Читать книгу Tod am Silsersee - Duri Rungger - Страница 6

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Samstag, 7. 7. 1962

Caminada blätterte entnervt im Papierstapel, der sich während der vergangenen hektischen Wochen auf seinem Schreibtisch aufgetürmt hatte. Ein Arbeitsunfall mit einem Toten, eine Messerstecherei mit einem Schwerverletzten, ein Säufer, der seine Familie drangsalierte, und eine Serie von Einbrüchen hatten ihn auf Trab gehalten, und er war nie dazugekommen, die dazugehörigen Rapporte zu schreiben. Er dachte mit Wehmut an die Zeit, als Tscharner noch bei ihnen im Büro arbeitete und ihm jeweils saubere Zwischenrapporte mit angehefteten Belegen auf den Tisch legte. Aber Claudio war wieder zur Stadtpolizei zurückberufen und dank des halben Jahres, das er bei der Kriminalpolizei verbracht hatte, an eine höhere Stelle befördert worden. Caminada mochte ihm dies von Herzen gönnen, doch die Rapporte musste er nun wieder selbst schreiben. Wenigstens hatte er die Fresszettel mit seinen hastig hingeworfenen Notizen thematisch geordnet – er konnte nur hoffen, dass in der Eile keiner in der falschen Beige gelandet war.

Er kaute an seinem Bleistift und schaute aus dem Fenster auf den Pizokel hinüber. Der bewaldete Kegel des Churer Wahrzeichens gefiel ihm zwar, doch der Berg stand einfach am falschen Ort. Im Winter raubte er bis auf wenige Morgenstunden einem Grossteil der Stadt die Sonne, und im Sommer spendete er nicht den geringsten Schatten. Und heute war es wieder einmal drückend schwül. Doch er musste durchhalten. Die Hochjagd wurde erst im September eröffnet, und er wollte seine Ferien für diese Zeit aufsparen.

Mit einem unwilligen Knurren zog er den dünnsten Stapel zu sich, legte ein leeres Blatt Papier daneben und schrieb:

Messerstecherei, Samstag, 5. Mai 1962. Weiter kam er nicht. Sein Chef, Kommissar Raeto Zinsli, stürmte ohne anzuklopfen ins Büro. «Lass alles liegen, Roc! Wir haben einen Toten!»

Caminada wagte nicht auszusprechen, wie gelegen ihm dieser Todesfall kam und beschränkte sich auf ein trockenes:

«Wo?»

«Im Engadin.» Der kleingewachsene Zinsli kletterte auf einen Stuhl und erklärte: «Ein Mann, etwa vierzig Jahre alt, liegt am Ufer des Silsersees – kein Badeunfall, die Leiche ist bekleidet. Er scheint von einem Felsen der Halbinsel Chasté gestürzt zu sein.»

«Und was ist daran verdächtig? Gewöhnliche Unfälle werden doch sonst von der lokalen Polizei untersucht.»

«Das war auch der Fall, aber der Polizist von Sils hat bemerkt, dass der Tote auffällige Kratzspuren im Gesicht trägt.»

«Die kann er sich doch auch beim Sturz durch ein Gebüsch zugezogen haben.»

«Der Landjäger behauptet, das sei unmöglich, und hat sich deshalb entschlossen, uns zu alarmieren. Ich weiss nicht, was an diesen Kratzern besonders sein soll … aber egal, ziehst du es vor, hier am Schreibtisch zu hocken, oder fährst du lieber ins schöne Engadin?»

«Was für eine Frage!» Caminada stand auf und deutete auf seinen Schreibtisch. «Dann müssen die Rapporte eben noch länger warten.»

«Frau Rizzi kann ja während deiner Abwesenheit daran arbeiten», schlug Zinsli vor. «Sie macht das sehr gut, wenn ich sie nett darum bitte.» Zinsli musterte mit zusammengekniffenen Augen die Notizen seines Freundes und fügte dann einschränkend bei: «Wenn sie deine Handschrift nicht lesen kann, bist du allerdings selbst schuld.»

Eine halbe Stunde danach hatte Caminada die Lenzerheide bereits überquert. Der Ausblick ins Oberhalbstein und auf die Berge vermochte ihn heute nicht zu begeistern. Zu viele unangenehme Erinnerungen an einen brutalen Mord waren mit der Gegend verbunden. Erst nachdem er Savognin hinter sich gebracht hatte, konnte er sich von diesen düsteren Gedanken befreien und begann, die Fahrt zu geniessen. Die Alpenrosen am Julier standen in prächtiger Blüte. Am liebsten hätte er eine kurze Rast eingelegt, hatte aber keine Zeit dazu.

Während er den Silvaplanersee entlang fuhr, wähnte er sich in einem Touristenprospekt: hellblauer Himmel, weisse Gipfel und Firne, grüne Wiesen, blaues, vom Malojawind gekräuseltes Wasser. In Sils Baselgia stellte er den VW vor der Pensiun Chasté ab, wo der Dorfpolizist, Peider Clalüna, auf ihn wartete. Caminada begrüsste den knochigen, braungebrannten Kollegen, bestellte sich einen Kaffee und nachdem sie ein wenig geplaudert hatten, liess er sich über den Leichenfund informieren.

