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Der will doch nur spielen! Wir brauchen eine Gebrauchsanleitung für Narzissten

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Ich … ähm, räusper … liebe Spiele. Vor allem wenn sie meine Eitelkeit herausfordern. Doch, doch. Zu Weihnachten spielten wir einmal »Was wäre, wenn?«. Die Frage war, was jeder von uns wäre, wenn er eine Krankheit darstellen würde. Noch bevor die Runde losging, platzte es aus meiner Frau heraus: »Die Pest!« Alle wussten sofort, wer gemeint war: ich. Alle verfielen in lautes Gelächter, ich auch. Der Vergleich stimmte: Ich kann meiner Frau so richtig auf die Nerven gehen. Der Grund: Ich bin Narzisst. Seitdem ich mir dessen bewusst bin, läuft vieles besser in meinem Leben.

Um nur eine Sache zu nennen: Ich konnte meine Ehe, die kurz vor dem Scheitern war, retten. Was mich als Narzissten aber von vielen Artgenossen unterscheidet, ist, dass ich auf meine Mängel länger als zehn Sekunden blicken kann. Narzissten entwickeln für ihre Schwächen einen blinden Fleck, haben ein »Neglect« für ihre Schattenseite. Narzissten tendieren dazu, nur die Sonnenseite ihrer selbst zu betrachten. Sie sind unentwegt auf der vordergründigen Spielebene (im Verhalten, auf der Ebene der manipulativen Strategien) ihrer Psyche unterwegs und schaffen es nicht, hinabzusteigen auf die verborgene Motivebene (Ebene der wahren Bedürfnisse), weil es Narzissten nicht interessiert, was sie dazu antreibt, so zu sein, wie sie sind. Weil Narzissten Angst haben, vor der unverstellten Auseinandersetzung mit ihrem tief im Innern versenkten brüchigen Selbst. Folgerichtig können Narzissten mit Kritik schwer umgehen. Kritik ist im Kosmos des Narzissten eine schwere Kränkung. Ein Feedback ist ein persönlicher Angriff. Ein Fußtritt in den Rücken. Zu diesen eklatanten Verwechslungen und Missverständnissen kommt es beim Narzissten durch eine frühe Störung der Bewertung, der Selbstbewertung. Narzissmus ist also eine fundamentale Bewertungsstörung, die in der frühen psychischen Entwicklung nicht optimal überwunden und gelöst wurde.

Im Grunde fehlt uns im Alltag eine Gebrauchsanleitung für Narzissten. Denn die Mechanismen sind relativ einfach, man muss sie nur einmal verstehen. Es ist überraschend, wie einfach Narzissmus konstruiert ist und wie konsequent sich dieses Muster durch alle Lebenslagen zieht. Dennoch, um zu verstehen, wie ein Narzisst funktioniert, müssen wir zurückgehen in die Zeit, als der Narzisst noch ein Säugling war und entweder zu wenig oder zu viel bekam.

Ich habe kaum eine Erinnerung daran, wie es war, Säugling zu sein – und das hat enorme Vorteile. »Ich musste einen Monat liegen! Denn du wolltest viel zu früh raus!«, sagte mir meine Mutter einmal und lächelte dabei. Gefährliche Zwischenblutung. Bereits in der Gebärmutter machte ich die Erfahrung, dass zu leben ein erhebliches Risiko barg. Allein das ruhige Verhalten, der rationale Geist und die beschützende Liebe meiner Mutter, die mich mit einem schönen Gefühl vor der kruden Wahrheit schützte: vor meinem Tod. Was bei mir als Kind also hängen blieb, war, besonders wichtig zu sein, und dies setzte sich bis heute in meinem Leben fort.

»Pablo«, sagte meine Frau Carlota plötzlich, griff mir an die Schulter, und wir sahen einander in die Augen. Nur so bekam meine liebe Frau meine Aufmerksamkeit.

Zur Info: Berührungszeichen vereinbaren!

Klare, deutliche und direkte Ansprache! Direkter Blick in die Augen! Anfassen! Das sind die drei Schlüssel zur Gesprächseröffnung mit einem Narzissten, der gerade in einem Egotunnel steckt.

Wir beide hatten uns vor über zehn Jahren auf dieses Berührungszeichen geeinigt, nach dem Besuch eines befreundeten Paartherapeuten. Johannes ist ein lockerer Typ. Ich idealisierte ihn bereits beim ersten Termin zur Koryphäe auf dem Gebiet der Paartherapie. Nur so konnte ich ihn in meinem Leben zulassen, indem ich ihn auf das hohe Podest neben mich stellte. Das Thema Paartherapie betraf ja hauptsächlich meine Frau, um ehrlich zu sein. Ich ging halt mit. Es war Carlotas Wunsch. Auf dem Weg bekam ich ein ungutes Gefühl, denn so richtig klar war mir das nicht, dass auch ich ein Teil dieses Paares war, das zu Johannes ging. Ich sah das alles zunächst ganz locker und spielerisch. Darin kannte ich mich aus.

Mal genauer hinsehen

Ulkig, als Johannes dann mit mir diese Stuhlübung machte. Nach dem üblichen Vorgeplänkel im therapeutischen Setting, was alles so in der Ehe nicht gut lief, schlug Johannes vor, er wolle mal etwas ausprobieren und ob er das an mir durchführen könne. »Ja, gern«, sagte ich. Ich dachte mir: Was wird es schon sein, das ich nicht kenne? Also bat mich Johannes vor den Augen meiner Frau, mich auf einen einsam im Raum stehenden Stuhl zu setzen. Sogleich suggerierte er mir, dass ich mich entspannen könne und einmal tief durchatmen möge. Das tat ich, dabei schloss ich nur leicht die Augen, um nicht ganz die Kontrolle über die experimentelle Situation zu verlieren. Ich nahm mich plötzlich leicht betäubt wahr. Meinen Körper. War ich bereits in Trance? Auf dem einsamen Stuhl sitzend. Als Kind. Mitten im Raum. Im totalen Fokus der Aufmerksamkeit von Johannes, dem lockeren Typen, der längst für mich ein sehr guter Bekannter war.

Ich tauchte auf Weisung von Johannes ab. Johannes schlug vor, ich könne mir doch auch vorstellen, etwas jünger zu sein, vielleicht ein kleiner Junge. Wir einigten uns darauf, dass ich sieben Jahre alt war. Ich sah den kleinen Jungen auf dem Stuhl. Ich spürte die Zeit in Buenos Aires. Da habe ich meine Kindheit verbracht. Aus heutiger Sicht mag der romantisch veranlagte Leser an Tango und Bandoneon denken, was für mich als Kind völlig irrelevant war. Ich erinnerte mich an wunderbare Tage, an eine Bootsfahrt auf dem Río Tigre und an den Schulweg nach Hause entlang eines Lattenzauns, mit meinen Fingerspitzen im rhythmischen Patapp-patapp über die Latten schnellend. Dann brachte Johannes mich tiefer. Tiefer in mich selbst hinein. Ich war vermutlich längst in tiefer Trance, als ich mit halb offenen Augen spürte, wie ich mich von unten mit einer schweren blauen Flüssigkeit füllte. Ich lief ziemlich schnell voll wie ein leckgeschlagenes Boot, wie eine überflutete Kajüte. Mein Keller stand unter Wasser. Stetig schwoll der Wasserspiegel, wild rauschend und strudelnd, bis große Wellen in diesem inneren Raum hin und her platschten.

Johannes suggerierte mir, dass ein sehr trauriger Junge da auf dem Stuhl sitze und dass es möglich sei, dieses Gefühl der Trauer zu spüren. Also tat ich wie vorgeschlagen und hörte mich sagen: »Moment, Moment, irre, ich spüre was. Da ist was.« Johannes’ Stimme sprach, ich solle einfach mal zulassen, was passiert, und er setzte sich unterstützend hinter mich. Ob er das dürfe, fragte Johannes mich, und ich sagte Ja, er dürfe. Ich versenkte mich dann immer mehr in mich selbst und schloss nun die Augen. In diesem Moment schnellte der Wasserspiegel hoch bis zur Kehle, und ich begann zu weinen. Tiefe Traurigkeit überflutete mich, und ich ließ sie kommen. Aber ich konnte sie auch steuern und leicht dagegenhalten. Das war ein wunderbarer Augenblick. Ich konnte die Trauer ertragen. Dieses Gefühl der Trauer zu spüren und zugleich bewusst zu bemerken war so gut, so wunderschön! Gerade weil ich die Trauer ertragen konnte.

