Читать книгу Eine amerikanische Liebe - Dorothy Ettrich - Страница 3

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Kapitel 1

Wo war sie nur gelandet? Ridgerock, Montana war auf den ersten Blick klein und lag ein wenig verschlafen in dem mittäglichen Sonnenglast. Marie parkte in der Hauptstraße mit dem klangvollen Namen „Thomas-Jefferson-Avenue“ und betrachtete die Szenerie: Ein Geschäft reihte sich an das andere, die Häuser mit Veranden und Balustraden davor waren überwiegend aus Holz gebaut. Zwischen den Holzhäusern mischten sich Flachdachbauten aus Stein, die wie hingewürfelt schienen. Marie hatte sich in ihrer Kindheit den Wilden Westen immer so oder zumindest so ähnlich vorgestellt, aber sie hatte sich nicht vorgestellt, ausgerechnet jetzt hier in Ridgerock zu sein, denn nach ihrer Straßenkarte war Ridgerock eher ein kleiner unbedeutender Punkt. Sie hatte jedoch auf dem Weg zum Yellowstone Park eine Abfahrt vom Highway verpasst.

Im Moment breitete sich ein Gefühl von Hilflosigkeit in ihr aus. Bereits zweimal hatte sie sich während dieser Reise verfahren, aber immer mit Glück und einer gewissen Intuition wieder die richtige Straße gefunden, obwohl ihr Orientierungssinn nicht sonderlich ausgeprägt war. Aber jetzt hatte sie den Eindruck, inmitten der amerikanischen Wildnis zu stehen.

Marie studierte sorgfältig die Karte, um so schnell wie möglich wieder auf eine Straße in Richtung des Yellowstone Parks zu kommen, auf keinen Fall wollte sie den ganzen Weg zurückfahren. Die Karte zeigte aber leider kein Erbarmen mit ihr. Sie war einfach zu grob für diese kleinen Orte und Straßen abseits der Hauptverkehrswege und Marie beschloss, erst einmal einen Kaffee zu trinken und bei der Gelegenheit jemanden nach dem Weg zu fragen.

Sie wendete ihr Auto, einen gemieteten Toyota Camry, und fuhr zu dem großen Einkaufszentrum, das am Ortseingang ausgeschildert gewesen war. Diese Zentren gab es selbst in der kleinsten amerikanischen Ortschaft.

Als sie die Avenue hinunterfuhr, blickte sie direkt auf ein riesiges Schild, das einen Rodeoreiter auf einem bockenden Pferd zeigte. Marie kniff ihre Augen gegen die Sonne zusammen und las, dass heute Nachmittag in Ridgerock ein Rodeo stattfindet.

Ihre Neugierde war sofort geweckt, denn noch nie hatte sie ein Rodeo gesehen, deshalb überlegte sie, nach dem Kaffee dorthin zu fahren, denn mit einem Rodeo verband sich für sie eine romantische Westernbegeisterung.

Aber, dachte Marie, wenn ich mir das Rodeo anschaue, kann ich heute unmöglich noch weiter zum Yellowstone Park fahren. Das heißt, ich brauche ein Zimmer in diesem Städtchen. Nun, das würde wahrscheinlich das geringste Problem sein.

Marie Belandres war das erste Mal in den USA. Sie war am Chiemsee als jüngste Tochter eines Tischlers und Möbelschreiners aufgewachsen und wohnte jetzt in München, war vierundzwanzig Jahre alt und studierte Wirtschaftswissenschaften im siebten Semester. Im Sommer des nächsten Jahres würde sie mit ihrem Studium fertig sein. Diese Reise mit dem Auto durch den Westen der USA hatte sie sich geschenkt. Marie arbeitete viel in den Semesterferien, um sich ihr Studium zu finanzieren. Ihre Eltern waren zwar nicht arm und sie bekam selbstverständlich von ihnen ab und zu einen Zuschuss für ihr Studium. Aber Marie wollte finanziell unabhängig sein.

Sie war eine gute Studentin und beliebt bei den Kommilitonen. Der ihr eigene Charme war in der Universität und bei ihren Freunden sprichwörtlich. Sie hatte eine zierliche und sportliche Figur, denn sie joggte jeden Morgen eine halbe Stunde, egal wie das Wetter war. Ihr ovales Gesicht war hübsch und interessant, aber nicht im klassischen Sinn schön. Es wurde von großen tiefblauen Augen beherrscht, die wie dunkle Bergseen wirkten. Ihre Nase war schmal und klein und jeder, der Marie ansah, schaute sie immer wieder an, denn wenn sie lachte, schien die Sonne aufzugehen. Ihr dichtes, volles Haar war dunkelbraun mit einem goldenen, kupfernen Ton, der Lichtreflexe zu werfen schien. Sie trug es oft bis zu der Taille offen, sofern sie Lust dazu hatte. Sehr viel öfter flocht sie ihre Haare zu einem dicken Zopf. Marie war sich nicht bewusst, wie sie auf andere Menschen wirkte. Sie war eine äußerst attraktive Erscheinung und kokettierte nicht mit ihrem Äußeren, so dass sie dadurch erfrischend natürlich und nett aussah. Dass sie schön war, wenn sie sich die Mühe machte, ihr Gesicht zu schminken, ahnte Marie, weil sie sich dann vor Komplimenten nicht retten konnte. Meistens lief sie allerdings ohne Make-up, natürlich durch ihr Leben, denn Marie war immer beschäftigt und hatte nie richtig Zeit.

Nur mit der Liebe haperte es sehr, bisher hatte Marie noch nicht den Einzigen gefunden. Während des letzten Semesters war sie mit einem Kommilitonen aus England liiert gewesen, der ein Austauschsemester an der Universität in München gemacht hatte. Max. Von seiner Seite war es sicher mehr als nur die Liebelei gewesen, die es für Marie gewesen war. Sie selbst war immer der unumstößlichen Auffassung gewesen, dass sie es wissen würde, wenn plötzlich der Richtige vor ihr stand. In diesem Punkt war sie hoffnungslos romantisch, wie ihre beste Freundin Caro zu sagen pflegte. Aber, um ein bisschen Abstand von München und Max zu bekommen, hatte sie sich entschlossen, in diesem Sommer möglichst weit weg zu fahren, denn die Trennung von Max war eher unschön gewesen.

Inzwischen hatte Marie das Einkaufszentrum erreicht, bog rechts auf den großen Parkplatz ab und hielt Ausschau nach einem schattigen Parkplatz. Sie hatte zwar einen Wagen mit Klimaanlage, doch sie wusste, dass es sehr viel angenehmer sein würde, wenn sie den Toyota in den Schatten abstellte. Aber der Wunsch nach etwas Schatten war vergeblich.

Marie stieg aus und die Hitze traf sie mit einer Wucht, die sie schnell das nächste „Starbucks“ ansteuern ließ. Sie setzte sie sich an das große beschattete Fenster und studierte die Speisekarte, die genauso aussah wie im „Starbucks“ in München.

Eine junge blonde Frau steuerte auf sie zu: „Hallo, was darf es sein?“, fragte sie freundlich. Marie las auf ihrem Namensschild, dass die Frau June hieß.

„Einen großen Kaffee mit Milch, ein Glas Wasser und ein Stück von dem Käsekuchen, bitte“, antwortete Marie.

Die Kellnerin schrieb die Bestellung auf. Nach ein paar Minuten brachte June ihr die Tasse Kaffee, das Wasser und das Stück Kuchen. Marie bedankte sich und beobachtete die anderen Gäste im Cafe. Das Beobachten anderer Leute war eine Leidenschaft von ihr. Sie überlegte dann immer, was die Leute wohl beruflich machten, ob sie verheiratet waren oder nicht. Ihr fielen immer Fragen und Möglichkeiten ein.

Das „Starbucks“ war gut besucht, man sah dort viele Familien und junge Leute. Sie hörte öfter das Wort „Rodeo“. Also fuhr wohl eine Menge Leute zu dem Rodeo. Umso besser, dann konnte es ja nicht so schwer zu finden sein.

Ein Zimmer brauchte sie auch noch. Wenn sie zum Rodeo wollte und vorher noch ein Zimmer in der Stadt finden wollte, musste sie sich sputen. Nachdem sie gegessen und getrunken hatte, winkte sie nach June: „Ich möchte bitte zahlen.“

„Okay, macht sieben Dollar dreißig“.

„Wissen Sie vielleicht, wo ich ein günstiges Zimmer bekommen könnte?“

„Da müsste ich mal überlegen, Darling. Unten in der Missionstreet, bei Mrs. Ella sind die Zimmer günstig und es ist sauber. Ich weiß aber nicht, ob Mrs. Ella auch mit Frühstück anbietet.“

„Danke, das wäre egal. June, könnten Sie mir dann bitte noch den Weg zur Missionstreet beschreiben und netterweise auch den Weg zum Rodeo?“

„Sicher, Sie fahren rechts vom Parkplatz zur Jeffersonstreet, diese geradeaus Richtung stadteinwärts. Von der Jefferson fahren Sie an der dritten Ampel links ab in den Bourrough Boulevard, dort ist an der Ecke eine große Tankstelle. Und an der fünften Kreuzung rechts biegen Sie wieder ab in die Missionstreet. Dort ist es die Nr.1345. Es ist ein weißes Holzhaus mit großem Schild ‚Ellas Best‘. Es ist dann nicht zu verfehlen. Wenn Sie die Mission dann weiterfahren, kommen Sie aus der Stadt hinaus. Sie fahren zwei Meilen, dann sehen Sie rechts ein großes Hinweisschild ‚Rodeo‘. Dort biegen Sie links ab und folgen den Pfeilen. Nach fünfzehn Minuten sind sie am Stadion. Sie werden es schon von Weitem erkennen, an dem Parkplatz und den vielen Trailern. Viel Spaß beim Rodeo und schöne Grüße an Mrs. Ella. Sagen Sie, June hätte Sie geschickt.“

„Danke June, ich hoffe, ich finde alles. Einen schönen Tag“, Marie lächelte die Kellnerin freundlich an.

“Wie nett sie ist“, dachte June, „Ein interessantes Gesicht. Was für ein hübsches Mädchen, sieht ein wenig exotisch aus. Mit Sicherheit ist sie keine Amerikanerin.“

Maries Neugierde auf das Rodeo war größer geworden. Das Interesse umschloss auch Mrs. Ella. Ridgerock nahm sie allmählich gefangen, obwohl es doch nur eine kleine amerikanische Stadt in Montana war.

Marie nahm die Straßen, wie von der Kellnerin beschrieben. Sie fuhr langsam und sorgfältig, um sich nicht noch einmal zu verfahren. Aber andererseits, dachte sie, kann ich dann auch noch einmal jemanden fragen, es sind ja genügend Leute in der Stadt unterwegs.

Nach einer knappen halben Stunde bog Marie mit dem Auto endlich in die Missionstreet ein. Tatsächlich fand sie die Pension sofort. Das Schild „Ellas Best“ war wirklich unübersehbar. Mein Gott, dachte Marie entsetzt, wie kann man in dieser ruhigen und verschlafenen Straße nur ein derartiges Schild aufstellen. Es war tatsächlich zwei Mal zwei Meter groß und stand direkt an der Straße. Der Hintergrund war grellorange und darauf stand in knallgrün „Ellas Best“ mit Hochglanzlack und Blockbuchstaben geschrieben.

Das Haus sah wesentlich normaler aus als das eindrucksvolle Schild. Es war ein weißes Holzhaus mit einem kleinen Türmchen auf der linken Seite. Die vordere Veranda war geräumig und mit einem Tisch und drei Korbstühlen möbliert. Das Schönste aber war die Schaukel vor dem Haus. So eine Schaukel hatte Marie sich immer gewünscht.

Sie sah, dass an den Fenstern weiße Spitzengardinen hingen und alles sauber und wie frisch gestrichen wirkte. Wahrscheinlich ist das Schild bei der Renovierung als Farbrest abgefallen, dachte Marie ein bisschen ironisch. Na, hoffentlich hatte Mrs. Ella ein Zimmer frei und es war im Haus genauso nett wie vor dem Haus.

Marie parkte am Straßenrand und ging die Auffahrt hinauf. An der Haustür klopfte sie und sah sich dabei auffällig - unauffällig um. Vielleicht lugte Mrs. Ella schon durch eine der Spitzengardinen? Nein, guter Gott, wie gemein du immer bist, Marie, schalt sie sich selber.

Kurz darauf öffnete sich die Tür. Mrs. Ella stand vor ihr. Eine runde gemütliche Frau von etwa fünfundsechzig Jahren. Das Haar blondiert und sie war ein bisschen geschminkt.

„Was kann ich für Sie tun?“, Mrs. Ella lächelte Marie freundlich an.

„Guten Tag, meine Name ist Marie Belandres. Ich suche ein Zimmer für diese Nacht. Leider habe ich mich auf dem Weg zum Yellowstone Park verfahren und bin hier in Ridgerock gelandet. Und da ich schon hier bin, wollte ich mir das Rodeo ansehen“.

Marie lächelte und es war, als ginge die Sonne auf. Mrs. Ella mochte Marie auf Anhieb. Was für ein hübsches und nettes Mädchen, allerdings nicht von hier.

„Ich heiße Ella Henshaw. Na, dann kommen Sie erst einmal herein. Ein Zimmer habe ich noch frei. Durch das Rodeo ist in Ridgerock alles ausgebucht. Aber Sie haben Glück gehabt. Denn wer weiß, vielleicht ist es Schicksal, dass Sie hier sind?“

Marie lachte lauthals und fröhlich: „Das glaube ich nicht. Es ist eher die Unfähigkeit, eine Straßenkarte richtig zu lesen und dann die richtige Abzweigung zum Yellowstone Park zu nehmen. Ich habe mich schlicht verfahren“.

Marie holte ihre Koffer aus dem Auto und wartete darauf, dass Mrs. Ella ihr das Zimmer zeigte. Diese ging nun behäbig voran und erzählte von dem heutigen Rodeo.

„Heute ist die ganze Stadt auf den Beinen. Das Rodeo ist hier bei uns im Tal jedes Jahr das größte Ereignis. Aber das absolute gesellschaftliche Ereignis ist der Rodeoball heute Abend. Da ist alles was Rang und Namen hat hier im Tal. Na, da sind Sie ja gerade richtig von der Straße abgekommen.“

Mrs. Ella lachte. Auch Marie musste lächeln.

Oben angekommen, stellte Marie die Koffer ab und schaute sich interessiert um. Jede der fünf Zimmertüren, die rechts und links des Flurs abgingen, hatte eine andere Farbe: weiß, rosa, lindgrün, gelb und lila. Es waren alles pastellfarben und kein Vergleich mit zu dem knalligen Reklameschild vor dem Haus. Mrs. Ella schloss die rosa Zimmertür auf und ließ Marie vor sich eintreten.

„Hier ist das Rosenzimmer für Sie. Alle Türen haben Farben von Blumen: rosa für Rosen, weiß für Lilien, lindgrün für Waldmeister, gelb für Tulpen und lila für Veilchen“, Mrs. Ella war sichtlich stolz.

„Das ist sehr hübsch. Oh, das Rosenzimmer ist aber sehr schön“, rief Marie entzückt aus. Die Tapeten, die Gardinen und der Bettüberwurf waren mit einem Muster aus dunkelroten Rosen unterschiedlicher Größe ausgestattet. Der Fußboden war aus abgeschliffenen dunklen Eichenholzdielen. Der kleine Teppich mit einem Rosenmuster passte wunderbar dazu und war entzückend anzusehen. Rechter Hand stand ein antik wirkender Schrank aus Kirschholz und links führte eine Tür in das kleine cremefarbene Duschbad. Die Handtücher und Accessoires im Bad waren ebenfalls in „Rose“ gehalten.

