Читать книгу Die Verhütung des Unheilbaren - Dr. Max Bircher-Benner - Страница 4

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Einleitung

Das Unheilbare sowohl wie auch die Frage seiner Verhütung sind Probleme des Lebens von solchem Umfange und so unerschöpflichem Inhalte, dass darüber im besten Falle nur eine bescheidene Auslese und ein lückenreiches Stückwerk vorgetragen werden kann. Vieles muss schon um der Zeit und des Raumes willen ungesagt bleiben; anderes — vielleicht das Wichtigste — bleibt deshalb ungesagt, weil es mit Worten nicht auszusprechen und vom menschlichen Vorstellungsvermögen nicht mehr zu erfassen ist. Wer auf Einwände und Widersprüche sinnt, wer das Positive, die Hauptsache, nicht sehen will, wird daher leichtes Spiel haben; die anderen aber bitte ich, diese sachlich bedingte Beschränkung nicht zu vergessen.

Die Wanderung durch das Reich des Unheilbaren, mit der unser Thema zu beginnen hat, führt uns zu düsteren Szenen menschlicher Not, körperlicher und seelischer Leiden, dorthin, wo bitteres Klagen und unerfüllbares Flehen um Hilfe herrschen. Wir treffen da auf Millionen von Mitmenschen, die, auf den Irrwegen des Lebens traumhaft wandelnd, ins Jammertal des Unheilbaren gerieten, wo sie eines schönen Tages erwachen und mit Schrecken ihrer Lage bewusst werden. „Warum“, fragen sie verzweifelt, „warum hat niemand uns gewarnt und gelehrt, solches Schicksal zu verhüten?“

Deshalb kommt nun heute der Arzt und sagt: „Ihr Wanderer auf den Irrwegen des Lebens, lernet das Unheilbare und die Wege, die hinführen, kennen, bevor es euch erfasst hat. Nur der entgeht ihm, der es früh genug ernst nimmt und mit kraftvollem Entschlusse seine Verhütung wirkt.“

Als Dante „in der Mitte seiner Lebensreise sich, verirrt in einem dunklen Walde, wiederfand, weil er vom rechten Wege abgewichen, und jeder Ausweg ihm versperrt war“, da kam, von der Himmelsmutter gesandt, Virgil zu ihm und sprach:

„Ich führe zu der Stadt voll Schmerz und Grauen,

Ich führe zu dem wandellosen Leid,

Ich führe hin, wo die Verlornen hausen.“

„Wir sind zur Stelle, wie ich kund dir tat,

Wo ich zu dem betrübten Volk dich bringe,

Das der Erkenntnis Gut verloren hat.“

„Da hob Gestöhn und Weh und Heulen an

Rings durch die sternenlose Luft zu hallen,

Dass anfangs ich zu weinen drob begann.“

Über der Eingangspforte dieser Stadt voll Schmerz und Grauen aber standen die Worte: „Lasst, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren.“ Dantes Weg zur Erlösung führte durch die Hölle, das Inferno, den Läuterungsberg, das Purgatorio, zum Paradiso. Das ist auch unser Weg des Heils. Das Unheilbare aber ist das wahre Inferno auf Erden, und jedes Wort, das Virgil spricht, gilt hier.

Während 43 Jahren ärztlicher Praxis sah ich Tausende mit unheilbaren Schäden, Schwächen, Minderwertigkeiten und Krankheiten vorüberziehen, sah ich das Unheilbare sich erstrecken und verschärfen über Generationen, über die Kette von Großeltern, Eltern, Kindern und Kindeskindern. Eine Fülle von eindrucksvollen Erlebnissen sammelte sich in mir und verdichtete sich schließlich zu einer Gestaltung, die einst griechische Meister als Gleichnis erschufen: zur Laokoongruppe. Vater und Söhne, zwei Generationen, stehen da von einer Riesenschlange umschlungen. Aus des Vaters Munde tönt der Schrei der Verzweiflung. Dieses Bild gewann in mir neues Leben: so sehe ich die Menschheit umschlungen von der Schlange des Unheilbaren und höre den millionenfachen Schrei der Not und der Verzweiflung. Doch diese Schlange umschlingt nicht nur zwei, sondern viele Generationen, nicht nur Individuen, sondern die Kette. Der Ruf nach Hilfe hallt als „Gestöhn und Weh und Heulen durch die sternenlose Luft“. Die Hilfe aber ist da: sie heißt Verhütung!

In derselben Zeit, da durch die Wucht des Erlebens dieses Gleichnis mich ergriff, stieß die wissenschaftliche Forschung auf die bisher verborgenen Ursachen des Unheilbaren. Mit der Entdeckung der Ursachen aber brachte sie uns auch die Möglichkeit der Verhütung. Nicht nur das Inferno auf Erden ist da, es gibt auch einen Läuterungsberg, den die Menschheit ersteigen kann. Das ist die frohe Botschaft, die ich Ihnen bringen möchte.

