs Leben gab es keine Smartphones, jedenfalls noch nicht. Es gab die Geräusche der Natur und die Gespräche der Menschen. Und Fußball natürlich. Fußball gab es schließlich überall, sogar im entlegensten Winkel der Welt.

Amir hatte also ein Pfeifen gehört und ging ihm nach. In diesem Moment ahnte er noch nicht, dass er bald vom ungewöhnlichsten Königreich der Welt erfahren und dessen einzigartige Königin kennenlernen würde. Er war bloß neugierig. So nahm das Schicksal seinen Lauf.

2. Amir findet ein seltsames Tier

Zuerst dachte Amir, er hätte sich verhört. Es war ausnahmsweise beinahe windstill und obwohl die Nachmittagssonne sich bereits auf den Horizont zubewegte, lag eine flirrende Hitze über der Ebene, durch die sein täglicher Weg führte. Amir blieb stehen und schaute in den wolkenlosen Himmel. Kein Vogel war zu sehen, von dem das Pfeifen hätte kommen können. Soweit er blicken konnte, gab es keinen Baum und keinen Strauch, nur ein paar trockene Gräser und einen großen Felsbrocken, an dem er abgebogen war.

Da war es wieder. Ein langgezogener heller Ton und dann mehrere kurze Töne hintereinander, fast wie ein Vogelzwitschern. Er hatte sich nicht verhört. Amir blieb stehen und suchte mit den Augen den Boden ab. Auch hier war nichts zu sehen. Alles wie ausgestorben. Gerade als er sich zum Gehen wenden wollte, nahm er in höchstens zwei Metern Entfernung eine Bewegung wahr. Amir näherte sich vorsichtig der Stelle und bemerkte ein wenige Zentimeter breites Loch, in das vom Rand her Sand rieselte. Konnte das Pfeifen aus diesem Loch gekommen sein? Er überlegte, welches Tier solche Pfiffe von sich geben konnte, wenn es kein Vogel war. Eine Schlange bestimmt nicht, Schlangen zischten oder rasselten. Insekten, Käfer oder Spinnen konnten surren oder knacken, aber nicht pfeifen. Und für eine Ratte war das Loch zu klein. Unmittelbar neben dem Loch hockte er nieder und legte die Schulmappe ab. Eine Weile tat sich gar nichts. Eigentlich konnte es Amir egal sein, was da war. Er hatte Hunger und Durst und dann wollte er schließlich mit Sadiq Fußball spielen. Aber zuerst wollte er der Sache auf den Grund gehen. Wie jedes Kind war Amir extrem neugierig und wollte alles wissen. Schon als kleiner Junge hatte er mit seinen hartnäckigen Fragen die Geduld der Erwachsenen oft auf die Probe gestellt. Einmal hatte er sich sogar Schläge eingehandelt, als er keine Ruhe geben wollte.

Inzwischen hatte er begriffen, dass es nicht so klug war, jede Frage zu stellen, die ihm in den Sinn kam. Daher fragte er nur noch seinen Lehrer Jack, denn dem waren alle Fragen willkommen. Manchmal wurde er sogar von Jack gelobt, wenn er eine besonders kluge Frage gestellt hatte. Jack war ein Engländer, der irgendwann in die Stadt Gudubi gekommen war. Und weil es dort noch keine Schule gab, fing er an, den Kindern aus Gudubi und den Dörfern ringsum Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Auch aus Amirs Dorf Morongo kamen Kinder zu ihm. Zuerst hatte Jack nur auf Englisch unterrichtet, aber inzwischen sprach er perfekt Somali und Arabisch.

Der nächste Pfeifton riss Amir aus seinen Gedanken. Die Erde um das Loch herum bewegte sich, und der Sand, der vorher hineingerieselt war, wurde nun zusammen mit kleinen Steinen von innen herausgedrückt. Amir verstand: Das Tier, das da in der Erde steckte, versuchte offenbar, sich auszugraben. Bloß gelang es ihm nicht. Vielleicht versperrte ein dicker Stein oder eine alte Wurzel ihm den Weg. Amir überlegte nicht lange. Wie stets war seine Neugierde größer als die Angst. Mit beiden Händen schob er Sand und kleine Steine vom Rand des Lochs weg. Er sah sich nach einem kleinen Ast um, um das Loch im Boden zu verbreitern. Da aber keine Bäume oder Sträucher in unmittelbarer Nähe waren, fand sich nichts, was ihm tauglich schien. Sollte er es wagen, mit den Fingern hineinzugreifen? Er verwarf den Gedanken sofort wieder. Ein Biss oder Stich eines unbekannten Tieres konnte tödlich sein, das wusste jedes kleine Kind.

Aber natürlich, er hatte doch alles dabei. Amir nahm den längsten Bleistift aus seiner Mappe und steckte ihn in das Loch. Mit dem Stift ertastete er nah an der Oberfläche einen Stein und versuchte, ihn zu lockern. Der Stein schien nicht besonders groß, aber er bewegte sich kaum. Amir lauschte. Das Tier rührte sich nicht. Begriff es, dass er ihm helfen wollte? Er nahm einen zweiten Stift aus der Mappe und steckte beide Stifte zusammen von zwei Seiten in das Loch. Er drehte sie und allmählich gelang es ihm, sie soweit in den Boden zu bohren, dass ihre Spitzen unter den Stein gelangten. Mit aller Kraft drückte er die oberen Enden der Stifte gegen den äußeren Rand. Plötzlich flog der Stein in einem hohen Bogen heraus. Das Loch war nun deutlich größer geworden und es dauerte nicht lange, bis Amir eine Bewegung wahrnahm. Er blickte wie gebannt auf die Öffnung und wartete. Dann sah er es. Kein Schnäuzchen mit Barthaaren oder schuppige Krallenfüße oder Insektenbeine. Stattdessen nur ein kugelrundes Ding mit graurosafarbener Haut, das sich nach und nach aus der Öffnung herauswölbte. Ein merkwürdiges Mondgesicht ohne Augen und Mund, nur mit einem dicken Rüssel mittendrin. Verblüfft starrte er darauf. Dann wurde ihm klar, was er sah. Das war kein Kopf, das war ein Hinterteil mit einem langen Schwanz. Das Tier schob sich mit dem Hinterteil zuerst aus seinem Bau. Millimeter für Millimeter. Nun konnte Amir sich nicht länger zurückhalten. Er fasste oberhalb des Schwanzes ein Stück Haut und zog das Tier vorsichtig ganz heraus. Mit Daumen und Zeigefinger hielt er es vor sich und betrachtete es.