Marie fühlte sich sofort wohl und bedankte sich bei Mrs. Ella. Diese wandte sich ab und schloss die Tür hinter sich, nicht ohne Marie noch einmal auf die Frühstückszeit am anderen Morgen hinzuweisen.

Marie ließ sich aufs Bett fallen und merkte, dass sie doch recht müde war. Aber Mrs. Ella hatte so viel von dem Rodeo und dem sich daran anschließenden Ball erzählt, dass Marie zu neugierig war, um jetzt zu schlafen. Sie öffnete die Koffer und überlegte, was sie anziehen könnte. Die Jeans, die sie trug, war trotz der Klimaanlage im Wagen nach der langen Autofahrt seit dem heutigen Morgen doch ziemlich verschwitzt und das Top war auch nicht mehr richtig schön, so zerknittert wie es war.

Marie duschte und fischte dann aus einem der Koffer eine weite, weich fließende Sommerhose in Mocca und ein Seidentop in Flieder. An die Füße zog sie lilafarbene Ballerinas. Ihre bevorzugten Sommerschuhe, die Flipflops, hielt sie für ein Rodeo nicht angebracht, wer wusste schon, wie der Untergrund dort sein würde. Sie fühlte sich frisch, schick und sprang summend die Treppe hinunter. In Richtung vermuteter Küche rief sie einen Gruß und ging beschwingt zum Auto.

Mrs. Ella erhob sich schwerfällig aus ihrem Sessel, um ihrem hübschen Pensionsgast hinterher zu schauen. Ja, dieses Mädchen war wirklich eine Schönheit und doch wieder nicht ganz perfekt. Aber vielleicht machte das gerade ihren Reiz aus. Das Haar hatte sie hochgesteckt und es schimmerte kupferfarben in der Sonne. Nun, sie würde ganz sicher bei den jungen Männern des Tals für einiges Aufsehen sorgen. Spontan fielen ihr die beiden jungen McGreggans ein. Schade, dass ihre Füße nicht mehr wollten, dann wäre sie der jungen Dame glatt nachgefahren, um ihre Wirkung auf die Männerwelt von Ridgerock zu beobachten.

Marie fuhr unterdessen den beschriebenen Weg entlang und sang einen Countrysong von Jonny Cash im Radio mit. Bei der Abzweigung, an den Hinweisschildern „Old Bear Ranch“ und „Zum Rodeo hier entlang“ bog sie links ab. Nach zwei Meilen sah sie schon eine Menge geparkter Autos. Die Scheiben spiegelten sich in der gleißenden Sonne. Marie suchte sich einen Parkplatz. Leider fand sie wieder nur einen Parkplatz ohne Schatten, der zudem ein ganzes Stück vom Eingang entfernt lag. Wenn sie etwas hasste, dann bei so einer Hitze länger zu laufen. Aber was soll’s, dachte sie und folgte den Hinweispfeilen zum Eingang des Stadions.

Der Parkplatz war riesengroß und Mengen an Menschen liefen mit ihr in die gleiche Richtung. So viele Pferdetrailer wie hier standen, hatte Marie noch nie im Leben gesehen. Sie sah, dass die Pferde und Cowboys hinter dem Stadion waren, dort gab es umzäunte Weiden für Pferde und Rinder. Zwischen all dem Treiben schlenderten die Besucher herum und dazwischen erkannte Marie die Reiter. Sie ging zunächst in die Arena und sah zu, wie einer der Cowboys eine Kuh einfing, sie zu Boden warf und dann wieder freiließ. Jetzt verkündete ein Sprecher eine Pause. Marie sah sich um und beschloss, hinter das Stadion zu den Pferden zu gehen. Pferde waren zwar nicht ihre große Leidenschaft, aber sie war doch sehr neugierig auf die Tiere und die Cowboys. In der Sonne auf die nächste Vorführung zu warten, hatte sie jedenfalls keine Lust.

++++++++++

Pauls Laune war an diesem Tag nicht die beste. Sharadon hatte ihn den ganzen gestrigen Abend mit dem Rodeoball genervt. Hoffentlich lässt sie mich heute in Ruhe, dachte er missgelaunt.

Er liebte dieses jährlich stattfindende Rodeo. Es wurde von seiner Familie für das gesamte Tal ausgerichtet und fand auf dem Gelände der McGreggan-Ranch statt. Inzwischen war das sogenannte Stadion fest gebaut und nicht wie zu früheren Zeiten ein festgestampfter Platz. Das Stadion war umrahmt von einem großen Besucherparkplatz, der aber ansonsten Weideland der Ranch war. Die Korrals und die große Scheune auf dem Platz dienten ebenfalls der Ranch. Heute sollte Paul den schwarzen Mustang reiten. Dieser war wild und hatte einen ungebärdigen Drang nach Freiheit. Aber eigentlich war das Pferd viel zu schade, um in diesem Rodeo aufzutreten. Er hatte auf das Pferd bereits eine Kaufoption abgegeben, um es nach dem Rodeo zu erwerben und zuzureiten. Der Hengst wird mit dem entsprechenden Training sicher ein sehr gutes Rennpferd sein. Es hatte sehr viel Potential und Paul, als ausgesprochen guter Reiter und Züchter, hatte das sofort erkannt. Er hoffte, dass sich das Pferd nicht verletzen würde.

Sein jüngster Bruder Sean lehnte an der Holzwand der Scheune und unterhielt sich mit den Beringer-Schwestern. Paul hörte das Lachen und Kichern der Jüngsten, Jessie-Blue. Alle drei Schwestern warfen immer wieder Blicke in Pauls Richtung. Er war zweifelsohne sehr attraktiv: Über einen Meter fünfundachtzig groß und über dem muskulösen Oberkörper spannte sich das dunkelblau karierte Hemd und die Jeans saß genau so, wie sie sitzen musste. Paul hatte schwarzes, dichtes Haar, das durch zwei Haarwirbel an der Stirn und auf dem Hinterkopf wie Draht wirkte. Seine Augen leuchteten in einem intensiven Blau und blickten interessiert auf das Treiben um sich herum. Er hatte freundliche Augen und schien immer zu lächeln. Lachfältchen umgaben diese blauen Augen, die den Betrachter an die Ozeane der Welt erinnerten. Paul war jetzt gerade sechsunddreißig Jahre alt geworden und auch wenn sein Vater ihn mindestens einmal die Woche auf Sharadon, die hübsche älteste Tochter von Charles Beringer, hinwies, dachte er noch nicht daran zu heiraten.

Tatsächlich ging Paul schon eine ganze Weile mit Sharadon. Dies erschöpfte sich zwar auf gemeinsame Reitausflüge, das übliche Biertrinken und natürlich den Sex. Sharadon Beringer war eine Schönheit, ein bisschen biestig, schlank und mit langen goldblonden, lockigen Haaren. Ihr Haar war wie auch bei ihren Schwestern von Natur aus blond und hatte einen eigenwilligen Goldton. Sharadons Augen waren smaragdgrün mit wundervoll geschwungenen Augenbrauen. Sie war das Ebenbild ihrer verstorbenen Mutter Susan Beringer. Für die Bewohner des Tals stand fest, dass es wohl bald eine Hochzeit geben würde. Alle warteten auf den Tag, an dem sich der Sohn des reichsten und mächtigsten Ranchers mit der Tochter des zweitreichsten Ranchers im Tal verloben würde. Auch jetzt blickte Sharadon zu ihrem Liebhaber. Sie kicherte nicht. Mit ihren neunundzwanzig Jahren fühlte sie sich auch entschieden zu alt, bei Seans immer gleichen Witzen so zu kichern wie ihre jüngste Schwester Jessie. Jessie-Blue war sechzehn und trug ihre blonden Haare unter einem Stetson zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sicher, auch sie schaute sehnsuchtsvoll zu Paul hinüber, den sie sehr bewunderte.

Sharadon hoffte, dass sie sich nach dem Rodeo noch mit Paul treffen konnte. Besonders deshalb, weil sie ihn noch einmal fragen wollte, ob er nicht doch mit ihr als seine Begleitung zum Rodeoball gehen möchte. Bisher hatte Paul sich überhaupt noch nicht geäußert, ob er gedachte, dorthin zu gehen. Immer, wenn sie dieses Thema ansprach, schwieg er nur unwillig und Sharadon hoffte inständig, ihn überreden zu können, dort mit ihr zu erscheinen. Der Ball war das gesellschaftliche Ereignis im Tal und sie wusste nur zu gut, dass das ganze Tal glaubte, heute Abend würde eine Verlobung verkündet, denn sie selbst hoffte es inzwischen ganz genau so. Sharadon wusste, dass sie im Tal keine Konkurrentin um Pauls Liebe hatte. Aber warum erklärte er sich nicht? Sicher, dass sie so richtig in Paul McGreggan verliebt war, konnte sie nicht behaupten, aber er sah verdammt gut aus und war der absolut begehrteste Junggeselle. Seine Familie war sagenhaft reich und alle guten Gründe sprachen dafür, Mrs. Paul McGreggan zu werden. Sollte die Ehe mit Paul doch einmal langweilig werden, konnte sie ja auf Reisen gehen. So wie ihre Mutter es von Zeit zu Zeit gemacht hatte, bevor sie starb. Aber dazu müsste Paul sie, Sharadon, erst einmal heiraten.

Da die Witze und Gespräche mit Sean und ihren Schwestern sie langweilten, sah sie, an diesem Punkt ihrer Betrachtungen angekommen, in Pauls Richtung. Dieser betrachtete aufmerksam den schwarzen Mustang. Irgendwie war das Pferd genauso wild wie Paul. Sie passten gut zusammen. Sharadon, die mit Pferden genauso wie alle anderen hier groß geworden war, machte sich nicht allzu viel aus ihnen. Jessie-Blue und Sabrina, die mittlere der drei Schwestern, liebten ihre Pferde dafür umso mehr und beide Schwestern waren ausgezeichnete Reiterinnen. Auf ihre Weise war Sharadon das auch, aber nicht mit so viel Herzblut. Wenn sie Zeit hatte, fuhr sie lieber nach Helena einkaufen oder flog an die Westküste nach San Francisco oder Los Angeles. Manchmal kam auch Paul mit, er entfernte sich aber eher selten aus dem Tal. Das lag auch daran, dass er sehr viel Arbeit auf der Ranch hatte. Sharadon schlenderte zu Paul hinüber. „Hey, was macht der Schwarze?“

„Ich glaube eigentlich, dass er zu schade für das Rodeo ist, aber ich werde ihn trotzdem gleich reiten. Er ist gemeldet und es ist nicht mehr zu ändern“.

„Nun, so schlimm ist es ja auch nicht, dass er geritten wird. Du bist ein guter Reiter. Sonst lass ihn von Jessie reiten. Du weißt ja, dass sie so ziemlich die beste Reiterin im Tal ist.“

„Wenn ich eine Sechzehnjährige auf dieses Pferd beim Rodeo ließe, müsste ich mich schämen. Sharadon, ich hoffe, dass das nur ein Witz gewesen ist“.

„Übrigens Paul, ich habe mir für heute Abend ein traumhaft schönes Kleid gekauft. Hast du es dir überlegt?“

„Was überlegt? Du weißt doch, dass ich mir aus diesen Veranstaltungen nicht allzu viel mache. Aber, wie du weißt, lege ich dir keine Steine in den Weg, dorthin zu gehen.“

„Ohne Begleitung!? Wie stellst du dir das vor? Jeder im Tal weiß, dass wir zusammen sind. Wenn ich allein dort auftauche, möchte ich nicht das Getuschel der Leute hören. Wirklich Paul, du bist unmöglich!“

„Sharadon, ich will jetzt nicht mit dir streiten. Du kennst meine Auffassung. Und die Leute im Tal haben mich noch nie interessiert.“

Paul wandte sich wieder dem Pferd zu. Sharadon wusste, wann sie besser nicht mehr mit ihm diskutieren sollte und dachte darüber nach, dieses dumme Rodeo überhaupt zu verlassen. Aber auf den Ball musste sie unbedingt gehen. Sie überlegte, ob sie nicht John Williams fragen sollte. John war ein zuverlässiger Verehrer, der sicher nicht nein sagen würde. Das war zumindest eine Alternative und besser, als gar nicht auf den Ball zu gehen. Vielleicht könnte sie Paul damit so eifersüchtig machen, dass die von ihr ersehnte Verlobung etwas beschleunigt wurde. Paul war aber auch ein Dickkopf! Wahrscheinlich war es falsch gewesen, ihn jetzt vor seinem Auftritt zu fragen. Er schien ohnehin nicht besonders gut gelaunt zu sein.

Sharadon blickte sich um, ob sie irgendwo in der Nähe John sah. Ach, tatsächlich, da war John an der Scheune und mit seinem Pferd beschäftigt. Sabrina, Sharadons jüngere, siebenundzwanzig Jahre alte Schwester, unterhielt sich mit ihm. Was Sabrina nur an John fand? So groß, stämmig und rothaarig wie er war. Aber vielleicht ging John ja schon mit Sabrina zum Ball? Sabrina hatte allerdings zu Hause nichts verlauten lassen. Sie war die ruhigste und schüchternste der Schwestern. Nicht so attraktiv, wie die beiden anderen, aber sehr nett und intelligent. Das blonde Haar trug sie kurzgeschnitten und es ringelte sich lockig um ihren Kopf.

Sharadon sah, dass ihre Schwester gerade über irgendetwas lachte, was John zu ihr gesagt hatte und auch er lächelte Sabrina freundlich an. Aber sein großer Schwarm war nun einmal Sharadon, die jetzt auf die beiden zukam. John dachte, während er Sharadon betrachtete, dass er gern mit ihr zum heutigen Ball gehen würde. Er wusste aber nicht, ob sie bereits mit Paul verabredet war. Es war ein offenes Geheimnis, dass Sharadon in Paul verliebt war und ganz tief in seinem Inneren wusste auch John, dass Sharadon ihn oft gegenüber Paul benutzte. Dieses Wissen schwächte seine idealistische Schwärmerei für Sharadon etwas ab und wenn er sich gegenüber ehrlich war, dann war Sabrina immer die Nettere gewesen. Hinzu kam, dass Paul sein Freund seit Kindertagen war. Ein sehr guter Freund. John hatte sich noch nie mit ihm gestritten und er würde immer hinter Paul zurückstecken, obwohl dieser es gar nicht von John verlangte.

Paul sah, dass Sharadon zu John und Sabrina schlenderte. Soll sie sich doch für John entscheiden, das wäre mir nur recht. Er hatte oft darüber nachgedacht, was wäre, wenn sich Sharadon für einen anderen entscheiden würde. Sicher es machte Spaß mit ihr, im Bett und auch so. Aber sie berührte nicht sein Herz und Paul war nun einmal der Meinung, dass die Frau, die er einmal heiraten würde, sein Herz berühren müsse. Er stellte sich den sprichwörtlichen Blitz aus heiterem Himmel vor. Das war Sharadon gewiss nicht, so schön sie auch war und obwohl ihr unzählige Männerherzen im Tal zu Füßen lagen.

Paul betrachtete die drei. Er wollte sich gerade wieder mit dem Pferd befassen, nahm die Leine und drehte sich um, um in Richtung Rodeoplatz zu gehen. Auf dem Platz waren unzählige Menschen, die hier jetzt während der Pause zwischen den Pferden und Reitern flanierten. Paul begann sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Er betrachtete die Gesichter der Besucher, ohne sie eigentlich wahrzunehmen.

