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Kapitel 1
ОглавлениеA. Märchen.
I. Kugelchen.
Es war einmal ein Mann, der Holzhacker war. Er
hatte eine Frau und zehn Jungen; der älteste war zehn,
der jüngste fünf Jahre alt. Die Leute waren sehr arm,
und da sie diese Jungen hatten, konnten niemals alle
satt zu essen bekommen. Der jüngste war eigentlich
ein ganz winziges Stückchen Mensch; und weil er, als
er geboren wurde, wie eine Kugel aussah, nannten sie
ihn »Kugelchen«. So klein er aber war, ein so
schlechter Kerl war er; weil er aber den schlechten
Kerl nicht zeigte, hielt ihn jedermann für einfältig.
In einem Jahre nun trat eine so grosse Hungersnot
ein, dass der Mann einst, als die Jungen schliefen, mit
seiner Frau übereinkam, die Jungen in den Wald zu
schaffen, damit diese dort verloren gingen und sie sie
so loswürden. Doch die Mutter wollte es nicht haben,
denn sie hatte die Jungen sehr lieb; doch als sie einsah,
dass es besser sei, die Jungen nicht leiden zu
sehen, liess sie ihrem Manne schliesslich seinen Willen.
Unser Kugelchen aber war, als er hörte, dass die
Eltern von ihren Jungen sprachen, ganz, ganz leise
aus seinem Bette gestiegen und hatte sich unter dem
Sitzbänkchen seiner Mutter versteckt und so alles ver-
nommen, was ihm am nächsten Morgen bevorstehen
sollte. Was tat er nun? Er stand zeitig auf, begab sich
ans Ufer des Meeres, füllte seine Taschen ganz mit
kleinen Kieselsteinen an und kehrte wieder nach
Hause zurück. Als es Morgen geworden war und man
aufgebrochen war, sagte Kugelchen seinen Brüdern
nichts von dem, was er gehört hatte; und nun ging es
in einen grossen Wald. Der Mann begann seine Holzhackerarbeit,
und die Jungen sammelten Thymian. Als
die Eltern sahen, dass die Jungen ihren Sinn bloss auf
ihre Beschäftigung gerichtet hielten, machten sie sich
ganz leise davon und liessen die Kinder im Walde allein.
Als letztere merkten, dass sie allein waren, begannen
sie laut zu weinen; doch Kugelchen wusste,
welchen Weg er einzuschlagen hatte, um nach Hause
zu gelangen; denn während er mitmarschierte, hatte er
auf dem Wege immer einen Kiesel nach dem anderen
hingepflanzt, – vom Aufbruche von daheim an bis zur
Ankunft im Walde. Nachdem er also seine Brüder
eine Zeitlang hatte weinen lassen, sprach er zu ihnen:
»Höret, Brüder! Martert euch nicht! Mutter und Vater
haben uns hier gelassen; aber ich werde euch wieder
nach Hause führen. Geht nur hinter mir her!« Seine
Brüder machten es denn auch so: sie folgten ihm, und
einen Kiesel nach dem andern fand er auf dem Wege;
und so gelangten sie nach Hause.
Unterdessen hatte, während der Mann und die Frau
nach Hause gekommen waren, ihr Arbeitsherr zu
ihnen geschickt und ihnen die Arbeit für ein Jahr bezahlt.
Als sie sich nun im Besitze so vielen Geldes
sahen, wurde die Frau, weil sie ihre Jungen im Walde
gelassen hatten, so bös, dass sie laut zu weinen anfing.
Ihr Mann verlor die Geduld, nahm einen Knüttel
und rannte hinter ihr her, um sie durchzuprügeln.
Doch sie begann nur umsomehr zu weinen und zu
schreien: »Wer weiss, was aus unseren Kindern geworden
ist?« Die Jungen, die noch – frisch angekommen,
wie sie waren – hinter der Tür standen, hörten
die Worte ihrer Mutter und riefen mit einer Stimme:
»Hier sind wir! Hier sind wir!« Da lief die Mutter
schleunigst herbei und öffnete ihnen und brachte
ihnen zu essen; und die Jungen assen tüchtig. Der
Vater freute sich wirklich, als er seine Jungen wieder
bei sich versammelt sah; aber diese Freude dauerte
nur so lange, als Geld da war.