«Ein Feriengast ist heute früh in seinem Boot um die Halbinsel Chasté gerudert. Da sah er einen farbigen Fleck zwischen den Bäumen hervorleuchten. Er legte an, kletterte den steilen Abhang hoch und fand den Toten mit einem lose um den Hals geschlungenen roten Seidenschal. Ohne dieses auffällige Tuch wäre die Leiche wohl noch lange nicht entdeckt worden.» Clalüna nickte nachdenklich, nahm einen Schluck von seinem Kaffee und fügte dann bei: «Der Schädel des Toten ist eingeschlagen, doch das kann auch beim Aufprall geschehen sein. Ich habe Chur alarmiert, weil sich im Gesicht des Toten zwei seltsame, auffallend ähnliche Kratzspuren befinden. Auf der einen Wange verlaufen sie fast senkrecht, auf der anderen horizontal. Sie können nicht durch Äste eines Gebüschs verursacht worden sein.»

Caminada nickte. «Es ist gut, dass Sie uns alarmiert haben. Ich werde mir die Sache natürlich auch noch ansehen.»

«Die Leiche ist bereits nach Samedan ins Spital Oberengadin transportiert worden. Der Arzt hat leider nicht auf Sie warten können», entschuldigte sich Clalüna und sah Caminada fragend an, doch dieser zuckte nur lässig die Schultern.

Plötzlich schlug sich der Dorfpolizist die Hand vor die Stirn. «Ich habe ganz vergessen Ihnen zu sagen, dass seit gestern Mittag ein Feriengast im Hotel Waldhaus vermisst wird – Martin Brunner, ein Zürcher Grundstückmakler und Bauunternehmer von der besseren Sorte. Sobald wir hier fertig sind, muss ich wohl seine Ehefrau nach Samedan bringen, damit sie die Leiche identifizieren kann. Dabei weiss ich noch nicht einmal, ob es sich beim Toten wirklich um den Vermissten handelt.»

Caminada musste sowieso mit dem Arzt sprechen, um Genaueres zu Todesursache und Zeitpunkt zu erfahren. «Das kann ich Ihnen abnehmen, aber zuerst muss ich mir den Fundort der Leiche ansehen.» Er stand auf, setzte sich aber gleich wieder und bat seinen Kollegen: «Könnten Sie bitte noch rasch die Frau Wirtin fragen, ob sie am Sonntag um die Mittagszeit etwas Auffälliges beobachtet hat. Einer der Wege nach Chasté führt ja gleich hier am Haus vorbei.»

Clalüna stand auf und verschwand im Korridor. Anscheinend kannte er sich hier aus. Nach wenigen Minuten kam er zurück und hob entschuldigend die Achseln. «Die Wirtin stand am Sonntag den ganzen Morgen in der Küche, und das einzige, was sie mir erzählen konnte, war das Menu. Sonst hatte sie Augen für nichts.»

«Nun, dann wird es Zeit, uns die Stelle anzusehen, wo das Unglück geschehen ist.»

Sie überquerten die Wiese zum See und setzten mit Clalünas Boot zum Fundort der Leiche über, der zu Fuss schlecht erreichbar war. Der Körper war etwa zwanzig Meter über dem Seeufer aufgefunden worden. Unterhalb der Fundstelle waren die Heidelbeersträucher und das Gras von den Rettern und dem Arzt zertrampelt, doch glücklicherweise war niemand in das darüberliegende Gelände eingestiegen. Caminada spähte den steilen Hang hoch, über welchen der Verunfallte heruntergekollert sein musste. An einigen Stellen war das Gesträuch flach gedrückt und einige Äste geknickt. Er folgte dieser Spur aufwärts bis zum Fuss einer fast senkrechten Felswand. Hier musste der Körper aufgeschlagen sein. Und richtig, auf einem grossen Steinbrocken entdeckte er einen Blutfleck. Clalüna hatte gesagt, dass der Schädel des Toten eingeschlagen war. Das war wohl hier beim Aufprall geschehen.

Caminada kehrte zu Clalüna zurück, der im Boot auf ihn wartete. «Waren Sie schon oben auf der Anhöhe?»

«Noch nicht, ich wollte keine Spuren verwischen und habe es vorgezogen, auf Sie zu warten. Den Spazierweg entlang der Krete habe ich natürlich gesperrt. Oben, ziemlich genau über dem Fundort, gibt es einige Mauerreste, wahrscheinlich die Überbleibsel einer alten Burg – vielleicht heisst die Halbinsel deshalb Chasté. Der Verunfallte muss von dort hinuntergestürzt sein.»

«Gut, gehen wir hinauf und schauen nach, ob wir etwas finden.»

Sie fuhren mit den Boot zum Ansatz der Halbinsel zurück und nahmen den schmalen Weg, der durch dunklen Nadelwald leicht anstieg, eine grosse, mit Birken gesäumte Sumpfwiese durchquerte und wieder in den Wald führte. Gegen die Anhöhe hin wurde der Abhang zu ihrer Rechten immer steiler und fiel an einigen Stellen fast senkrecht zum Wasser ab. Oben angekommen, zeigte Clalüna seinem Kollegen die im Gebüsch versteckten kaum kniehohen Mauerreste. Bevor er die ummauerte Fläche betrat, musterte Caminada von aussen sorgfältig den Boden. Das Gras war an mehreren Stellen niedergetrampelt, doch da es seit Langem nicht mehr geregnet hatte, konnte das schon vor Tagen geschehen sein. Dann stutzte er. Auf dem Mäuerchen vor dem Abgrund lag ein schwarzes Heft. Er suchte vergeblich in seinen Taschen nach einem Säckchen, um es sicherzustellen.