Plötzlich blieb er stehen. Aus der Menge hob sich ein Gesicht, ja eine Person, von allen anderen ab. Er hatte sie noch nie gesehen. Sie fesselte sofort seine Aufmerksamkeit und er konnte seine Augen nicht von ihrer schlanken Gestalt, ihrem Gesicht abwenden. Sie schien unsicher, gerade so, als ob sie etwas suchen würde. Ihr dunkles Haar trug sie zu einem schweren Knoten gebunden und die Sonne warf Reflexe auf das Haar, so dass es kupfern leuchtete. Ihre Sonnenbrille hatte die junge Frau abgenommen und es war, als hätte sie seine Blicke gespürt, denn sie blickte ihm nun direkt in die Augen. Dann riss sie ihren Blick von seinem los und drehte sich um, um wieder in die Richtung zu gehen, aus der sie gekommen war, leider übersah sie dabei Mrs. Plummer, die gerade in ihrem großblumigen, gelben Kleid auf den Platz kam. Die Unbekannte stieß mit Mrs. Plummer zusammen, strauchelte, stolperte, versuchte verzweifelt das Gleichgewicht zu halten und stürzte. Mrs. Plummer, die ja sehr dick war, hielt sich selbstverständlich auf den Beinen und entschuldigte sich tausend Mal, machte aber keinerlei Anstalten Marie aufzuhelfen. Paul ließ den Zügel los und den Mustang einfach in der Menschenmenge stehen und lief, ohne zu überlegen, zu der Unbekannten. Schon war er bei ihr.

„Haben Sie sich verletzt?“, fragte er, während er seine Arme ausstreckte, um ihr aufzuhelfen.

„Nein, danke, ich glaube nicht“, erwiderte Marie und ergriff seine Hand. Paul fasste kräftig zu und zog Marie auf die Beine, allerdings mit einem solchen Ruck, dass Marie schwungvoll in seinen Armen landete und dabei erneut strauchelte, so dass sie sich an Paul festhalten musste. Nun lag sie in seinen Armen und spürte seinen Herzschlag. Sie blickte auf und direkt in blaue Augen, die sie fasziniert anstarrten. Sie konnte sich von diesem Blick nicht losreißen und verlor sich in diesem intensiven Blau. Wie das Meer, dachte sie verwundert. Sie spürte seine Wärme und die Stärke seiner Umarmung. Ein warmes Gefühl durchströmte ihren ganzen Körper. Ihr Herz machte einen Sprung und sie hatte das Gefühl endlich da angekommen zu sein, wo sie immer hin wollte, was sie sich immer gewünscht hatte.

Auch Paul blickte in große tiefblaue Augen, mit schimmernder Schwärze. Er spürte ihren zarten Körper und ein Verlangen breitete sich aus, dass ihm in dieser Direktheit fremd war. Sein Herz schlug und machte einen heftigen Sprung. Ihm schwindelte. Diese unbekannte Frau sprach im wahrsten Sinne des Wortes sein Herz an. In diesem Moment wurde im schlagartig klar, dass er die Frau seines Lebens in den Armen hielt und sie nicht mehr loslassen wollte. Dies war endlich die Frau, die sein Herz berührt hatte und die er heiraten würde. Ich weiß nichts über sie, dachte er, aber ich weiß, dass es sich richtig anfühlt.

Sie standen da, ineinander verloren und hatten die Welt um sich herum vergessen. Beide spürten, dass das Schicksal sie zusammengeführt hatte.

„Oh, entschuldigen Sie, ich bin wohl gestolpert“, lächelte Marie ihn verlegen an und ärgerte sich im selben Moment, dass ihr nur diese eine Banalität einfiel. Der Zauber war gebrochen, aber Paul entgegnete nicht minder schlicht: “Nein, ganz und gar nicht, ich bin glücklich, Sie in meinen Armen halten zu dürfen.“ Marie lief tiefrot an und begann sich aus Pauls Armen zu befreien.

Mrs. Plummer beobachtete das Schauspiel mit Interesse: Wer ist diese junge Dame, dachte sie, und wo mag sie wohl herkommen? Sie ist auf keinen Fall aus dem Tal. Sie spricht komisch. Vielleicht aus Kalifornien. Dort sollen ja die Frauen besonders attraktiv sein. Ich dachte immer, er hat ein Auge auf Sharadon geworfen. Wäre ja auch ein sehr schönes Paar geworden. Aber dieses Paar hier ist nicht minder interessant. Das Mädchen scheint ein gutes Teil jünger als Paul zu sein. Hübsch und doch irgendwie ganz anders, als die Mädchen hier. Und wie er sie ansieht! Na, wenn das mal nicht die junge Mrs. McGreggan wird. Ich muss gleich May sprechen. Gesagt, getan. Mrs. Plummer blickte die beiden freundlich an, entschuldigte sich noch einmal und machte sich auf die Suche nach ihrer besten Freundin May. Nun war gewährleistet, dass das ganze Tal innerhalb von zwei Stunden von diesem Zusammenstoß wusste.

Marie lächelte Paul noch einmal ein bisschen unsicher an. Inzwischen hatte sie sich aus seinen Armen - wenn auch widerstrebend - befreit. Morgen geht es weiter und er ist hier oder sonst wo in den USA, dachte sie und ich werde ihn wohl ohnehin nicht nie wiedersehen. Schade! Aber, wer weiß, ob es nicht sowieso besser ist. Während Marie diese Gedanken durch den Kopf schossen, verschloss sich ihr Gesicht und sie wandte sich von Paul ab. Ohne genau zu wissen, wohin sie jetzt eigentlich wollte, marschierte sie in Richtung Tribüne. Sie war aufgewühlt. Sie wollte sich umdrehen und sehen, ob er noch dort stand. Steht er da? Oder ist er schon fort? Ich könnte ja nachsehen. Nein, ich drehe mich nicht um, nein und noch mal nein. Es kostete sie viel Anstrengung und eine ungeheure Überwindung, den Blick geradeaus und den Kopf hoch erhoben zu halten.

Paul schaute Marie nach und musste lächeln. Er sah ihr an, dass sie sich zwingen musste, stur geradeaus zu gehen und sich ja nicht umzublicken. Er fand Marie entzückend und bezaubernd. Er schaute ihr hinterher, bis sie um die Ecke zum Stadion und zu den Tribünen verschwunden war. Dann beeilte er sich zu seinem Mustang zu kommen. Er hatte das Pferd einfach stehen lassen und das tänzelte bereits nervös herum, denn es war diese Menschenmengen nicht gewohnt. Paul freute sich auf den Ritt und führte den Hengst, der sich versuchte, zu widersetzen, zu dem Korral für den Wettkampf. Den Gedanken Marie imponieren zu wollen, schob er in sein Unterbewusstsein. Aber es gibt immer ein erstes Mal im Leben, dachte er verschmitzt und übergab das Pferd den beiden Cowboys, die später das Gatter öffnen würden.

Marie saß auf der Tribüne und sah von dort aus Paul am Gatter stehen und auf sein Pferd warten. Sie konnte den Blick nicht von seinem Gesicht wenden, aber sobald er zu ihr blickte, wandte sie schnell den Blick ab. Sie wurde jedes Mal tiefrot und je mehr sie sich darüber ärgerte, desto schlimmer wurde es. Ihr dunkles Haar begann sich aus dem Knoten zu lösen und umrahmte in langen dichten Strähnen ihr ovales Gesicht. Als Paul wieder einmal zu ihr hinaufschaute, wandte sie sich nicht ab, sondern sah ihn an. Ihr ganzes Gesicht strahlte und Paul fühlte sich von diesem Lächeln unwiderstehlich angezogen, es berührte ihn und schien ihn zu umhüllen. Ihre Augen leuchteten ihm entgegen. Er lachte zurück und winkte Marie zu. In diesem Moment wurde der schwarze Mustang in den Verschlag am Gatter geführt. Paul schwang sich in den Sattel und die Cowboys rechts und links am Gatter öffneten das Tor. Der schwarze Mustang sprang und bockte heraus, als ob es um sein Leben ginge.

Marie war fasziniert. Von dem unbekannten Mann. Von dem Pferd. Sie hatte noch nie gesehen, dass Mensch und Pferd eine so schöne, starke Einheit bildeten. Aber sie hatte ja sowieso noch nie so etwas gesehen. Doch den Namen dieses Mannes hatte sie leider aus dem Lautsprecher nicht richtig verstanden.

Paul hielt sich fünf Runden im Sattel, dann hatte der Mustang gewonnen und Paul wurde abgeworfen. Unsanft landete er im Staub und rappelte sich mühsam wieder auf. Er klopfte sich den Dreck ab und ergriff seinen Stetson. Damit winkte er Marie noch einmal zu.

Wie schön, dachte sie und freute sich. Aber es wäre besser, wenn ich aufstehe, gehe und sofort weiterfahre. Nur warum sollte ich das eigentlich machen? Vielleicht könnten wir sogar noch den Abend zusammen verbringen? Mehr aber nicht! Ich könnte ja das Schicksal entscheiden lassen: Nach dem Rodeo gehe ich und wenn er mich dann doch findet, dann soll es so sein. Sie fühlte sich ein bisschen verzweifelt.

Marie schaute auch den anderen Teilnehmern gespannt zu. Sie fand ein junges Mädchen, Jessie-Blue Beringer laut Ansage, genauso gut wie den Unbekannten. Sie verstand zwar nichts vom Reiten und von Pferden, aber sie sah schon das große Können des Mädchens. Beneidenswert. Nach der letzten Runde und der Ansage aus dem Lautsprecher, dass das Rodeo beendet war, stand Marie auf und wandte sich, wie alle anderen Besucher, dem Ausgang zu. Der Sieger war ein gewisser Lou Salinger aus Wyoming und er würde auf dem heutigen Ball geehrt werden.

Inzwischen war ihr Haar aufgelöst und unordentlich. Sie fasste es hinten zusammen und steckte es wieder zu einem Knoten hoch. Die Sonne war immer noch heiß, obwohl es bereits später Nachmittag war. Die Menschen strömten zu ihren Autos und schoben Marie mit in Richtung Parkplatz. Marie sah, dass ein Teil der Zuschauer zu den Pferden ging. Sie sah sich um, ob sie den unbekannten Mann irgendwo entdecken konnte. Nein. Enttäuschung breitete sich in ihr aus. Doch sie versuchte, dieses Gefühl tapfer zu ignorieren, war aber selber erstaunt und auch erschrocken darüber, wie tief diese Enttäuschung ging. Wo war er? Schade, ich hätte ihn gern noch einmal gesehen, dachte sie. Es war wundervoll, in seinen Armen zu liegen. Aber wenn es nicht sein sollte, dann eben nicht. In ihrem Kopf herrschten Aufruhr und Chaos. Sollte sie ihn suchen? Nein, überlegte sie und verbot sich diese Schwäche. Sie hatte zwar gespürt, dass er von ihr genauso fasziniert gewesen war, wie sie von ihm. Aber nun begannen doch Zweifel an ihr zu nagen, denn ihr Selbstbewusstsein war nicht so groß, wie es eigentlich hätte sein können. Im Moment wirkte sie noch hübscher, denn in ihrem Inneren tobte ein Sturm der Gefühle. Also marschierte sie mit entschlossenen Schritten zu ihrem Auto, straffte dabei innerlich ihre Schultern und versuchte, sich den Rodeoreiter aus ihrem Kopf und ihren Gefühlen zu schlagen. Sie begann in ihrer riesengroßen Umhängetasche nach dem Autoschlüssel zu fahnden. Es nervte sie, ständig nach irgendetwas in dieser Tasche zu suchen. Aber es war nun einmal ihre Lieblingstasche und eine Trennung kam nicht in Frage.

„Hallo, ich hoffe, Sie fanden meinen Ritt nicht zu schlecht“, sagte auf einmal eine bekannte Stimme hinter ihr.

Marie hielt in der Suche inne, drehte sich überrascht um und konnte nicht ihre Freude verbergen, ihn zu sehen. Sie strahlte ihn an. Paul indes war sich heute schon zum zweiten Mal sicher, dass vor ihm seine zukünftige Frau stand. Sie war einfach zu wundervoll.

„Oh, nein, Sie waren super. Das Pferd allerdings auch“, lachte Marie.

Paul hatte sich bereits den Kopf zermartert, was er sagen sollte, wenn er sie wiedersah. Nun gab er sich einen innerlichen Schubs.

„Ich würde mich sehr, sehr freuen, wenn Sie mich heute Abend auf unseren Rodeoball hier in der Stadt begleiten. Wir könnten ja vorher eine Kleinigkeit essen. Ich hoffe sehr, dass Sie dann noch hier sind“, Paul fühlte sich wie ein Schuljunge, der zum ersten Mal an die Tafel vor die ganze Klasse trat. Er benahm sich wie ein sechzehnjähriger verliebter Teenager. Er verstand nicht, wieso er sich mit seinen sechsunddreißig Jahren dieser Frau gegenüber so unbeholfen vorkam und benahm. Eine schöne Frau zum Abendessen einzuladen, war bisher eine seiner großen Stärken, zumal seine Ausstrahlung und sein Charme gewöhnlich ein Übriges taten.

Marie lächelte immer noch. Ihr Herz tat einen Sprung. Sie vergaß augenblicklich alle Zweifel und Gedanken an das Weiterfahren.

„Ja, gerne. Ich wohne bei Mrs. Ella in „Ellas Best“ in der Missionstreet“.

„Ich kenne Mrs. Ella gut und hole Sie dann dort um heute Abend um halb sieben ab“.

Marie überlegte, aber erst jetzt begriff sie, dass er das Wort Ball gebraucht hatte. Ihr schoss durch den Kopf, dass sie selbstverständlich kein Ballkleid in ihrer Reisegarderobe hatte. Aber wie hätte sie auch in Deutschland auf den Gedanken kommen können, hier im tiefsten Montana auf einen Rodeoball eingeladen zu werden. Sicher habe ich nun doch zu schnell ja gesagt, dachte sie, aber blamieren will ich mich nicht vor ihm. Doch ich hätte besser überlegen sollen, ob ich diese Einladung überhaupt hätte annehmen sollen. Wo bin ich hier wieder hineingeraten? Doch laut sagte sie: „Ja, schön. Ich bin dann fertig.“ Sie konnte nicht anders, als diesen Mann immerzu anzustrahlen. Sie sah zu ihm auf, direkt in diese sagenhaften blauen Augen und sie hatte das Gefühl, ihr Herz würde vor Glück und Sehnsucht nach ihm zerfließen. Sie bemühte sich, ihre aufkommenden Zweifel zu verbannen. In ihr rang die Abenteuerlust mit der nötigen Vorsicht.

Paul stand noch immer vor ihr und hielt ihren Blick fest. Er machte keinerlei Anstalten zu gehen und Marie wartete, ob er ihr noch etwas sagen wollte. Er lächelte sie an: “Prima, ich hole Sie dann ab.“ Paul löste sich von diesen dunkelblauen Augen, auch wenn es ihm schwer fiel und lächelte Marie noch einmal liebevoll an und ging in Richtung Trailer und Pferde zurück. Dann wandte er sich um und winkte ihr zu. Marie sah Paul in der Menge verschwinden.

Wie ein Fels stand Marie da und hatte sich nicht gerührt und ein Gefühl beherrschte sie, als befände sie sich in einem Traum. Mechanisch hob Marie ihren Arm und winkte Paul zurück. Dann schüttelte sie sich und kramte weiter in ihrer Tasche, bis sich der Autoschlüssel endlich fand. Es war keine Zeit mehr zu verlieren, es war schon spät und sie musste sich noch zurecht machen, beziehungsweise nach einem passablen Kleid suchen. Marie hatte das Gefühl, auf einer Wolke zu schweben.

Das Geschehen hatten auch andere beobachtet, eine davon war Jessie-Blue. Sie war nach dem Rodeo auf der Suche nach Paul gewesen, denn sie hatte vor, den schwarzen Mustang zu kaufen. Ihrem Vater Charles hatte sie das Pferd bereits abgeschwatzt. Der konnte seinen Töchtern nie etwas abschlagen, seiner jüngsten, jungenhaften Tochter ebenso wenig wie den beiden anderen. Deshalb suchte Jessie Paul nach den Vorführungen. Zuerst war sie zu ihrer ältesten Schwester Sharadon gegangen, weil sie dachte, Paul sei nach seinem Ritt bei ihr. „Hast du Paul gesehen, Sharadon? Ich wollte mit ihm über den schwarzen Mustang sprechen“, fragte sie.

