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Die Begriffsvielfalt des Bösen

Böses, Übel und Leid

Für das ‚Böse‘ gibt es keine allgemeinverbindliche Begriffsdefinition. Deutlich wird aber, dass das deutsche Hauptwort ‚das Böse‘ einen Oberbegriff für alles mögliche Negative und Zerstörerische im menschlichen Leben darstellt. Im Laufe der Geschichte wurde er allerdings je nach den gesellschaftlichen Kontexten unterschiedlich bestimmt. Unter dem Begriff des Bösen lässt sich heute vieles zusammenfassen: Leid und Übel, Krankheit und Tod, zerstörende Naturkräfte und unmoralisches Verhalten, Aggression und Aggressivität, Unheil und Ungerechtigkeit, Unzulänglichkeit und Unzuverlässigkeit, Fahrlässigkeit und Vernachlässigung etc. (vgl. Knoche, 2002). Der Kirchenlehrer Augustinus nennt es kurz und präzise: Es ist „das, was schadet“ (Augustinus, in: Häring, 1999).

Seit der Antike wird das Böse in der westlichen Kultur mit dem sogenannten ‚Übel‘ identifiziert. Man unterscheidet deshalb das physische oder körperliche Übel (malum physicum), das moralische Übel (malum morale) und das metaphysische Übel (malum metaphysicum). Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), der große Philosoph, Mathematiker und Staatsmann, hat diese seit der Antike bekannten Einordnungen in seiner ‚Theodizee‘ weiterentwickelt: Das ‚physische Übel‘ entsteht aus der Natur und ihrer Anlage sowie Dingen und Umständen heraus (Schmerz, Entbehrung, Krankheit, Unglücke, Enttäuschungen). Diese Form des Übels ist nicht eigentlich mit dem Bösen gleichzusetzen, denn es kommt jedem lebenden Wesen und damit auch den Tieren und Pflanzen zu und entsteht nicht aus freien Entscheidungen. Das ‚moralische Übel‘ hat direkt mit dem Menschen zu tun. Es umfasst alles Schädliche, Zerstörung und Verletzung, die von Menschen absichtlich zugefügt werden. Für moralische Übel sind die Menschen verantwortlich, da nur sie Willensfreiheit besitzen. Der Begriff des moralischen Übels ist mit dem Begriff des Bösen identisch (vgl. Häring, 1999).

Leibniz kommt durch einen logischen Schluss auf die dritte Form, das metaphysische Übel. Wenn Gott der ‚Erste Beweger‘ ist, der die Welt erschaffen hat, und er gleichzeitig das höchste Gute, die Wahrheit und die Barmherzigkeit in Vollendung ist, dann hat er mit dieser Welt auch die beste aller möglichen Welten geschaffen. Trotzdem ist die Welt endlich; die Menschen müssen Tod und Leiden in Kauf nehmen als selbstverständliches Ende alles Lebendigen. Übel waren offensichtlich göttlicherseits bei der Erschaffung der Welt nicht zu vermeiden. Somit ist für Leibniz das metaphysische Übel letztlich ein Geheimnis für den Menschen, der das Handeln Gottes (noch) nicht richtig verstanden hat.

Oft wird das Böse nicht ganz korrekt mit dem Leiden gleichgesetzt. Das Leiden oder Leid (‚in die Fremde müssen, Not erfahren‘) meint das Erleben des Negativen; der Mensch erfährt, wie er den Zufällen seiner Umgebung hilflos ausgesetzt ist (z. B. durch Naturkatastrophen, Gewalt). Das Leiden wird deshalb nicht mit dem Bösen gleichgesetzt, weil es in diesem strengen Sinn nicht von Menschenhand gemacht ist. Die Begriffe des Übels, des Bösen und des Leidens werden in der Alltagssprache meist nicht voneinander getrennt, sondern gleichwertig benutzt. Ihre Unterscheidung wird aber vor allem deshalb vollzogen, um das menschliche Böse vom Leiden zu unterscheiden. Beide Begriffe stellen die Grundlage der Frage nach der Rolle Gottes in der Welt dar.