«Suchen Sie so etwas?» Clalüna hielt ihm eine Tüte und Gummihandschuhe hin.

«Danke, genau!» Nachdem er sich die Handschuhe, die viel zu klein für seine kräftigen Hände waren, mit Mühe über die Finger gezogen hatte, hob er das Heft hoch. Darunter lag ein Bleistift. Er steckte beide Fundstücke in den Papiersack. Dann trat er ans Mäuerchen und sah in die Tiefe. Der Seespiegel lag etwa hundert Meter unter der Kuppe, auf der sie standen. Der Stein, auf welchem er den Blutfleck entdeckt hatte, befand sich senkrecht unter ihrem Standort. Caminada seufzte: «Zwanzig Meter reichen für einen tödlichen Sturz – vor allem, wenn man mit dem Kopf auf einem Stein landet.»

Er setzte sich auf das Mäuerchen und wollte sich der Handschuhe entledigen, entschied sich jedoch anders. «Wenn ich schon diese lästigen Dinger anhabe, könnten wir uns gleich das Heft ansehen. Vielleicht gehörte es dem Toten, und wir erfahren etwas über ihn.»

Mit einer Handbewegung lud er Clalüna ein, sich neben ihn zu setzen. Dann zog er das schwarze Leinenheft aus der Tüte und öffnete es. Die erste Seite trug den Vermerk: Sils Maria, Sonntag 8. Juli, 1962 und den Titel: Tödliche Reime. Auf der zweiten Seite fand sich der Untertiitel: Kapitel 1: Tod am Silsersee.

«Diese Notizen sind mit Tinte geschrieben,» bemerkte Caminada, «und nicht mit dem Bleistift, den wir hier gefunden haben. Das muss der Besitzer noch zu Hause geschrieben haben, und Sils Maria würde zu dem im ‹Waldhaus› vermissten Hotelgast passen.»

Der Rest der Seite war mit hastig hingeworfenen und wieder durchgestrichenen Wörtern, halben Sätzen, und sich reimenden Wortpaaren mit Bleistift vollgekritzelt. Dann folgten vier, etwas sorgfältiger geschriebene Zeilen:

Im vom Wind gekräuselten Wasser

bricht sich das Licht der Sonne

und zwischen dunklen Stämmen

glitzern tausend Sterne.

«Ein Dichter – oder einer, der es werden möchte. Wahrscheinlich gehört das Heft doch nicht dem Vermissten. Grundstückmakler sind zwar gut im Erzählen von Märchen, aber dass sie auch noch anfangen zu dichten … »


Caminada ging unentschlossen vor dem Hotel Waldhaus hin und her und überlegte, wie er in dieser heiklen Sache vorgehen sollte. Clalüna hatte die Absicht, mit Frau Brunner nach Samedan zu fahren, damit sie feststellen könne, ob es sich beim aufgefundenen Toten um ihren Mann handle. Aber Caminada wollte die Frau des Vermissten nicht unnötig beunruhigen. Er wusste ja nicht, ob der Tote von Chasté wirklich der hier vermisste Gast war. Ein Angestellter des Hotels, der Brunner kannte, konnte die Identifikation ebenso gut vornehmen. Danach sollte ein Geistlicher die Gattin informieren – der konnte das bestimmt besser als er.

Der mögliche Ausweg gab Caminada den nötigen Mut, die wenigen Stufen zum Eingang des Hotels in Angriff zu nehmen. Ein uniformierter Portier öffnete ihm die Türe und zeigte beflissen den Weg zur Réception, die sich gleich rechts vom Eingang befand und kaum zu übersehen war.

«Wie kann ich Ihnen behilflich sein?» Der Concierge musterte den unerwarteten Gast prüfend.

Caminada hatte das Gefühl, sein Anzug von der Stange passe schlecht in die noble Umgebung. «Ich bin Roc Caminada von der Kantonspolizei und komme wegen des Vermissten.»

«Ah endlich! Gibt es Neuigkeiten über den Verbleib von Herrn Brunner?»

«Heute früh ist ein Toter bei Chasté gefunden worden. Es könnte sich um den Mann handeln, den Sie als vermisst gemeldet haben, doch die Leiche ist vor meiner Ankunft abtransportiert worden. Ich habe den Toten noch nicht gesehen und weiss auch nicht, wie Herr Brunner aussieht. Aber wir werden bald herausfinden, ob er der Tote ist, der heute aufgefunden wurde. Am besten begleitet mich einer Ihrer Angestellten, der Brunner kannte, nach Samedan und identifiziert die Leiche.»

Der Concierge sah Caminada tadelnd an. «Sie wollen doch nicht weggehen, ohne die Frau des Vermissten informiert zu haben?»

«Doch, das möchte ich. Stellen Sie sich vor, ich erzähle der Gattin, wir hätten einen Toten gefunden, von dem wir nicht wissen, ob es ihr Mann sei – und nachdem sie vor Schreck in Ohnmacht gefallen ist, spaziert der Vermisste hier zur Türe …» Weiter kam er nicht.

«Haben Sie vom Vermissten gesprochen? Ich bin seine Frau und habe ein Recht zu erfahren, was Sie wissen.»

Caminada drehte sich zu der jungen Frau um und erstarrte. Sie sah seinem verschollenen Patenkind Julia ähnlich: bildhübsch mit hellblauen, mandelförmigen Augen, leicht vorstehenden Backenknochen und schwarzem Haar, doch im Unterschied zu Julia, die ihr glattes Haar kurz trug, war es bei der Frau, die jetzt vor ihm stand, wild gelockt. Er schloss die Augen. Wie viele Jahre waren vergangen, seit Julia verschwunden war?