Johannes sagte dann etwas völlig Irres, was einen emotionalen Knoten in mir löste und mich irgendwie befreite. »Es tut mir leid, dass du all das erfahren hast, was dir andere angetan haben. Dass du nie gesehen wurdest, so wie du bist. Dass du nie oder viel zu wenig bekommen hast, was du benötigt hättest. Dass du alleingelassen wurdest. Es tut mir leid, dass sich noch nie jemand dafür bei dir entschuldigt hat. Es tut mir sehr, sehr leid.«

Ich reagierte heftig darauf. In mir platzte regelrecht eine Haut auf, und ich spürte, wie sich etwas in mir mit mir selbst wieder verband. Das war eine zutiefst körperliche Erfahrung. Ich atmete völlig ergriffen davon tief ein, tief seufzend, atmete aus und dann deutlich achtsamer weiter. Ich nahm die Veränderungen in mir wahr. Ich sollte alles in mir beobachten, was sich so tat. Etwas in mir kam wieder in Verbindung. In diesem Augenblick verstand ich, was die psychologischen Theorien meinen, wenn die Kontaktstörung zu einem Selbst durch eine gestalttherapeutische Intervention aufgehoben wird.

Ich spürte diesen traurigen Teil in mir. Das überflutende Gefühl der Trauer ebbte nun langsam ab, der Pegel sank, und das Wasser floss davon. Johannes zog sich behutsam zurück und ließ mich noch ein paar Minuten allein. Ich war ganz bei mir. Ganz im Kontakt mit mir und kommentierte das Erfahrene mit den unvergessenen Worten: »Irre. Das war krass.«

Johannes ging kaum noch darauf ein, er sah mich nur anerkennend an und freute sich für mich. Dabei zeigte er eine gewisse Routine. Als ob er das jeden Tag zehn oder zwanzig Mal machte mit seinen Klienten. Das kurze Nachgespräch drehte sich darum, welche Fachliteratur ich dazu noch vertiefend lesen könne, und dann warf er uns raus. »Kommt ja nie wieder!«, waren seine letzten Worte. Ein lockerer Typ eben, der Johannes.

In der Psychotherapie arbeiten Leute wie Johannes sehr häufig mit Bildern und fantasierten Vorstellungen, um das Unaussprechbare zu erfassen. Mit diesem Trick bekommt das psychische Material eine Gestalt. Gefühle werden quasi in eine Form gegossen und werden so erstmals erkennbar. Erkannte Gefühle kann man betrachten und lernen, mit ihnen umzugehen, statt sie nur zu verdrängen oder vor ihnen Angst zu haben. In mir bekam meine Trauer die Gestalt von Wasser. Tief in meinem Unterbewusstsein hatte ich diese Trauer versteckt und verbannt, die ich als Kind entwickelt hatte, weil ich zu wenig gesehen wurde. Oder weil ich meinte, zu wenig gesehen worden zu sein. Von meinen Eltern oder von meinen Freunden. Die damaligen Lebensumstände waren nicht gut für mich. Wer weiß das schon wirklich, was ein Kind so trifft. Dieses Zu-kurz-gekommen-Sein hat mich irgendwie traurig gemacht. Damals, als ich klein war. Ich hatte keine faktische Erinnerung daran, aber da war eben dieses Gefühl.

Ich hatte nun irgendwie Gewissheit, dass der Kern meines psychologischen Bauplans aus Trauer bestand, um den sich herum ein neues, ein zweites Selbst gebaut hatte, das vorgab, keineswegs traurig zu sein.

Was nach dem Termin bei Johannes alles passierte, war eine Entdeckungsreise ins eigene Ich. Eine Tür war aufgestoßen, und ich begann, über mich selbst nachzudenken. Darüber, wie ich psychisch gebaut war und wie dieses Gebilde auf andere wirkte. Das war der erste Schritt – wirklich zu kapieren, wie ich aufgebaut war.

Kein Wunder, dass meine Frau Carlota nicht wusste, wie sie mit mir umzugehen hatte! Nach dem Treffen mit Johannes wurde alles anders. Sie wurde irgendwie erträglicher und musste mich kaum noch ermahnen. Ich war engagierter im Haushalt. Schob nichts mehr auf. Räumte nahezu freiwillig die Spülmaschine ein und wieder aus. Beteiligte mich am Alltag in der Familie. Stand früh auf, um das Frühstück zu machen, und kam zeitig nach Hause, um mit den Kindern gemeinsam zu Abend zu essen. Ich arbeitete an der Bindung. Ich wurde nahezu der perfekte, liebende Ehemann und Hausmann. Ich hörte zu, wenn meine Frau mich ansprach, und interessierte mich immer mehr für das, was meine Frau bewegte. Ich freute mich, als sie sagte: »Du prokrastinierst deutlich weniger, Schatz.«

Erst jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe und den Blick zurück riskiere, könnte ich mir auch vorstellen, dass Johannes mich mit einem schlauen posthypnotischen Auftrag versehen hat: »Sei deiner Frau eine Hilfe und kein Arschloch mehr! Achte mal auch auf ihre Bedürfnisse.« Erneut überdenkend jedoch schließe ich, dass Johannes das so konkret nie getan hat, sondern dass ich selbst in mir diesen Auftrag formuliert habe, weil Johannes wie ein Helfer die Möglichkeit dazu ausgelöst hat, mir selbst zuzuhören. Mein Problem war gewesen: Ich hatte einen fürsorglichen Teil in mir selbst abfällig abgewehrt und verdrängt, weil ich ihn als wertlos erachtete. Dieser Teil nannte sich Empathie. Narzissten tun so was. Ich bin aber kein Monster. Ich bin durchaus charmant und witzig, sogar höflich und sozial ziemlich kompatibel, aber in mir drinnen nahm ich keine Rücksicht auf diesen emotionalen Anteil.

Die Spielebene des Narzissten

Paradoxerweise wurde ich im Laufe der Zeit nach dem Termin bei Johannes egoistischer. Aber in einem positiven Sinn. Im Ergebnis befasste ich mich sehr intensiv mit mir selbst, um herauszufinden, aus welchen Anteilen ich selbst bestand. Ich wollte meine Motivebene kennen und die Spielebene durchdringen. Die einfach geniale Einteilung in Spiel- und Motivebene geht auf den Psychologen Rainer Sachse zurück, der bei Störungen der Persönlichkeit diese Aufteilung entwickelte.3 Phänomene der Aufteilung und Spaltung sind eh typisch für jemanden mit Narzissmus, darauf gehe ich später ausführlicher ein.

Zunächst aber die genial einfache Aufteilung nach Professor Sachse, die ich mit eigenen Worten hier vereinfacht abbilde.

Einerseits tritt jede Persönlichkeit auf der Spielebene in Kontakt mit anderen, schickt diese Spielebene voraus und zeigt sich auch nur darin. Dahinter verborgen und durch die Spielebene verschleiert liegt die Motivebene. Diese beherbergt innerste unbewusste oder bewusste starke Bedürfnisse. Psychologen nennen starke innere Bedürfnisse auch Motive. Diese Motive können sehr mächtig sein, sie sind unbewusst oder teilweise unbewusst und im Unbewussten gehalten, also abgewehrt und nicht immer wahrgenommen. Motive wirken dennoch und sind irgendwie erkennbar, aber zeigen sich undeutlich. Motive können auch innerlich miteinander streiten und schwere Konflikte auslösen. Weil Konflikte megaunangenehm für die Psyche sind, wird das alles aktiv von der Psyche verdrängt und unbewusst gehalten.

Als Therapeut mit Hang zum Analysieren freue ich mich immer diebisch auf diese unbewussten Konflikte meiner Klienten! Denn es ist wirklich heilsam, diese Konflikte und Motive ans Tageslicht zu befördern. Aber zuvor muss ich mich in der Psychotherapie sehr lange, oft über Stunden, manchmal über Monate, mit der Spielebene abfinden. Für mich ist die Spielebene so was wie das Theaterstück, das aufgeführt wird. Die Motivebene ist der Autor des Theaterstücks, der still hinter der Bühne hockt und hofft, dass das Spiel dem Publikum gefällt und er dafür geliebt wird.

