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1 Die vier Dimensionen der Liebe 1.1 Eine geglückte Therapie?

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Die in der Geschichte der Psychoanalyse berühmt gewordene Patientin Bertha Pappenheim hatte bereits mit 8 Jahren ihre zehn Jahre ältere Schwester an Tuberkulose verloren, als sie selbst mit 21 Jahren während der Nachtwache am Bett ihres (ebenfalls an Tuberkulose erkrankten) Vaters quälende psychische Symptome zu entwickeln begann. Die Fülle an weiteren, auch somatoformen Einzelstörungen, die während ihrer bei Josef Breuer (in leichter Hypnose) stattfindenden Behandlung hinzukamen, bezeichnete sie als ihr „Privattheater“. Als sie bemerkte, dass diese so rasch verschwanden, wie sie gekommen waren, wenn sie ihrem Therapeuten deren Anlässe schilderte, nannte sie die Prozedur eine „Redekur“ („talking cure“) und deren Zweck „Kaminfegen“ („chimney sweeping“). (11)

Ihr Vater war nach 9-monatigem Krankenlager ein gutes Jahr zuvor verstorben, als Breuer die Therapie beenden wollte, weil er meinte, er habe genug für die Patientin getan. Für diese wurde seine Mitteilung zum Anlass für eine große „hysterische“ Szene. Hatte sie auf den Tod des Vaters noch mit völliger Starre und Essensverweigerung reagiert, so brachte der drohende Therapieabbruch das ganze Ausmaß ihrer Verzweiflung als großen Trennungsschmerz in Erinnerung. Dieser durchfuhr sie während einer theatralisch inszenierten Entbindung, und sie erklärte ihn – so Breuers spätere vertrauliche Schilderung des Geschehens laut Freud – damit, ihr virtuelles Kind sei von ihm. (12)

Freuds eigene Auffassung, dass dieser Therapieverlauf die sexuelle Ätiologie hysterischer Symptome belege, erweist sich bereits angesichts der von Bertha Pappenheim symptomatisch dargestellten Zusammenhänge zwischen ihren Lebensereignissen als unzutreffend. Tatsächlich handelte es sich dabei um liebevolle, aber unreife Umgangsformen mit Tod und Verlust. Der zweifellos sexuelle Charakter der Entbindungsszene lässt sich problemlos darauf zurückführen, dass die Patientin ihrem Therapeuten die Rolle des toten Vaters und sich selbst diejenige der Mutter zuwies, wobei sie sich von der Frucht ihrer therapeutischen Zusammenarbeit die Eigenschaften eines gedeihenden Kindes erhoffte. Es erfüllte sie mit Schrecken, von dessen „Vater“ verlassen zu werden und sich als „Mutter“ gleichsam für dessen Erziehung allein verantwortlich gemacht zu fühlen.

Das demonstrativ Sexuelle erscheint hier als Metapher für eine – der Kranken halbbewusste – ganz andere Aussage: dass es zwar unmöglich ist, die Krankheit eines geliebten Menschen zu verhindern oder gar seinen Tod rückgängig zu machen, dass aber der eigene Leib der Ort ist, wo das Ringen um Anerkennung des Ernstes stattfindet: der Tatsache, dass die Anwesenheit von Toten im Leben ihrer Hinterbliebenen unwiderruflich gewahrt bleibt.

Die Fruchtbarkeit der Liebe zwischen Mann und Frau ist erste Voraussetzung für eine Entfaltung der Liebe von Lebenden zu ihren Toten – jener Liebe, die dem Tod den Stachel nimmt. So enthalten die symptomatischen Ausdrucksformen des Zweifels daran selbstverständlich eine Fülle versteckter oder offenkundiger Hinweise darauf, dass dem so ist.

Berühmt wurde Bertha Pappenheim nicht dadurch, dass sie als Paradebeispiel für eine erfolgreiche psychoanalytische Behandlung hätte präsentiert werden können (Freud selbst betrachtete sie vorzugsweise als Opfer des auf Seiten Breuers noch vollständigen Fehlens psychoanalytischer Behandlungsmethoden), sondern dadurch, dass sie ihre Liebe zu den eigenen Eltern zur Bildung einer Persönlichkeit entwickelt hat, die sich als Vorbild hilfsbedürftiger, verratener und verkaufter Frauen sowie als Vorkämpferin der Frauenbewegung einen Namen gemacht hat, und zwar in Dankbarkeit für das Vertrauen, das ihr Therapeut, als sie es brauchte, in das Potential ihrer Menschlichkeit gesetzt hatte.

Die Methode der Biographik unterscheidet sich von der Psychoanalyse dadurch, dass sie zur Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten der Liebe befähigt. Aus biographischer Perspektive besteht nämlich die Aufgabe ärztlicher Diagnostik und Therapie darin, die Quelle der menschlichen Lebensordnung in der Allmacht der Liebe zu entdecken. Sich darauf zu besinnen, wird notwendig, sobald es darum geht, die Engführungen der naturwissenschaftlichen Medizin auf hermeneutischem Wege zu überwinden.

Diese Methode ist zwar aus der ärztlichen Praxis erwachsen. Sie verlöre aber ihren Sinn, wenn ihre Anwendung einem standespolitischen Monopolanspruch unterworfen würde, der auf Unmündigkeit von Menschenmassen setzt, um die Menschlichkeit aller familialen und gesellschaftlichen Beziehungen der Obhut geschützter Berufszweige vorzubehalten. Denn Menschen begegnen einander prinzipiell und unmittelbar als Kranke und als Ärzte. Die Entwicklung von hermeneutischen Errungenschaften der Heilkunde verändert jeden Alltag und schlägt sich dort, wo sie gelingt, unweigerlich in einer Kultivierung der Alltagssprache nieder. In der durch Sprache katalysierten neuartigen Methode, den Alltag zu befrieden, zeigt sich also auch der Wahrheitsgehalt einer neuartigen Methode, die Begrifflichkeit der Ziele und Wege von Heilung zu entwickeln und mit ihrer Hilfe zu denken.

Im Alltag bedeutet „d(a)enken“ im Grunde: zum Dank befähigen. Die „Therapie“ von Bertha Pappenheim durch Josef Breuer habe ich als Beispiel gewählt, um bereit dort die Schlussfolgerung aus meiner Erfahrung mit der biographischen Arbeitsweise zu erläutern, nämlich dass zu danken auch möglich ist, wenn deren Anlass zunächst als ein (auch beruflicher) Misserfolg bewertet werden muss. Der eigentliche Schluss aber ist die Feststellung, dass prinzipielle Bereitschaft zur Dankbarkeit notwendig ist, um ein Versagen als – in seinem Missglücken vorläufig nachwirkende – Arbeit der Liebe zu würdigen.

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