«Bitte, ich habe Sie etwas gefragt.»

Caminada erwachte aus seiner Starre. «Entschuldigung, Frau Brunner, natürlich – vielleicht könnten wir uns an einem ruhigeren Ort unterhalten.» Er sah sich suchend um, und der Concierge deutete auf den Korridor, der zur Bibliothek führte. Er wusste, dass sich im Moment kein anderer Gast dort befand.

Der dunkel getäferte Raum mit seinen kleinen Schreibtischchen und vollen Bücherregalen strahlte Ruhe aus. Kein übler Ort für eine heikle Unterredung, auf die Caminada trotzdem gerne verzichtet hätte. Nachdem sie sich gesetzt hatten, fiel es ihm nicht leicht, einen unverfänglichen Anfang zu finden. «Ich bin nicht sofort zu Ihnen gekommen, weil wir noch nichts Genaues wissen, und ich Sie nicht unnötig aufregen wollte.»

«Aufregen? – Also ist etwas Schlimmes passiert», schloss die junge Frau scharfsinnig.

Caminada schickte sich ins Unvermeidliche. «Heute früh wurde bei Chasté eine Leiche gefunden. Wir wissen nicht, ob es sich um Ihren Mann handelt. Ich kann die Leiche auch nicht beschreiben. Sie ist ins Spital von Samedan gebracht worden, bevor ich sie sehen konnte.»

Die junge Frau stand auf. «Auf was warten Sie? Gehen wir!»

Caminada sah ein, dass es zwecklos war, Einwand gegen diesen berechtigten Anspruch zu erheben.

Sie wollten eben in Caminadas Käfer einsteigen, als ein schwarzer Jaguar auf den Parkplatz einfuhr und neben ihnen anhielt. Der Besitzer des noblen Gefährts, ein Herr Welti, wenn er den Namen richtig verstanden hatte, erkundigte sich bei Frau Brunner teilnahmsvoll, ob es Neuigkeiten zum Verbleib ihres Mannes gebe. Als er erfahren hatte, wohin sie wollte, bestand er darauf, dass sein Chauffeur, Gennaro Esposito, sie und den Herrn Kommissar in seinem Wagen nach Samedan bringe: «Sie können in Ihrem Zustand doch unmöglich in dieser klapprigen Kiste fahren.»

Kurz darauf sassen sie im Fond des Jaguar S, der viel zu schnell über die kurvige Seestrasse Richtung St. Moritz raste. Caminada nahm weder die Geschwindigkeit noch die luxuriösen Lederpolster und Holzverkleidungen des Gefährts wahr. Er ärgerte sich über seine Ungeschicktheit. Kurz nach der Abfahrt hatte er seine Begleiterin gedankenlos gefragt, ob ihr Mann vielleicht ein rotes Halstuch getragen habe. Sie hatte ihn mit offenem Mund angestarrt und schluchzend seine Hand umklammert. Er hätte die verzweifelte Frau gerne getröstet, fand aber nicht die richtigen Worte dafür. So beschränkte er sich darauf, seine Hand auf die ihre zu legen.


Die Identifizierung verlief weniger dramatisch als Caminada befürchtet hatte. Die Leiche lag auf einem weissen Laken, und eine gute Seele hatte einen kleinen Strauss von Feldblumen auf die Brust des Toten gelegt. Die eingeschlagene Schädeldecke war mit einem Tuch abgedeckt und die Kratzer im Gesicht kaum sichtbar. Selina Brunner sah den Toten still an, legte ihm die Hand auf die Stirn und bestätigte leise: «Ja, das ist Martin.» Dann schloss sie die Augen und blieb reglos stehen.

Caminada liess ihr Zeit, den Schock zu verarbeiten. Das gab ihm auch die Gelegenheit, sich die Kratzspuren im Gesicht genauer anzusehen. Auf der linken Wange verliefen sie vom Auge fast senkrecht zum Mundwinkel, auf der rechten hingegen quer von der Nase zum Ohrläppchen. Das allein schloss nicht aus, dass die Kratzer durch Äste verursacht wurden. Der Körper konnte sich während des Sturzes überschlagen haben. Es war hingegen höchst unwahrscheinlich, dass zwei verschiedene Äste derart ähnliche Spuren, bestehend aus vier parallelen Streifen, hinterlassen hätten. Clalünas Misstrauen war durchaus berechtigt.

Erst jetzt bemerkte er, dass Frau Brunner ihn fragend ansah. Er nahm sie beim Arm und führte sie aus dem Raum. Da er noch mit dem Arzt sprechen musste, schlug er ihr vor, sie solle sich vom Chauffeur sofort ins Hotel zurückbringen lassen, er würde später mit dem Postauto nach Sils kommen.

Sie lehnte seinen gutgemeinten Vorschlag strikt ab und zog es vor, sich von Esposito zum Golfplatz fahren zu lassen. Von dort wollte sie einen Spaziergang am Flazbach unternehmen und in etwa zwei Stunden zurück sein.