Wer vom Unheilbaren hört, denkt zuerst an jene Krankheiten, die nach der Erfahrung in der Regel allen bekannten Heilverfahren widerstehen und von den Kranken und ihren Angehörigen als tragisch und schicksalhaft empfunden, von den Nochgesunden aber gefürchtet werden: an die Geisteskrankheiten, die Krebskrankheit, die Lungenschwindsucht, die Rückenmarksleiden usf. Das menschliche Gemüt wird durch den Anblick dieser Leiden erschüttert. Es empfindet sie als unbarmherzige Vernichtung der Person oder des Lebens, als Grausamkeit, als Ungerechtigkeit, als Sinnlosigkeit. Die ursächlichen Zusammenhänge vermag es nicht zu erfassen. Darum sieht der Mensch das qualvolle Siechtum, das diese Krankheiten mit sich bringen, mit Grauen und weiß nicht warum und wozu.

Millionen werden jedes Jahr von solchen Krankheiten erfasst und ziehen weitere Millionen in Mitleidenschaft, sei es seelisch durch Leid und Not, oder sei es durch ökonomische Belastung. Die Nachkommen werden von der grausen Angst der erblichen Belastung erfasst. An solchen Leiden gemessen erscheint der Tod als Erlöser, und selbst der verfrühte, plötzliche, gewaltsame Tod eines Angehörigen wird tröstlicher empfunden, „weil er doch nicht lange leiden musste“.

Es gibt aber andere Masken des Unheilbaren, in denen es unscheinbarer, scheinbar weniger brutal, geräuschloser, in Wirklichkeit aber noch heimtückischer auftritt, und deshalb weniger beachtet wird und zu wenig Eindruck macht. Es geht zunächst nicht an das Leben, sondern macht nur die Organe, die Sinne, den Körper und den ganzen Menschen minderwertig, schwächt die Lebenskraft, raubt die Lebensfreude, den Fortpflanzungs- oder Zukunftswert. Es mischen sich in ihm Angeborenes, Vererbtes mit Erworbenem. Die Kette ist davon ergriffen.

Diese Masken des Unheilbaren überragen an Bedeutung jene erstgenannten, schweren und unheilbaren Krankheiten um das Vielfache. Sie sind heute auf allen Fronten des Lebens im Wachsen begriffen, breiten sich aus wie eine Sintflut, in der die Gesundheit und die Kraft der Konstitution der Menschheit versinken. Eine unheimliche, schleichende Vernichtung, ein Untergang vollzieht sich, wie sie die Geschichte der Menschheit noch nie gekannt hat. Das Eigenartige an diesem Geschehen aber ist, dass es die Aufmerksamkeit der Gemeinschaft nicht auf sich zieht, dass daher seine Bedeutung und Gefahr nicht erkannt wird, so dass jede wirksame Gegenwehr unterbleibt.

Im Gebiete der Infektionskrankheiten zum Beispiel handelt es sich ja stets um einen Kampf zwischen dem Bakterium und dem menschlichen Organismus. Das Bakterium ist der Angreifer, der Organismus der Verteidiger. In dem Kampfe hängt der Ausgang einmal von den Kräften des Bakteriums, dann aber von den Widerstandskräften des Menschen ab, von seiner Immunkraft. Die Infektionskrankheit lässt sich verhüten, indem man die Infektion verhindert. Diese Verhütung wird heute in vollem Maßstabe und mit großem Erfolge ausgeübt. Ist aber die Infektion eingetreten, so entscheidet die Widerstandskraft (Immunität) des menschlichen Körpers über den Ausgang. Zu den verborgenen, schleichenden Taten des Bösen, das das Unheilbare schafft, gehört auch die Schwächung der Immunität. Dieser Tat wird nun bei weitem nicht in ausreichendem Maße, nicht im Bereich des Möglichen, nicht in den Hauptursachen entgegengetreten. Wohl sucht man auf künstlichem Wege die Immunität herzustellen; die natürliche Immunität zu schützen und zu stärken, das wird vergessen.

Wie in diesem Beispiele, so ist das Verhalten auf dem ganzen, großen Gebiete des Unheilbaren. Es werden uns noch viele Beispiele begegnen. Gerade das, was jede Vernunft in unserer selbstbewussten Zeit des Fortschritts erwartet, ein Aufgebot aller guten Kräfte zu zielbewusstem, wohlorganisiertem Abwehrkampfe, geschieht nicht.

Das darf nicht weiter so bleiben. Wir wollen zusammen unsere Augen auf das Unheilbare richten. Wir wollen es kennenlernen. Wir wollen seine Ursachen erfassen und sehen, ob uns nicht die Kraft zur Verhütung daraus erwächst. So bitte ich Sie denn, mir auf einer Wanderung durch das Reich des Unheilbaren zu folgen.

Die Verhütung des Unheilbaren

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