Es baumelte ein wenig, zappelte aber nicht. Das Wesen war etwas kleiner als seine Hand, hatte einen wurstförmigen Körper, einen abgerundeten Kopf und vier ungefähr gleich lange Beine. Aus seiner Schnauze ragten zwei große gebogene Zähne, die wie Säbel aussahen. Seine Augen waren nur als schmale Schlitze zu erkennen. Ein Stück hinter den Augen, da wo sich bei den meisten Tieren die Ohren befinden, hatte es zwei runde Vertiefungen. Das Tier war fast nackt, sein ganzer Körper war von einer faltigen, staubüberzogenen Haut bedeckt. Nur vereinzelt standen Haare ab, die meisten davon seitlich am Kopf. So ein komisches Tier hatte Amir noch nie gesehen und er fragte sich sofort, wie es sein Fell verloren haben könnte. »Wer bist du denn?«, fragte er laut. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass das Tier ihn anstarrte.

3. Mufti, die Königin der Säbelzahnwürste

»Mufti«, krächzte das Tier auf einmal laut und vernehmlich. Es schien ihn von oben bis unten zu mustern, dabei waren seine weit auseinander stehenden Augen nur einen winzigen Spalt geöffnet.

Amir erschrak so sehr, dass er es beinahe fallengelassen hätte. Er brachte keinen Ton heraus. Ein sprechendes Tier war das Letzte, was er erwartet hatte. Mit der freien Hand fasste er sich an den Kopf, um zu testen, ob die sengende Sonne vielleicht einen Sonnenstich verursacht haben könnte. Aber er fühlte nichts, alles war wie immer, bis auf den Umstand, dass gerade etwas eingetreten war, das vollkommen unmöglich war. Hatte das Tier wirklich das gesagt, was er verstanden hatte? Mufti? Was sollte das heißen? Ein Name? War das seltsame Wesen vielleicht ein verzauberter Mensch? Oder hatte er sich das nur eingebildet und das Tier hatte nur geniest?

Plötzlich fing es an zu strampeln und Amir setzte es auf dem Boden ab, wo es sich schüttelte, so dass es für wenige Sekunden von einer Staubwolke umgeben war. Dann kroch es unter Amirs Tasche und blinzelte Amir von dort zu. Der zweifelte immer noch an seinem Verstand. Er musste herausfinden, ob das Tier tatsächlich sprechen konnte. Gefährlich wirkte es jedenfalls nicht. Amir gab sich einen Ruck. »Entschuldigung, aber so ein Tier wie dich habe ich noch nie gesehen. Im Naturkundebuch in meiner Schule gibt es kein Bild, das so aussieht wie du.«

Das Tier bewegte sich nicht. Entweder hatte es ihn nicht gehört oder nicht verstanden. Alles in Ordnung, es war ja ein Tier und kein Mensch. Amir überlegte, ob er einfach seine Mappe nehmen und den Nachhauseweg fortsetzen sollte.

»Des Lebens Wahrheit steht nicht in einem Buche«, tönte es da unter der Mappe hervor.

Amir erstarrte. Jetzt war er sich sicher, dass er doch einen Sonnenstich bekommen hatte, ohne es zu merken. Wahrscheinlich befand er sich gerade in einem Fiebertraum und seine Tante Edna machte lauwarme Umschläge, um das Fieber zu senken. Das machte sie immer, wenn er und seine kleine Schwester krank waren. Wahrscheinlich würde er in einigen Stunden aufwachen und über diesen Traum lachen. Das Beste für den Augenblick war, so zu tun, als ob das hier wirklich passierte.

»Schön, dich kennen zu lernen. Ich bin Amir. Ich habe eine Schwester, die heißt Laila, und wir leben im Dorf Morongo, nicht weit von hier. Und wer bist du?«

»Er rede nur, wenn er gefragt ist«, schnarrte es zurück. Amir riss die Augen auf. Das kleine Tier war nicht nur frech, es redete auch ziemlich geschwollen daher. Es hatte sich nun unter der Mappe aufgerichtet und drückte sie mit seinem Kopf nach oben. Ob es noch etwas sagen würde? Oder war es etwa beleidigt?

»Er steht vor der ehrwürdigen Mufti, Königin der Säbelzahnwürste, Herrscherin im Reiche Mulland.« Bei diesen Worten hob sich die Mappe noch ein Stückchen, das Tier schien ein klein wenig zu wachsen.

Amir zwang sich, nicht laut loszulachen. Ehrwürdige Mufti, haha. Königin sogar. So ein hässliches kleines Wesen wollte eine Königin sein? Wie war das, Mulland? Nie gehört. Ein ganzes Land beherrschen? Sehr witzig. Der Traum fing an, ihm Spaß zu machen.

»Wo sind denn deine Leute und wo ist dieses Reich, von dem du sprichst?« Oje, jetzt hatte er wieder etwas ohne Aufforderung gesagt. Unverzeihlich. Aber die Königin schien es nicht zu bemerken.

Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung des Lochs, aus dem sie gekommen war. »Dort unten, jenseits der Sonnenwelt«, antwortete sie. »Aber der Weg dorthin liegt in der Zukunft verborgen. Es ist nicht an ihm zu fragen. Er sei von nun an mein Begleiter. Er schweige jetzt.«

Was sollte das nun wieder heißen? Wenn die ehrwürdige Königin mit ihrem dicken Po durch das Loch nach draußen gepasst hatte, würde es auch möglich sein, wieder hineinzukriechen. Offenbar wollte sie das nicht. Warum auch immer. Amir dachte an seinen Plan für den Abend. So wie die Dinge lagen, würde daraus heute nichts werden. Was hatte er sich da nur eingebrockt? Dann fiel ihm wieder ein, dass es ja nur ein Fiebertraum sein konnte, und mit Fieber hätte er ohnehin nicht Fußball spielen können. Auf keinen Fall wollte er der Begleiter dieser Witzfigur von einer Königin sein. Aber wie sollte er sie wieder loswerden? Er konnte sie wohl kaum schutzlos in der brütenden Sonne zurücklassen.

»Ich muss jetzt nach Hause«, sagte er. »Von mir aus kannst du mitkommen. Sollen wir das Loch so offenlassen?«, fragte er.