Eine freundliche Krankenschwester begleitete Caminada zum Büro von Dr. Gianola, der den Toten geborgen und untersucht hatte. Der Arzt fasste sich kurz: «Viel kann ich leider nicht sagen. Der Unfall ist etwa zwanzig Stunden vor dem Auffinden der Leiche passiert, also gestern gegen Mittag. Der Tod wurde durch einen Schlag auf den Kopf herbeigeführt. Das bedeutet nicht unbedingt, dass es sich um Mord handelt, der Mann kann sich den Schädel auch beim Sturz eingeschlagen haben.»

«Die Stelle, wo der Kopf auf einen Stein aufgeschlagen ist, habe ich gefunden», informierte Caminada den Arzt. «Aber es braucht nicht unbedingt einen Schlag auf den Kopf, um jemanden in einen Abgrund zu befördern. Ein Schubs reicht aus und hinterlässt erst noch keine Spuren – ist aber auch Mord. Jedenfalls sehen die Kratzer im Gesicht des Toten nicht so aus, als ob sie im Fallen durch ein Gebüsch verursacht worden wären. Sie müssen ihm vorher beigebracht worden sein.» Caminada hatte Mühe, sich vorzustellen, weshalb ein Mann, der damit beschäftigt war, Gedichte zu schreiben, in ein Handgemenge verwickelt wurde, doch die Kratzer waren nun einmal vorhanden. Trotzdem wollte er nicht den Eindruck erwecken, er glaube an einen kaltblütigen Mord, und fügte an: «Vielleicht gab es ein unschuldiges Gerangel, bei welchem Herr Brunner über die Mauer gestolpert und abgestürzt ist.»

Gianola wiegte zweifelnd den Kopf. «Clalüna hat mich auf die verdächtigen Kratzer aufmerksam gemacht, und ich habe sie mir inzwischen genau angesehen. Sie sind nicht unmittelbar vor dem Tod entstanden. Wie lange vorher, kann ich leider nicht genau sagen.» Der Arzt rieb sich mit dem Zeigfinger an der Nase und rang sich dann zur Aussage durch: «Mindestens zehn Minuten, höchstens eine Stunde vor dem Tod.»

Caminada dankte dem Arzt für diese wichtige Information und schickte sich an zu gehen.

«Viel Erfolg bei Ihren Nachforschungen», wünschte Gianola, während er dem Kommissar die Hand schüttelte. «Ich hoffe, dass es sich nicht um Mord handelt. Für die junge Witwe ist der Verlust ihres Mannes schon schwer genug zu ertragen. Er war erst vierzig Jahre alt, bester Gesundheit und physisch in beachtlicher Form.» Er schüttelte bedauernd den Kopf. «Aber Unfälle nehmen keine Rücksicht darauf, wie lange das Opfer noch hätte leben können.»

«… Mord leider auch nicht, sonst würden nicht so viele junge Leute umgebracht», fügte Caminada bedauernd bei. Er machte einen Schritt zur Türe, blieb wieder stehen und stammelte verlegen: «Entschuldigen Sie, Herr Doktor. Wäre es vielleicht möglich, etwas zu trinken und ein Stück Brot zu bekommen? Ich habe seit dem Frühstück nur einen Kaffee gehabt».

«Tee, Kaffee, oder Süssmost stehen immer bereit, und Brot, Käse und Trockenfleisch kann ich Ihnen auch offerieren. Tut mir leid, dass ich Ihnen nichts angeboten habe.»

Caminada stürzte das grosse Glas Süssmost, das eine Krankenschwester gebracht hatte, hinunter und verabschiedete sich eilig von Dr. Gianola. Er setzte sich vor das Krankenhaus und verzehrte heisshungrig das grosse belegte Brot. Kaum war er damit fertig, fuhr auch schon der Jaguar vor.

Esposito nahm es auf dem Rückweg gemütlicher als bei der Hinfahrt. Caminada überlegte, wie er der geschockten jungen Frau einige Informationen entlocken könnte, ohne gefühllos zu erscheinen. Er entschloss sich, mit einer unverfänglichen Frage zu beginnen: «Sie wohnen in Zürich, sprechen aber wie jemand von hier, und auch ihr Name, Selina, deutet darauf hin, dass Sie aus dem Engadin stammen.»

«Ich bin in Silvaplana aufgewachsen.» Selina verstummte, und Caminada nahm sich vor, sie in Ruhe zu lassen, doch dann begann sie von sich aus zu erzählen: «Ich habe Martin zufällig beim Skifahren auf Corviglia kennengelernt. Nach einem fürchterlichen Sturz bin ich halb benommen im Tiefschnee liegen geblieben. Martin hat mich ausgebuddelt und wieder auf die Beine gestellt. Zum Glück war ich nicht verletzt, aber meine Ski waren gebrochen. So bin hinten auf die Latten meines Retters gestanden und habe mich an ihn geklammert, bin aber unzählige Male abgerutscht und in den Schnee gepurzelt. Schliesslich hat er mich huckepack getragen, und wir sind heil unten angekommen. In der Konditorei Hanselmann hat Martin mich mit Kuchen und heisser Schokolade aufgepäppelt und nach der dritten Tasse gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, ihn zu heiraten … » Sie schluckte leer und verstummte.

Kurz bevor sie Celerina erreichten, deutete sie über die Ebene auf den flachen, bewaldeten Hügel auf dem eine Kirche mit ruinenartigem Turm stand. «Das ist San Gian. Auf meinem Spaziergang vorhin bin ich auf den Hügel gestiegen und habe das Kirchlein besucht. Martin und ich haben dort geheiratet – vor drei Jahren.» Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

Als sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte, legte sie ihre Hand auf Caminadas Arm. «Danke, dass Sie mich auf der Fahrt hierher so einfühlsam getröstet haben. Ich schäme mich ein wenig, dass ich mich derart an Sie geklammert habe.»