Die Narzissmus-Kur

Ich wollte klar herausfinden, zu welchem Typ Narzisst ich gehörte. Welches Spiel ich spielte. War es bereits krankhaft? Dafür musste ich zwingend meine unbewussten Verhaltensweisen klar fassen. Es bemerken, wenn ich verletzend zu anderen war. Es sehen, wenn ich über Grenzen ging. Es reflektieren, wenn ich wieder beleidigt war. Dabei schälte sich eine klare Zielformulierung heraus: Ich wollte authentisch sein. Ich sein. So sein, wie ich wirklich war. Die Spielebene etwas aufgeben, die Motive erkennen.

Die »Narzissmus-Kur« dauert Jahre. Der Narzisst muss dabei vieles lernen. Weil der Narzisst lernen muss zu spüren, dauert es extrem lange. Empathie für sich selbst zu entwickeln ist der entscheidende Schritt, aber auch Empathie für die anderen zu empfinden. Für alle Opfer, im Inneren wie im Äußeren.

Die Angehörigen von Narzissten brauchen lange, bis sie die Gebrauchsanleitung für einen Narzissten draufhaben und das Regelwerk durchblicken.

Im Fall meiner Ehe brauchten wir beide etwa gleich lange. Also, ähm … ich hatte natürlich den tieferen Einblick in mein Selbst. Carlota sah mir zwar nur dabei zu. Das half mir aber dabei. Sie war, ich kann es kaum aussprechen … wichtig.

Wie gesagt geht es mir dadurch viel besser. Im Unterschied zu den extremeren Ego-Typen, die sich damit brüsten, wie toll sie sind, achte ich peinlich genau darauf, nicht zu prahlerisch zu sein. Ich unterscheide mich an dieser Stelle gehörig von den nervigeren Narzissten auf der anderen Seite des Spektrums, den selbstverliebten Blendern, den bühnenreifen Posern und den kriminellen Hochstaplern und politischen Größenwahnsinnigen, die mit ihren Grenzüberschreitungen und ihrem unstillbaren Hunger irgendwie davonkommen.

Zu dieser radikalen Sorte unangenehmer Nachbarn zähle ich mich nicht. Meine Form des Narzissmus war eine leichte, verträgliche Variante …

»Das kann ich bestätigen, Schatz! Wäre ja schlimm sonst«, sagte Carlota mit einem Augenzwinkern. Sie mochte diese schillernde Seite an mir. Ganz offensichtlich …

Bin ich nur manchmal nervig?

Ich bin kompliziert. Meine Frau sieht das anders: »Ah! Da ist er ja wieder, mein nerviger Mann!« Aber wie bin ich denn nun? Das ist schräg für mich, das so dezidiert aufzuschreiben, aber ich benutze mich als Anschauungsobjekt, um den Fall zu beschreiben. Auf expliziten Wunsch meiner Verlegerin. Die Idee ist gut. Mache ich gern. Um zu beschreiben, wie das ist, auf der anderen Seite zu stehen und von dort zu berichten. Gewissermaßen im Feld des Feindes zu stehen und in der Lage zu sein, von dort zu berichten.

Niemand will mit Arschlöchern zu tun haben. Aber die positiven Kräfte der Persönlichkeit nutzen, das schon! Das ist das Narrativ jeder psychotherapeutischen Reise. Die ja auch eine Art Heldenreise ist. Oder Antiheldenreise, wie man es nimmt. Auf meinem Weg, das Gute vom weniger Guten zu unterscheiden, habe ich gelernt, mit dem Phänomen Narzissmus umzugehen.

Ich habe auch gelernt, wie es Opfern narzisstischer Menschen geht. Narzissten zerstören Menschen. Zerstören klingt so hart und endgültig. Narzissmus-Opfer bestätigen, wie zerstörerisch die Beziehung zu einem narzisstischen Partner ist. Viele berichten von bleibenden Schäden wie nach einer Traumatisierung. Zerstörung meint nicht allein, dass extreme Narzissten andere ständig abwerten und den Selbstwert des anderen zerklüften und zum Einsturz bringen, sondern es meint auch, dass Narzissten über Leichen gehen, dass sie andere sauber aus dem Weg räumen, wenn diese im Weg stehen, und sich in Beziehungen wie eine emotionale Zecke verhalten. Emotional saugen, bis der andere leer gesaugt, erschöpft, zerbröselt und nicht mehr da ist. So sehr, dass der Narzisst schließlich der Einzige ist, der seinem Opfer Form und Struktur gibt und die Deutungshoheit besitzt. Die Macht.

Narzissmus führt zu gegenseitigen Spiegelungen und Verdrehungen, bis zu einer sadistisch-masochistischen Entwicklung. Bis zum Missbrauch. Bis zum Totschlag und Mord.

Narzissten kapern den anderen wie Piraten. Automatisch besetzen sie die Persönlichkeit des anderen und verschieben die Grenzen auf Kosten des Opfers. Auch das ist Teil der Zerstörung des anderen. Die massive Besetzung einer Person durch einen Narzissten ist wie eine feindliche Übernahme. Daran leiden sehr viele Menschen. Frappierend! Ihr Leiden ist den Opfern häufig völlig unbewusst.

Warum lassen Opfer von Narzissmus so häufig solche Prozeduren über sich ergehen? Weil sie aufgrund ihrer eigenen Biografie gelernt haben, das Furchtbare zu normalisieren. Es ist für viele Opfer völlig normal, Opfer zu sein, wenn sie mit Grenzüberschreitungen und eventuell noch krasseren Traumata aufgewachsen sind. Ein gefundenes Fressen für das narzisstische Raubtier!

Als Therapeut habe ich gelernt, den heißen Feuersturm des einzelnen Narzissten zu überleben und den Opfern narzisstischer Menschen die Augen zu öffnen. Es gibt da zwei große Optionen: Trennung oder Zusammenbleiben. Wer verlässt wen, wenn die gegenseitigen Verletzungen zu groß werden? Wer muss sich verändern, um zu bleiben? Hier ruhen interessante Tabus, einerseits der gehörnte Mann, der Mann als Opfer einer narzisstischen Frau und die Tatsache, dass es viel mehr narzisstische Frauen als angenommen gibt. Aber das sind nur die Ausnahmen der Regel. Narzissmus ist männlich.

»Also«, sagte ich meiner Frau Carlota, »lass uns die alten Sachen mal der Reihe nach durchgehen.« Und so taten wir, ich zog das kaputte Fotoalbum aus dem Regal und setzte mich feierlich mit meiner Frau auf unser großes Sofa im Wohnzimmer. Wir schlugen behutsam die vergilbten Seiten auf.

»So süß, da warst du noch lieb!«, hörte ich meine Frau sagen und lachen.

Kinderseelen sind narzisstisch

Es war die Vergangenheit, auf die ich nun mit den Augen des Erwachsenen blickte. Ich kannte zwar Babyfotos von mir, in den Armen meiner Eltern, wie ich in die Fotokamera glotzte und meine dunklen, großen Augen voller Sehnsucht waren. Alle freuten sich, dass ich da war! Es war die Zeit brauner Cordhosen und beiger Raufasertapete. Es waren die 70er-Jahre.

Pablos Eltern waren ein Repräsentant einer politischen Stiftung und eine Sprachlehrerin sowie Lyrikerin. Pablos Eltern waren in ihren Dreißigern und träumten von einer Laufbahn im Ausland. Sie hatten Fernweh und hofften, bald der gemütlichen Enge bundesrepublikanischer Hauptstadtidylle zu entfliehen, um in die große weite Welt aufzubrechen. Dorthin zurück, wo sie sich Ende der 60er-Jahre kennen- und lieben gelernt hatten: nach Südamerika!

Eine Sammlung loser Geburtstagswunschkarten rutschte aus dem Album heraus.

»Wo bist du geboren? Venusberg?«, fragte mich Carlota und las eine Karte vor.

»Auf dem Venusberg!«, antwortete ich stolz. Nicht Venushügel, sondern auf dem Berg der Venus höchstpersönlich. Universitätsklinik. Kein Wunder, Klein Pablo hatte als Kind nicht viele Freunde. Nur die Kameraden, die wahrhaftig hinter seine Schutzhülle aus Arroganz und Stolz blicken durften, schloss er in sein Herz. Solche mit Niveau. Die anderen waren egal.