Mufti reagierte sofort. »Verschließe er es, auf der Stelle. Oder will er, dass ein Unbefugter sich Zutritt nach Mulland verschaffen kann?«

Es war prima, dass man sich mit der Säbelzahnwurst so leicht verständigen konnte. Aber ein freundlicherer Ton hätte ihr nicht geschadet, fand Amir. Er suchte einen dicken Stein und verschloss das Loch damit. Dann sammelte er einige andere Steine und legte sie kreisförmig um die Stelle herum. Schließlich nahm er einen besonders scharfkantigen Stein, ging damit zu einem Felsen, der genau an der Stelle lag, an dem er von seinem üblichen Weg abgebogen war, um dem Geräusch nachzugehen, und ritzte einen Kreis in die Oberseite.

Mufti hatte nichts dagegen, dass Amir sie in seine Mappe steckte, im Gegenteil. Mehr als die Hitze schien das Sonnenlicht sie zu stören, deshalb blinzelte sie ununterbrochen.

Das letzte Stück zum Dorf ging Amir etwas langsamer, um Mufti nicht durchzuschütteln, die sich in seiner Schulmappe ganz ruhig verhielt. Ihm war mehr als mulmig zumute. Er war nicht sicher, ob es eine gute Entscheidung gewesen war, ein solches Tier mitzunehmen. Hoffentlich würde dieser seltsame Traum bald zu Ende sein.

4. Sadiq der Ziegenhirt und seine Zukunftspläne

Bei Amirs Ankunft im Dorf saß Tante Edna vor ihrer Hütte auf einem Hocker. Vor ihr auf dem Boden stand ein Krug, der mit einer Schale abgedeckt war.

Seit Amirs Mutter bei der Geburt von Laila gestorben war, trug Tante Edna die Verantwortung für beide Kinder. Sie war selbst nicht verheiratet, was im Dorf ungewöhnlich war. Aber weil sie die Kinder ihres Bruders versorgte, wurde das akzeptiert. Ihr Bruder, also Amirs und Lailas Vater, hatte im Nachbarland Dschibuti Arbeit gefunden und verbrachte deshalb nur wenige Wochen des Jahres in Morongo. So lebten sie fast wie eine normale Familie und immer, wenn Amirs und Lailas Vater nach Hause zurückkehrte, gab es ein großes Festessen.

»Du kommst spät, Amir«, sagte Tante Edna. »Bestimmt hast du Hunger. Iss etwas und dann holst du bitte neues Wasser vom Brunnen, ja?«

Amir nickte und verschwand wortlos nach drinnen. Sollte er Mufti aus seiner Schulmappe nehmen? Konnte er sie längere Zeit alleine im Haus lassen? Was, wenn sie herauskrabbelte und Tante Edna, oder noch schlimmer, seine kleine Schwester erschreckte? Er beschloss, zunächst etwas zu essen und Wasser zu holen, wie Tante Edna gesagt hatte. Wenn er danach sofort aufbräche, könnte er es noch knapp zum Fußballplatz schaffen. Er hasste den Gedanken, dass Sadiq vergeblich auf ihn warten müsste, wenn er nicht käme.

»Auf dich ist Verlass«, lobte Tante Edna ihn, als er einige Minuten später mit einem randvollen Wasserkanister zurückkam. »Ich weiß, du willst dich bestimmt mit Sadiq treffen. Nun lauf schon los, aber bei Einbruch der Dunkelheit kommst du zurück, hörst du? Und denk an den Maisfladen für deinen Freund.«

Amir hängte seinen Proviantbeutel an den Gürtel und ging noch einmal in die Hütte. Etwas unschlüssig stand er vor seinem Regal, auf das er die Schulmappe gelegt hatte, und überlegte, ob er Mufti herausholen sollte. Bekam sie genug Luft darin? Die Mappe war aus Hirseblättern geflochten und wurde durch einen Holzknebel verschlossen, der durch ein kleines Loch an der Vorderseite der Mappe geschoben wurde. Nein, ersticken würde das Tier darin auf keinen Fall. Amir öffnete die Mappe vorsichtig einen Spalt, um nachzusehen. Ein kurzes scharrendes Geräusch verriet ihm, dass Mufti noch lebte.

»Ich treffe mich jetzt mit meinem Freund und dann komme ich zurück«, sagte er in die Mappe und klappte den Deckel wieder zu, ohne auf eine Antwort zu warten. Dann packte er seinen Fußball unter den Arm und rannte los.

Das Fußballtraining mit Sadiq nach der Schule war eindeutig das Wichtigste in seinem Leben. Ein Tag ohne Fußball erschien ihm wie ein verlorener Tag. Sadiq war Amirs bester Freund. Und sein einziger. Sadiq war schon zwölf Jahre alt. Sagte er jedenfalls. Vielleicht war er auch schon dreizehn oder vierzehn. So genau wusste das niemand, denn er war ohne Familie aufgewachsen. Eine Gruppe vom Jiiddu-Klan hatte auf der Durchreise in Morongo Halt gemacht und Sadiq dagelassen, hatte Tante Edna einmal erzählt. Keiner wusste, warum. Da war Sadiq noch ein kleiner Junge gewesen. Vielleicht hatten sie ihn einfach vergessen. Er war fortan da und rannte mit den anderen kleinen Kindern durchs Dorf. Seine Sprache war anders, denn seine Muttersprache war nicht Somali, sondern Jiiddu, und Somali lernte er nur von den Dorfkindern. Niemand hatte ihm Somali richtig beigebracht.

Sadiq konnte viele tolle Sachen, aber nicht lesen und schreiben. Und etwas rechnen, was er von Amir gelernt hatte. Er ging nicht in die Schule, weil er arbeiten musste. Den ganzen Tag lief er mit den Ziegen aus dem Dorf durch die Wüste und suchte für sie frisches Grünzeug. Ein bisschen war Sadiq schon ein Mann, er kaute sogar Khat-Blätter. Das machten normalerweise nur die erwachsenen Männer, wenn sie zusammensaßen und die berauschende Wirkung der Blätter spüren wollten. Sie wurden dann ganz ruhig und bekamen glasige Augen. Amir hatte den Verdacht, dass Sadiq mit den Blättern auch seinen Hunger betäuben wollte. Sadiq war sehr dünn und der Qamis, sein langes Hemd, schlotterte um seinen Körper. Trotzdem war er stärker als Amir und sehr ausdauernd. Fast jeden Tag, wenn die Ziegen grasten und ihm langweilig war, schnitt Sadiq von den Khat-Büschen die jungen Zweige mit den frischen Blättern ab und band sie mit Grashalmen zu festen Bündeln. Die Bündel verkaufte er im Dorf an die Erwachsenen. Meistens bekam er etwas zu essen dafür, manchmal aber auch Schillinge, die er aufsparte für seinen großen Traum: ein Spiel seines Lieblingsfußballteams Al Ahly Cairo anzuschauen, oder noch besser die ägyptische Nationalmannschaft bei der großen Afrikameisterschaft. Aber dafür musste man viel Geld haben und Amir ahnte, dass es noch lange dauern würde, bis der Traum seines Freundes Wirklichkeit werden könnte. Ihm ging es genauso mit seinem Lieblingsclub Canon Yaoundé aus Kamerun. Die spielten nicht nur tollen Fußball, sie hatten sogar ein erfolgreiches Frauenteam, während Somaliland überhaupt keine bekannten Fußballteams vorzuweisen hatte.