«Ich habe nicht gewusst, wie ich mich verhalten soll. Ich bin nicht geschickt in solchen Dingen.»

«Sie haben genau das Richtige getan.» Sie nickte ihm dankbar zu. Dann fragte sie zögernd: «Darf ich fragen, weshalb Sie mich bei unserm Zusammentreffen so entsetzt angestarrt haben?»

«Keineswegs entsetzt – bloss von Erinnerungen überwältigt. Abgesehen von Ihrem wunderbaren Kraushaar sehen Sie meinem Patenkind Julia unglaublich ähnlich. Sie war etwa gleich alt wie Sie und ist vor Jahren verunfallt. Ich habe geglaubt, sie stehe vor mir.» Jetzt war es Caminadas Stimme, die ins Zittern geriet.

Sie fasste ihn zart am Unterarm. «Sie können Selina zu mir sagen, wenn es Sie nicht stört. Ich habe meinen Paten nur ein einziges Mal bei meiner Taufe gesehen und kann wirklich nicht behaupten, dass ich mich an ihn erinnere. Ich hätte gerne einen Padrin wie Sie.» Sie verstummte verlegen.

Erst nach einer Weile nahm sie das Gespräch wieder auf: «Der Tod von Martin ist furchtbar. Ich hatte ihn sehr lieb und werde ihn vermissen – aber es hilft nichts, wenn ich hysterisch werde. Ich muss der Realität ins Auge sehen und dazu gehört, dass ich Ihnen die Fragen beantworte, die sie freundlicherweise noch nicht gestellt haben.»

«Das ist sehr tapfer von Ihnen. Natürlich habe ich Fragen: Zuerst einmal möchte ich erfahren, wann Sie Ihren Mann gestern das letzte Mal gesehen haben.»

«Martin wollte nach dem Frühstück allein an den See gehen und ein Gedicht für seinen Kriminalroman schreiben.» Sie erklärte kurz, dass im neuem Krimi ihres Mannes ein absonderlicher Dichter eine Hauptrolle spielte und er deshalb Gedichte in den Roman einflechten wollte. «Bevor er fortging, hat er noch spöttisch bemerkt, der berühmte Erwin Iseli schreibe seine finsteren Verse ja auch in der freien Natur – das könne nur schiefgehen.» Sie überlegte kurz bevor sie beifügte: «Sie kennen Herrn Iseli wohl noch nicht. Ich glaube, er ist ein begabter Dichter. Er hat mir einen ganzen Stapel seiner Werke zu lesen gegeben, und ich fand sie gut, nur hoffnungslos deprimierend. Trotz aller Anstrengungen gelingt es ihm leider nicht, auch nur ein einziges Gedicht zu publizieren – doch, eines hat er auf der Todesanzeige seiner Mutter untergebracht.» Selina lächelte mitleidig, dann schüttelte sie den Kopf. «Jetzt habe ich den Faden verloren. Wo war ich stehen geblieben?»

«Beim Abschied nach dem Frühstück.»

«Nun, Martin hat mir einen Kuss auf den Mund gedrückt und wollte gehen, doch nach ein paar Schritten ist er zurückgekommen und hat mich gebeten, ihm meinen roten Seidenschal zu leihen, damit könne er sich wie ein wahrer Poet fühlen.» Wieder traten Tränen in ihre Augen.

Vor dem Hotel angekommen, brachte Esposito den Wagen vor der Treppe zum Stehen und half Selina galant aus dem Wagen.

In der Eingangshalle schaute Selina auf die Uhr und fuhr auf. «Ich muss dringend in Zürich anrufen und im Büro mitteilen, was geschehen ist. Können wir ein anderes Mal weiterreden?»

«Nur noch eine Frage, dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Hat in den letzten Tagen jemand Ihren Mann besucht oder nach ihm gefragt?»

«Nein, nicht dass ich wüsste.» Dann schaute sie Caminada erschrocken an. «Sie stellen Fragen, wie wenn Martin ermordet worden wäre.» Sie presste ihre Fäuste vor die Stirn. «Ich habe mir vorgenommen, nicht hysterisch zu werden, aber Sie machen es mir nicht leicht.»

Caminada versuchte, Selina zu beruhigen. «Das glaube ich nicht wirklich, ich muss nur allen Möglichkeiten nachgehen.» Damit wollte er es bewenden lassen, doch dann fühlte er sich verpflichtet, offen mit ihr zu sein, und fügte bei: «Es kann sehr wohl ein Unfall gewesen sein, doch wir können Mord nicht ausschliessen. Ihr Mann hatte einige frische Kratzer im Gesicht, die nicht vom Sturz herrühren können.»

Selina kaute an dieser Neuigkeit herum, und Caminada befürchtete schon, sie würde wieder in Tränen ausbrechen, doch dann bemerkte sie trocken: «Auf alle Fälle habe nicht ich sein Gesicht zerkratzt! Wir haben uns nie gestritten – nur gefoppt.» Sie legte die Stirn in Falten und fügte nachdenklich bei: «Ich glaube nicht, dass er eine heimliche Beziehung zu einer anderen Frau hatte. Martin sah gut aus und hat gerne charmiert, doch ich glaube, das ist harmlos geblieben. Und ganz bestimmt wäre er nicht mit einem rotem Schal und schwarzem Schulheft zu einem Stelldichein gegangen, das war nicht sein Stil.»