„Nein, aber was willst denn mit Paul über das Pferd sprechen?“

„Ich habe Dad gefragt, ob er es mir kaufen würde und er hat ‚ja’ gesagt. Deshalb wollte ich Paul fragen, ob ich es haben kann.“

„Wenn du das Pferd möchtest, dann kauf es doch. Es gehört ihm doch gar nicht. Nur weil er es geritten hat, heißt das doch noch lange nicht, dass er ein Vorkaufsrecht hat“, entgegnete Sharadon schärfer als beabsichtigt. Sie verstand nicht, warum Jessie-Blue immer so kompliziert und rücksichtsvoll war. Wenn Jessie das Pferd haben wollte, würde Paul sicher nichts dagegen haben. Letztlich blieb es in der Familie, wenn sie, Sharadon, erst seine Frau sein würde. Und die McGreggans hatten wahrlich genug Pferde. Die Frage, ob Paul ein Pferd kaufen wollte oder nicht, interessierte sie nicht wirklich.

Also lief Jessie-Blue los, um weiter nach Paul zu suchen. Als sie um das Stadion bog, sah sie Paul in der Ferne auf dem Parkplatz vor einer sehr schönen Unbekannten stehen. Jessie ging zwischen den Autos und Menschen näher heran. Sie hatte den Eindruck, dass er dort nicht so selbstsicher stand, wie sie ihn ansonsten kannte. Sie hätte den Mustang dafür gegeben, wenn sie hätte hören können, was die beiden dort besprachen. Dann drehte Paul sich lächelnd um, winkte der dunklen Schönheit noch einmal zu und kam Jessie entgegen.

Jessie-Blue staunte, als sie dieses entrückte Lächeln in seinem Gesicht sah und blieb wie angewurzelt stehen. Paul entdeckte sie und bahnte sich den Weg zu ihr. Er lächelte immer noch glücklich und Jessie hatte nicht den Eindruck, dass dieses Lächeln für sie bestimmt war.

„Hey Jessie, was machst du hier? Ich dachte, ihr seid schon weg? Suchst du mich?“, fragte Paul.

„Oh, ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob du den schwarzen Mustang kaufen möchtest? Ich meine, wenn du nicht willst, dann würde Dad ihn mir kaufen“, stotterte Jessie-Blue. Sie wusste eigentlich nicht so genau, warum sie derart verlegen war. Aber ihr war klar, dass sie eben etwas ganz Wichtiges beobachtet hatte. Von klein auf kannte sie Paul und dieses Verhalten, diese Unsicherheit, waren ungewöhnlich für ihn. Vielleicht glaubte alle Welt auch nur, dass er Sharadon heiraten wird, überlegte Jessie. Sie hatte vor Beginn der Veranstaltung mitbekommen, wie ihre Schwester zu John geschlendert war, nachdem es mit Paul wohl eine Auseinandersetzung über den Rodeoball gegeben hatte.

„Ja, ich hatte vor, ihn zu kaufen“, sagte Paul gerade zu ihr, „Warum? Hast du etwas mit dem Pferd vor?“

„Ich habe Daddy gefragt, ob ich ihn haben darf und er hat nichts dagegen. Dich hat er doch abgeworfen, dann kauf ihn nicht“, lachte Jessie- Blue. Sie mochte Paul und hatte nie so ganz verstanden, was er an ihrer älteren Schwester fand. Aber sicher, Sharadon sah umwerfend aus und wenn sie wollte, konnte sie überaus nett und charmant sein.

„Ich würde ihn gern zureiten und sehen, wie weit ich ihn trainieren kann. Ich glaube, er hat großes Potential zum erstklassigen Rennpferd“, erklärte sie weiter.

„Das kannst du gern machen, aber ich kaufe ihn, ich habe schon die Anwartschaft bezahlt“, erwiderte Paul.

Paul mochte Jessie-Blue ebenfalls. Sie war offen, ehrlich und genauso pferdebegeistert, wie er selber.

„Na ja, aber wenn ich ihn zureite, dann kann Dad ihn auch kaufen,“ entgegnete Jessie.

Paul hatte eigentlich vorgehabt, dieses Pferd selber auszubilden, denn auch er war der Meinung, dass der Mustang ein gutes Rennpferd abgeben würde, wenn er mit Geduld und Liebe ausgebildet wurde. Er wusste, dass auch Jessie die Fähigkeit hatte, das Pferd zu trainieren und wettkampftauglich zu machen. Aber dennoch entschied er sich, dabei zu bleiben, das Pferd selber zu kaufen.

„Jessie, du weißt, ich mag dich sehr. Aber ich halte meine Option auf den Mustang aufrecht und kaufe ihn. Mein Angebot steht: Du kannst ihn ausbilden und trainieren. Wenn er mal rennt, wirst du mitverdienen. Nicht dein Dad, sondern wir beide. Ich halte dich für eine sehr gute Pferdekennerin und traue dir zu, ihn zu reiten und zu trainieren. Das kannst du Charles sagen.“

Jessie-Blue legte ihre hübsche Stirn in Falten. Sie überlegte, wenn Paul das Pferd kaufen wollte, dann hatte es wohl keinen Zweck, weiter mit ihm zu verhandeln. Aber das Angebot war gut. Sie mochte den Hengst und das war die wichtigste Voraussetzung, um das Tier zu reiten und auszubilden.

„Gut, wir machen es so. Ich komme dann in der nächsten Woche vorbei und kümmere mich um ihn. Dann müsstest du nur Hobie Bescheid sagen und dem Hengst einen Namen geben“, sagte Jessie.

„Prima, den Namen suchen wir dann zusammen aus“, erwiderte Paul.

Sie war sehr neugierig, was sich zwischen Paul und der schönen Unbekannten abgespielt haben mochte. Da war es sicherlich sehr interessant, demnächst öfter bei den McGreggans zu sein. Sharadon würde staunen, wenn sie ihr über diese Begegnung von vorhin erzählte. Jessie-Blue überlegte, ob sie ihrer Schwester von diesem Vorfall berichten sollte, doch sie mochte Paul und entschied sich deshalb, ihrer Schwester nichts zu sagen. Sie war mit Sicherheit nicht die Einzige gewesen, die dieses kurze Zwiegespräch der beiden beobachtet hatte. Bald würde das ganze Tal über Paul und die Unbekannte sprechen. Jessie lächelte Paul noch einmal zu und machte sich dann auf die Suche nach ihrer Familie. Sie wollte Dad fragen, ob sie heute Abend mit auf den Ball durfte. Denn mit ihren sechzehn Jahren wurde sie erst im nächsten Schuljahr ein Senior und leider war ihr Dad in bestimmten Sachen streng.

Paul ging zurück zu der Scheune, um den Kauf des Mustangs perfekt zu machen.

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Marie kehrte in die Pension zurück. Als sie die Treppe zu ihrem Zimmer hochstieg, kam Mrs. Ella aus der Küche und sah zu Marie hinauf: „Wie war das Rodeo, Ms. Belandres? Haben Sie sich gut amüsiert? Ich würde ja auch hinfahren, wenn mir nur nicht meine Beine diese Probleme bereiten würden. Das ganze Tal ist jedes Jahr dorthin unterwegs.“

Marie drehte sich um und blickte auf Mrs. Ella hinunter: „Oh, Mrs. Henshaw, es war toll. Ich war ja bisher noch nie auf einem Rodeo und in Deutschland kennen wir das gar nicht. Diese Atmosphäre, diese vielen Menschen! Die Pferde, einfach umwerfend.“

„So, wie Sie strahlen, scheint es mir, als wäre noch mehr auf dem Rodeo passiert. Fast so, als ob Sie den Mann für Ihr Leben gefunden haben“, lachte Mrs. Ella.

Marie lief dunkelrot an. Sie fühlte sich regelrecht ertappt, wie bei einem Déjà-vu: „Also, das glaube ich eigentlich nicht, aber ich bin heute Abend zum Rodeoball eingeladen worden. Um halb sieben werde ich abgeholt. Oh Gott, ich muss noch überlegen, ob in meiner Reisekleidung etwas Passendes für den Abend ist.“

Jetzt lachte Mrs. Ella richtig laut auf: „Jeder weiß es, Mr. Paul hat eine Unbekannte, die anders spricht und auch besonders hübsch ist, zum Rodeoball als seine Begleitung eingeladen. Es gibt unter uns alten Klatschtanten kein anderes Thema.“

„Oh“, hauchte Marie erstaunt, “warum ist das so wichtig? Sicher, im Grunde kennen wir uns nicht und ich war ziemlich überrascht, aber ich freue mich auch sehr auf den Ball, so etwas habe ich noch nie erlebt und ich stelle es mir richtig amerikanisch vor. Paul heißt er also. Er ist sehr nett.“

„Das will ich wohl meinen. Sie gehen mit dem begehrtesten Junggesellen des Tals auf den Ball. Er ist ein Pferdenarr und guter Rancher. An sich gewinnt er jedes Jahr das Rodeo, aber in diesem Jahr wurde er wohl abgelenkt.“

„Das war mir nicht klar, ist auch eigentlich egal. Aber da war ein junges Mädchen mit blonden Haaren, das sich fast genauso gut im Sattel hielt, bei Pferd und Bulle.“

Ein Pferdenarr also, na, das konnte ja heiter werden. Hoffentlich wird sich die Unterhaltung nicht nur um Pferde drehen, dachte Marie. Sie hatte sich einem Pferd noch nie mehr als zehn Meter genähert und wollte das eigentlich auch nicht ändern. Sie hatte großen Respekt vor Pferden. Aber schließlich wollte sie nur auf einen Ball gehen, wenn auch mit dem verwirrendsten Mann, den sie je kennengelernt hatte und morgen sehr früh würde sie gleich zum Yellowstone Park aufbrechen.

„Ja, das wird die jüngste der Beringer-Töchter gewesen sein, Jessie-Blue. Ihr wird ein ähnliches Talent wie Mr. Paul nachgesagt. Sie ist ein nettes Mädchen. Aber was stehe ich hier und rede und rede. Wenn Sie mögen, können Sie noch ein Stück von meinem frisch gebackenen Schokoladenkuchen probieren. Dünn genug sind Sie ja. Und dann müssen Sie sich noch umziehen, es ist schon spät“, rief Mrs. Ella erschrocken aus.

Marie merkte, dass sie Hunger hatte: „Danke, sie haben recht, es ist schon sehr spät. Aber ich habe Hunger und ein Stück Kuchen wäre prima, obwohl wir noch zu Abend essen wollen.“

Plötzlich rief vom anderen Ende des Flurs eine männliche Stimme: „Ein Stück Schokoladenkuchen? Da nehme ich auch ein Stück.“ Über den Flur kam ein Mann auf Marie zu und blickte zu seiner Tante über die Balustrade hinunter.

„Billy, dass du auch ein großes Stück möchtest, ist klar“, lächelte Mrs. Ella liebevoll hinauf. Der Mann, Bill, lief den oberen Flur zur Treppe entlang und wäre fast in Maries Armen gelandet, als er schwungvoll die Treppenstufen hinunter rennen wollte. So blieb er überrascht stehen und blickte in Maries freundliches Gesicht. Marie glaubte, einen der anderen Gäste vor sich zu haben.

„Darf ich vorstellen, mein Neffe, William Henshaw, Bill. Er besucht mich gerade und ist auf dem Weg zum Yellowstone Park. Er wird dort als Police Ranger arbeiten, Bill ist bei den Wyoming Police Rangern in Cheyenne“, erklärte Mrs. Ella, sichtlich stolz. Police Ranger im Yellowstone Park war ein begehrter Job und Bill musste schon einiges vorweisen, um dort arbeiten zu können. Bisher war Bill Detective Inspector bei den Police Rangern in Cheyenne gewesen. Das war er genau genommen noch immer, nur jetzt eben im Yellowstone Park und als Leiter des dortigen Stützpunktes.

„Yellowstone Park? Wie interessant. Dort möchte ich morgen früh hinfahren. Auf den Besuch in diesem Park freue ich mich, seit ich meine Reise geplant habe. Wenn ich mich nicht verfahren hätte, wäre ich auch schon dort. Aber jetzt sollte ich mich fertig machen“, sagte Marie mit Blick auf ihre Uhr.

„Also kein Stück Schokokuchen? Das ist schade. Ich hätte Ihnen gern Gesellschaft geleistet“, erwiderte Bill freundlich und konnte seinen Blick nicht von ihrem Gesicht und von ihrem Haar abwenden. Letzteres hatte sich inzwischen vollständig aufgelöst. Woher mochte diese junge Dame nur kommen und warum musste sie sich fertig machen, wo sie doch augenscheinlich eine Touristin ist, fragte sich Bill. Sie ist ausgesprochen nett, ganz anders als die Mädchen, die ich kenne, so unamerikanisch. Eigentlich wollte ich noch ein paar Tage hier bleiben, aber vielleicht sollte ich doch schon morgen mit ihr hochfahren?

„Na, mein Junge, dann komm mal mit in die Küche und Sie, junge Dame machen sich fertig. Wenn dann noch Zeit bleibt, sind Sie herzlich eingeladen, in die Küche zu kommen und noch eine Kleinigkeit zu essen. Muss ja nicht Schokoladenkuchen sein“, mit diesen Worten wandte sich Mrs. Ella um und verschwand in Richtung Küche. Marie sah Bill an und ging an ihm vorbei die Treppe weiter hinauf. „Ich würde mich freuen, Sie noch einmal zu sehen und da ich auch in den Park muss, könnte ich Sie begleiten“, rief Billy die Treppe hoch. Marie wandte den Kopf um: „Ja, vielleicht, ich weiß noch nicht richtig, wie es morgen wird.“ Sie war mit ihren Gedanken ganz woanders und hatte die unausgesprochene Frage von Bill nicht richtig mitbekommen. „Wir sehen uns bestimmt noch“, antwortete Bill und verschwand in der Küche. Sie ist wirklich nett. Ich möchte bloß mal wissen, wohin eine Fremde in der Stadt heute Abend hingeht, wenn nicht zum Rodeoball, dann bleibt nur die Frage, mit wem? Allerdings geht man nicht einfach zu diesem Ball, wenn man nicht dazu gehört. Von hier ist sie jedenfalls nicht und auch nicht aus den USA. Muss mal Tantchen fragen. Sie weiß eigentlich immer alles, was in dem Tal vor sich geht.

Marie nahm die letzte Treppenstufe und schloss die Tür zu ihrem Zimmer auf. Bill hatte sie bereits vergessen, denn ihre Gedanken kreisten ausschließlich um das bevorstehende Treffen mit Paul. Sie überlegte, welches ihrer mitgebrachten Kleidungsstücke geeignet wäre, um als Ballkleid durchzugehen. Sie hoffte, dass es sich nicht um einen Ball im eigentlichen Sinne handelte, ihr schwebte eher so eine Art Square-Dance-Veranstaltung vor. Wenn sie in Deutschland Zeit und Geld hatte, ging sie gern auf Bälle und besonders der exklusive Münchner Opernball hatte es ihr angetan.