Auch Amir hatte schon ein paar Khatblätter gekaut, die er natürlich von Sadiq bekommen hatte. Außer einem tauben Gefühl im Mund und Müdigkeit hatten die bitter schmeckenden Blätter keine Wirkung gehabt. Jack und Tante Edna waren strikt dagegen, dass er sie kaute. »Solange du wächst und lernen willst, ist das reines Gift für dich. Aber auch als Erwachsener lass am besten die Finger davon«, hatte sein Lehrer ihm geraten. Und weil Jack und Tante Edna eigentlich immer recht hatten, hielt er sich einfach daran.

Als Amir am Treffpunkt eintraf, hockte Sadiq im Schatten neben dem großen Felsen. Ihr Trainingsfeld war eine ebene Fläche von etwa fünfzehn mal dreißig Metern, auf der sie mit schweren Steinen Ecken und Tore markiert hatten. Von der Spielfläche hatten sie dagegen alle größeren Steine entfernt, sodass sie auch mit nackten Füßen darauf laufen konnten, ohne sich zu verletzen. Sadiq erhob sich bei Amirs Eintreffen und strahlte ihn an. »Ich habe gute Neuigkeiten«, sagte er. »Ist eine besondere Überraschung. Wirst du sehen.«

Amir war verwirrt. Eigentlich war er es doch, der außergewöhnliche Dinge zu erzählen hatte. Schließlich begegnete man nicht jeden Tag einem sprechenden Tier. Oder war am Ende doch alles nur geträumt?

»Komm, lass uns zuerst Fußball spielen, sonst ist es nachher zu dunkel dafür.«

»Nein, muss ich dir sofort sagen.« Normalerweise redete Sadiq nicht viel, aber heute war ihm anzusehen, dass er darauf brannte, endlich loszuwerden, was ihn bewegte. Was konnte so wichtig sein, dass es nicht warten konnte, bis sie ein paar Bälle gespielt hatten? Amir legte den Fußball auf den Boden und holte zwei Maisfladen aus dem Beutel, der an seinem Gürtel hing. Sie setzten sich in den Schatten und Amir gab Sadiq seinen Fladen.

»Danke«, sagte Sadiq, »aber bald muss Tante Edna kein Essen nich mehr für mich machen. Sadiq geht nämlich fort von hier.«

»Was?« Amir ließ vor Überraschung beinahe seinen Maisfladen in den Staub fallen. »Du gehst weg? Einfach so? Wieso das denn? Und wohin?«

»Ich fahre auf einen Schiff in fremdes Land«, sagte Sadiq und es klang triumphierend. »Ich werde dort arbeiten.«

»Aber was wird aus den Ziegen? Die brauchen dich doch.«

»Ich fahr mit die Ziegen. Paar wenigstens.«

Amir wusste dazu nichts zu sagen.

»Da staunst du, nich?«, fuhr Sadiq fort. »Ich war mit den Männer aus den Dorf in Berbera, an die Küste, um Ziegen verkaufen. Da sind die große Schiffe aus Saudi-Arabien. Ein Händler hat mit mir geredet. Der kommt aus Saudi-Arabien, aus die Hafenstadt Dschidda. Da suchen sie junge Männer wie ich bin, hat er gesagt. Solche, die mit Tiere Erfahrung haben. Wenn ich mitgehe, bekomme ich dort Arbeit und Zimmer, hat er gesagt. In einen richtigen Haus mit mehrere Etagen. Und noch Geld dazu. Damit kann ich kaufen alle Sachen.«

So viele Sätze hatte Sadiq noch nie auf einmal gesagt. Amir starrte ihn entgeistert an. »Weißt du, was das bedeutet? Wir können uns nicht mehr sehen und auch nicht mehr zusammen Fußball spielen. Mit wem soll ich dann trainieren?« Den letzten Satz hatte er ganz leise gesagt.

Sadiq zögerte. »Vielleicht mit die Jungs aus den Dorf. Die sind nich mehr so klein. Oder die Mädchen«, sagte er etwas verunsichert. »Vielleicht kann ich zu Besuch hier sein. Komm, lass uns mal trainieren, bevor die Nacht ist«, sagte er. Amir nahm lustlos den Ball in die Hand und ging zur Mitte des Platzes. Sie machten ein paar Ballübungen, aber Amir war nicht bei der Sache. Er ließ einfache Bälle durch und einmal schoss er den Ball so fest, dass Sadiq weit über den Spielfeldrand hinauslaufen musste, um ihn wieder zurückzuholen. War Sadiq eigentlich klar, was er eben gesagt hatte? Bedeutete ihm ihre Freundschaft so wenig, dass er bereit war, sie einfach aufzugeben, um alleine woandershin zu gehen und dort unter lauter fremden Menschen zu leben? Was hatte er sich nur dabei gedacht? Amir betrachtete seinen Freund verstohlen. Sadiq ließ sich nichts anmerken. Er tat, als ob nichts passiert wäre.

Nach einer Weile nahm Amir den Ball und ging an den Spielfeldrand. »Ich muss nach Hause, Hausaufgaben machen.« Es war längst nicht dunkel und sie hätten noch gut und gerne eine halbe Stunde zum Spielen gehabt. Aber Amir hatte vollends die Lust verloren. Er war auf einmal wütend und verstand selbst nicht genau, warum. Innerhalb weniger Stunden hatten sich zwei riesige Probleme aufgetan. Erst das seltsame Tier, das sich ihm aufgedrängt hatte und das er eigentlich nicht haben wollte. Und jetzt noch die Aussicht, seinen besten und einzigen Freund zu verlieren. Anstatt auf Sadiq zu warten, nahm er seinen Lederball und verabschiedete sich mit einem kurzen »Salam«. Dann rannte er Richtung Dorf zurück.