Als man das Geld bis auf den letzten Centime verausgabt
hatte, kam wieder die Not, und wieder verständigten
sich die Eltern, die Jungen in den Wald zu
verschleppen. Damit diese aber nicht wieder den
Heimweg finden könnten, mussten sie sie weiter, als
das erstemal, wegführen. Kugelchen, der schlechte
Kerl, merkte, dass die Eltern wieder etwas gegen ihn
und seine Brüder planten, und bekam auch alles richtig
zu hören, wie das erstemal. Als er aber am näch-
sten Morgen frühzeitig aufstand, um Kiesel zu sammeln,
konnte er nicht aus dem Hause, weil die Tür mit
dem Querbalken verrammelt war und er nicht Kraft
hatte, letzteren zu beseitigen. Trotzdem wurde er nicht
bestürzt. Was tat er? Als die Mutter jedem der Jungen
sein Stückchen Brot gab, hob er sich das seinige auf
und ass es nicht; und als sie fortgingen, zerteilte Kugelchen
sein Brot in lauter kleine Stückchen, die er
einzeln zu Boden fallen liess. Man gelangte in den
Wald und begann zu arbeiten, und als es den Eltern
gut schien, liessen sie die Kinder, wie vordem, allein
und gingen fort. Die Brüder Kugelchens nahmen die
Sache diesmal nicht sehr schwer, weil sie dachten,
Kugelchen werde sie auch diesmal nach Hause bringen;
doch als dieser die Brotstückchen zusammensuchen
wollte, konnte er sie nicht wiederfinden, denn
die Vögel waren gekommen und hatten sie gefressen.
Man guckte hierhin, man guckte dahin: die Jungen gerieten
nur um so tiefer in den Wald! Nun begann es
noch zu regnen, und sie wurden nass zum Ausringen.
Unser Kugelchen aber – anstatt den Mut zu verlieren
– stieg jetzt auf einen Baum, spähte nach allen
Richtungen aus und entdeckte endlich in weiter Ferne
einen ganz winzigen Lichtschein; doch als er vom
Baume heruntergeklettert war, sah er ihn nicht mehr.
Nachdem die Jungen lange im Finstern umhergewandert
waren, fanden sie einen Weg und kamen aus dem
Walde heraus; jetzt sah Kugelchen auch den Lichtschein
wieder. Sie gelangten nach der Behausung
(von der der Lichtschein ausging) und klopften an die
Haustür, worauf ihnen eine Frau öffnete.
Kugelchen teilte ihr mit, dass sie sich im Walde
verirrt hätten, und bat sie, sie für die Nacht zu beherbergen.
Als die Frau hörte, was die Jungen wollten,
begann sie laut zu jammern und sprach zu ihnen:
»Wehe euch! Ihr wisst also nicht, wohin ihr gelangt
seid? Mein Mann ist ein Zauberer und Kinderfresser!
« »Aber,« begann Kugelchen wieder, »was sollen
wir tun? Wenn du uns hier nicht übernachten lässt,
fressen uns sicher die wilden Tiere heute Nacht draussen
im Walde auf! Lass uns hinein. Vielleicht frisst
uns dein Gemahl nicht auf!« Da die Frau ein sehr
gutes Herz hatte, überlegte sie sich die Sache und
wurde schliesslich der Ansicht, dass sie die Jungen
vielleicht verstecken könne; so liess sie sie denn ein
und nahm sie mit in die Küche, damit sie sich wärmen
könnten. Über dem Feuer kochte eine ganze Kuh, um
dem Zauberer zum Mahle zu dienen.