Männliche Begleiter standen ihr zahlreich zur Verfügung und auch Ballkleider hatte sie daheim im Schrank hängen. Aber wer nahm so etwas mit auf eine USA-Rundreise? Zu Hause hatte sie etliche Sommerkleider in ihre Reisekoffer geworfen. Nicht unter der Überlegung, wann sie diese anziehen wollte, eher: man weiß ja nie. Hatte sie das schmale schwarze Sommerkleid aus Seide eingepackt? Es war schulterfrei und das Oberteil bestand aus einer Seidencorsage. Der Rock fiel in drei Lagen übereinander und der Überrock bestand aus schwarzer Spitze und war unterhalb der Corsage tief angesetzt. Der Schnitt war raffiniert und dieses Kleid konnte gut als Ballkleid durchgehen. Das letzte Mal hatte sie es auf der Semesterabschlussfeier getragen und dann in die Reinigung gebracht. Der Schwung Kleider aus der Reinigung hatte zu Hause auf dem Bett gelegen und sie hatte in höchster Eile einige davon in ihre Koffer geworfen. Marie begann, ihre Koffer zu durchwühlen und hatte das Kleid kurz darauf hervorgekramt. Teuer war es gewesen, sehr teuer und sie hatte dafür viele Hamburger verkaufen müssen. Als sie das Kleid jetzt sah, freute sie sich und beglückwünschte sich, dass sie es eingepackt hatte und dass es völlig knitterfrei war. Wie lange hatte sie gezögert, bevor sie dieses Kleid kaufte! Jetzt war sie richtig froh. Was immer das für ein Ball sein mochte, sie war sicher, auf jeden Fall passend angezogen zu sein. Marie wusste, dass ihr das Kleid phantastisch stand. Es passte perfekt zu ihrer schmalen und zierlichen Figur und mit ihrer Sonnenbräune sah sie in diesem schwarzen Kleid einfach gut aus. Sie breitete es auf dem Bett aus, suchte ihre wenigen Schminkutensilien zusammen, entkleidete sich und duschte. Sie rubbelte sich trocken und zog sich ihre teuren Spitzendessous über. Auch hier, Glückwunsch fürs Einpacken! Sie schminkte sich, zog das Kleid über den Kopf und legte zum Schluss, als Abrundung des Kunstwerkes, karmesinroten Lippenstift auf. Das Haar schlug sie zu einem französischen Knoten zusammen und steckte ihn mit einem Kamm fest. Sie überlegte kurz, das Haar vielleicht doch lieber offen zu tragen, das würde auch perfekt zu diesem Kleid passen und sie fand ihre taillenlangen Haare schön, aber auch leider oft ziemlich unpraktisch. Deshalb steckte sie die Haare doch lieber zusammen, wie sie es fast immer tat. Sie war der Meinung, dass ihre Aufmachung für diesen Ball wohl reichen würde. Aber für Paul? Während sie diese Betrachtungen anstellte, hörte sie den Türklopfer an der Haustür. Nach einem raschen Blick auf die Uhr packte sie schnell ihre Tasche zusammen. Die war für einen Ball nicht so richtig gut geeignet, aber es ging nun mal nicht anders. Es klopfte an der Tür: „Hallo, ihr Besuch steht unten und will sie abholen. Sind Sie fertig?“, rief Mrs. Ella.

„Ja, ja, ich komme“, rief Marie, öffnete die Tür und wäre beinahe in Mrs. Ella hineingelaufen.

Mrs. Ella ging die Treppe hinunter und dabei unterhielt sie sich mit Paul: “Was machen deine Eltern, Paul? Ist Simon auch zu Besuch? Was hat er doch für eine reizende Frau!“

Inzwischen war auch Bill aus der Küche gekommen, um nachzusehen, was wohl los war: “Hallo Paul, wie geht es dir?“ Paul war es also, mit dem sie verabredet ist.

Paul blickte Bill an und wunderte sich, wo sein alter Freund aus den Kindertagen so plötzlich herkam. Er hatte nicht gewusst, dass Bill überhaupt in der Stadt war. Er war damals einfach verschwunden und Paul hatte gehört, dass Bill nach dem College zu den Rangers nach Cheyenne gegangen war und nun Detective Inspector war. Irgendwer hatte auch über ein Studium erzählt. War es Sabrina gewesen? Paul erinnerte sich nicht mehr genau.

„Ich glaube, Paul wusste nicht, dass du in der Stadt bist, Billy. Bill ist nur auf der Durchreise, denn er ist im Sommer der Chef der Police Rangers im Park“, erklärte Mrs. Ella nicht ohne Stolz.

„Glückwunsch, ja klar, ist schön für dich, dass du im Park sein wirst. Wenn du möchtest, komm doch einmal raus zu uns“, sagte Paul immer noch erstaunt. Während er sich unterhielt, versuchte er, Marie hinter Mrs. Ella zu erblicken. Er hatte diesem Augenblick entgegen gefiebert. Er gestand sich ein, dass er mit Herzklopfen hierher gefahren war und ununterbrochen an Marie gedacht hatte: Sie war in seinem Kopf ebenso wie in seinem Herzen, jede ihrer Bewegungen, jedes Lächeln hatte er sich immer wieder und wieder in sein Gedächtnis gerufen. Besonders gern erinnerte er sich an den kurzen Augenblick, als er Marie in seinen Armen gehalten hatte. In diese Augen zu blicken und dabei das Gefühl zu haben, sie nie mehr loslassen zu wollen. Für Bill, seinen alten Freund, hatte er im Moment nicht viel Aufmerksamkeit übrig. Er wollte, dass Marie endlich die Treppe herunter kam und er sie wiedersah. Noch eine Stufe, es war geschafft und Mrs. Ella gab endlich den Blick frei für das, was hinter ihr war. Marie schwebte hinter Mrs. Ella die Treppe hinunter, auch sie war gespannt auf Paul.

Paul erblickte Marie und ihm stockte der Atem. Sie sah hinreißend aus. Das schwarze Kleid umschmeichelte ihre schmale Figur. Ihr Haar glänzte und der tiefe französische Knoten im Nacken stand besonders gut zu ihrem schmalen Gesicht. Sie war zwar nur dezent geschminkt, aber Paul erblickte eine Schönheit.

Aber nicht nur Paul war bezaubert von dieser Erscheinung, auch Bill starrte Marie an. Er hatte noch nie eine so attraktive Frau gesehen, mit Ausnahme von Sharadon. Doch diese Frau war nett und freundlich, geradezu umwerfend charmant, wenn sie lächelte, wie in diesem Augenblick. Leider galt ihr strahlender Blick Paul. Die junge Frau schien sich nicht einmal bewusst zu sein, wie sie auf ihre Umgebung wirkte. Mit diesem Aussehen kannte Bill nur ziemlich eingebildete Frauen. Wahrscheinlich war es genau dieses Auftreten, was sie so unterschiedlich zu den hier ansässigen Frauen machte. Sein alter Freund Paul war fasziniert und konnte seinen Blick nicht von Marie abwenden. Nun sah Marie Paul an: “Hier bin ich. Hoffentlich haben wir noch genug Zeit zum Essen?“

„Selbstverständlich“, antwortete Paul und dachte, für dich habe ich alle Zeit der Welt. Marie nickte Bill und Mrs. Ella freundlich zu und reichte Paul ihren Arm, um zur Tür zu gehen. Paul löste sich aus seiner Erstarrung und öffnete die Haustür. Auch er lächelte Mrs. Ella und Bill zu, wünschte ihnen einen schönen Abend und nahm Maries Arm, um mit ihr zu seinem Auto, einem schwarzen Pick-up zu gehen.

„Viel Spaß. Könnte ich mich dem Essen anschließen?“, rief Bill ihnen nach. Er wusste genau, wie man Paul ärgern konnte.

„Du hast doch vorhin einen riesigen Berg Chili gegessen, Junge. Außerdem wollen die beiden sicherlich allein sein“, zwinkerte Mrs. Ella ihrem Neffen zu.

„Okay, war auch nur ein Scherz. Also viel Spaß zusammen. Vielleicht sehen wir uns nachher noch auf dem Ball, wenn ich ein nettes Mädchen finde, das mit mir hingehen möchte. Das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe, ist ja leider schon vergeben.“

„Danke für das nette Kompliment“, lachte Marie und blickte zurück zu Bill, der an der Haustür stand.

„Ja, ja, macht euch alle einen schönen Abend“, sagte Mrs. Ella in die Runde und watschelte in die Küche zurück, gefolgt von ihrem Neffen.

Paul öffnete die Tür des Pick-ups und half Marie in den Wagen. Sie musste den Sitz eher erklimmen, denn an elegantes Einsteigen war bei ihrer Größe nicht zu denken. Mit einem energischen Raffen ihres Kleides hangelte sie sich hoch und freute sich, als sie endlich saß. Sie fuhren los.

++++++++++

Sharadon Beringer war zufrieden. Sie hatte John überredet, sie auf den Ball zu begleiten. Das war nicht sonderlich kompliziert gewesen, da John noch immer hoffte, in ihrem Leben eine größere Rolle zu spielen. Einen kleinen Moment lang hatte Sharadon ein schlechtes Gewissen, diente dieses Manöver doch nur dazu, Paul so eifersüchtig zu machen, dass er ihr endlich einen Heiratsantrag machte. Nach Sharadons Meinung führte an diesem Umstand sowieso kein Weg vorbei. Schließlich waren die Beringers und McGreggans die einflussreichsten Familien im ganzen Tal. Den McGreggans gehörten allerdings noch einige hübsche Ölquellen und damit ein ertragreiches Rohstoffunternehmen in Texas, Houston.

„Oh, nein, diesen Fisch im Teich schnappt mir keine andere weg“, dachte Sharadon grimmig. Sie hatte bereits das Gerede über eine geheimnisvolle Fremde gehört. Doch von dem Zwiegespräch an Maries Auto hatte ihr Jessie-Blue noch nichts erzählt. Trotzdem brodelten die Thesen, dass es sich um eine wahre Schönheit handeln solle und Paul wohl mit ihr schon Kontakt hatte. Das wäre ja noch schöner, dachte Sharadon, seit Jahren gelte ich als die junge Mrs. McGreggan und jetzt, kurz vor der Ziellinie, kommt diese Fremde daher! Bei diesen Überlegungen angelangt, stellte sie wieder einmal fest, dass sie für den Ball nichts zum Anziehen hatte.

„Na, was ziehst du an?“, Sabrina, ihre jüngere Schwester stand in der Tür. Über ihren Arm hatte sie vier Ballkleider hängen, “Hilfst du mir bei der Auswahl?“

„Ja, komm herein, dann können wir gemeinsam überlegen. Ich weiß auch noch nicht, was ich eigentlich anziehen soll“, erklärte Sharadon.

Sabrina kam in das Zimmer und warf die Ballkleider mit Schwung auf das Bett. Sie setzte sich daneben und betrachtete ihre ältere Schwester. Sabrina wunderte sich, dass Sharadon ihren ganzen Ehrgeiz in diese Heirat mit Paul steckte. Sie selber war froh, fast das ganze Jahr in Spokane zu leben, wo sie an der privaten, katholischen Conzaga University an der School of Law lehrte. Sie war dabei, an ihrer Promotion zu arbeiten. Sharadon wirkte nicht sonderlich glücklich, es geht sicher wieder um Paul, dachte Sabrina. Nun ja, verdenken kann ich es ihr auch nicht, schließlich wartet nahezu das ganze Tal auf eine Märchenhochzeit.

„Also, mit wem gehst du auf den Ball? Mit Paul?“, fragte sie ihre Schwester. Unbekannte hin oder her, diese Verabredung konnte schließlich schon lange stehen. Und wenn Paul etwas war, dann sehr verlässlich. Sharadon sah ihre jüngere Schwester erstaunt an. Hatte sie noch nichts von dieser Unbekannten gehört? Sicher, Sabrina lebte in ihrer eigenen Welt. Hier, im Tal wohnte sie schon seit ihrem Studium in Barkley nicht mehr, aber sie kam oft zu Besuch, seit sie in Spokane lehrte. Allerdings hatte sie den Mann fürs Leben bisher auch noch nicht gefunden. Na, hoffentlich enden wir nicht alle drei als alte Jungfern.

„Nein, ich gehe mit John auf den Ball“, erklärte Sharadon. Nun schaute Sabrina ihre Schwester überrascht an. John, der gute, alte John. Ihrer älteren Schwester seit den Kindertagen demütig ergeben und von Sharadon eher benutzt, als geliebt und geachtet. Dabei war John der netteste Mensch, den Sabrina kannte, vielleicht mit der Ausnahme von Billy, aber der war nach der Highschool einfach verschwunden und Mrs. Ella hatte nie verraten, wo er hingegangen war. Sabrina hing einen Augenblick ihrer Schwärmerei für Billy nach. Ach, war sie in ihn verliebt gewesen!

„Findest du das fair? Ich meine John gegenüber? Er macht sich bestimmt jedes Mal Hoffnungen. So wie auch damals auf der Highschool. Er weiß doch auch, dass du nur Paul willst.“

„Nein, John freut sich doch, mit mir auf den Ball zu gehen. Außerdem ist er erwachsen und weiß, dass Paul und ich zusammen sind“, entgegnete Sharadon. Aber seit heute war sie in Bezug auf Paul nicht mehr so sicher. John war zwar nur der Notnagel gewesen, aber Paul war nicht zu bewegen gewesen, mit ihr auf den Ball zu gehen. Und zu diesem Zeitpunkt war von dieser Unbekannten noch keine Spur gewesen. Dass er diese Fremde zu dem Ball mitbringen würde, konnte sich Sharadon aber nicht vorstellen. Schließlich war der Ball das gesellschaftliche Ereignis des Jahres im Tal und alle einflussreichen Familien waren dort vertreten. Und es stimmte schon, dass die meisten Verlobungen des Jahres dort verkündet wurden: Begleitung hieß gleich spätere Ehefrau. Deshalb fand es Sharadon noch ärgerlicher, dass sie mit John dort auftauchen musste. Sie wollte zumindest den Zeitpunkt für ihren Aufritt bestimmen und mit Sorgfalt festlegen. Sie griff kurz entschlossen zum Telefon und rief Sean an, Pauls jüngsten Bruder: „Hey, Sean, wann seid ihr auf dem Ball?“, flötete Sharadon in den Hörer; schließlich war auch Sean ein Verehrer, der seit Jahren hingehalten wurde.

„Warum ist das wichtig? Wir kommen doch jedes Jahr pünktlich zu der Eröffnung. Du kennst doch Pa. Der weicht von seinen Gewohnheiten nicht ab“, wunderte sich Sean über den Anruf.

„Ach ja, ich weiß, aber es hätte in diesem Jahr doch mal eine Abweichung geben können. Ist Paul auch in eurem Tross?“, fragte Sharadon so beiläufig wie möglich.

„Nein, Paul ist schon seit einer Stunde unterwegs. Soviel ich weiß, geht er in diesem Jahr gar nicht auf den Ball. Hat er dir das nicht auch beim Rodeo gesagt?“, Sean war erstaunt.

„Das schon, aber du kennst doch Paul. Er ist oft erst dagegen und dann ändert er seine Meinung. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass deine Mum ohne ihre drei Söhne auf dem Ball erscheint.“

„Ach Gott, das ist lange her. Das waren doch noch die College-Zeiten. Simon und Alicia konnten ohnehin diesmal nicht aus Boston kommen. Nein, Mum ist es inzwischen egal“, lachte Sean.

„Okay, dann sehen wir uns ja nachher. Bis später!“. Sharadon beendete abrupt das Telefonat und legte auf, ehe Sean sie nach ihrem Begleiter fragen konnte. Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, ich hätte mich mit Sean zu dem Ball verabredet, dachte sie.

„Und nun?“, Sabrina blickte ihre Schwester fragend an, “Was hat dir das Telefonat eingebracht? Bist du jetzt schlauer in Bezug auf Paul?“

„Eigentlich nicht, angeblich kommt er nicht. Dann ist es auch ziemlich egal, wann ich erscheine und es reicht, wenn wir mit Dad zur Eröffnung da sind“, sagte Sharadon. Mit John war sie ohnehin so verabredet, dass er sie pünktlich für die Eröffnung abholte. Wo war Paul nur? Und mit wem? Letzteres konnte sie nur vermuten. Aber er schien wohl tatsächlich nicht auf den Ball zu kommen. Sharadon entschied sich für ein meergrünes Ballkleid aus schimmernder Seide, das mit Goldfäden durchwirkt war und ihre goldblonden Locken wunderschön zur Geltung brachte. Das Kleid war schmal geschnitten und betonte ihre schlanke, hochgewachsene Figur und die grünen Augen. Gekonnt unterstrich Sharadon ihre Augenfarbe mit Lidschatten. Zu dem Kleid trug sie passenden Goldschmuck und Seidenschuhe in grün. Ihre Lockenpracht floss offen über den Rücken und sah phantastisch aus.