Je näher er dem Dorf kam, umso unruhiger wurde er. Was sollte er mit Mufti anfangen? Im Stillen hoffte er, dass sie nicht mehr da sein würde. Vielleicht hatte sie sich die Sache anders überlegt und eigenständig den Weg zu ihrem Reich zurückgefunden. Was sollte das überhaupt für ein Reich sein? Lauter hässliche Tiere, die sich auch noch untereinander stritten? Musste Mufti nicht auch Hunger und Durst haben? War sie in ihrem Versteck geblieben? Oder war sie vielleicht durch die Gegend gekrabbelt und hatte Leute erschreckt?

Als er zu Hause ankam, war alles wie immer. Er ging in die Hütte und sah sich um. Die Schulmappe lag an ihrem Platz im Regal, wo er sie abgelegt hatte. Er klappte den großen Deckel zurück und sah im Halbdunkel die Umrisse der kleinen Königin. Sie lag zusammengerollt in seinem halb geöffneten Schreibetui und schlief. Amir beobachtete sie eine Weile. Nichts bewegte sich. Mufti lag da wie leblos. Schlief sie wirklich? Oder war sie am Ende tot? Was, wenn sie in der Mappe nicht genug Luft bekommen hatte und erstickt war? Als Amir sie mit dem Zeigefinger leicht anstupste, lief ein kurzes Zittern durch den kleinen Körper. Er zog die Lasche des Etuis ein Stück weiter über Mufti und streckte sich auf seiner Strohmatte aus.

5. Laila, die äthiopische Prinzessin

Es traf sich gut, dass Amir am nächsten Tag nicht zur Schule musste. So würde er Zeit haben, sich um Mufti zu kümmern und sich Gedanken zu machen, wie er mit den Neuigkeiten von Sadiq umgehen sollte. Er hatte schlecht geschlafen und von einem gefräßigen Monster geträumt, das durch das Dorf stapfte. Bei jedem seiner Schritte erzitterte der Boden und mit seinen riesigen Säbelzähnen riss es die Dächer von den Hütten. Die Menschen darin schauten in Todesangst zu ihm auf. Aber das Monster war offenbar kein Menschenfresser. Es hob die Menschen aus den Hütten heraus und schnippte sie mit seinen riesigen Klauen beiseite, sodass sie wild durcheinanderpurzelten. Nachdem es alle Dächer abgerissen hatte, ohne etwas zu finden, das ihm gefiel, setzte das Monster sich kurz auf seine riesigen Hinterbeine, schaute nach links und rechts und verließ dann mit donnernden Schritten das Dorf.

Als Amir die Augen öffnete, spürte er den prüfenden Blick von Mufti, die schon wach war und auf der Schulmappe saß. Offenbar war sie so rücksichtsvoll gewesen, ihn nicht zu wecken. »Er ist nutzlos.«

»Was? Wer?«

»Er ist ein nutzloser Mensch«, wiederholte Mufti. »Er arbeitet nicht, er hat keine Kinder, er schläft und isst und trägt nur Zeichen und Bilder umher.«

Amir setzte sich auf und rieb sich die Augen. Sie waren allein in der Hütte. Tante Edna war wie üblich draußen dabei, die erste Mahlzeit des jungen Tages zuzubereiten und Laila lief wahrscheinlich schon durchs Dorf auf der Suche nach kleinen Jungs, die sie ärgern konnte.

»Du meinst mich und meine Schulsachen? Aber ich bin doch erst elf Jahre alt«, verteidigte er sich. »Ich gehe zur Schule und lerne, damit ich später einen richtigen Beruf haben und eine Familie versorgen kann. Außerdem helfe ich Tante Edna bei den Hausarbeiten. Und um Laila kümmere ich mich auch, weil unsere Eltern …«

»Pah, schon so alt und trotzdem nutzlos wie ein Neugeborenes«, fiel Mufti ihm ins Wort. »Im Volk der Königin arbeiten alle Untertanen, sobald sie laufen können.«

Amir hatte keine Lust auf Streit am frühen Morgen und sagte lieber nichts mehr. Sollte er sich schämen für das Glück, zur Schule gehen zu können, während andere schon als Kinder arbeiten mussten? Sadiq zum Beispiel. »Wir sind eben verschieden. Wenn du unser Leben kennenlernst, wirst du uns verstehen«, sagte er beschwichtigend.

»Er rede die Königin mit Hoheit an, so wie es sich geziemt. Und er bringe diese Laila her und stelle sie vor. Die Königin muss alle Untertanen kennen.«

Von wegen Untertanen. Mufti hatte ja keine Ahnung. Laila wäre mit Sicherheit die anstrengendste Untertanin in Muftis Reich.

»Ich kann dir Laila nicht vorstellen, Hoheit. Ich bin doch jetzt für deine Sicherheit verantwortlich und wenn meine kleine Schwester erfährt, dass du hier bist, wird sie es anderen erzählen.«

»Alle sollen wissen, dass die Königin der Säbelzahnwürste im Menschenland weilt und ihr Respekt zollen. Er kann stolz sein, sie beherbergen zu dürfen.«

Amir stöhnte leise auf. Was dachte sich diese kleine hässliche Hoheit bloß? Er sah sich auf eine Katastrophe zusteuern, gegen die sein Monstertraum ein Spaziergang gewesen wäre. Laila würde beim Anblick von Mufti entweder laut loslachen oder sie in die Hand nehmen wollen, wobei er nicht wusste, was schlimmer war. Tante Edna würde darauf bestehen, den Dorfältesten zu informieren. Daraufhin würden die Nachbarn kommen und das Tier verjagen oder sogar noch Schlimmeres, noch bevor er oder Mufti selbst die Situation aufklären könnten. Nein, das durfte auf keinen Fall passieren.

Es hätte so ein schöner Tag werden können. Stattdessen nichts als Probleme. Amir stand auf. »Ich gehe mich waschen … äh … Hoheit. Danach können wir was essen. Versteck dich bitte, damit meine Schwester oder Tante Edna dich nicht sehen, falls sie reinkommen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er nach draußen. Ihre Hütte lag am nördlichen Rand des Dorfes und grenzte an den Platz, auf dem Versammlungen abgehalten und gelegentlich auch Feste gefeiert wurden. Gleich hinter dem Dorfplatz befand sich der Brunnen, an dem sich die Dorfbewohner mit Wasser versorgten. Amir wusch sich das Gesicht und den Oberkörper und strich dann mit kräftigen Bewegungen das Wasser von den Händen. Er hockte sich neben die Wasserstelle und sah sich um. Er hatte keine Lust, zur Hütte zurückzugehen. Am liebsten wäre er zum Fußballplatz gelaufen und hätte sich dort in den Schatten gesetzt. Auch ohne Sadiq. Einfach weg von allen Problemen. Oder zu Jack. Er wusste, was Jack sagen würde, wenn er ihm die Situation erklärte: Man muss sich seinen Problemen stellen, um sie zu lösen. Aber wie? Amir ging langsam zur Hütte zurück. Tante Edna stand bei einer Nachbarin und nickte ihm zu. »Kannst du bitte Laila suchen?«, rief sie ihm zu. »Sag ihr, sie soll später beim Mittagessen helfen.«

»Mach ich«, rief Amir zurück.