Plötzlich hörten die Jungen, während sie zusammen
dasassen, das Tor erdröhnen: puff! puff! Das war
der Zauberer! Die Frau versteckte die Jungen unter
dem Bette und öffnete die Tür. Der Zauberer fragte,
ob das Essen fertig sei, denn er war hungrig; zugleich
begann er herumzuschnüffeln. »Was für ein Geruch
nach Menschen ist nur hier?« sprach er zu seiner
Frau. »Es kann sein, du riechst das Blut der Kuh!«
»Nein! Nein! Was für ein Geruch nach Menschen ist
hier?« beharrte er und erhob sich von seinem Bette,
um gradaus auf das andere loszugehen und die Jungen,
halbtot vor Furcht, dort zu finden! Da wurde er
sehr böse über die Frau und sagte ihr, wenn er sie
nicht auch auffrässe (so geschähe dies bloss deshalb
nicht), weil sie nicht zart genug sei! Dann äusserte er:
»Wie passend mir die Jungen gekommen sind! Denn
morgen will ich drei anderen Zauberern ein Frühstück
geben und wusste eigentlich gar nicht, was ich ihnen
zu essen vorsetzen sollte!« Und damit holte der Zauberer
die Jungen, indem er sie an den Beinen anpackte,
einen nach dem andern hervor. Die Knaben warfen
sich auf die Kniee und baten den Zauberer um Gnade;
doch er wollte nichts hören, denn er hatte ein sehr hartes
Herz. Er holte sich ein Messer und begann es auf
einem Steine zu wetzen; und er machte sich daran,
einen der Jungen zu packen und ihn abzuschlachten,
als seine Frau sprach: »Ist's nicht besser, du lässt sie
bis morgen am Leben? Für heute Nacht hast du ja
eine Menge zu essen da! Was meinst du?« »Du hast
recht!« versetzte ihr der Zauberer. »Gib ihnen zu
essen, damit sie nicht etwa bis morgen dürr werden;
und dann kannst du sie zu Bett bringen!« Die Frau
freute sich über diese Worte und brachte den Jungen
etwas zu essen.
Der Zauberer hatte nun zehn Töchter, die sehr
hübsch waren, denn sie assen stets rohes Fleisch; aber
Zähne hatten sie wie die der Hunde. Auch waren sie
sehr grausam; denn wenn sie irgendwo einen Jungen
oder ein Mädchen sahen, so wollten sie diese beissen
und ihnen das Blut aussaugen. Diese Mädchen schliefen
zusammen in einem Bette; doch befand sich in der
Kammer, in der sie schliefen, noch ein Bett, und in
diesem leerstehenden brachte die Frau des Zauberers
jene Knaben unter. Kugelchen hatte bemerkt, dass die
Mädchen des Zauberers eine goldene Krone auf dem
Kopfe trugen, und da er Angst bekam, der Zauberer
möchte ihn und seine Brüder vielleicht doch in der
Nacht töten, erhob er sich ganz leise, nahm die Mützen
seiner Brüder nebst der eigenen her, begab sich
zum anderen Bette, nahm den Mädchen die Kronen
ab, setzte ihnen die Jungenmützen auf – während er
und seine Brüder die Kronen erhielten – und legte
sich wieder schlafen.
Gegen Mitternacht erhob sich der Zauberer und begann
zu überlegen, ob es nicht besser sei, die Knaben
sogleich zu töten, damit sie bis zum Morgen ordentlich
ausbluten könnten. Er stieg also aus dem Bette,
nahm ein grosses Messer zur Hand, begab sich nach
der Kammer, in der die Jungen schliefen und tastete in
der Dunkelheit umher. Er gelangte an das Bett, in
dem die zehn Knaben schliefen, und bekam die Kronen
zu fassen; da rief er: »Bravo! Was wollte ich jetzt
mit eigenen Händen anrichten! Ich wollte meine Kinder
töten!« Nun trat er an das andere Bett, bekam die
Mützen zu fühlen und schlachtete deren Trägerinnen
allesamt ab, – eine nach der anderen; dann legte er
sich wieder schlafen. Als ihn die zehn Jungen schnarchen
hörten, schlichen sie sich ganz leise in den Garten
hinunter, öffneten das Tor und flohen davon. Als
der Zauberer am nächsten Morgen erwachte, rief er
seine Frau herbei und sprach zu ihr: »Geh! Mach' mir
jetzt die zehn Jungen zurecht, denn ich habe sie schon
in der Nacht geschlachtet!« Die Frau stieg ins Obergemach
und erblickte ihre zehn Töchter tot, – ihre
Köpfe hingen über den Rand des Bettes und die Kehlen
schauten aufgeschnitten heraus! Der Zauberer,
dem es vorkam, als ob seine Frau nicht schnell genug
wieder herunterkäme, stieg nun auch hinauf – und
was sah er? Er sah seine Frau ohnmächtig am Boden
liegen und alle seine Kinder tot! Sein Gesicht verlor
alle Farbe; er geriet in die höchste Wut; er schleuderte
ein Fass Wasser seiner Frau ins Gesicht und sprach
zu ihr, als sie wieder auf den Füssen stand: »Gib mir
die Siebenmeilenstiefel!« Das waren ein Paar Stiefel,
mittels deren er mit jedem Schritte sieben Meilen zurücklegte.