Sabrina entschied sich für ein himmelblaues Kleid aus Organza, passend zu ihren hellen, blauen Augen. Das kurze blonde Haar hatte sie mit Gelschaum in Form gebracht.

Als die Mädchen herunterkamen, wartete Charles bereits im Salon auf seine drei Töchter. Die Jüngste, Jessie-Blue, hatte so lange gebettelt, bis er ihr erlaubt hatte, mit auf den Ball zu gehen. Wie immer hatte Charles seiner Tochter den Wunsch nicht abschlagen können.

Jessie trug ein schlichtes, tiefblaues, tief ausgeschnittenes Ballkleid, das ihre blauen Augen wunderbar betonte. Ihr blondes Haar hatte sie mit Kämmchen seitlich hochgesteckt.

Wie auf Kommando führte Christina, die Haushälterin und Köchin der Ranch, John in den Salon. John begrüßte Charles.

„Hallo, Charles, schön dich zu sehen. Ich habe dich wohl auf dem Rodeo verpasst?“, fragte er und schüttelte Charles die Hand.

„Nein, ich war in diesem Jahr gar nicht dort. Ich hatte hier zu tun“, erwiderte Charles und zog eine Augenbraue hoch. Wieso war John hier? Ging Sharadon etwa mit John auf den Ball? Oder war es Sabrina? Bis eben war er davon ausgegangen, dass Sharadon mit Paul verabredet war! Was war denn hier los? Hatte er etwas verpasst? Schließlich ging nicht nur er davon aus, dass Paul und Sharadon heiraten würden und der heutige Abend perfekt für eine Verlobung wäre.

„Hallo John, wie geht es deinem Vater? Du gehst mit Sharadon auf den Ball?“, fragte Charles und bemühte sich, sein Erstaunen nicht allzu offenkundig zu zeigen.

„Dad lässt schön grüßen. Du siehst ihn ja auf dem Ball. Ja, und ich freue mich, mit dem schönsten Mädchen des Tals zum Ball zu gehen; wobei ihre Schwestern nicht minder schön sind“, entgegnete John freundlich Sabrina und Jessie. Dann trat er auf Sharadon zu, um ihren Arm zu nehmen.

Sharadon ergriff Johns Arm, sie wusste, dass sie an diesem Abend die schönste Frau sein würde. Das Erstaunen und die Missbilligung ihres Vaters waren ihr nicht entgangen. Charles mochte John, aber er war für seine Älteste einfach nicht der richtige Mann. Was soll es, ich kann es im Moment nicht ändern, dachte Sharadon und zuckte innerlich mit den Achseln.

„Dann wollen wir mal los, um die Eröffnung nicht zu verpassen“, rief Charles seinen Töchtern und John zu, wobei sich seine beiden jüngeren Töchter lachend bei ihrem Vater unterhakten. Fröhlich plaudernd verließen die Beringers das große Haus.

Wie immer in solchen Momenten, vermisste Charles seine Frau. Susan war im vorletzten Jahr bei einem Reitunfall auf der Ranch ums Leben gekommen. Die Ärzte hatten wochenlang um das Leben seiner Frau gerungen, während sie im Koma gelegen hatte. Doch alle ärztliche Kunst und alles Geld hatten am Ende nichts bewirkt. Susan war nicht mehr aufgewacht. Aber selbst wenn sie überlebt hätte, wäre sie querschnittgelähmt geblieben. Sicherlich war die Ehe mit ihr nicht immer einfach gewesen. Susan hatte sich auf der einsam gelegenen Ranch in Montana oft gelangweilt. Sie stammte aus einer angesehenen Familie aus New York, war eine geborene Palmerton und die einzige Tochter ihrer Eltern gewesen. Diese waren immer noch untröstlich über den Verlust ihrer Tochter und es war fraglich, ob sie je über ihren Tod hinwegkommen würden. Im Stillen machten sie Charles für ihren Tod verantwortlich und waren seitdem nie wieder in Montana gewesen, auch die drei Enkeltöchter hatten es nicht vermocht, sie hierher zu locken. Sharadon war Susan zudem wie aus dem Gesicht geschnitten und trotzdem oder gerade deswegen war sie kein Trost für ihre Großeltern. Susan war den Mädchen eine gute Mutter gewesen und oft fehlte sie einfach als Gesprächspartnerin. Vordergründig kamen die Mädchen mit dem Verlust der Mutter zurecht; aber Charles wusste, dass Susan ihnen genauso oft fehlte wie ihm. Besonders die Jüngste, Jessie-Blue, hatte sehr unter dem Tod ihrer Mutter gelitten.

Charles schüttelte seine düsteren Erinnerungen ab und stieg mit Sabrina und Jessie in den Mercedes, während Sharadon mit John in dessen Jeep einstiegen. Nach einer halbstündigen Fahrt waren sie in der Stadt und suchten vor der City-Hall nach einem Parkplatz.

John hatte durchaus bemerkt, dass Charles über ihn als Begleiter von Sharadon nicht begeistert war. Während der ganzen Fahrt nach Ridgerock herrschte Schweigen im Auto, doch als sie auf dem Parkplatz hielten, wollte John es von Sharadon hören.

„Dein Dad war ja nicht sonderlich erfreut, dass ich dich auf den Ball begleite, er hatte wohl jemand anderen erwartet“, sagte er.

„Ach was, das bildest du dir nur ein“, erwiderte Sharadon unwillig. Sie war inzwischen schlechter Laune und fragte sich, warum sie überhaupt heute Abend auf diesen dummen Ball mitgegangen war. Sie ließ ihre Blicke über den Parkplatz schweifen. Pauls Wagen war nirgends zu entdecken. Wie gut, er war nicht da. Sharadon war erleichtert. Dann hatte er tatsächlich keine Lust gehabt, hier zu erscheinen, weil Paul, wie er sagte, sich aus diesen Veranstaltungen nicht viel mache. Aber warum nur war sie dann eigentlich hier? Sie beschloss so schnell wie möglich, wieder nach Hause zu fahren.

Doch im Moment lächelte Sharadon John an: “Dann wollen wir mal sehen, ob wie jedes Jahr, alle wichtigen Menschen des Tals da sind.“ Der Spott in ihrer Stimme war unverkennbar.

„Du weißt, dass sie alle jedes Jahr da sind, es ist nun mal das wichtigste Ereignis im Tal“, erwiderte John gutmütig und half Sharadon aus dem Wagen. Auch er hatte bemerkt, dass sein Freund Paul nicht da war. Dann hat er es tatsächlich wahr gemacht und Sharadon versetzt, aber er weiß doch bestimmt, dass heute Abend das ganze Tal auf die Verlobung des Jahres lauert! Ihm war klar, dass er lediglich ein Lückenbüßer für den heutigen Abend war, wie auch so oft in den letzten vielen, vielen Jahren. Das ging schon so, seit sie Kinder gewesen waren. Paul, seine beiden jüngeren Brüder und natürlich Billy Henshaw waren immer die Anführer gewesen, wobei Sean eher mitgelaufen war. Die Mädchen aber scharten sich nur um Paul, um ihn anzuhimmeln. Sharadon war andererseits das Mädchen gewesen, in das alle Jungen verliebt gewesen waren. Was lag da näher, als dass Paul und Sharadon seit der Highschool zusammen waren? Die Collegezeit hatte die beiden getrennt. Paul hatte eine Ausbildung bei der „Futures Farmers Association (FFA)“ gemacht und war anschließend nach Texas gegangen, um Agrarökonomie und Betriebswirtschaft zu studieren, während Sharadon nach dem College auf die elterliche Ranch zurückgekehrt war. John selbst hatte nach dem College ebenfalls erwogen, zu studieren, so wie Sabrina, die inzwischen auf der Conzaga Assistentin war und dort promovierte. Nun war Bill auch wieder in der Stadt. Bill, der Einzige in der Runde, der sich Sharadons Zauber entzogen hatte. John erinnerte sich, dass damals, bevor Bill verschwand, viel über Bill und Sharadon gemunkelt wurde. Mich interessiert schon, was Billy jetzt macht. Ob er wohl auf den Ball kommt? John seufzte innerlich, als er in Sharadons Gesicht sah. Sie war erkennbar ungern hier. Dann wollen wir mal, wappnete er sich und sie gingen der Restfamilie Beringer entgegen, die gerade aus dem Auto ausstieg. Von allen Seiten wurde die Familie auf dem Parkplatz mit Hallo und Grüßen überschüttet und langsam füllte sich der Platz mit den Autos der Ballgäste. Gerade bog auch der Wagen der McGreggrans, ein großer BMW, um die Ecke und Matt McGreggan suchte nach einem freien Parkplatz.

Charles blieb stehen und wartete auf seinen alten Freund und dessen Frau Ivy. „Geht ihr nur schon vor, ich komme mit Matt und Ivy nach“, sagte Charles seinen Töchtern und schob Sabrina und Jessie-Blue in die Richtung von John und Sharadon. John hakte die beiden älteren der Beringer-Mädchen unter. Er dachte wohl schon zum hundertsten Mal, wie nett Sabrina doch war und wie hübsch sie heute Abend aussah. Er nahm sich vor, unbedingt mit ihr zu tanzen. Jessie-Blue war schon mit ihren Freundinnen im Ballsaal verschwunden.

„Hallo Matt, wie geht’s? Ihr seid nicht komplett in diesem Jahr?“, begrüßte Charles Matt, Ivy und Sean.

„Guten Abend Charles, schön, dass ihr hier seid. Paul ist schon eine Weile unterwegs und ich nahm an, dass Sharadon der Grund wäre. Warum ist sie hier mit John?“, fragte Matt erstaunt.

Auch Ivy wunderte sich. Als Paul heute Abend schick angezogen und fröhlich pfeifend das Haus verlassen hatte, war sie davon ausgegangen, dass er Sharadon abholen wollte und seine sehr gute Laune auf dem Entschluss beruhte, heute Abend die Verlobung mit ihr bekannt zu geben. Sicher, sie hatte zu Sharadon eine eher zwiespältige Einstellung, andererseits tändelte ihr Ältester nun schon so lange mit ihr herum, dass allmählich eine Entscheidung fällig wurde. Aber er war nicht da! Ivy ließ sich ihr Erstaunen nicht anmerken.

„Wo ist er?“, raunte sie ihrem Mann zu.

„Wenn ich das wüsste!“, antwortete Matt ebenso leise. Was ging hier vor, dachte er, auch sein Freund Charles schien erstaunt zu sein, dass Paul nicht mit Sharadon als Begleitung hier war. John als Begleiter von Sharadon?

„Wie sehen deine Töchter wieder reizend aus, Charles“, lächelte Ivy den alten Freund der Familie an. Auch sie sah elegant und schön aus, in ihrem rosé und silberdurchwirkten Abendkleid. Es kontrastierte perfekt zu ihrem schwarzen Haar, das allerdings inzwischen mit grauen Strähnen durchzogen war. Ivy war immer noch schlank, obwohl sie auch schon ihren sechzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Matt liebte seine Frau noch immer und war sehr stolz auf sie.

Die anderen Gäste nach rechts und links begrüßend, folgten sie ihren Kindern in den Ballsaal. Alle Frauen trugen aufwendig gearbeitete Ballkleider, dem gesellschaftlichen Ereignis des Tals angemessen.

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Paul und Marie fuhren von Ellas Haus in die Jefferson und von dort ein Stück hoch zum Glacier Strip, um dort in „Bernies Beer House“ zu essen. Es lag ein wenig abseits, war aber das einzige Restaurant in Rockridge, das nicht zu elegant, aber auch nicht wie ein Fast-Food-Restaurant war. Man konnte dort sehr gut essen und ein gezapftes europäisches Bier bekommen. Paul hatte bei „Bernies“ einen Tisch reservieren lassen, denn dieses Lokal war immer gut besucht.

Marie war fürchterlich aufgeregt, ebenso wie Paul. Beiden war eine gewisse Nervosität anzumerken. Marie wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Ihr fiel einfach nichts Intelligentes ein. Sollte sie ihn nach seiner Familie fragen? Nein, zu vertraulich, entschied sie. Sollte sie ihn nach seinem Beruf fragen? Also, das ist wirklich typisch deutsch! Hier in den USA wurde diese Frage eventuell als genauso unhöflich angesehen, wie in Großbritannien. Da sie über Paul nichts wusste, ebenso wenig über die Stadt und die Gegend, schwieg sie. Er hält mich sicher für eine rechte Langweilerin, dachte sie. Aber je mehr sie sich bemühte ein Gesprächsthema zu finden, desto weniger fiel ihr ein. Sie vertrieb sich die Zeit damit, ihn von der Seite zu betrachten. Wie viele Lachfältchen er um Augen und Mund hat! Er muss ein fröhlicher Mensch sein. Sie unterdrückte ihren Impuls, zärtlich seine Wange zu berühren.

Paul erging es nicht besser. Auch er überlegte, welches Gesprächsthema wohl am geeignetsten sein mochte. Denn eine völlig schweigsame Fahrt zu „Bernies“ war auch undenkbar, sie würde ihn sonst sicher für einen Langeweiler halten.

„Wir gehen zusammen aus und ich weiß nicht einmal deinen Namen“, stellte Paul die für ihn nahe liegende Frage.

„Oh, habe ich den noch nicht gesagt? Marie“, antwortete sie eher vorsichtig, denn plötzlich hatte sie Bedenken: Sie saß mit einem wildfremden Mann in einem Auto und wusste nichts über ihn, außer seinem Vornamen und dass er wohlige Schauder in ihrem Inneren erzeugte.

Paul wiederholte den Namen immer wieder für sich: Marie, Marie, wie schön und wie gut er zu ihr passt. Sie war eine wunderschöne dunkle Marie. Er blickte sie an lächelte: „Was für ein schöner Name und woher kommst du, Marie?“

Marie sah ihn ebenfalls lächelnd an und wieder wünschte sie sich nichts sehnlicher, als von ihm berührt zu werden. Als hätte Paul ihre Gedanken gelesen, nahm er seine rechte Hand vom Lenkrad und strich ihr ganz zärtlich über ihre Wange. Marie erbebte und antwortete heiser: „Aus Deutschland.“

„Deutschland? Wo genau?“, Paul fasste wieder das Lenkrad.

„Aus München.“

„So, aus München. In Deutschland war ich leider noch nie. London ja, auch Paris“, Paul blickte sie wieder an. Wie schön sie war, dachte er. Als er ihre Haut berührt hatte, war es, als wäre ein elektrischer Strom durch seinen Körper gefahren.

„Ach, Paris ist auch eine meiner Lieblingsstädte“, schwärmte Marie, in London war ich auch schon, aber nur einmal kurz, nach dem Abitur.

„In Paris erinnere ich mich an den Eiffelturm und den Louvre. Wir sind dort stundenlang herumgelaufen“, entgegnete Paul.

„Ja, im Louvre war ich auch schon und ich war vollkommen hingerissen. Wir sind dort stundenlang herumgelaufen, um die Mona Lisa anzusehen. Man muss schon sehr bequeme Schuhe anhaben. Und weißt du, ich war dann ganz überrascht, wie klein das Bild war. Ich konnte bei den vielen Menschen rings herum nicht viel erkennen. Auf dem Eiffelturm war ich leider noch nie, mir immer waren die Warteschlangen davor zu lang.“

„Wir haben es mit viel Geduld geschafft, auf den Turm hoch zu fahren. Phantastisch dieser Blick über die Stadt. Die vielen Straßencafès und die Seine-Promenaden haben mir auch sehr gut gefallen. Sie sind einmalig, besonders, wenn man hier in Montana aufgewachsen ist“, sagte Paul.