Entscheidend für den Begriff des Bösen ist der freie Wille des Handelnden. Böse sind Handlungen nur dann, wenn sie frei und ohne Zwänge erfolgen, man also die Wahl hat, sich auch gegen das Böse zu entscheiden. Wer dagegen z. B. psychisch beeinträchtigt ist und Stimmen hört, die ihn zu schlimmen Taten drängen, ist erkrankt, nicht böse. Den betroffenen Menschen fehlt es nämlich an der Möglichkeit, unabhängige Entscheidungen zu fällen.

Das Böse zeigt sich nur in menschlichen Ereignissen, Handlungen und Wirkungen. Tiere können nicht ‚böse‘ sein, denn sie haben als instinktgesteuerte Wesen keine Handlungsalternative: Der Wolf muss das Lamm fressen. Er kann nicht ersatzweise auf Heu oder Soja ausweichen. Das Böse lebt deshalb nur in der (un-) menschlichen Tat und ist abhängig von dem Vorsatz, Handlungen mit böser Absicht ausüben zu wollen.

Im letzten Jahrhundert ist darüber hinaus der Begriff des ‚strukturellen Bösen‘ entwickelt worden. Hierbei wird das Böse nicht im Handeln Einzelner, sondern in den Strukturen und Regeln ganzer Gruppen und Gesellschaften gesehen. Nicht der individuelle Mensch gilt hier als böse, sondern ein System gesellschaftlicher Mechanismen, denen der Einzelne sich nicht entziehen kann.

Vom Bösen sind Fahrlässigkeit sowie Irrtümer und Fehler zu unterscheiden. Der juristische Begriff der Fahrlässigkeit meint das ‚Außer-Acht-Lassen von erforderlicher Sorgfalt‘ (z. B. bei der Einhaltung von Verkehrsregeln). Dies beruht nicht auf Vorsatz (vgl. Evens, 2009). Damit gehört Fahrlässigkeit strenggenommen nicht zum Bösen, es sei denn, es besteht ein Vorsatz, sich nicht an Regeln zu halten. Irrtümer und Fehler sind ebenfalls nicht als böse zu bewerten, weil sie nicht auf freier Entscheidung beruhen. Ein Irrtum ist eine Überzeugung, die auf falschen Annahmen beruht. Ein Fehler meint den Wert eines Merkmals, welches vorgegebene Forderungen nicht erfüllt (vgl. Hochreither, 2005). Nicht beabsichtigte negative Nebenfolgen von Handlungen oder Verhaltensweisen gelten ebenfalls nicht als böse, sofern sie nicht willentlich angestrebt werden. Sie ‚passieren‘ dann vielmehr trotz bester Absicht.

Der christliche Begriff des Bösen

Das Christentum verstand im Rahmen der antiken und mittelalterlichen Konzepte zuerst sowohl das von Menschen verursachte Übel wie natürliche Katastrophen als ‚böse‘. Seit dem 18. Jhdt. bezeichnet die Kirche mit dem Begriff des Bösen nur das Übel, das vom Mensch aufgrund seiner Willensfreiheit ausgeht. Tsunamis, Erdbeben, Vulkanausbrüche etc. sind – trotz aller negativen Wirkungen – nicht als böse zu bewerten, da der Mensch hierüber keine Macht hat.

Das personale Böse im Menschen beruht nach christlicher Überzeugung auf einer schlechten Gesinnung, aus der Taten und Handlungen folgen, die anderen Menschen oder deren Umwelt schaden. Durch das Gewissen kann der Mensch das Grundgesetz der Sittlichkeit entdecken: „Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muß und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen aufruft und, wo nötig, in den Ohren des Herzens tönt: Tu dieses, meide jenes.“ (GS 16)

Die Freiheit und Kompetenz des Menschen ermöglicht die autonome Wahl zwischen bösen und guten Gedanken, Worten und Taten. Das Böse entstammt demnach der freien Entscheidung des Menschen und entsteht nicht durch von außen oder innen auferlegte Zwänge. Nur wer sich bewusst und frei gegen das Tun des Guten und für das Umsetzen des Bösen entscheidet, handelt tatsächlich böse. Bei aller Fähigkeit zur Selbstbestimmung darf nach kirchlicher Lehre der Mensch nicht versuchen, sich etwa selbst an die Stelle Gottes zu setzen. Gut und Böse sind dem Menschen durch Gott vorgegeben und können nicht autonom festgelegt werden (vgl. Deutsche Bischofskonferenz, 2006b).