Er zog sie an und eilte den Knaben nach,
um sie einzuholen.
Die Knaben sahen es aus der Ferne, wie der Zauberer
von einem Berge auf den anderen sprang und im
Begriffe war, sie einzuholen; damit er sie nicht fände,
versteckten sich Kugelchen und seine Brüder unter
einer Felsplatte. Da der Zauberer sehr müde war,
ruhte er sich hernach auf dieser selben Platte aus und
schlief ein und begann zu schnarchen. Die Jungen
kamen nun wieder hervor und bekamen einen schönen
Schreck, als sie den Zauberer mit dem Messer in der
Hand daliegen sahen, – bereit, sie zu töten. Aber Kugelchen
wurde lange nicht so bestürzt wie seine Brüder;
vielmehr gebot er ihnen, schleunigst unter der
Platte hervorzukommen; und da sie nicht so sehr weit
vom Hause ihrer Mutter entfernt waren, gelangten sie
rasch nach Hause. Währenddem näherte sich Kugelchen
vorsichtig dem Zauberer, zog ihm die Stiefel aus
und zog sie selber hurtig an, denn diese Stiefel waren
eben auch zauberisch und passten deshalb jedem.
Unser Kugelchen begab sich nun gradaus nach dem
Hause des Zauberers, wo er die Frau neben den
Leichnamen ihrer Töchter weinend vorfand. »Höre!«
redete er sie an; »dein Mann befindet sich in grosser
Gefahr: Räuber haben ihn festgenommen und haben
geschworen, sie müssten ihn töten, wenn du ihnen
nicht sein ganzes Geld ausliefertest! Als sie ihm
schon den Dolch auf die Brust setzten, sah er mich
und bat mich, dich von der Lage, in der er sich befän-
de, in Kenntnis zu setzen, und trug mir auf, dir zu
sagen, du solltest soviel Münzen und Silberstücke, als
du besässest, zusammensuchen und mir übergeben,
damit du ihn vom Tode befreiest; und damit du mir
leichter Glauben schenkest, gab er mir seine Stiefel, –
auch, damit ich rascher hierherkäme.« Die Frau
glaubte alles, was ihr Kugelchen mitteilte, übergab
ihm alles, was sie im Hause hatte, und Kugelchen
begab sich mit dem ganzen Gelde, das er von ihr erhalten,
zu seinen Eltern, die ihn sehr willkommen hiessen.
Gerade zu dieser Zeit war der König jenes Landes
in grosser Not; denn er wusste gar nicht, was aus seinen
Soldaten geworden sei, die in den Krieg gezogen
waren. Unser Kugelchen begab sich zu ihm und erbot
sich, ihm Kunde von den Soldaten binnen zwölf Stunden
zukommen zu lassen. Der König hiess das willkommen,
und Kugelchen bekam richtig heraus, wo
sich die Truppen befanden, worauf er zum Könige zurückkehrte
und ihm meldete, dass seine Truppen den
Krieg gewonnen hätten. Nachdem Kugelchen noch
lange Zeit im Palaste des Königs geweilt, um Briefe
an andere Fürstlichkeiten zur Beförderung zu erhalten,
begab er sich nach Hause und schenkte seinen
Angehörigen Reichtümer in Menge; und so wurden
seine Angehörigen durch seine Kraft zu reichen Leuten.
II. Die Prinzessin, welche hundert Jahre schlief
und dann heiratete und zwei Kinder gebar,
namens Sonne und Mond.
Es war einmal ein König und eine Königin; sie hatten
keine Kinder, weswegen sie sehr betrübt waren und
wünschten, sie hätten einen Knaben oder ein Mädchen.
Schliesslich gebar die Königin ein Mädchen
und freute sich so sehr über das Kind, dass sie alle
Zauberinnen ihres Landes zu sich berief und einlud,
zur Taufe des Kindes zu kommen. Nach der Feierlichkeit
nahm man ein Frühstück ein, und alle Zauberinnen
bekamen ein Geschenk vom Könige, – ein goldenes
Behältnis voll silberner Sachen und vielen Perlen.