Carlota wandte ein: »Aber dafür kannst du doch nichts, wo du geboren bist und wo du lebst. Das ist doch keine Leistung, nur Zufall!« Für mich bedeutet auf dem Venusberg geboren zu sein und in Buenos Aires, Argentinien, gelebt zu haben eine viel zu frühe Überhöhung des unreifen kindlichen Selbst.

Aber hey, ist doch cool! Noch heute werde ich von vielen dafür bestaunt, dort in der Ferne aufgewachsen zu sein. So what!? Was nun in mir passiert, ist zweierlei. Selbstabwertung und Selbstüberhöhung in einem. Ich nehme mich einerseits als etwas Besonderes wahr und spreche es auch an, um mich in diesem Vorgang besonders zu fühlen. Im selben Atemzug aber zerstöre ich diese Überhöhung wieder mit einem abfälligen »So what!?« und werte damit meine Identität ab. Das ist selbstzerstörerisch. Bin halt da aufgewachsen, na und? Diese sehr schnelle Auf- und Abwertung meiner Selbst ist ein Merkmal der Selbstbewertungsstörung. Ich kann es einfach nicht stehen lassen, dass ich in Südamerika aufgewachsen bin. Fertig. Kann ich nicht. Muss ich immer wieder kommentieren, wenn das Thema auf den Tisch kommt. Es zu akzeptieren fällt mir schwer. Unerträglich, mich immer mit mir selbst befassen zu müssen. Ich kann nicht loslassen. Echt schwer. Weiterhin.

Als der kleine Pablo in Buenos Aires lebte, schoss er sehr gerne den Gummiball hoch gegen die Gartenmauer und wartete, bis er wieder zurückprallte. Die hohe rotbraune Gartenmauer aus Klinker war wie das Gegenüber, in dem ich mich spiegelte. Eine wunderbare Metapher für mich selbst, der sich nur spürte, wenn der Ball wieder zurückprallte und in mein Feld fiel. Ohne die Mauer vor mir wäre der Ball (und auch die Wahrnehmung) für mich weg. Mit dieser Mauer kam auch die Erfahrung, die mich bestätigte. Ich warf den Ball, der Ball kam zurück. Alles richtig gemacht. Der Ball flog zurück. Ich spürte mich. Dieses Spiel konnte ich stundenlang spielen.

Was sich in mir als Grundschüler bald etablierte und festigte, war noch etwas Zweites: die hungrigste aller Sehnsüchte, die mächtigste aller Überhöhungen. Ich war auf der Suche nach Anerkennung. Auf der Suche nach einem Freund, der mir diese Anerkennung lieferte, der mich zutiefst verstand und der genau so sein sollte, wie ich mir das wünschte. Ich würde diesen ersehnten Freund einladen, hinter meine Spielebene zu blicken. Ihn zu mir nach Hause einladen. In meinen Garten, zum Fußballspielen. Aber ich hatte damals keine Gelegenheit, eine Beziehung langfristig aufzubauen. Obschon ich ein gewisses Talent darin hatte, immer die richtigen, passenden Freunde zu finden, verlor ich sie wieder völlig unerwartet. Gute Freunde verschwanden aus meinem Leben, wie ein Riss, als wir sechs Jahre nach unserer Ankunft Südamerika wieder verließen. Ein abrupter Abschied während der drohenden Kriegsgefahr zwischen den Militärdiktaturen in Argentinien und Chile.

Kinderseelen sind verletzlich

Erschütterungen in der Kindheit wirken sich auf die Psyche aus und können einen Menschen narzisstisch prägen. Mobbing. Bullying. Ausgrenzung durch Gleichaltrige, die Erfahrung, verlassen zu sein, emotionale Kälte oder Missbrauch zu erdulden, hallen lange nach. Vernachlässigung oder Verformung des Selbstbilds durch narzisstische Eltern ist ein weiteres häufiges Phänomen.

Kinder können sich ja bekanntlich ihre Eltern oder die Lebenssituationen, in die sie hineingeboren werden, nie aussuchen. Kinder passen sich daher immer an, gehen große Kompromisse ein, um emotional zu überleben, wenn ihre einzigen Bezugspersonen schwierig sind. Früh lernen Kinder, brav und anständig zu sein und zu verdrängen, wenn Eltern schlecht zu ihnen sind. Kinder normalisieren das Entsetzliche. Es ist normal, wenn Papa ein Tyrann ist und wenn Mama sich herzlos zurückzieht. Hier stellt sich das narzisstische Räderwerk ein, eine nach außen großartige Fassade aufzubauen und nach innen einen Albtraum zu leben. Aufgrund der Normalisierung bemerken Kinder ihren Missbrauch nicht. Die Fähigkeit zur Wahrnehmungsverzerrung wird auf diese Weise angelegt.4

Kinder von narzisstischen Eltern wachsen als Trophäen auf. Schön zum Anschauen, aber leer. Bei mir war das zum Glück nicht so, aber es gab sie, die Momente der Enttäuschung und des Gefühls, zu wenig von dem zu bekommen, auf das ich meinte, als Kind Anspruch zu haben, weil ich doch einerseits irgendwie wichtig war, aber dennoch manchmal zu wenig Liebe, zu wenig Wärme, zu wenig Herzlichkeit bekam. Bei mir gab es eine merkwürdige Mischung aus zu viel Liebe und Aufmerksamkeit einerseits und zu wenig Liebe andererseits. Es war gut, ja, es war sogar sehr oft wirklich gut, was ich von meinen Eltern bekam, aber manchmal war das, was ich bekam, emotional nicht immer das, was ich damals erwartete.

Ich will hier keinen falschen Eindruck hinterlassen, meine jüngere Schwester und ich haben die besten Eltern, die es gibt! Wir lachen, haben intensive, kluge und emotionale Diskussionen, reiben uns die Köpfe und genießen einander. Aber ich hatte etwas in mir, das unausgefüllt blieb, etwas, worum man sich nicht genug gekümmert hat.

»Ich glaube nicht, dass du zu wenig bekommen hast. Ich glaube, dass du zu viel bekommen hast! Zu viel Liebe! Zu viel von allem! Verwöhnte Bratze!«, schimpfte Carlota.

»Ich bin doch keine hässliche, grobe, arrogante Frau …«

»Doch, bist du!«

Was zunächst über viele Jahre und Jahrzehnte unbewusst in mir wirkte und mir erst sehr viel später im Laufe meines Lebens klar wurde, war die Sehnsucht nach der Anerkennung für all das Besondere, was ich glaubte zu sein. Es war aber im Grunde genommen nur diese riesengroße Sehnsucht nach Liebe, die ich mit der Gier nach Anerkennung verwechselte. Diese Vertauschung zweier Ebenen, nämlich die der persönlichen Beziehungsebene (Suche nach Anerkennung) mit der Ebene innerer Motive (Bedürfnis nach Liebe), die ich bereits als Kind schon aus Unsicherheit vor dem Blick der anderen verbarg, führte zwangsläufig zur Etablierung eines narzisstischen Musters in mir. Es fühlte sich wie eine Jagd an, unbedingt etwas zu wollen und nicht zu kapieren, was ich tatsächlich brauchte und wirklich war.

Zur Info: Falltüren und Tretminen

Es gibt zwei Narzissmus-Fallen und ein sehr brenzliges Risiko. Die Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit und die unstillbare Gier nach Anerkennung. Der Narzisst tritt regelmäßig in diese Falltüren. Das viel gefährlichere Motiv jedoch ist Rache. Wegen tiefgehender früher Kränkungen ist der Narzisst bereit, heute heimzuzahlen, was ihm vor Jahren und Jahrzehnten angetan wurde. Obacht vor diesen Tretminen! Narzissten können deshalb so treffsicher Menschen abwerten, weil sie es selbst so erlebt haben.

Ich hatte erst sehr spät im Leben verstanden, dass ich als Erwachsener selbst dafür verantwortlich bin, meine Emotionen und Bedürfnisse zu regulieren, und dass nicht jemand anderes außer mir dafür die Verantwortung trug. Dass nicht jemand anderes schuldig war. Dass die Eltern nicht an allem schuld sein konnten.