Marie registrierte, dass Paul das zweite Mal von „wir“ gesprochen hatte, sie biss sich aber auf die Zunge und unterdrückte den Impuls, ihn zu fragen. Sie selbst war schon öfter mit ihrer besten Freundin Caro in Paris gewesen. Nach dieser mühseligen Unterhaltung war Marie froh, als sie endlich bei „Bernies“ ankamen und hoffte, dass die Unterhaltung nicht den ganzen Abend aus diesem verbalen Abtasten bestand. Aber auch Paul fand diese Art von Gespräch fürchterlich und nahm sich vor, die weitere Unterhaltung etwas flotter zu gestalten. Doch Marie schien eine äußerst zurückhaltende junge Frau zu sein.

Paul und Marie stiegen aus Pauls Pick-up. Als Marie vor Paul das „Bernies“ betrat, war sie richtig begeistert. Die Atmosphäre, die sie umfing, war gemütlich und nett. Auf der langen Theke stand eine große kupferne Zapfanlage. Dahinter an der Wand hing ein riesiger Spiegel und in den Regalen stand eine ungeheure Auswahl an unterschiedlichsten Biergläsern. Es war ausgesprochen rustikal, aber nicht im bayrisch-pittoresken Stil, sondern eher klassisch, skandinavisch. Die Wände waren teilweise schwarz lackiert und verliehen dem Raum die Weite einer überdimensionalen Halle. Sehr schick für diese Kleinstadt.

Paul wurde mit viel Hallo begrüßt. Sie setzten sich in die reservierte Nische und während sie die Speisekarte studierten, bestellte Paul zwei Biere. Marie entschied sich für einen Gemüseauflauf, während Paul für sich ein Steak mit Bratkartoffeln bestellte. Die Bedienung stellte zwei große Krüge Bier vor die beiden hin und sie prosteten sich zu, dabei blickten sie sich tief in die Augen. Marie errötete. Sie entschloss sich, etwas offener zu Paul zu werden.

Paul war neugierig und wollte alles über Marie wissen: “Also, was machst du hier bei uns? Hier ist nicht gerade eine touristische Gegend. Wir haben hier nicht viele Fremde. Auch zu unserem alljährlichen Rodeo sind kaum Fremde hier, es ist eben das Ereignis für unser Tal.“

„Nun, dass konnte ich nicht sehen, dazu kenne ich mich nicht gut genug aus. Ich bin hier nur zufällig gelandet, weil ich mich verfahren habe. Ich wollte und will eigentlich zum Yellowstone Park. Aber morgen versuche ich mein Glück erneut. Als ich hier in den Ort gefahren bin, sah ich die Schilder mit dem Rodeo, sie waren ja schwerlich zu übersehen und da ich bisher kein Rodeo kannte, beschloss ich zu bleiben, um es mir dann doch einmal anzusehen. Na ja, und ‚Ellas Best‘ wurde mir von der netten Bedienung bei Starbucks empfohlen.“

„Du hast dich verfahren?“, fragte Paul ungläubig, „Wie kann denn so etwas passieren? Hast du keine Straßenkarte oder ein Navigationsgerät im Auto? Zum Yellowstone muss man nur auf der N 89 oder der 191 bleiben.“

„Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Ich war auf dem Highway und wollte nur den Weg abkürzen. Dann bin ich gefahren und gefahren und hier in Ridgerock gelandet. Aber es gibt sicher Schlimmeres als hier mit dir im ‚Bernies‘ Bier zu trinken“, schmunzelte Marie Paul an.

„Tja, und ich hätte dich niemals getroffen. Das ist so ungewöhnlich, sich hier zu verfahren, dass ich fast an ein gütiges Schicksal glaube. Eine gute Göttin hat dich ganz bestimmt geradewegs nach Ridgerock geschickt und nur, damit ich dich kennenlerne“, erwiderte Paul schelmisch und schien sie mit seinen Blicken festhalten zu wollen.

„Ja, so wird es wohl gewesen sein“, parierte Marie tapfer. Bei dem Gedanken, morgen weiterzufahren, wurde sie unendlich traurig, sie mochte Paul mehr, als ihr jetzt gut tat. Sie spürte, dass sie Paul von Minute zu Minute mehr mochte. Sie sah an seinen Augen, ihm erging es genauso wie ihr.

Als ihr Essen gebracht wurde, ließen sie es sich schmecken und Marie erzählte ein wenig von München und den Bergen, die sie an die Rocky Mountains erinnerten. Paul beobachtete fasziniert, wie Marie erzählte, wie sie lachte, ihn anlachte und dabei regelrecht aufblühte. Sie erzählte aber nichts über sich oder was sie in München machte. Und Paul kam gar nicht auf die Idee, sie danach zu fragen oder ihr etwas von sich zu erzählen. Er saß einfach da und himmelte die Frau seines Lebens an. Er wünschte, sie in seinen Armen zu halten, sie mit seinen Lippen zu liebkosen und ihr diese vorwitzige Locke aus der Stirn zu streichen.

Marie ging es ebenso: Sie erzählte und konnte den Blick nicht von seinem Gesicht abwenden. Sie sehnte sich danach, seine Arme um ihren Körper zu spüren und sich einfach ihrem Verlangen nach ihm hinzugeben.

Nach dem Essen erinnerte sich Paul an den Ball und schaute auf seine Uhr. Sein sonstiges Leben kam ihm völlig entrückt vor, wie in weiter Ferne, doch er hatte Marie den Ball versprochen und sagte deshalb: „Ich habe den Ball ganz vergessen. Wenn du möchtest, könnten wir jetzt langsam aufbrechen. Die Eröffnung ist inzwischen zwar vorbei, aber ich würde ich mich sehr freuen, wenn dich meiner Familie vorstellen kann. Sie sind alle sehr nett und freuen sich bestimmt, dich auch kennenzulernen“. Er erhob sich, um an der Theke zu bezahlen.

„Auf einen Ball hier in Ridgerock gehen und diesen erleben? Ja, doch! Da würde ich mich freuen, wenn ich dich begleiten darf. Aber warum ist es so wichtig, dass ich deine Familie kennenlerne? Versteh mich bitte nicht falsch, aber ich bin morgen nicht mehr hier“, erwiderte Marie.

Tatsächlich hatte sie keine große Neigung, der ganzen Familie gegenüber zu stehen. Sie wollte mit Paul einen schönen Abend verbringen und vor allen Dingen wollte sie seine Nähe genießen. Ob das so gelang, wenn sie inmitten der Familie stand, bezweifelte Marie sehr. Doch sie folgte Paul zum Ausgang und hoffte, auf dem Ball trotz seiner Familie die Gelegenheit zu haben, mit ihm allein zu sein. Paul half Marie in den Wagen und sie fuhren zur City Hall.

Während der Fahrt hingen beide ihren Gedanken nach. Sie spürten, es verband sie sehr viel mehr miteinander, als nur ein netter Abend. Sie wussten instinktiv, dass jeder für den anderen so etwas wie das eigene Schicksal bedeutete und jeder empfand bereits Gefühle für den anderen, die weit über Sympathie hinausgingen. Paul spürte nach dieser Frau ein Verlangen, das neu für ihn war. Das gemeinsame Schweigen war entspannt und gut. Es war, als ob sie sich schon immer kannten. Nach einiger Suche fand Paul einen Parkplatz.

„Mein Gott, das ist ja eine große Veranstaltung“, rief Marie aus.

„Ja, hier ist das ganze Tal versammelt, alle die wichtig sind oder sich dafür halten“, sagte Paul und schaute sie zärtlich an. Er hakte Marie unter und gemeinsam betraten sie den Festsaal der City Hall. Paul sah glücklich aus. Marie riss erstaunt ihre Augen auf. Sie war auf Anhieb von diesem lauten und fröhlichen Tanzen fasziniert. Diese Musik, dieses dichte Gedränge der vielen Festbesucher und diese Kleider! Wie sie glitzerten im Licht!

Paul erblickte über etliche Köpfe hinweg seine Eltern an der Theke. Matt unterhielt sich mit Charles. Seine Mutter sagte gerade etwas zu Sean, der seine Blicke unaufhörlich durch den Tanzsaal gleiten ließ, auf der Suche nach einer Talschönheit. Seans Blick blieb an Sharadon hängen, die mit John den üblichen Square Dance tanzte. Es war jedes Jahr ein „Muss“, auf dem Ball diesen uramerikanischen Tanz zu tanzen.

In diesem Moment richtete Matt seinen Blick auf den Eingang und erblickte das Paar, das dort reglos verharrte. Matt lächelte, doch dann sah er seinen ältesten Sohn, den er überall wähnte, nur nicht hier. Sein Gesicht erstarrte, als er eine unbekannte junge Frau an Pauls Seite entdeckte. Nun wurden auch Ivy, Charles und Sean aufmerksam und blickten ungläubig in dieselbe Richtung. Auch Sean wandte sich um und grinste sofort, als er bemerkte, welche Schönheit seinen Bruder begleitete. Ach so, die schöne Fremde vom Rodeo, dachte er. Die Gerüchte waren bereits zu ihm durchgedrungen.

Paul und sein Vater blickten sich sekundenlang an, ehe die Spannung zwischen beiden nachließ. Marie bemerkte die plötzliche Veränderung der Atmosphäre, verstand sie aber nicht und wagte ein zaghaftes Lächeln hinauf zu Paul und in die Richtung der Familie: Das ist die Familie, mein Gott, was ist hier los? Diese plötzliche Stille und diese Blicke haben eindeutig mit uns zu tun, na ja, wohl eher mit mir. Ihr wurde unbehaglich zumute. Tatsächlich hatte der Tanz für den Moment des Erblickens und Erkennens aufgehört und die Tanzenden und Umstehenden musterten Paul und Marie neugierig. Jeder mit seinen ganz eigenen Gedanken zu diesem schönen Paar dort am Eingang. Doch Paul kümmerte sich nicht weiter darum und schob Marie durch die Menge. Und tatsächlich, als wäre ein Bann gebrochen, begannen der Tanz und das fröhliche Geplauder von neuem. Aber sehr viele Blicke folgten dem Paar.

„Nanu, ich dachte, Paul gibt heute Abend seine Verlobung mit Sharadon bekannt“, sagte Charles sichtlich verwirrt zu Ivy. Er hatte sich zwar über John als Begleitung gewundert, aber doch gedacht, das sei wieder eine Kapriole seiner ältesten Tochter.

Nun tauchte sein Fast-Schwiegersohn mit einer anderen Frau auf, noch dazu vollkommen indiskret auf dem wichtigsten Fest des Tals. Er blickte zu seiner Tochter hinüber. Sharadon stand stocksteif am Rande der Tanzfläche. Ihre Fingernägel hatten sich in Johns Arm gekrallt und sie starrte mit aufgerissenen Augen auf das Paar. Wut zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab.

Paul war mit Marie bei seiner Familie angelangt.

„Mum, Pa, Bruderherz“, begrüßte Paul seine Eltern und Sean, “darf ich euch meine Begleiterin vorstellen? Das ist Marie aus München“. Marie blickte Matt, Ivy und Sean an. Sie hatte wohl bemerkt, dass ihr Erscheinen für Aufruhr sorgte. Sie konnte allerdings - trotz ihres Unbehagens - an dieser Situation nichts ändern. Da muss ich jetzt wohl oder übel durch, dachte sie und sagte artig: “Guten Abend, es freut mich, Sie kennenzulernen. Ich freue mich, Paul auf diese Veranstaltung begleiten zu dürfen.“

„Bis ihr euch erholt habt, entführe ich Marie auf die Tanzfläche“, rief Paul und wirbelte Marie schwungvoll durch die Menge der tanzenden Menschen. Ehe sich Marie versah, befanden sie sich mitten darin. Sie blickte Paul tief in die Augen. Marie erschauerte unter seinen Blicken. Ihr Herz schlug wild. Sie fühlte sich in seinen Armen geborgen. So war es ihr bisher bei keiner ihrer Männerbekanntschaften ergangen. Marie hatte sich Hals über Kopf in diesen durch und durch amerikanischen Mann verliebt. Sie hielt sich an seinen tiefblauen Augen fest und hatte das Gefühl zu ertrinken. Marie blickte Paul an. Für alle Außenstehenden war zu erkennen, dass dieses Paar glücklich ineinander verliebt war. Paul betrachtete liebevoll und zärtlich Maries Gesicht. Ihm kam nur eine Frage in den Sinn und er wusste, wenn er ihr diese Frage jetzt nicht stellte, dann würde er vielleicht nie wieder die Gelegenheit haben. Ihn quälte plötzlich der Gedanke, einfach keine Zeit mehr zu haben. Also sprang er in die wichtigste Frage seines Lebens: „Möchtest du mich heiraten? Ich liebe dich. Ich war noch nie so glücklich und so sicher, die richtige Frau meines Lebens in den Armen zu halten.“

Marie bekam einen Schreck und wusste nicht, was sie Paul entgegen sollte. Sie ihn heiraten? Jetzt hier im Urlaub? Was sollte sie antworten? Sie hatte sich unsterblich in diesen Mann verliebt und fürchtete sich bereits vor dem Moment der Abreise. Und jetzt ein Heiratsantrag? In Sekundenschnelle dachte sie an ihr Leben in Deutschland, an ihr Studium, das sie sich hart erkämpft hatte und das sie liebte.

„Ich bin doch völlig fremd hier. Aber ich mag dich auch“, stammelte sie völlig fassungslos. Vor Aufregung war sie stocksteif auf der Tanzfläche stehen geblieben. „Lass mir etwas Zeit, ich kann mich hier und jetzt nicht entscheiden. Du weißt doch von mir nicht viel und auch nicht, worauf du dich einlässt.“

Paul nahm ihr Gesicht in seine starken Hände und sagte mit rauer Stimme: „Ich liebe dich und werde nie eine andere Frau lieben. Ich möchte dich heiraten, an meiner Seite haben und dich sehen, wenn ich mit der Arbeit auf der Ranch abends fertig bin. Ich möchte dich fühlen und spüren und mit dir alt werden. Aber ich lasse dir Zeit und werde dich immer wieder fragen“, erwiderte Paul ernst. Dann nahm er Marie in die Arme und tanzte mit ihr den Wiener Walzer.

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Sharadon, der Beringerclan, aber auch Matt, Ivy und Sean sahen, dass dort auf der Tanzfläche zwischen Paul und Marie etwas Wichtiges vor sich ging. Sie sahen es an Pauls Gesichtsausdruck, an der Art, wie die junge Frau erschrocken versuchte, zu ihren Füßen hinabzublicken und wie Paul ihr Gesicht in seine Hände nahm und es zu sich empor hob. Sein Gesichtsausdruck war sehr ernst während er auf sie einredete. Jetzt tanzten beide zum Wiener Walzer. Die Röcke des schwarzen Kleides der jungen Deutschen bauschten sich auf und betonten ihre gertenschlanke Figur, während sie mit Paul über die Tanzfläche schwebte. Sie sah wirklich wunderschön aus.

„Ich wette, mein Bruder hat eben für meine neue Schwägerin gesorgt. Es wäre schön dumm, dieses tolle Mädchen weiterziehen zu lassen“, bemerkte Sean zu seinen Eltern. Er fühlte Eifersucht auf seinen Bruder in sich aufsteigen und blickte zu Sharadon hinüber, um ihre Reaktion zu sehen. Ihre grünen Augen sprühten Funken. Matt, Ivy und auch Charles sahen Sean befremdet an und wunderten sich über dessen taktlose Bemerkung; schließlich stand Charles auch hier bei den McGreggans. Sean bemerkte die Unruhe nicht und bahnte sich den Weg zu Sharadon, John und den anderen Freunden.