Als man bei Tische sass, trat noch eine Zauberin herein,
– eine Greisin, die über hundert Jahre alt war und
die man, weil man gemeint hatte, sie sei gestorben,
nicht eingeladen hatte. Der König sandte sofort, ihr
ein goldenes Etui und die übrigen Gegenstände holen
zu lassen, die er den anderen Zauberinnen gegeben
hatte; aber man konnte kein Etui für sie ausfindig machen.
Die Zauberin glaubte nun, dass man ihr das
getan hätte, weil sie nicht schön sei wie die anderen,
und begann laut mit ihren Zähnen zu knirschen und
das Kind mit einem hässlichen Blicke zu betrachten.
Eine andere Zauberin hörte, wie die Alte etwas mur-
melte, und da sie meinte, die Alte könne das Kind
verhexen, versteckte sie sich hinter einem Türvorhange,
um, wenn die alte Zauberin dem Kinde etwas
Böses antäte, bereit zu sein, die Sache für das Kind
abzuändern.
Unterdessen begannen die Zauberinnen vor dem
Kinde vorüberzuziehen, und jede begann der Kleinen
irgend etwas zu wünschen. Zuletzt kam die Alte herbei,
und jedermann sah mit Angst dem entgegen, was
sie sagen würde. Sie begann ihr Haupt hinundherzubewegen
und dabei ihre Lippen verächtlich zu spitzen
und sprach: »Ich sage, dass dieses Mädchen durch
Spindeln Unglück erleiden und sterben wird!« Alle
Anwesenden erschraken über das Grausame in diesem
Wunsche und begannen zu weinen. Auf einmal kam
die Zauberin, die sich hinter dem Türvorhange versteckt
hatte, hervor und rief: »Königin, weine nicht
mehr! Deine Tochter wird nicht sterben! Freilich kann
ich das, was die Alte angerichtet hat, nicht gänzlich
unwirksam machen; aber ich kann der Sache eine andere
Richtung geben. Die Prinzessin wird allerdings
durch Spindeln Unglück haben; aber, statt dass sie
sterbe, wird sie nur schlafen und zwar hundert Jahre
im Schlafe verharren. Nach hundert Jahren wird ein
Prinz kommen, – kommen und sie aufwecken und heiraten.
«
Hierauf liess der König, um seine Tochter vor die-
sem Unheile zu schützen, überall öffentliche Verkündigung
ergehen, des Inhaltes, dass jeder, bei dem daheim
man eine Spindel fände, zum Tode verurteilt
werden solle. – Etwa fünfzehn Jahre waren vorübergegangen,
und das Kind war zu einer Jungfrau herangewachsen.
Einst reiste sie mit ihrer Mutter und ihrem
Vater nach einem Palaste, den sie im Freien hatten,
und das junge Mädchen begann den Palast von oben
bis unten zu durchwandern; denn sie hatte ihn, ausser
an diesem Tage, noch nie betreten. Während sie so
herumwanderte, gelangte sie nach einem sehr hohen
Turme und fand daselbst eine alte Frau, die dasass
und spann, denn sie hatte nichts von der Bekanntmachung
des Königs gehört. Die Prinzessin trat auf sie
zu und fragte sie: »Grossmutter, was ist das?« »Meine
Tochter, das ist eine Spindel!« »Lass sie mich betrachten,
Grossmutter! Willst du?« »Natürlich, meine
Tochter! Sehr gern! Da!« Die Prinzessin streckte ihre
Hand aus, die Spindel zu nehmen; aber, da sie etwas
hastig war, stiess sie mit der Hand an sie, – und sofort
sank sie ohnmächtig zu Boden! Die arme alte Frau
kam fast von Sinnen; sie begann laut um Hilfe zu
rufen, und die Leute kamen herbei, aber vergebens!
Was man auch mit der Prinzessin begann, – sie blieb
ohnmächtig!
Da erinnerte sich die Königin an das, was ihr die
Zauberin zuletzt gesagt hatte; und weil es nun einmal
bestimmt war, dass das eintreten sollte, bereitete man
für die Prinzessin ein Bett im schönsten Zimmer des
Palastes, zog ihr die schönsten Kleider an, die sie besass,
und legte sie auf das Bett. Wer sie sah, vermeinte,
sie schliefe: denn ihre Lippen waren immer noch
rot, ihr Gesicht war in keiner Weise verändert und sie
atmete leise. Der König ordnete an, dass niemand sie
je berühren dürfe und gebot jedem dieses Zimmer zu
verlassen.