Seelennahrung: der anerkennende Blick

Dennoch suchte ich immer wieder genau bei meinen Eltern diese besondere Anerkennung und verfolgte die Spur vergangener Fehler. Evolutionspsychologisch ist es unmöglich, dass Eltern die ideale Anerkennung liefern. Die Eltern werden sich wohl fragen, was denkt er, der Kleine, und was braucht er wohl? Die besondere Anerkennung, die perfekt zum Persönlichkeitsprofil passt, ist unbekannt. Daher muss sich der Sprössling irgendwann aus dem Nest lösen und die große weite Welt allein erkunden. Auf der Suche nach der Quelle für sein spezifisches Bedürfnis. Das jedoch hatte ich noch nicht verstanden.

Aus der Psychoanalyse weiß ich heute, dass allein der anerkennende Blick des anderen ausreicht, diese Sehnsucht zu stillen. Ganz gleich wofür: Der anerkennende Blick ist wichtig für unseren Selbstwert. Vielleicht war es das, was mir fehlte. Der anerkennende Blick für das, was ich wirklich war, und nicht für das, was ich sein sollte. Meine Frau Carlota hatte das irgendwie verstanden. Sie zeigte sich ganz entspannt und kaufte sich bei Enttäuschungen oder Kränkungen zur Selbstregulierung einfach ein neues Kleid. Das reichte ihr als Anerkennung. Ich hätte mir zehn Kleider kaufen müssen und wäre immer noch nicht satt geworden.

»Du willst dir Kleider kaufen?«, fragte meine Frau Carlota und ließ das Manuskript auf die Couch niederplumpsen. Sie hatte sich an mich gekuschelt, wie ich es mochte. Als sie zu mir heraufsah, erkannte ich an ihrem spöttischen Grinsen, wie die Frage gemeint war. Doch ich fand den Kleidervergleich ganz gut.

Ich fasse zusammen: Eine narzisstische Person lernt sehr früh, etwas Besonderes zu sein, eine besondere Wichtigkeit zu haben und im Kern eine alte, unbekannte oder wenig bewusste Scharte, eine Verletzung, eine Wunde zu tragen. Ein altes unangenehmes Gefühl. Eine düstere, vage Erinnerung. Hierum baut sich der Narzisst seine zweite, schützende und abschirmende Schicht, ein zweites Selbst, das in der Welt sehr gut klarkommt und alles tut, was von ihm verlangt wird, und alles einsammelt, was es bekommen kann. Das bedürftige innere Selbst wird jedoch durch das, was das äußere Selbst in mühevoller Arbeit heranschafft, nicht genährt. Es ist immer zu wenig. Also schaufelt das äußere Selbst mehr und mehr hinein und wächst und wächst, und das innere Selbst bleibt klein und wird von dem ganzen Plunder begraben.

Zur Info: Loser vs. Winner

Eine seelische Wunde kann tief sitzen. Die Korrektur einer solchen erfolgt oft über eine narzisstische Selbstüberhöhung. Jemand, der immer zu wenig bekommt, ist – mit narzisstischer Brutalität formuliert – ein Loser, ein Verlierer. Das innerlich verwundete Kind kehrt seinen Mangel ins Gegenteil um (oder die Eltern tun es). So entsteht eine anspruchsvolle und großartige Selbstwahrnehmung. Das narzisstische Kind lernt, gefühlt stets zu wenig bekommend, seinen eigenen Ansprüchen nie zu genügen.

Zwar ändert die Selbstüberhöhung oft nichts am faktischen Mangel. Loser und Winner gleichen sich in ihrer Mangelhaftigkeit. Doch wer sich überhöht, sorgt für ein angenehmes Gefühl (und nicht selten nebenbei für angenehme Resultate)! Doch beide, Gewinner und Verlierer, haben das Problem, dass sie gefühlt zu wenig haben. Der Loser hindert sich zum Teil selbst daran, etwas zu probieren. Der Gewinner hat zu hohe Ansprüche, um mit einem Erfolg zufrieden zu sein. Außerdem entwickelt er eine Empathielosigkeit, weil er die Schwäche in anderen wie auch in sich selbst ablehnt. Indem er andere Loser verachtet, begräbt er den Loser in sich. Ein Wiederauftauchen des bedürftigen Losers in ihm wird zornig zurückgedrängt. Er versucht, Fremde zu zerstören, um das, was in ihm schlummert, zu zerstören. Fremdzerstörung wird zur Selbstzerstörung.

Heilung aus dieser Spaltung heraus gibt es nur, wenn eine Versöhnung mit dem inneren, fremd gewordenen Loser erfolgt. Dann kann ein Sinn für das Normale und für Empathie entwickelt werden.

Als ich schon in den Enddreißigern war, sah ich im Bücherregal meiner Eltern ein altes Buch stehen: Das Drama des begabten Kindes von Alice Miller, und es traf mich wie ein Blitz. War das der Beweis, dass ich begabt war? War das der Beweis, dass ich etwas Besonderes war? Fühlte sich gut an. Das Wort »Drama« überlas ich. Ich eilte zu meiner Mutter und hielt ihr das Buch hin. »Ach, Mutzelchen«, sprach meine Mutter, tätschelte mein Gesicht, lächelte mich an und sagte: »Komm, es gibt was zu essen!« Hektisch schlug ich das Buch im Exlibris auf, und da stand: »Für unsere kleine Nervensäge Pablito, Weihnachten 1979«.

Ich schlug das Fotoalbum zu und versicherte Carlota, dass ich keine Nervensäge sei. »Doch, bist du!«, korrigierte mich Carlota. Bereits die kleinste Abweichung von meiner inneren Vorstellung einer gedachten Realität war Anlass genug, gekränkt, verletzt, zurückgesetzt und traurig zu reagieren. Ich war offensichtlich schon mit neun Jahren eine Nervensäge? Das muss ich jetzt unbedingt vermeiden, dieses unangenehme Gefühl. Regulieren kann ich das mit Ablenkung. Ich erzähle einfach ganz schnell eine völlig andere Geschichte.

Das »Guter Cop, böser Cop«-Spiel des Narzissten

Eine der berühmtesten Psychoanalytikerinnen, Melanie Klein (1882–1960), etablierte die Theorie der guten, liebevollen und der bösen, strafenden Brust. Sie beobachtete dazu auch ihre eigenen Kinder, entwickelte Grundlegendes zur Psychoanalyse des Kindes und entwarf starke psychoanalytische Modelle, die grundlegend zum Verständnis der narzisstischen Störung sind. Melanie Klein war davon überzeugt, dass der Säugling die Brust seiner Mutter so erlebt, »als sei sie in eine gute (befriedigende) und eine böse (versagende) Brust gespalten«. Diese paranoid-schizoide Spaltung teilt einerseits das Objekt der Begierde, die Mutter, andererseits aber auch das eigene Selbst und dessen Gefühle entzwei. Nur so entsteht eine strikte Trennung zweier starker Gefühle in uns, und der Säugling richtet seine Liebesregungen auf das eine und seine hasserfüllten Regungen auf das andere Objekt. Hieraus wiederum erwächst die Wahrnehmung, von dem guten Objekt selbst geliebt zu werden, und die Furcht vor dem bösen Objekt, das als feindselig erlebt wird. Diese primäre Spaltung wird als Grundvoraussetzung angesehen, differenziert, also unterschiedlich denken zu können. Erst wenn wir mehrere Standpunkte in unserem Denken einnehmen können, sind wir fähig, Perspektiven zu wechseln und Empathie zu entwickeln.

Übertragen auf die Welt des Narzissten bedeutet die gute, liebende Brust sinnbildlich und tatsächlich zugleich jene narzisstische Zufuhr, die im Narzissten ein gutes Gefühl entstehen lässt. Wer je gesehen hat, wie ein Baby gierig an der mütterlichen Brust saugt, weiß, was ich meine. Eine Mischung aus Gier und Befriedigung beim Saugen am Nippel, der in diesem Augenblick die ganze Welt bedeutet. Entfernt sich diese Quelle oder versiegt sie und entzieht sich dem narzisstischen Saugreflex, verwandelt sich die Brust sofort in eine strafende, in die bösartigste Instanz des gesamten Universums. Dieses Gefühl ist ein schwerer Verrat und schneidet tief hinein in die Seele des Narzissten.