«Wie kommen Sie darauf? An diese Möglichkeit habe ich nicht einmal gedacht.»

«Jemandem mit den Nägeln ins Gesicht zu fahren, ist eher eine weibliche Tugend … », bemerkte Selina spöttisch.


Es wurde Zeit für Caminada herauszufinden, ob Zinsli eine Unterkunft für ihn ausfindig gemacht hatte, doch er konnte Raeto nicht erreichen. Frau Rizzi teilte ihm mit, der Chef habe einen Anruf erhalten, sei danach aus dem Büro gestürmt und habe ihr zugerufen, er sei erst morgen zurück. Schon vorher habe er sie damit beauftragt, für Caminada eine möglichst günstige Unterkunft in der Nähe des Hotels Waldhaus zu finden. Die Sekretärin betonte das «möglichst günstig» mit grösstem Vergnügen. Sie hatte gleich im «Waldhaus» angerufen und sich grossspurig mit «Rizzi, Kriminalpolizei Graubünden» vorgestellt. Der beeindruckte Concierge leitete den Anruf sofort an den Direktor weiter, und dieser bestand darauf, dem untersuchenden Beamten ein Zimmer in seinem Haus zu offerieren – natürlich mit Vollpension. Caminada bedankte sich bei Frau Rizzi für ihre raffinierte Bettelei.

Bevor er sein Zimmer bezog, wollte er beim Direktor vorsprechen und sich für dessen grosszügiges Angebot bedanken. Der Concierge erklärte ihm, dass der Chef sowieso jeden Gast persönlich begrüsse und ihn bereits erwarte. Conti führte den Kommissar zum Büro, klopfte an und bedeutete ihm mit einer leichten Verbeugung einzutreten.

Caminada bedauerte, dass er immer noch in seinem leicht abgewetzten, grauen Alltagsanzug steckte, in dem er zur Arbeit gegangen war, und fragte sich, ob der kleine Fettfleck auf der Krawatte, auf den ihn Beatrice vor ein paar Tagen aufmerksam gemacht hatte, nicht allzu offensichtlich sei.

«Guten Abend Herr … », der Direktor zögerte nur eine Sekunde. « … Caminada, wenn es mir recht ist.»

«Freut mich, Sie zu kennenzulernen, Herr Direktor, ich wollte mich herzlich bei Ihnen dafür bedanken, dass ich hier wohnen darf.»

«Keine Ursache. Es ist in unserem Interesse, dass dieser Fall so rasch als möglich geklärt wird. Ich hoffe, Herrn Brunner sei nichts Schlimmes zugestossen und Sie finden ihn bald. Er ist ein grosszügiger und treuer Kunde unseres Hauses.»

«Leider ist er tödlich verunfallt. Seine Leiche wurde heute früh auf Chasté gefunden. Ich bin soeben mit Frau Brunner von Samedan zurückgekehrt, wo sie ihren Mann identifiziert hat.»

«Mein Gott», der Direktor sank in seinen Stuhl. «Das ist furchtbar!» Seine Erschütterung war echt, doch dann gewann die Sorge um den guten Ruf des Hotels die Oberhand: «Sie sind natürlich herzlich willkommen bei uns, doch gibt es einen bestimmten Grund, weshalb Sie hier bleiben, nachdem der Vermisste bereits gefunden wurde? Sagen Sie bitte nicht, dass es sich um ein Verbrechen handelt.»

«Wir sind nicht sicher. Es gibt einen Hinweis, dass vor dem Sturz ein Handgemenge stattgefunden hat.»

«Auch das noch!», seufzte der Hotelier. «Natürlich will ich Sie nicht bei der Arbeit behindern, doch ich flehe Sie an, die Hotelgäste so wenig wie möglich zu beunruhigen. Viele von ihnen wollen am Wochenende abreisen. Falls einige von ihnen länger hier bleiben müssen, sollten Sie mir dies so rasch als möglich mitteilen – wir sind nächste Woche ausgebucht.»

«Machen Sie sich keine Sorgen. Beim jetzigen Stand der Untersuchung kann ich niemanden daran hindern abzureisen. Im Moment habe ich auch keinen konkreten Verdacht. Falls ich allerdings herausfinden sollte, dass jemand den Unfall absichtlich herbeigeführt hat, werde ich sie oder ihn freundlich einladen, mich nach Chur zu begleiten.»

«Ich hoffe, dass Sie nichts dergleichen finden! Wenn Sie erfahren wollen, mit wem Herr und Frau Brunner hier verkehrten, können Sie das Personal befragen, vielleicht auch die Musiker, die sehen alles, was im Saal vorgeht.»

Und wenn ich das Personal befrage, muss ich die Gäste weniger belästigen, ergänzte Caminada in Gedanken den Ratschlag.

«Ich selbst weiss bloss, dass Herr und Frau Brunner oft mit dem Ehepaar Iseli aus Aarau zusammensassen. Sie besitzt dort eine Apotheke, und er ist freier Schriftsteller.» Der Direktor warf einen Blick auf die Uhr. «Ich stehe natürlich jederzeit zu Ihrer Verfügung, aber jetzt möchten Sie wohl das Dîner nicht verpassen.»

Caminada fasste sich nervös an den Krawattenknopf. «Ich bin heute direkt vom Büro weggefahren und habe keine passende Kleidung bei mir.»