Jene Zauberin nun, welche dem Schicksale der
Prinzessin diese Wendung gegeben hatte, lebte in
einem gewissen Lande, das von jenem Orte zwanzigtausend
Meilen entfernt lag. Sie hatte einen Diener
von kleinem Wüchse, der ein Paar Stiefel besass, mittels
welcher er mit einem Schritte fünfzig Meilen zurücklegen
konnte. Der kleine Kerl brach sogleich auf
und benachrichtigte die Zauberin vom Schicksale der
Prinzessin; und die Zauberin traf in kurzer Zeit in
einem Wagen von Feuer ein; sie kam aus der Luft
herab, und vier Drachen zogen den Wagen fort. Der
König ging, sie zu empfangen, und brachte sie hinein
zu seiner Tochter. Die Zauberin erklärte ihm, dass
alles, was er angeordnet hatte, gut sei; aber, klug wie
sie war, bedachte und erkannte sie, dass die Prinzessin,
wenn sie erwachen würde, sich in diesem alten
Palaste ja ganz verlassen finden müsste. Was tat sie
deshalb? Mit einem Stabe, welchen sie bei sich hatte,
berührte sie alles, was sich in diesem Palaste befand,
abgesehen vom Könige und der Königin, – also:
Damen, Kämmerer, Pagen, Köche, Diener, Kutscher,
Grooms, Rosse, sonstige Tiere und auch eine kleine
Hündin, die auf dem Bette der Prinzessin lag; und
indem die Zauberin diese berührte, schliefen sie in der
Stellung, die sie innehatten, ein: der eine im Sitzen,
der andere im Stehen, der dritte die Treppe hinaufsteigend,
der vierte Musik machend, der fünfte essend.
Auf dem Feuer stand das Essen: das Feuer hielt im
Brennen ein, und das Essen kochte nicht fertig. Der
König und die Königin küssten ihre Tochter, verliessen
die Burg und liessen Anschlagzettel an den
Ecken der Häuser anschlagen: niemand dürfe sich der
Burg nähern. Aber das Verbot war gar nicht nötig,
denn schon nach einer Viertelstunde sprossten in
Menge Nesseln und Dornsträucher empor und wuchsen
höher und höher, bis sie die Burg verhüllten und
von ihr nichts mehr als die Türme sichtbar blieben.
Die Zeit verstrich, – zehn Jahre, zwanzig Jahre, –
der König und die Königin starben; andere kamen; –
sechzig Jahre, achtzig Jahre, – schließlich hundert
Jahre. Eines Tages nun – nach hundert Jahren also –
zog der Sohn des damaligen Königs, der in keiner
Weise mit der Familie jener Prinzessin verwandt war,
auf die Jagd und erblickte jene Türme, die zwischen
Nesseln und Dornen versteckt lagen. Er fragte, was
das für eine Burg sei, und der eine gab ihm dies, der
andere das zur Antwort! Doch niemand konnte ihm
einen genauen Bescheid geben. Zuletzt kam der Prinz
mit einem alten Hirten zusammen, der ihm berichtete:
»Fürst, es ist länger als fünfzig Jahre her, – da hat mir
mein Vater gesagt, dass in jenem Palaste sich eine
Prinzessin befände, die hundert Jahre schlafen müsse
und wieder erwachen werde, wenn ein Prinz zu ihr
käme, welcher sie dann heiraten werde.« Als der Prinz
diese Rede hörte, liess er alle seine Leute hinter sich
und machte sich ans Werk, die Dornen zu durchschneiden,
um ins Schloss zu gelangen.
Doch zu seiner Verwunderung begannen die Dornen
sich von selbst zu trennen und liessen ihn durch,
um sich, als er durch sie hindurchgegangen war, hinter
ihm wieder zusammenzutun. Er betrat den Palast
und erschrak heftig. Er sah hierhin und dahin: da
lagen Menschen und Tiere auf den Erdboden gestreckt,
wie tot! Dort sass einer noch am Tische, mit
einem Weinglase, das zur Hälfte leer war, in der
Hand! Der Prinz betrat dann den Schlossplatz und erblickte,
als er die Marmortreppe hinaufstieg, in der
Hauptwache die Soldaten, in einer Reihe stehend, mit
den Musketen in ihren Händen. Dann betrat der Prinz
den Prachtsaal und sah Leute dasitzen oder dastehen;
wieder andere sahen aus, als ob sie tanzten. Er erblickte
eine Dame vor einem offenen Klavier, die aus-
sah, als ob sie spielte; eine andere Dame schien,
neben ihr stehend, zu singen, – aber alle Personen
schnarchten, was sie konnten!