Er atmete tief durch und betrat die Hütte. Mufti war nicht zu sehen. »Was isst du so?« fragte er in den Raum.

»Hoheit!«, kam es zurück.

»Was belieben Ihre allergnädigste, allmächtige und allwissende königliche Hoheit zu speisen?« Gut, dass Tiere normalerweise keine Ironie verstehen, dachte Amir. Das wusste er von Jack.

»Hoheit genügt. Das Volk der Säbelzahnwürste ernährt sich von den Früchten seines Reiches.«

»Und das wären?«

»Knollen und Wurzeln.« Mufti kroch aus ihrem Versteck im Regal und reckte herausfordernd ihren Kopf. Ihre winzigen Knopfaugen waren ganz geöffnet und blitzten.

»Okay. Klingt schwer verdaulich. Wo bekommen wir die jetzt her?«

»Er kümmere sich um die Beschaffung der Ernährung. Die Nahrungsaufnahme ist Sache der Königin.«

»Wir haben Hirse und Maiskolben, gehen die auch?«

Keine Antwort.

»Wo soll ich jetzt Knollen herbekommen? Du musst mir schon helfen, Hoheit.«

»Knollen oder Wurzeln.«

Du machst es mir echt nicht leicht, dachte Amir. In diesem Moment hörte er draußen schnelle leichte Schritte und direkt darauf stürmte Laila in die Hütte. Sie warf die mit Holzleisten umrandete Basttür zu und legte den Holzriegel vor. Sie war außer Atem.

Amir erstarrte für einen Moment. Aber Laila hatte zum Glück keinen Blick für das Regal, auf dem Mufti kopfüber im Schreibmäppchen steckte und sich gerade abmühte, auch ihren dicken Hintern hineinzuzwängen.

»Amir, hilf mir. Die Jungs … sie verfolgen mich. Du musst mich beschützen.«

Amir lachte. »Seit wann hast du Angst vor kleinen Jungs? Du hast bestimmt irgendetwas angestellt und jetzt sind sie sauer auf dich.«

Laila schüttelte heftig den Kopf. »Ich musste mich nur wehren, weil sie mich geärgert haben.«

»Okay, aber wie hast du sie so wütend gemacht, dass sie dir hinterherlaufen?«

»Sie haben mich geärgert, weil ich ein Mädchen bin. Zuerst habe ich nur Sachen gesagt. Aber sie hörten nicht auf. Da habe ich ein kleines Tier nach ihnen geworfen.«

»Was für ein Tier?«

Laila zögerte. »Naja, eins, das ich unter einem Stein gefunden habe. Ein Skorpion, glaub ich.«

»Du hast mit einem Skorpion nach den Kindern geworfen?« Amir verdrehte die Augen. »Und da wunderst du dich, dass sie sauer auf dich sind? Das ist kein Spaß, wenn ein Skorpion zusticht. Stell dir vor, er hätte einen der Jungs gestochen. Er hätte auch dich stechen können.«


Typisch Laila. Sie ließ sich nichts gefallen und vergaß jede Angst, wenn man sie ärgerte. Amir nahm seine kleine Schwester in den Arm und drückte ihr einen Kuss auf den Kopf. »Jetzt beruhige dich erst einmal.« Er hatte fast vergessen, dass Mufti im Raum war, die inzwischen nahezu vollständig in seinem Schreibetui verschwunden war. Nur ihr Schwanz schaute noch wie ein Stift heraus und wackelte ein bisschen.

»Komm, wir gehen nach draußen und reden mit Tante Edna. Sie wird mit den Müttern der Kinder reden und alles in Ordnung bringen, okay?« So war es meistens, wenn Laila etwas angestellt hatte. Und das kam oft vor, denn sie hatte dauernd Unfug im Kopf. Amir betrachtete seine kleine Schwester. In ihren blitzenden Augen war ihr Temperament zu erkennen. Die schwarzen Locken waren in ständiger Bewegung. Wenn ihr Vater zu Besuch war, ließ er keinen Blick von ihr. »Schaut mein schönes Mädchen an! Meine kleine äthiopische Prinzessin!«, pflegte er immer wieder auszurufen. »Wie ihre Mutter sieht sie aus. Nach Laila werden sich einmal die Leute auf der Straße umdrehen.«

Amir konnte sich nicht mehr genau erinnern, wie seine Mutter ausgesehen hatte. Er wusste, dass sie aus einem äthiopischen Dorf in der Nähe der Grenze zu Somaliland stammte. Dort hatte sein Vater sie kennengelernt. Ihre Familie lebte dort immer noch, aber Amir war noch nie weiter als bis in die Hauptstadt Hargeisa gereist.

Er versuchte, sich Laila als erwachsene Frau vorzustellen. Das war schwierig, denn Laila benahm sich überhaupt nicht wie eine wunderschöne Prinzessin, sondern wie ein rotzfreches sechsjähriges Mädchen, das nie den Mund halten konnte. Am liebsten lief sie durch das Dorf, ärgerte die Jungs und jagte die Ziegen. Manchmal warf sie mit Steinen nach den Vögeln, die neben der Feuerstelle und dem Mahltrog versuchten, Fladenbrotreste oder Maismehl aufzupicken.

Laila war es vollkommen egal, wie sie aussah. Sie dachte nicht im Traum daran, sich wie ein Mädchen zu kleiden und trug lieber Amirs alte Sachen. Tante Edna ließ sie gewähren, aber Amir sorgte sich manchmal darum, wie es in ein paar Jahren sein würde. Von den älteren Mädchen wurde erwartet, dass sie den Hidschab, ein Kopftuch, und ein langes Kleid, Baati oder Dirac, trugen und sich wie Frauen benahmen. Einmal hatte Amir im Ärger zu Laila gesagt: »Warte ab, wenn du erst mit Hidschab und Baati rumlaufen musst, wirst du aufhören, dich so frech zu benehmen.« Er bereute sofort, was er gesagt hatte, aber Laila hatte gar nicht vor zu weinen.