Jetzt ist die Welt in großer Gefahr. Aus liebevoller Zuwendung wird durch eine simple Fortbewegung, nämlich das Ablösen vom Brustnippel der Glückseligkeit, strafende Feindseligkeit. Üble Emotionen schießen nun im Narzissten empor. Vernichtende Angst. Blinde Wut. Eine furchtbare innere Anspannung beherrscht den Narzissten augenblicklich und spaltet ihn. Wird diese »erste Spaltung« im Narzissten unzulänglich gelöst und nicht überwunden, hält sie ein Leben lang an. Fortan wird die Welt in Gutes und Böses, in Richtiges und Falsches, in Oben und Unten und in Schwarz und Weiß eingeteilt. Hieraus erklärt sich auch die narzisstische Wut des Kindes, die sich bis ins Alter fortsetzt.

»Euch zahl ich’s heim!«, mag der kleine Pablo gedacht haben, und sein kindlicher Narzissmus blieb im Morast der Kränkungen stecken. »Ich werde euch allen zeigen, was ich kann!« Das war nicht nur die Geburt einer unglaublichen Motivation, sondern auch die Geburt des Zornes und der Rache. Wie ein Leviathan aus den Untiefen der Seele konnte die Wut auftauchen.

Carlota schwieg, wenn Pablo wütend war. Sie wusste, seine Wutausbrüche waren sehr selten und dafür heftig. Zur Überraschung seiner Freunde, die ihn immer ruhig und entspannt kannten, gelassen, der eine Engelsgeduld hatte und den nichts aus der Ruhe brachte. Nichts? Doch. Der kleine und der große Pablo konnten sehr heftig reagieren, wenn man sie an der richtigen Stelle emotional traf.

Gewaltfreie Kommunikation pervers

Ein Ehemann erhielt den Hinweis seiner Ehefrau, er möge doch gewaltfrei kommunizieren. Er sei verbal zu laut und sehr reizbar. Die Frau besuchte einen Kurs zur gewaltfreien Kommunikation (GFK) und brachte die frohe Kunde in die Ehe. Mit Erfolg, denn der Ehemann reagierte löblich und korrigierte sein Fehlverhalten. Er sprach leise und bedacht. Die Ehefrau bat nun ihren Mann, sein Arbeitszimmer aufzugeben, damit sie darin ihre Nähstube einrichten konnte. Er protestierte lauthals, und sie erinnerte ihn mahnend an die gemeinsame Vereinbarung. Der Druck auf den Ehemann stieg. Schließlich, er war ja ein freundlicher Mann, willigte er ein und verlor sein Arbeitszimmer. Gekränkt zog er auf die Couch ins Wohnzimmer. Lust auf Sex hatte er eh nicht mehr. Der Haussegen hing gewaltig schief. Fortlaufend versuchte der Ehemann, gewaltfrei mit seiner Ehefrau zu kommunizieren.

Er sprach sie darauf an, dass er sich in der Ehe unterdrückt fühle. Doch das ließ die Ehefrau nie gelten. Mit dem Hinweis auf gewaltfreie Kommunikation, wenn ihrem Mann etwas zu laute Worte unkontrolliert durchrutschten, trug sie unzählige Siege davon. Sie zog strafend Konsequenzen, verweigerte ihm nicht nur den ehelichen Beischlaf, sondern jede Form der Zärtlichkeit und liebevollen Begegnung. Das schürte extrem das schlechte Gewissen im Ehemann, vergrößerte seine Schuld- und Angstgefühle. Er wollte nichts falsch machen und seine Ehe nicht gefährden.

Was war geschehen? Unter dem Mäntelchen gewaltfreier Kommunikation übte die Ehefrau monströse Gewalt auf ihren Mann aus. Obwohl nach dem Kurs alles auf Zimmerlautstärke ablief, wurde die Gewalt fortgesetzt. Nur ging die Gewalt nun von einem anderen Akteur aus, von einer mächtigen Narzisstin. Still und leise kam es zur Umkehr der Machtverhältnisse.

»Das ist uns zum Glück nie passiert! Ich fauche dich gleich an, sobald mir was an deinem Verhalten nicht gefällt!«, lachte meine Frau Carlota. »Aber Liebesentzug, das würde ich nie durchgehen lassen. Liebesentzug ist ja unterste Schublade!« Ich stimmte ihr zu. Frauen wurden irgendwann in ihrem Leben aggressiv gegenüber ihren Ehemännern. Noch ein Tabu.

»Mir gefällt, wie sie denkt, diese Ehefrau. Ist sie bei dir in Behandlung?«, fragte Carlota nach. »Darüber kann ich nichts sagen, Schweigepflicht. Oder wenn ich es dir sage, dann müsste ich dich, na ja … erschlagen.«

Nach einer kurzen Minute des Schweigens sagte Carlota: »Immer wenn du dich aufregst, bekommst du eine ganz hohe Stimme! So eine Piepsstimme!« Das stimmte. Das hatte ich nicht im Griff. Aber wenigstens waren damit der verbalen Gewalt, die von mir ausgehen konnte, Grenzen gesetzt. Dafür konnte ich auch dankbar sein.

Tipp: Hilfe bei häuslicher Gewalt

Wenn man angeschrien, erniedrigt oder bedroht wird, dann ist das Gewalt. Verbale Gewalt ist auch Gewalt. Wenn man eingesperrt oder geschlagen wird, dann ist das körperliche Gewalt. Wenn man sexuell oder psychisch unter Druck gesetzt wird, durch Erpressung oder Nötigung, ist das Gewalt. Wer einmal Gewalt erlebt hat, weiß, dass das nicht in Ordnung ist. Machen Sie sich klar, ob Gewalt in Ihrer Beziehung vorherrscht, und sprechen Sie es an. Brauchen Sie Hilfe, dann wenden Sie sich an das Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« des Familienministeriums (Tel. 08000 116 016) oder an eine örtliche Beratungsstelle. Bei akuter häuslicher Gewalt wenden Sie sich an die Polizei.

Emotionen und Gefühle sind wie Wildpferde und Lämmer

Emotionen sind starke innere Regungen. Emotionen zwingen zur Handlung. Emotionen sind als sechs universelle Regungen klar definiert: Wut, Ekel, Trauer, Freude, Angst und Überraschung. Das sind mächtige Regungen, die einen plötzlich befallen und über die man schwer Kontrolle hat. Die einen Sachen machen lassen und die einen wenig kompetent aussehen lassen. Heftige Emotionen können wir kaum kontrollieren oder zurückhalten. Nur mit großer Anstrengung kontrollieren wir unsere Impulse. Wer die Kontrolle über die starken Handlungsimpulse seiner Emotionen verliert, kommt in Teufels Küche.

Anders ist es mit den vergleichsweise harmlosen Gefühlen. Gefühle sind schwache Mischformen psychischer und körperlicher Erregung. Schwache Gefühle können wir verbergen und sehr gut kontrollieren! Für Narzissten eine fantastische Erfindung. Pokerface! Ich selbst entscheide, ob die anderen sehen, ob ich begeistert, gelassen, froh, besorgt, ängstlich, gelangweilt, nachdenklich, enttäuscht, verwirrt, hassend, verliebt, verärgert, neugierig oder akzeptierend bin.

Angst kann sich als Emotion mit extremer Furcht oder als schwächeres, unangenehmes Gefühl zeigen. Typischerweise löst ein schlechtes Gefühl Vermeidungsverhalten aus. Gute Gefühle lösen aus, dass man sich annähert. Gefühle begleiten ständig unsere Gedankenwelt wie ein Hintergrundrauschen, sind wie ein Messfühler für Stimmungen, die wir beachten können oder auch nicht. Gefühle sind wie eine riesengroße Herde äsender Lämmer, wo ab und zu mal ein Lamm aufschaut, herumspringt, zur Ruhe kommt und weiterkaut. Emotionen aber, die sind wie eine Gruppe Wildpferde, die plötzlich auftauchen, an einem vorbeidonnern oder direkt auf einen zurasen.

Auf das eigene Gefühl in der Gegenwart von Narzissten zu achten ist entscheidend, denn was Narzissten sehr gut können, ist, die Gefühle der anderen zu beeinflussen. Sie geben einem anfangs ein gutes Gefühl und denken zugleich an ihren eigenen Vorteil, um einen damit in Besitz zu nehmen oder beeinflussen zu können. Narzissten können Gefühle sogar in andere Menschen einimpfen. Narzissten können einen spüren lassen, dass man minderwertig ist. Das fühlt sich sehr unangenehm an.