Schliesslich bemerkte der Prinz ein ziemlich dunkles
Zimmer; er ging hinein und sah auf einem Bette
eine Jungfrau liegen, gar schön, von etwa fünfzehn
Jahren, mit allerschönsten Gewändern angetan, – ein
Engelsgesicht! Leise trat er an sie heran; da aber die
Zeit gekommen war, dass sie wieder erwachen sollte,
so wurde sie munter; und sie blickte nach ihm mit
einem liebessüssen Blick und sprach zu ihm: »Fürst!
Wie lange hast du gesäumt zu kommen! Wie lange
habe ich dich erwartet!« Als der Prinz sie so zu ihm
sprechen horte, gewann er sie gar lieb, denn sie gefiel
ihm so sehr. So unterhielten sie sich denn etwa vier
Stunden lang in einem fort, ohne dass sie die Zeit gewahrwurden.
Unterdessen waren alle im Palast aufgewacht:
der Koch kochte das Essen fertig, die Wache
marschierte weiter, die Diener liefen die Treppe hinauf
und hinab, der Kutscher spannte die Karosse an, –
kurz und gut, jeder führte das zu Ende, womit er hundert
Jahre vorher beschäftigt gewesen war, als er in
Schlaf versank. Aber da die Leute hundert Jahre lang
nichts gegessen hatten, so waren sie nahe daran, Hungers
zu sterben.
Schliesslich öffnete der Haushofmeister die Türe
und meldete den Wartenden, dass die Tafel angerich-
tet sei, – und jedermann ging essen. Nach dem Mahle
traute der Priester des zum Schlosse gehörigen Dorfes
die beiden jungen Leute. Am nächsten Tage verliess
der Prinz am frühen Morgen die Prinzessin, um sich
nach dem Palast seines Vaters zu begeben, denn es
waren ihm eine Menge Bedenken aufgestiegen.
Als er zum Könige gelangte, fragte ihn dieser, was
ihm geschehen sei, und der Prinz erwiderte, er habe
sich auf der Jagd verirrt und in einer Höhle übernachtet.
Der König, der ein sehr gutmütiger Mann war,
glaubte ihm; seiner Mutter aber begann, als sie nachher
sah, dass ihr Sohn täglich auf die Jagd zu gehen
begann, ein schlechter Gedanke aus ihrem Hirn zu
entspringen. Indessen führte der Prinz sein Leben
volle zwei Jahre auf diese Art und Weise fort, und in
dieser Zeit wurden ihm zwei Kinder geboren; das ältere
(ein Mädchen) nannten sie »Sonne« und das jüngere
(einen Knaben) nannten sie »Mond«, denn die
Beiden waren sehr schön. Der Prinz getraute sich niemals,
das Geheimnis seines Herzens seiner Mutter anzuvertrauen;
denn seine Mutter besass, obwohl Königin,
ein sehr hartes Herz, und wenn sie einen Knaben
oder ein Mädchen sah, so wollte sie diese auffressen;
der Prinz aber hatte Angst, dass, wenn er seiner Mutter
erzähle, er sei verheiratet und habe Kinder, sie sie
ihm auffressen möchte. Als dann zwei Jahre hernach
der König gestorben war und dieser Prinz König an
seiner Statt geworden war, – da wurde die Prinzessin
Königin und zog in die Stadt in den Königspalast ein,
und die Bewohner der Residenz empfingen sie sehr
wohl.
Nach einiger Zeit entstand ein Krieg zwischen diesem
König und einem anderen, und der junge Fürst
musste abreisen und mit seinen Soldaten ausziehen;
und weil seine Frau noch zu jung war, liess er die
Herrschaft in den Händen seiner Mutter. Der König
hatte voraussichtlich vier Monate im Felde zu bleiben:
als er nun fort war, schickte seine Mutter seine
Frau und deren Kinder in eine Wüste, wo sie niemanden
zu Gesicht bekamen.