»Zieh deinen blöden Hidschab doch selber an«, fauchte sie ihn an. »Ich ziehe an, was ich will.«

Amir war stolz darauf, dass das pfiffigste Mädchen im Dorf seine Schwester war. Er entriegelte die Tür und schob Laila vor sich her nach draußen.

Tante Edna saß neben der Feuerstelle und knetete in einer Schale auf dem Schoß zerstoßene Hirsekörner mit Wasser zu einem klebrigen Brei.

»Laila kann dir jetzt helfen«, sagte Amir. »Die anderen Kinder haben sie wieder geärgert. Sie hat mir alles erzählt. Wenn jemand kommt, um sich über sie zu beschweren, dann kannst du sagen, sie hat sich nur gewehrt.«

Laila nickte zur Bestätigung. Tante Edna lächelte wissend. Sie kannte diese Geschichten schon und fragte lieber nicht nach Einzelheiten. Amir ging in die Hütte zurück.

Der Tag war fast vergangen und Amir war müde und unzufrieden. Er hatte etwas gelesen, Schulaufgaben gemacht, Wasser geholt und eine Stunde vergeblich nach Sadiq gesucht, um ihm beim Ziegenhüten Gesellschaft zu leisten. Mufti hatte sich nicht gerührt. Von dem Wasser und einem Stück Maiskolben, das er ihr hingestellt hatte, bevor er aufgebrochen war, hatte sie nichts angerührt. Ob sie beleidigt war? Amir beschloss, früh schlafen zu gehen, sogar noch vor Tante Edna. »Ich hoffe, du wirst nicht krank«, sagte Tante Edna besorgt. Amir schüttelte nur den Kopf. Er rollte seine Schlafmatte auf dem Boden aus und legte sich darauf.

Waren Säbelzahnwürste eigentlich nachtaktive Tiere? Er musste unbedingt mehr über sie herausfinden. Klar konnte er Mufti selbst fragen. Aber er wollte lieber auch Informationen von einer neutralen Seite bekommen. Er würde Jack bitten, in seinen Büchern nachzusehen. Darunter waren mehrere Tierbücher. Und wenn sich da nichts fand, könnte Jack in seinem Computer nachsehen. Darin war das Wissen der ganzen Welt gespeichert. Und wenn er eine Funkverbindung zu diesem Wissen hatte, brauchte er nur einen Begriff in den Computer zu tippen, damit dieser sein Wissen zu diesem Begriff in Sekundenschnelle ausspuckte. Da würde selbst Mufti staunen.

6. Im Reich der Säbelzahnwürste

Abdi machte sich Sorgen. Schon eine ganze Weile hatte er die Königin nicht gesehen. Dabei entsprach es ganz und gar nicht Muftis Art, sich zu verstecken. Genau genommen vermisste Abdi sie seit ihrem Streit mit der Arbeiterin Zefira und der Wächterin Jamila. Als zweiter Wächter von Mulland war Abdi vor allem für den Schutz des Reiches gegen äußere Feinde verantwortlich. Aber wenn es Streitigkeiten im Land gab, durfte er nicht einfach zusehen. Abdi gab dem ersten Wächter Bescheid und verließ seinen Wachposten am höchsten Punkt der Kolonie. Er machte sich auf, um die Königin zu suchen. Zuerst kontrollierte er die vordere königliche Höhle. Da war Mufti nicht. Dann lief Abdi ziellos durch einige Gänge. Zwischendurch blieb er stehen, schnüffelte und horchte. Keine Spur von Mufti. Dann kehrte er zum Ausgangspunkt zurück und beschloss, die ganze Kolonie systematisch abzusuchen.

Es war eine erbitterte Auseinandersetzung gewesen. Zefira und Jamila hatten angefangen. Sie fühlten sich genauso stark wie Mufti und jede von ihnen wäre selbst gerne Königin von Mulland geworden. Stattdessen mussten sie von Mufti Befehle entgegennehmen. Das passte ihnen nicht. Und dann hatte Mufti sie auch noch in der Fresshöhle vor allen anderen getadelt.

»Jamila, was macht sie hier?«, sagte Mufti. »Vor dem Fressen kommt die Arbeit. Sie begebe sich sofort zu ihrer Arbeitsstelle.« Muftis Blick schweifte weiter und sie entdeckte Zefira. »Sie frisst und überlässt ihre Arbeit den anderen? Was ist sie für eine Wächterin? Sie schäme sich.«

Die beiden Angesprochenen waren empört. Sie rannten auf Mufti zu und blieben so nah vor ihr stehen, dass sich ihre Säbelzähne beinahe berührten.

»Wir haben genauso viel gearbeitet wie alle anderen auch«, fauchte Zefira und Jamila neigte zustimmend ihren Kopf. »Die Königin soll sich in Acht nehmen, sonst ist sie bald keine Königin mehr«, fügte Zefira hinzu und plusterte sich so weit wie möglich auf.

»Sie wage es nicht zu drohen«, fauchte Mufti zurück. »Wächter! Sie mögen mir diese widerspenstigen Untertanen vom Leibe halten!«

Abdi und eine erfahrene Arbeiterin liefen herbei. »Hört auf zu streiten«, versuchte Abdi zu besänftigen. Ohne Erfolg. Schließlich waren alle aufeinander losgegangen. Sogar Blut war geflossen, aber schließlich war es Abdi und der Arbeiterin gelungen, die Kämpfenden zu trennen. Zum Glück war niemand ernsthaft verletzt. Abdi war froh, dass ihn selbst die Streitigkeiten nicht betrafen. Als Säbelzahnwurstmännchen konnte er sowieso nicht König werden. Es gab immer nur eine Königin. Und nun war sie verschwunden.

Abdi überlegte, wo er mit der Suche beginnen sollte. Am besten bei den königlichen Privatgemächern und dem Harem. Dort, in einem Seitengang, wohnten Sansi, Tufta und Belim. Tufta und der dicke Belim waren Muftis persönliche Diener, solange Abdi denken konnte. Sansi war der jüngste und erst kürzlich dazugekommen. Die drei lagen zusammengekuschelt in einer Ecke und schliefen.

»Habt ihr Mufti gesehen?«, fragte Abdi und schaute in die Runde. Keiner der drei reagierte.