«Ihre Kleidung ist durchaus in Ordnung. Heutzutage putzen sich die Gäste nicht mehr heraus wie früher, und wir pflegen eine entspannte Atmosphäre.» Er machte eine kleine Pause und fügte bei: «Falls Sie sich wirklich unwohl fühlen, kann ich Ihnen eine meiner Krawatten leihen.» Dem geübten Auge war der kleine Fleck nicht entgangen.

Der Direktor hatte dem Kommissar grosszügig ein schönes Zimmer mit Sicht auf den Silsersee und zum Malojapass zur Verfügung gestellt. Nachdem er sich in der Wanne abgeduscht hatte, band sich Caminada die hellblaue Seidenkrawatte um, die ihm der Direktor geliehen hatte, und bedauerte, dass er kein Rasierzeug bei sich hatte. Zum Glück fand er im Korridor einen Automaten, womit er wenigstens die Schuhe auf Hochglanz polieren konnte. Als er aus dem Lift stieg, blieb er erstaunt stehen. Zinsli war eben dabei, sich mit einem schweren Koffer durch die Drehtür zu zwängen und blieb prompt darin stecken. Der Portier beeilte sich, den unerwarteten Gast zu befreien und ihm den Koffer abzunehmen.

«Raeto, du hier? Ich hätte dich heute Abend noch angerufen. Deinem Gepäck nach zu schliessen, bleibst du für einige Wochen.»

«Das ist nicht mein, sondern dein Koffer! Beatrice hat mich gebeten, dir einige Kleider und das Waschzeug zu bringen. Du könnest unmöglich in deinen Klamotten in einem Luxushotel wohnen und solltest dich auch rasieren und die Zähne putzen.» Zinsli grinste hämisch.

«Es tut mir leid, dass Trixli dich dazu überredet hat, diese weite Fahrt zu unternehmen. Dabei hat der Herr Direktor mir soeben versichert, mein Anzug gehe in Ordnung – und mir eine saubere Krawatte dazu geliehen.»

«Hat er dir auch die Zähne geputzt?»

Caminada ging nicht auf Zinslis Geplänkel ein. «Gut, dass du da bist und wir reden können. Bleibst du zum Essen, oder fährst du sofort wieder heim?»

«Nein, das wäre mir zu mühsam. Ich habe ein Zimmer im Hotel Edelweiss reserviert und mein Gepäck dort eingestellt. Obwohl ich nur für eine Nacht bleibe, ist der Koffer, den Gabriella mir mitgegeben hat, fast so schwer wie deiner. Aber umgezogen habe ich mich trotzdem nicht», fügte er trotzig bei.

Caminada musterte Zinslis Anzug. Auch Raeto trug sein Alltagsgewand, das allerdings seiner kleinen Körpergrösse wegen massgeschneidert war.

Im Speisesaal führte der Kellner sie, ohne mit der Wimper zu zucken, an einen für zwei Personen gedeckten Tisch. Der Informationsfluss hinter den Kulissen schien im Hotel ausgezeichnet zu funktionieren. Kaum hatten sie Platz genommen, brachte der Herr Direktor eine erlesene Flasche Rotwein an den Tisch und begrüsste den Chef der Kriminalpolizei gebührend. Beim Weggehen drehte er sich um und bemerkte: «An diesem Tisch sind übrigens auch John F. Kennedy, Clara Haskil, Carl Gustav Jung und noch einige andere Berühmtheiten gesessen – nicht gemeinsam, natürlich.»

Als der Gastgeber ausser Hörweite war, flüsterte Zinsli: «Wenn er meint, mir sei vor lauter Ehrfurcht der Appetit vergangen, so täuscht er sich gewaltig.» Zinsli nahm die Weinflasche vom Tisch und sah sich die Etikette genauer an. «Alle Achtung, ein Pauillac Château Latour, grand cru, 1955. Der Herr Direktor ist wirklich sehr grosszügig.»

Während des Essens erzählte Caminada in allen Details, was er bis jetzt in Erfahrung gebracht hatte. Dann besprachen sie das weitere Vorgehen. Zinsli schlug vor, dass Roc ihm die Namen der Leute übermittle, welche Umgang mit Brunner hatten. Er würde genauere Erkundigungen über sie einziehen, vor allem darüber, ob Interessenskonflikte zwischen ihnen und Brunners geschäftlicher Tätigkeit bestanden.

Sie sassen noch am Tisch, als die meisten andern Gäste sich bereits zurückgezogen hatten. Zinsli nippte nachdenklich an seinem Glas. «Ich frage mich zwar, ob es sich lohnt, diesen Todesfall zu untersuchen. Die paar Kratzer in Brunners Gesicht kann ich nicht wegleugnen, doch sie sind ihm anscheinend einige Zeit vor dem Sturz beigebracht worden, wie der Arzt dir gesagt hat. Somit stellen sie nicht zwingend einen Beweis dar, dass der Unfall gewaltsam herbeigeführt worden ist – und so sehr ich deine Spürnase bewundere, Roc, ich zweifle daran, ob du je herausfindest, wer Brunner das Gesicht zerkratzt hat.» Zinsli nahm andächtig einen Schluck Wein und liess ihn genüsslich auf der Zunge zerrinnen. Dann zuckte ein Lächeln um seine Mundwinkel: «Aber lass dir ruhig Zeit, wenigstens ist deine Unterkunft preiswert …»

Tod am Silsersee

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