Sharadon äußerte sich nicht laut, dachte aber wütend: Wer ist das überhaupt? Erst wollte Paul überhaupt nicht zu dem Ball kommen und dann taucht er mit dieser Fremden auf.

„Hey John, hey Sharadon“, lächelte Sean zuckersüß, “Na, was sagt ihr zu meinem Bruder? Was er sie wohl eben gefragt hat? Es sah ja sehr ernst aus. Aber ich glaube, bald weiß es hier ohnehin jeder, wenn ich mich nicht täusche.“

Sean wusste, dass er ziemlich gemein war, aber Sharadon hatte ihn so oft abblitzen lassen, dass er diese Genugtuung einfach nur genoss. Es tröstete ihn ein wenig über seine eigenen Empfindungen hinweg.

Sharadon blickte Sean an: “Was soll er sie schon gefragt haben? Er kennt sie doch gar nicht. Wo sind eigentlich meine Schwestern? Ich glaube, ich gehe mal zu Dad.“ Sharadon ließ John und Sean und die anderen einfach stehen und bahnte sich den Weg zu Charles. Auch Jessie und Sabrina bahnten sich den Weg durch die Tanzenden, um zu ihrem Vater zu gelangen. Sie hatten ihre Tanzpartner ebenfalls freundlich, aber bestimmt stehen lassen. Auch sie ahnten, dass hier etwas Interessantes vorging, wobei Jessie-Blue ein wenig mehr vermutete, als ihre beiden Schwestern.

„Dad, trinkst du mit deinen Töchtern ein Bier?“, fragte Sabrina fröhlich, um die Anspannung zu überbrücken, die sich über die kleine Gruppe der Beringers und McGreggans gelegt hatte. Sean war Sharadon gefolgt, denn er wollte sich das Zusammentreffen seines Bruders mit seinen Eltern nicht entgehen lassen.

Paul und Marie bekamen von all dem nichts mit. Sie tanzten verliebt und unbeirrt den Wiener Walzer zu Ende, jeder mit seinen Gedanken über den anderen beschäftigt. Dann lachten sie sich an und klatschten, wie auch die anderen Tänzer, der Kapelle Beifall.

„Lass uns etwas trinken und zu meinen Eltern gehen. Dann kannst du sie auch ein wenig kennenlernen und meinen jüngsten Bruder Sean auch.“

„Ja, eine gute Idee, ich sterbe fast vor Durst“, Marie. Sie ließ sich von Paul von der Tanzfläche führen. Als sie bei den Clans ankamen, blickten ihnen viele interessierte und fragende Augenpaare entgegen.

„Darf ich euch meine künftige Frau vorstellen? Marie hat zwar noch nicht ja gesagt, aber ich bin sicher, es dauert nicht mehr lange“, strahlte Paul seine Eltern an. Matt wäre fast das Bierglas aus den Händen gefallen. Charles verschluckte sich und prustete los. Sharadon griff Sean fest am Arm. Nur Sabrina und Jessie- Blue lächelten erfreut und wünschten Paul und Marie augenblicklich alles Gute.

„Was?“, rief Charles, nachdem er sich von seinem Hustenanfall erholt hatte, “Das darf doch nicht wahr sein! Ich kann es nicht fassen! Du willst eine völlig Fremde heiraten!“, sein Gesicht war zornesrot und er steigerte sich in seine Wut hinein.

„Beruhige dich“, unterbrach ihn Matt, “Wir sind genauso überrascht wie du“. Charles war sein bester Freund und er wollte auf keinen Fall, dass diese alte Freundschaft durch das Manöver seines Ältesten litt. Überhaupt, was dachte sich der Junge? Sicher, dieses Mädchen war unwahrscheinlich schön und das schlichte schwarze Kleid unterstrich ihr Äußeres auf das Angenehmste und zeugte von gutem Geschmack, aber so nicht, dachte Matt erbost.

Ivy schwieg und betrachtete die junge Frau aus Deutschland. Sie wirkte natürlich und sympathisch, schien keinerlei Allüren zu haben und sah in ihrem Kleid einfach wundervoll aus. Die großen blauen Augen beherrschten das feine ovale Gesicht. Ihr dunkles Haar schimmerte kupfern und die junge Frau blickte offen und interessiert in die Welt. Lachfältchen um ihre Augen verrieten einen humorvollen Menschen. Ivy war neugierig, wie die junge Dame diese völlig absurde Situation meistern würde. Ihr Paul, den sie über alles liebte, war aber auch unmöglich! Wie konnte er nur so eine Situation heraufbeschwören? Die Freundschaft mit den Beringers aufs Spiel setzen? Sicher, sie hatte oft überlegt, ob Sharadon auf die Ranch passte, sie war eigenwillig und Ivy hatte sich oft gefragt, ob Sharadon Paul oder das Vermögen der McGreggans heiraten wollte, aber reich waren die Beringers selber.

Sean drängte sich nach vorne und umarmte Marie intensiv. „Ich wünsche euch alles Gute und heiße meine Schwägerin in spe herzlich willkommen“; dabei blickte er sie intensiv an. Marie fand die Umarmung etwas unbrüderlich und die Blicke zu heißblütig, um sie zu ignorieren.

Oh je, das ist ja alles interessant. Erst der Antrag, dann die geballte Macht der Familie und zu guter Letzt der Bruder. Laut sagte sie: “Noch ist es nicht soweit. Ich fühle mich durch den Antrag geehrt, aber auch ein wenig überfordert. Freue mich aber über die guten Wünsche. Vielen Dank.“

Sie versuchte ein Lächeln, ihr waren die Reaktionen der anderen, besonders die der schönen goldblonden Frau nicht entgangen. Ein Gefühl sagte ihr, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

„Wir haben noch genug Gelegenheit, miteinander zu sprechen, jetzt möchte ich mit Marie tanzen und diesen Ball mit ihr genießen“, Paul wandte sich der Tanzfläche zu, Marie in seinem Arm.

Kaum waren die beiden außerhalb der Hörweite, platzte es aus Sharadon heraus und sie schimpfte los: „Wo kommt diese Person her? Ich glaube es einfach nicht! Dass Paul diese wildfremde Frau gefragt hat, ob sie ihn heiraten will. Wir wissen doch noch nicht einmal, was sie macht, wo sie herkommt? Pah, irgendwo aus Europa!“

Matt und Ivy waren immer noch sprachlos.

„Sie ist sehr schön“, sagte Sean, „Ich bin gespannt, was Simon dazu sagen wird. Noch hat sie nicht ja gesagt. Los, Sharadon, noch hast du die Schlacht nicht verloren, nur ein Gefecht.“ Während Sean spöttisch zu Sharadon sprach, ließ er Marie nicht aus den Augen.

Er hatte bereits vergessen, dass er eigentlich immer ein Auge auf Sharadon geworfen hatte, aber sein Bruder bisher unverrückbar dazwischen gestanden hatte. Plötzlich hatte die Situation sich verändert!

Diese Fremde war durch ihre nette und charmante Art viel attraktiver als Sharadon. Aber auch hier stand Paul wieder zwischen ihm und einer schönen Frau. Sean beschloss, seinen Bruder bei dem nächsten Tanz abzulösen, um selber mit Marie zu tanzen, er wollte sie noch einmal in seinen Armen halten. Er schaute noch einmal in die Runde und drängte sich in Richtung Tanzfläche.

„Sharadon, Sabrina, Jessie, lasst uns nach Hause fahren. Matt, ich hoffe, du bringst Paul zur Vernunft. Es wäre schade, wenn unsere Jahrzehnte alte Freundschaft auf diese Weise enden würde“, erklärte Charles. Er war immer noch erschüttert.

„Aber Charles, nun dramatisiere diese Situation doch bitte nicht. Paul hat sich augenscheinlich in das Mädchen verliebt. Was sollen Ivy und ich denn machen? Paul ist erwachsen. Er wird sicher nach der ersten Verliebtheit erkennen, dass diese Heirat keine Zukunft haben wird und sich dann deiner Tochter erklären. Ivy was meinst du dazu?“, sagte Matt, nun auch aufgebracht über seinen alten Freund. Aus dem Miteinander der Kinder, das sich jetzt schon jahrelang in einem ständigen Auf und Ab bewegte, eine Frage der Freundschaft zwischen den Familien zu machen, fand Matt übertrieben.

Ivy lenkte begütigend ein: „Wir sollten die Situation nicht überbewerten, Charles. Bei deinem Zorn auf Paul, vergiss bitte nicht, dass die junge Dame noch nicht ja zu Pauls Antrag gesagt hat. Ich glaube schon, dass sie weiß, was sie will. Ich bin mir gar nicht sicher, ob sie Paul wirklich heiraten wird. Deshalb, Charles, beruhige dich. Auch du, Sharadon, solltest gelassen bleiben, auch wenn der Auftritt der beiden heute Abend einen Affront für dich bedeutet“. Bei sich dachte sie, dass es Sharadon auch einmal ganz gut tat, etwas zurecht gerückt zu werden, auch wenn dazu erst eine junge Frau aus dem fernen Deutschland kommen musste und ihr Ältester dies ziemlich gefühllos gegenüber Sharadon getan hatte.

Doch Sharadon hörte gar nicht mehr zu. Sie hatte sich bereits abgewandt und ging zum Saalausgang, nicht ohne einen zornigen Blick in Richtung Paul und Marie zu werfen. Charles folgte ihr, aber Sabrina und Jessie-Blue dachten nicht im Traum daran, den Ball zu verlassen. Sie hatten nichts zu dem Vorgang außer guten Wünschen gesagt. Jessie-Blue dachte, das war es also! Wer hätte gedacht, dass es ein weibliches Wesen geben könnte, das ihre schöne und stolze Schwester bei dem tollsten Mann im Tal ausstechen würde. Fast tat ihr Sharadon schon leid.

Sabrina dachte an John und sah die Sache gelassen. Jetzt hielt sie nach ihm Ausschau, bahnte sich einen Weg durch die Menge und sah John bei anderen jungen Gästen am Fenster stehen. Sie bemerkte, dass viele Freunde und Nachbarn den Zwischenfall mitbekommen hatten und war schon gespannt auf den nun unweigerlich folgenden Klatsch in den nächsten Tagen und Wochen. Sie beschloss, den Abend mit dem lieben und gutmütigen John zu beenden, denn natürlich hatte ihre Schwester keinen Gedanken daran verschwendet, wie John sich fühlen musste, wenn sie beleidigt den Ball vorzeitig verlassen würde. Eben typisch Sharadon.

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Paul verließ mit Marie gegen Mitternacht den Ball. Marie hatte sich während des ganzen Abends nicht mehr zu dem Antrag geäußert und das Thema ebenso gemieden, wie ein weiteres Zusammentreffen mit Pauls Familie. Sie wurde von Sean herumgewirbelt und war dann froh gewesen, dass er sich anderen Ballschönheiten zuwandte.

Es war ihr jedoch nicht entgangen, dass die goldblonde Schönheit mit ihrem Vater den Saal verlassen hatte und die beiden Schwestern weiterhin ausgelassen und fröhlich tanzten.

Nun half Paul ihr in sein Auto. Sie legten den Weg zu „Bella`s Best“ schweigend und müde zurück. Als sie vor dem Haus standen, blieben sie im Auto sitzen, so als ob beide auf etwas warteten. Paul wandte sich Marie zu:

„Ich liebe dich. Ich weiß, es ist wirkt überstürzt, aber bitte bleib bei mir. Ich wünsche mir so sehr, dass du als Frau an meiner Seite in Amerika bleibst.“

Marie blickte Paul an: “Ich denke, ich liebe dich auch, weiß aber nicht so recht weiter.“

Paul beugte sich zu Marie und nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie, zuerst zögernd, zart und dann immer fordernder. Marie erwiderte den Kuss, ebenso innig und zunehmend leidenschaftlicher. Doch sie scheute sich davor, mehr zuzulassen. Paul bedrängte sie nicht, nur seine Hände fuhren tastend und leidenschaftlich über ihre Schulter und streichelten ihre Schultern und Brüste. Marie fühlte, wie die Leidenschaft sie drohte zu übermannen und versuchte sich aus Pauls Umarmung zu lösen. Sie atmete schwer. Doch Paul ließ sie nicht los.

„Paul, ich gehe jetzt hinein. Sonst bekomme ich noch Ärger mit Mrs. Ella“, hauchte Marie zögerlich. Sie machte allerdings keine Anstalten auszusteigen oder Pauls Arme von sich zu streifen. Sie wollte Paul so nahe wie möglich sein, soweit dies die Enge im Auto zuließ. Paul küsste sie erneut, mit zunehmender, quälender Leidenschaft. Beide spürten, dass der andere sich mehr wünschte, doch sie ahnten, dass an diesem Abend nicht mehr sein würde, als diese leidenschaftlichen Küsse. Sie versanken wiederum ineinander, sich küssend und streichelnd. Marie wusste, dass sie gehen musste, um diese Situation zu überstehen, aber sie war aber hin- und hergerissen. Sie konnte sich einfach nicht von diesem Mann lösen, ihr war klar, dass sie den Mann ihres Lebens gefunden hatte, aber ihr war ebenso klar, dass es keine gemeinsame Zukunft geben konnte. Sie war fest entschlossen, am nächsten Morgen die Stadt zu verlassen. Pauls Welt und ihre Welt in Deutschland waren einfach zu verschieden. Ihr Herz drohte zu zerbrechen, aber ein Leben auf einer Ranch in Montana war unvorstellbar.

„Bitte, Marie. Komm morgen mit mir auf die Ranch. Ich zeige dir unsere Ranch und das Land. Du wirst alles ebenso lieben, wie ich. Ich flehe dich an, sag ja, bleib bei mir. Du weißt, dass du zu mir gehörst“, beschwor Paul Marie.

„Wie gern würde ich bei dir bleiben! Aber ich weiß einfach nicht, was richtig ist. Ich bin hier im Urlaub. Erst habe ich dich kennengelernt, dann haben wir beide einen wunderschönen Abend auf dem Rodeoball verbracht, den ich wohl niemals vergessen werde, und zu guter Letzt hast du mir sogar einen Heiratsantrag gemacht! Kannst du verstehen, dass ich vollkommen durcheinander bin? Und Paul, ich habe auch bemerkt, dass deine Eltern gar nicht begeistert sind, so plötzlich eine Schwiegertochter zu bekommen, die sie noch nie gesehen haben“, erwiderte Marie atemlos.

Sie küsste Paul noch einmal heftig, umarmte ihn, um seinen Körper noch einmal zu spüren, um in der Erinnerung das Gefühl für diesen wunderbaren Mann heraufbeschwören zu können. Sie hielt ihn noch in ihren Armen, küsste ihn, schmeckte seine Lippen und begann bereits diese unendliche Traurigkeit zu spüren. Das Gefühl, einen großen Verlust zu erleiden, breitete sich allmählich in ihr aus.

Sie lächelte Paul noch einmal traurig an und öffnete die Wagentür.

„Ich liebe dich Paul und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mit dir alt zu werden. Du bist mein gefundenes Glück – für immer und ewig!“, sagte Marie zum Abschied.

Paul stieg ebenfalls aus, lief um das Auto herum und umarmte Marie heftig:

“Bitte versprich mir, dass du morgen noch hier bist, dass ich dich morgen hier noch antreffe!“, flehte Paul. Auch er spürte Maries Traurigkeit und wünschte sich, Marie aufhalten zu können. Er wollte sie für immer bei sich haben.

Marie wandte sich ab: “Schlaf gut und träume etwas Schönes“, sagte sie leise, „Und vergiss mich, lebe dein Leben hier, als sei ich nie da gewesen.“

Dann schloss sie die Haustür auf, winkte Paul noch einmal zu und trat in das Haus.

Paul blickte ihr nach und als sich die Tür schloss, hatte er das Gefühl, Marie nicht wiederzusehen. Für immer dein und in die Ewigkeit, dachte Paul.

Eine amerikanische Liebe

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