»Hallo, ich habe euch etwas gefragt.«

Sansi hob kurz den Kopf. »Ich nicht«, sagte er.

»Ich auch nicht«, sagte Belim.

»Was ist mit dir Tufta?« Abdi wurde ungeduldig. Tufta kuschelte sich noch enger an Belim. »Ich weiß nichts, darf ich weiterschlafen?«

Ganz schön faul, dieser Harem, dachte Abdi und lief zum Haupttunnel zurück. Ein Stück weiter war eine Truppe von vier Säbelzahnwürsten dabei, einen neuen Gang zu graben. Zwei von ihnen lockerten mit ihren Säbelzähnen und Vorderfüßen die Erde und schoben sie mit den Hinterbeinen in den Gang. Die anderen beiden trugen die abgegrabene Erde in ihren Mäulern in einen nicht mehr benutzten Gang. Diese vier hatten bestimmt nichts gesehen und Abdi beschloss, sie nicht bei der Arbeit zu stören.

Er lief weiter durch den Haupttunnel. Keine von den Säbelzahnwürsten, die ihm entgegenkamen, hatte Mufti gesehen. Natürlich wussten alle von dem Streit mit den Arbeiterinnen. An seinem Ende verzweigte sich der Haupttunnel in drei kleinere Gänge. Aus dem mittleren tönte ein anhaltendes Summen. Er führte zum Kinderbereich, wo der größere Nachwuchs auf die jüngsten Säbelzahnwürstchen aufpasste. Ziemlich unwahrscheinlich, dass Mufti sich hier aufhielt. Sie hat sich noch nie besonders für ihren Nachwuchs interessiert, dachte Abdi. Trotzdem bog er in den mittleren Gang ein, der in der Kinderhöhle endete. Es war die wärmste Stelle der ganzen Kolonie. Hier tobten und purzelten die Säbelzahnwürstchen so laut durcheinander, dass Abdi sich kaum Gehör verschaffen konnte. »Ruhe!«, brüllte er und für einen kurzen Moment waren alle still. »Ist die Königin hier?« Als das Summen wieder einsetzte, trat er den Rückzug an. Mufti war auf keinen Fall hier. Sie würde den Lärm gar nicht aushalten.

Die beiden anderen Gänge waren Sackgassen, in denen die kugelrunden Kotklümpchen abgelegt wurden. Dort war Mufti bestimmt nicht. Abdi pfiff trotzdem kurz hinein und lief dann zurück. Jetzt blieben noch die Schlafräume der Arbeiter und Wächter, die Vorratshöhle und die Fresshöhle. Irgendwo musste Mufti doch sein.

Vor dem Zugang zu den Schlafhöhlen der Arbeiter und Wächter standen Zefira und Jamila, die Konkurrentinnen von Mufti.

»Ich suche Mufti«, sagte Abdi.

»Wenn du sie siehst, richte ihr aus, sie soll sich bloß nicht bei uns blicken lassen«, sagte Zefira kampflustig. Jamila streckte Abdi wortlos ihre Vorderpfote entgegen, auf der eine Bisswunde zu sehen war.

»Ich lasse mir von Mufti nichts mehr sagen«, schimpfte Zefira weiter. »Sie ist selbstsüchtig und hat keinen Respekt vor unserer Arbeit.«

»Wir wissen alle, wie Mufti manchmal ist«, entgegnete Abdi. »Aber wir kennen auch ihre Vorzüge. Sie ist stark, mutig und weise. Sie trägt eine große Verantwortung und führt Mulland erfolgreich seit langer Zeit. Deshalb ist und bleibt sie unsere Königin. Wenn ihr etwas passiert ist, seid ihr schuld daran.«


Abdi lief weiter. Seine letzte Hoffnung war die Vorratshöhle mit der daneben liegenden Fresshöhle. Schon im Gang davor roch es verführerisch nach Knollen und Wurzelstücken. Hier hielt sich Mufti am liebsten auf, wenn sie ihre Privatgemächer verließ.

In der Vorratshöhle herrschte ein buntes Treiben. Dennoch ging es nirgendwo so geordnet zu wie hier. Jede Säbelzahnwurst wusste genau, was sie zu tun hatte. Einige holten Vorräte vom Ende der Höhle zum Eingang, andere brachten diese in die Fresshöhle nebenan. Eine zweite Gruppe schob neue Vorräte bis ans Ende der Höhle und stapelte sie dort auf. So wurde sichergestellt, dass die


Vorräte nicht verfaulten und alle Säbelzahnwürste genug zu fressen bekamen.

In der Fresshöhle stärkten sich die erwachsenen Arbeiter und Wächter. Es war ruhiger und übersichtlicher als in der Vorratshöhle. Abdi erkannte mit einem Blick, dass Mufti nicht hier war. Nun hatte er die ganze Kolonie erfolglos abgesucht. Das ließ nur einen Schluss zu: Mufti hatte offenbar Mulland verlassen, ohne jemandem Bescheid zu geben. Abdi war ratlos. Er musste dem ersten Wächter von Mulland Meldung machen. Das war Mursi. Er entschied, wann Ausgänge zur Erdoberfläche gegraben wurden und kontrollierte sie. Abdi lief zurück.

»Ich muss dir etwas Wichtiges mitteilen«, sagte Abdi. »Unsere Königin ist nirgends aufzufinden. Sie hat die Kolonie verlassen, ohne dass wir es bemerkt haben.«

»Das ist nicht möglich«, sagte Mursi. »Ich war die ganze Zeit auf meinem Posten.«

»Doch«, widersprach Abdi. »Sie muss sich selbst einen Ausgang gegraben und wieder verschlossen haben. Vermutlich aus ihrem Privatgemach.«

»Erstaunlich, dass wir nichts bemerkt haben« sagte Mursi und wiegte nachdenklich den Kopf. »Sie kann noch nicht lange weg sein.«

»Möglicherweise befindet sich die Königin in Gefahr«, sagte Abdi. »Wir müssen handeln und einen Suchtrupp nach draußen senden.«

»Jetzt warten wir erst einmal ab«, beruhigte ihn Mursi. »Mufti ist stark und erfahren. Sie wird zurückkommen. Bis dahin müssen wir Wächter dafür sorgen, dass aus dem entstandenen Streit kein Aufstand wird.«

»Ich mache mir trotzdem Sorgen«, sagte Abdi. »Keine der Arbeiterinnen ist mächtig genug, um sie zu ersetzen. Ich hoffe, Mufti kehrt bald zurück.«

Amir und die Säbelzahnwurstkönigin

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