Zum Bösen gesellt sich auch der Begriff der Sünde. Dieser ist ursprünglich ein eindeutig religiöser Ausdruck. Sein Vorteil liegt in seiner genauen Begrenzung des Bösen auf die freie und bewusste, „also voll verantwortliche und existentiell radikale Entscheidung gegen den eindeutig erkannten Willen Gottes“ (Vorgrimler, 2000), d. h. die absolute Abkehr und Entfremdung von Gott. Dies meint die Kirche mit ‚schwerer Sünde‘ bzw. ‚Todsünde‘. Es geht demnach bei Sünden nicht um Bagatellen, wie z. B. das unerlaubte Essen einer Frucht (vgl. Gen / 1 Mose 3,6). Auch sexuelle Verfehlungen sind keine Todsünde, sofern damit nicht die radikale Abwendung von Gott verbunden wird.

Die katholische Kirche unterscheidet zwischen ‚schwerer Sünde‘ bzw. ‚Todsünde‘ und ‚leichter‘ bzw. ‚lässlicher Sünde‘. Ob jede Sünde auf einer autonomen Willensentscheidung beruht, zeigt die nachträgliche persönliche Identifikation des Menschen mit ihr. Distanzierung und Reue offenbaren dementsprechend, dass es hier evtl. Ambivalenzen gibt oder die böse Tat nicht auf Willensfreiheit beruht. Bei einer lässlichen oder leichten Sünde ist im Gegensatz zur Todsünde Willensfreiheit oder klare Erkenntnis eingeschränkt oder der Sachverhalt ist weniger von Bedeutung. Der Gebrauch falscher Mittel für ein gutes Ziel oder eine defizitäre menschliche Handlung, die eigentlich auf das Gute ausgerichtet ist, kann u. a. als lässliche Sünde beurteilt werden.

Die katholische Lehre von der Erbsünde meint im Kern die ‚Ursünde‘ Adams und Evas aus dem Alten Testament, d. h. die Bereitschaft der biblischen Stammeltern der Menschheit, sich von der Gemeinschaft mit Gott zu trennen (vgl. Gen / 1 Mose 3,1–24). Durch Abstammung tragen alle Menschen diese Hinwendung zum Schlechten mit sich. Durch die Taufe wird diese ‚Erbsünde‘ getilgt (vgl. Eph 4,22; Kol 3,9–10). Trotzdem bleibt auch nach der Taufe die menschliche Begierde zurück, wobei die Kirche diese nicht nur in ihren sexuellen, sondern auch in ihren geistigen Formen kennt (Hochmut, Erkenntnisgewinn um jeden Preis). Das Christentum macht den Begriff des Bösen sowohl am individuellen Menschen wie an Gruppen und Gemeinschaften fest, die dann als ‚böse‘ beurteilt werden (vgl. Deutsche Bischofskonferenz, 2006a).

Seit den 1960er Jahren existiert der Begriff der ‚strukturellen Sünde‘ entsprechend dem des ‚strukturellen Bösen‘. Der Begriff der strukturellen Sünde wurde in der sogenannten Befreiungstheologie entwickelt, die sich auf die Seite der Benachteiligten und Armen stellt und deren Befreiung aus Ungerechtigkeit und Unterdrückung sie theologisch reflektiert und vorantreiben will. Diese Sündenkategorie ist durch die Amtskirche stark kritisiert worden. Sie bezeichnet aber das zweifellos vorhandene gesellschaftliche Unrecht bzw. eine allgemeine Verfallenheit der Welt an Angst und Verzweiflung, „die an Gott irre werden läßt“ (Vorgrimler, 2000).

Die Gesichter des Bösen

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