In Gegenwart eines Narzissten muss man also immer auf die eigenen Gefühle achten. Fühle ich mich wohl hier, neben diesem Typen? Welche Gefühle löst der in mir aus? Möchte ich diese Gefühle in mir spüren?

Zur Info: Narzissten mit guter und schlechter Laune

Ob Narzissten gut oder schlecht gelaunt sind – beides nervt! Deren Motto: »Wenn es mir schlecht geht, verhalte ich mich so, dass es den anderen auch schlecht geht. Wenn es mir gut geht, verhalte ich mich so, dass die anderen mich dafür feiern sollen!«

»Du fühlst dich irgendwie arrogant an!«, sagte Carlota einmal zu mir.

»Pah! Nenn es doch, wie du willst!«

Die Selbstbeobachtung in der Nähe eines Narzissten kann uns vorsichtig machen und ein Gefühl der fortwährenden Bedrohung auslösen. Ich kann nur ermuntern, die eigenen Gefühle zu beobachten, um die Beziehung zu einem Narzissten hierüber zu prüfen. Wenn man seine Selbstwahrnehmung in Anwesenheit eines Narzissten nicht übt, findet man nicht heraus, was man in seinem Leben (in seinen Beziehungen) ändern sollte.

Tipp: Mit anderen sprechen und selbstsicher bleiben

Die Selbstbeobachtung, so wichtig sie auch ist, reicht aber nicht aus, um das Leiden unter dem Narzissmus in den Griff zu bekommen. Viele Narzissmus-Geschädigte sind stark damit beschäftigt, ausschließlich sich selbst zu beobachten und zu kontrollieren, auch ja nichts falsch zu machen, um zu vermeiden, vom Narzissten bestraft zu werden. Als wären sie ferngesteuert, suchen sie bei sich selbst nach Fehlern. In der Konsequenz wächst ihre Unsicherheit, ihre Körperreaktionen werden heftiger, und es passieren tatsächlich auch mehr Fehler, weil sie schlicht im Dauerstress sind. Der Narzisst braucht dann seine Opfer nicht mehr fertigzumachen, das erledigen die Verunsicherten schon von selbst.

Versuchen Sie als Narzissmus-Opfer daher, die allzu strenge Selbstkontrolle aufzugeben, es bei einer ruhigen Selbstkontrolle zu belassen und sie mit mehr Selbstvertrauen zu kombinieren. Erzählen Sie die Geschichte weiter, mit der Sie der Narzisst unterdrückt. Vertrauen Sie Ihr Leid anderen Menschen an, statt es nur mit sich selbst auszumachen. Nur so schwindet die Angst vor den Attacken des Narzissten.

»Was wäre, wenn?«, »und weiter?«, »und weiter?«, »und weiter?« Lassen Sie sich von keiner Angst, die der Narzisst Ihnen einredet, in die Irre führen. Gehen Sie so oft durch die Angst-Einflüsterungen hindurch, bis es für Sie langweilig wird. Sie werden feststellen, es gibt immer eine Lösung und eine Möglichkeit mehr für Ihre Sorgen. Die vom Narzissten heraufbeschworene Katastrophe ist nur ein Druckmittel, hat wenig zu tun mit dem Wahrscheinlichen und wird dadurch irrelevant. Sie bekommen mehr Energie, mehr Sicherheit, und es passieren Ihnen weniger Fehler. Weil Sie nichts mehr falsch machen können, denn Angst, Schuldgefühle oder schlechte Stimmung sind nicht mehr Ihr Problem.

Seelenlöcher stopfen

Ein Teil meines Problems wurde immer mehr deutlich. »Pablo, hast du eigentlich Gefühle?«, fragte Carlota und fügte hinzu: »Also, ich meine … für mich? Ich meine, liebst du mich?«

Ich räusperte mich. Dieses eine zu sagen, was jedes Mädchen hören will, fiel mir verdammt schwer. Ich wusste, es war sozial erwünscht, und viele verbanden damit eine romantische Sicherheit, aber ich konnte das nicht immer sagen. Ich kannte dafür andere Gefühle, die mehr mit Gier und Sucht zu tun hatten. Mit Lust und Verlangen.

»Meinst du Sex?«, fragte ich mit einem ahnungslosen Gesichtsausdruck, und Carlotas Augen wurden groß. Ich grinste sie an: »Natürlich liebe ich dich! Hab dich nur verschaukelt!« Kurz flackerte dieses Glücksgefühl in mir auf, als ich es sagte. Irgendwo in der Mitte meiner Brust. Dann war es wieder weg. Meine emotionalen Reserven waren nicht sehr groß. Zum Glück sah das Carlota nicht, und ich konnte mich ein wenig zwischen den Konventionen verstecken. Ich hatte es gesagt, und damit war alles gesagt. Da war eine emotionale Lücke in mir.

Die Löcher meiner Seele stopfte ich nicht mit Drogenkonsum. Andere Narzissten stopfen ihre Seelenlöcher mit irgendwelchen Gegenständen. Werden leidenschaftliche Sammler von Kunst oder technischen Geräten oder werden zwanghafte Messies, bis sie daran ersticken. Aber eine Sucht hatte ich schon: die Geltungssucht.

Tom und Tina: Kennenlernen und Katastrophe eines Narzisstenpaars

Apropos Geltungssucht. Ich möchte Ihnen nun Tom, den ich am Anfang des Buches erwähnt habe, näher vorstellen. Und natürlich auch seine Frau Tina. Was ich Ihnen nun erzähle, hat sich wirklich so zugetragen, nur dass der Narzisst nicht Tom und seine Frau nicht Tina hieß. Wie schon zu Beginn des Buches angedeutet, bündele ich in den Gestalten Tom und Tina alles Wissenswerte über den Narzissmus. Tom und Tina stehen uns Modell für das Thema Narzissmus und helfen uns, die richtigen Schlussfolgerungen aus dem Phänomen Narzissmus zu ziehen, damit wir lernen, mit Narzissten besser umzugehen, damit wir lernen, uns gegen sie zu behaupten. Wir beginnen diese Liebesgeschichte am besten mit ihrem ungeheuerlichen Ende:

Tom hing an seinem Gleitschirm. Hoch über den Baumspitzen. Er befand sich im Anflug auf sein Haus. Unter seinen Füßen zog der Wald vorbei, und das kleine Dorf kam rasch näher. Seit 14 Jahren lebte er hier mit seiner Frau Tina und seinen zwei Kindern. Tom flog. Ihm gefiel das Gefühl, über allen anderen zu schweben. Unter ihm lagen der Kindergarten, der Brunnen, der Bäcker. Rasch verlor der Gleitschirm an Flughöhe.

Als Tom das rote Dach seines Hauses sah, steuerte er direkt darauf zu. Dreißig Meter über der Dachschräge drehte er eine kunstvolle Schleife und ließ sich dann in die Tiefe abstürzen. Zehn Meter über dem halb geöffneten, sehr großen Oberlicht seines Hauses ließ er den Gleitschirm zusammenklappen. Er legte die Arme an, spitzte die Beine wie für einen athletischen Turmsprung und hielt die Augen weit auf, um alles mit seinem Blick einzufangen. Dabei blieb sein Gesicht ernst.

Das hast du nun davon, dachte Tom. Nach einer Sekunde im freien Fall krachte er durch das schräge Dachfenster und schlug exakt neben seiner schlafenden Ehefrau Tina wie eine Bombe ein.

Tom war ein Narzisst. Er verfehlte seine Frau um nur wenige Zentimeter. In seinem Körper steckten große Glasscherben. Klaffende Wunden, aus denen sofort dunkles Blut quoll. Ein halbes Dutzend seiner Knochen war gebrochen. Tom hatte alles so gewollt. Er hatte den Anflug und Absturz geplant: Spektakulär und schön sollte es enden. Für ihn. Und für seine Frau.