Einst rief die alte Königin ihren Haushofmeister zu
sich und befahl ihm: »Morgen früh töte mir Sonne!
Ich will sie zu Mittag essen. Und wenn du nicht tust,
was ich dir sage, befehle ich meinen Leuten, dich zu
töten!« Nun hatte der Mann diese Kinder aber sehr
lieb. Was tat er also? Er nahm Sonne mit zu seiner
Frau und bat sie, das Kind zu verstecken; er selbst
nahm ein Lämmchen, schlachtete es und bereitete eine
Brühe von ihm, damit die alte Königin diese genösse.
Die Brühe schmeckte ihr so, dass sie am andern Tage
Mond essen wollte. Der Haushofmeister machte es
wie vorher: er versteckte Mond bei seiner Frau, nahm
ein Lämmchen her und tötete es, und die Königin verzehrte
es. Als etwa acht Tage vorüber waren, wollte
die Königin auch die Frau ihres Sohnes essen. Wieder
berief sie den Haushofmeister zu sich, dem sie sagte,
dass sie am nächsten Tage die junge Königin zu Mittag
verzehren wolle.
Der Mann begab sich zur jungen Königin und teilte
ihr mit, dass die alte Königin sie verzehren wolle; die
erstere aber wurde gar nicht bestürzt, sondern sagte
ihm, dass es besser für sie sei, wenn sie auch stürbe,
denn alsdann würde sie ja ihre Kinder wiederfinden.
Nun hielt es der Haushofmeister nicht länger aus; und
als er ihr dann gesagt hatte, dass ihre Kinder nicht tot
seien, da empfand die junge Königin gar grosse Freude
und wünschte die Kleinen zu sehen. Der Mann
nahm die junge Königin mit heim und gebot seiner
Frau, sie gleichfalls zu verstecken. Dann nahm er eine
Kuh her, schlachtete sie, verarbeitete sie zu Gedämpftem,
– und die alte Königin äusserte hernach, dass die
Mutter ihr noch weit besser als ihre Kinder geschmeckt
hätte. Und das böse Herz hielt sich bereit,
dem Sohne, wenn er aus dem Kriege zurückkäme, zu
sagen, die Katzen hätten ihm Frau und Kinder aufgefressen!
Als die alte Königin einst in der Nacht spazieren
ging, hörte sie die Stimme Monds, der gerade weinte,
weil seine Mutter ihn gehauen hatte, denn er war unartig
gewesen. Sobald die alte Königin die Stimme
der anderen Königin und ihrer Kinder erkannte, wurde
sie sofort gewahr, dass man sie getäuscht hatte; und
sie wurde höchst aufgebracht und schwur, sich zu rächen.
Am folgenden Morgen befahl sie mit lauter
Stimme, die allen Leuten Schrecken einflösste, man
solle auf die Mitte des Schlossplatzes einen grossen,
grossen, grossen Tonbehälter schaffen; dann liess sie
diesen von ihren Leuten mit giftigen Schlangen und
zahlreichen anderen hässlichen Tieren anfüllen, und
befahl schliesslich, dass der Haushofmeister, seine
Frau, die junge Königin und deren Kinder hineingeworfen
würden, damit jene Tiere sie auffrässen.
Als alle diese Personen auf dem Platze dasassen
und in Tränen und mit den Händen auf dem Rücken
gefesselt erwarteten, dass man sie in den Behälter
werfe, – da vernahm man die Musik der Trompeten,
und der König kam zu Pferde auf den Platz geritten:
der Krieg war eher beendigt worden, und die Mutter
hatte ihren Sohn so früh nicht erwartet! Er begann sogleich
zu fragen, warum seiner Frau und allen den anderen
Leuten die Hände gebunden seien, und warum
sich dort ein grosser Behälter voll Tiere befände. Niemand
hatte den Mut, es ihm zu sagen. Aber plötzlich
wurde seine Mutter so verdüstert darüber, dass sie
sich nicht rächen konnte, dass Wahnsinn bei ihr ausbrach
und sie selber in den Behälter sprang; und – ehe
ich es euch sage – hatten sie auch schon die Tiere aufgefressen
und bloss ein Büschel Haare übriggelassen!
Dem König ging es zwar nahe, dass seine Mutter gestorben
war; aber da ihr Herz so böse gewesen war,
tröstete er sich bald und lebte glücklich mit seiner
Frau und seinen Kindern.