Tom wusste aber nicht, dass Tina an diesem Tag auf seiner Seite des Ehebettes lag. Immer wenn er am Wochenende Gleitschirmfliegen war, schlief sie aus und rollte sich auf seine Seite. Tina lag gern auf Toms Seite. Sie liebte seinen intensiven Körpergeruch. Seinen Duft. Sie wusste nicht genau warum, aber sie liebte diesen Kerl. Auch wenn er ein Arschloch war – er war der Größte für sie.

Doch Tina hatte an diesem Tag offenbar die Regeln geändert. Sie lag nicht dort, wo sie hätte liegen sollen. Toms Plan ging nicht auf. Sich durchs Dachfenster abstürzen zu lassen und beim Aufschlag seine Frau und sich selbst zu töten. Tom überlebte, weil Tina den Notarzt alarmierte und ihm damit das Leben rettete. Tina war auch ein Narzisst. Sie rettete Tom aus purem Egoismus.

Tom wollte selbst im Tod seine Geltungssucht befriedigen und seinen Abgang auf … nun ja … möglichst schillernde Art inszenieren. Dabei wollte er sogar über die Leiche seiner Frau gehen.

Schon früh leuchtete das Thema Geltungssucht in dieser Beziehung auf, doch wie so oft genügen solche Erkenntnisse nicht, damit die Beteiligten erkennen, mit welcher Sorte Mensch sie es zu tun haben.

Als Tom und Tina sich vor 15 Jahren auf einer Dating-Plattform im Internet kennenlernten, da wussten sie noch nichts von ihrem fatalen Schicksal. Als sie sich kennenlernten, fanden sie sich beide nur blendend und attraktiv. Tom gab an, Autoverkäufer zu sein. Tina Kosmetikerin. Toms Foto zeigte ihn mit Schlips und Anzug. Er sah etwas bieder aus. Tina war hübsch geschminkt und lächelte glücklich in die Kamera.

Tom und Tina verabredeten sich. Tom fand Tina toll und schickte ihr große Liebeserklärungen, was Tina nicht weiter schlimm fand. Auf dieses Love Bombing, das Narzissten typischerweise gern am Anfang einer Beziehung von sich geben, fiel Tina sofort rein und fühlte sich verliebt. Sie kamen rasch zusammen. Die ersten Dates waren Leidenschaft pur, und sie landeten rasch im Bett. Aus der einen Liebesnacht wurden zwei und drei. Sie fanden sich toll, und sie feierten sich. Tina lobte ihren Tom immer, indem sie ihm sagte, dass er toll aussieht. Und Tom tat dasselbe mit Tina. Das reichte beiden, und so wurden sie schnell ein Paar.

Aber Tina ahnte nicht, was sie sich da für einen Kerl geangelt hatte. Es kam ihr nur ein wenig komisch vor, denn die weiteren Dates, die Tom für sie arrangierte, fühlten sich alle wie unverbindliche One-Night-Stands an. Sex hatten sie immer mit eingeschaltetem Licht und vor dem großen Schrankspiegel. Als sie das ansprach, spürte sie sofort, wie seine Stimmung kippte, und instinktiv sagte sie ihm, dass er heute mal wieder gut aussah. Als Kosmetikerin fiel es ihr sehr leicht, so etwas zu sagen. Sofort hellte Toms Stimmung sich auf, und das Thema war vergessen.

Tipp: Loben Sie den Narzissten!

Damit machen Sie sich automatisch zum guten Teil der schrägen Beziehung, zur Quelle des Glückes. Aber passen Sie auf, Ihr Lob muss authentisch und glaubwürdig sein. Heuchelei entlarvt der Narzisst sofort. Der Narzisst hat früh aus Selbstschutz gelernt, Lob zu misstrauen. Loben Sie daher nicht zu überschwänglich, auch das ist unnatürlich. Lob verdient der Narzisst für seinen guten Geschmack, für den tollen Pullover oder die eleganten Schuhe. Ihr Lob muss aber zum Narzissten passen! Loben Sie seine Fotoausrüstung, wenn er eine teure hat. Machen Sie nach dem Lob eine bewusste Pause von ein paar Sekunden und beobachten Sie die Reaktion des Narzissten. Lassen Sie das Dopamin, das Glückshormon, im Narzissten Feste feiern, lassen Sie ihn Glück durch Anerkennung spüren. Wenn Sie das unregelmäßig, aber immer wieder mal machen, wird der Narzisst Ihnen aus der Hand »fressen« und Sie mit seinen Angriffen verschonen. Bitte nicht überrascht lachen, wenn es funktioniert! Sondern lenken Sie Ihren Lachimpuls in eine gemeinsame Freude um. Das wird der Narzisst auch toll finden. Übrigens: Mit Lob können Sie einen instabilen Narzissten, der gerade eine Krise hat, schnell wieder stabilisieren. Selbst wenn es Ihnen schwerfällt: Lob ist ein Trick, der Sie kurzfristig beschützt und Ihnen Luft verschafft. Beschwichtigen sollten Sie einen Narzissten nie. Das beleidigt seine Intelligenz.

In der Verarbeitung von Emotionen und Gefühlen unterlaufen dem Narzissten ständig Fehler. Gefühle müssen bekanntlich verdaut werden. Sonst schlagen sie einem ja auf den Magen. Ein Narzisst geht damit wie folgt um: Die eigenen negativen Emotionen verbindet der Narzisst wie ein unreifer Säugling mit dem Auslöser der Emotion, dem anderen und eben nicht mit dem Erzeuger der emotionalen Reaktion, mit sich selbst.

Beispiel: Carlota ärgert mich, ich bin wütend auf Carlota. Eigentlich ist es aber so: Carlota tut oder sagt etwas, was in mir eine Emotion auslöst. Wütende Wildpferde im Galopp. Statt Carlota deswegen gram zu sein und ihr die Schuld an meinem schlechten inneren Gefühl zu geben, sollte ich mich zunächst selbst fragen, welche Grenze Carlota da bei mir überschritten hat und wie ich damit klarkomme.

Ärger wird typischerweise immer dann ausgelöst, wenn andere über eine – für sie oft unsichtbare – Grenze gehen. So weit ist das eine sehr sinnvolle Einrichtung, denn eigentlich dient Ärger der Vermeidung von schlechten Erfahrungen. Bei einem Narzissten sind diese Grenzen falsch ausgelegt oder eben viel zu sensibel. Bei der kleinsten Annäherung schlagen die Grenzsoldaten Alarm.

»Ich bin der Meinung, dass ich mich im Haushalt nicht engagieren brauche, das habe ich als Baby ja auch nicht getan. Warum also jetzt? Du zerstörst mein Glück, wenn ich die Spülmaschine ausräumen und wieder einräumen muss!«, klagte ich, als das Thema »Beteiligung am Haushalt« anstand.

»Das hast du jetzt nicht gesagt, oder?«, fragte Carlota.

»Doch. Ich muss ja so was Narzisstisches sagen, schon allein für mein Buch! Damit ich authentisch wirke. Pah!«

Im Unterschied zu einem reifen Erwachsenen kann ein unreifer narzisstischer Mensch den Mangel nicht aushalten, der entsteht, wenn die Quelle des Glückes versiegt. Ein Narzisst fängt wie ein Kleinkind an zu schreien, zu toben, zu schimpfen und sich zu beklagen, sobald die Quelle verschwunden ist, und projiziert damit den Zorn und den Ärger, den er selbst in sich nicht kontrollieren kann, auf das Objekt, auf den oder auf die andere, die sich entzogen hat und die nicht mehr da ist. Umgekehrt wäre es reifer und besser für den Säugling zu verstehen, dass es im Leben Zustände des Mangels und Zustände der Fülle gibt und auch Zwischenzustände, in denen das Glück nur ein wenig da ist oder in denen der Mangel nur ein vorübergehender Umstand ist.

Zu kapieren, dass es die eigene Unzulänglichkeit ist, die den Ärger freisetzt, ist eine echte Zeitenwende im Denken des Säuglings. Irgendwann versteht das der Säugling. Aber ein Narzisst nicht. Diese Wellenbewegung zwischen dem Normalen und Extremen kann ein narzisstisch unreifer Mensch nicht aushalten und gerät psychisch unter einen hohen Druck, der sich in einer starken emotionalen Reaktion entlädt. Daher spricht man auch beim Narzissmus von einer »frühen Störung«, denn sie etabliert sich in den ersten Lebensjahren und wird nie aufgelöst.

»Gestatten, ich bin ein Arschloch.«

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