Читать книгу Der afrikanische Janus - Duri Rungger - Страница 6

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Deble, Mörser-Statue

Senufo, Elfenbeinküste

Grassi Museum für Völkerkunde Leipzig,

Staatliche Kunstsammlungen Dresden

Die Trösterin

Der fahlblaue Himmel war wolkenlos, und nur ein feiner Dunstschleier lag über der Limmat. Es war aussergewöhnlich warm für Mitte Februar. Die Tischchen vor dem Gran Café und dem Café Rathaus waren dicht besetzt mit Leuten, die sich in der frühlingshaften Sonne räkelten.

Vorsichtig wie er war, hatte Keller bis jetzt nicht gewagt, ins Freie zu sitzen, doch heute hatte der laue Tag selbst ihn aus seiner Höhle gelockt. Höhle war zwar nicht der richtige Ausdruck für seine grosszügige Wohnung im Haus 29 an der Schipfe. Eine grosse Südterrasse über dem Anbau des Hauses gehörte zu seiner Wohnung, und er hatte sich dort seinen Arbeitsplatz eingerichtet – vorsichtshalber unter dem Sonnenschirm. Damit schützte er sich nicht nur vor schädlichen Strahlen, sondern, was für ihn noch wichtiger war, auch vor neugierigen Blicken der Touristen oder Junkies, die vom Lindenhof herunterglotzten.

Hans Keller war Endvierziger, grossgewachsen, muskulös, mit einem markanten Gesicht, kräftigen Brauen, dunkelbraunen Augen und schwarzem, kurz geschnittenem Haar, das an den Schläfen leicht angegraut war. Trotz seines guten Aussehens war er schüchtern, ausgesprochen menschenscheu und deshalb auch Junggeselle geblieben. Das hinderte ihn nicht, peinlich genau auf sein Äusseres zu achten. Sogar zu Hause trug er eine dunkelgraue, tadellos gebügelte Hose und ein weisses Hemd. Er hatte sich immerhin erlaubt, den obersten Knopf des Hemdkragens zu öffnen und die elegante Krawatte mit dezent abgestimmtem blau-violettem Balkenmuster zu lockern.

Lustlos betrachtete er den Stoss von Examensarbeiten, die er noch korrigieren musste, doch das konnte noch ein wenig warten. Er schlug die Beine übereinander und genoss die Aussicht auf die Häuserfront des Niederdorfs und das Grossmünster. Auf dem Limmatquai herrschte ein Gewühl eiliger Passanten, und Keller fragte sich amüsiert, welche Kaste dieser emsigen Ameisen es sich leisten konnte, vor aller Augen müssig im Kaffeehaus herumzusitzen.

Nun, wenn er schon an andern herumnörgelte, machte er sich besser an seine Arbeit. Mit einem Seufzer nahm er sich die Übersetzungen seiner Schüler vor. Es war ein Abschnitt aus Caesars «de bello gallico», einem Bericht über die Kriege in Gallien. Nachdem er einige Arbeiten durchgesehen hatte, lehnte er sich zurück und schüttelte unwillig den Kopf. Selbst an sich korrekte Übersetzungen waren in einem derart fehlerhaften Deutsch abgefasst, dass er versucht war, der Schule vorzuschlagen, den Lateinunterricht durch Deutsch zu ersetzen. Dann machte er eine wegwerfende Handbewegung. Das konnte ihm ja egal sein. Seine Stellvertretung an der Kantonsschule Rämibühl ging morgen zu Ende. Finanziell hatte er es nicht nötig zu arbeiten. Er übernahm solche Aufträge bloss, um sich zu zwingen, mit Leuten in Kontakt zu kommen. Der Umgang mit Jugendlichen fiel ihm leicht, und die Schüler mochten ihn, zumindest soweit er dies abschätzen konnte. Mehr Mühe hatte er mit den Lehrern. Er hatte immer den Eindruck, sie versuchten ihre Frustration und manchmal auch Eifersucht mit zuvorkommendem Geschwätz zu übertünchen. Vielleicht lag die Schuld auch an ihm – mit Erwachsenen war er nie zurechtgekommen.

Jetzt hatte er sein sich selbst auferlegtes Sozialtraining bald hinter sich. Morgen würde er die korrigierten Arbeiten verteilen, eine korrekte Übersetzung besprechen und sich verabschieden. Dann konnte er endlich wieder in Ruhe seiner Arbeit über afrikanische Kunst nachgehen. Dank seines ererbten Vermögens hatte er eine bedeutende Sammlung afrikanischer Werke anlegen können und seine geräumige Wohnung in ein wahres Museum verwandelt. Dabei hatte er keinen Aufwand gescheut. Er hatte die alte Wohnung von Grund auf renovieren, hell streichen und die Böden mit grauem Eichenparkett auslegen lassen. Die leichten, diskreten Möbel aus Stahl und hellem Leder liessen die ausgestellten Kunstwerke zur Geltung kommen. Die wertvollen Statuen standen auf eigens für sie hergestellten Glassockeln oder in Vitrinen und die Masken hingen thematisch geordnet an den Wänden. Die von einem professionellen Ausstellungsmacher installierte Beleuchtung rückte die Skulpturen ins beste Licht. Ein grosses farbiges Bild von Augusto Giacometti mit seinen frechen Farbtupfern bildete einen herrlichen Kontrast zu den nüchternen, meist dunkeln afrikanischen Figuren.

Er war stolz auf seine Sammlung und deren Präsentation. Trotzdem lud er nur selten jemanden ein, sie zu besichtigen. Höchstens einige auserlesene Kuratoren und Kulturhistoriker, seriöse Kunstkenner und bedeutende Sammler, denen er als Experte beratend zur Seite stand, bekamen diese Gelegenheit. Als Kunstliebhaber und vor allem auch als Wissenschaftler störte er sich am Umstand, dass damit seine auserlesenen und ethnographisch wichtigen Stücke der Öffentlichkeit nicht zugänglich waren. Um sein schlechtes Gewissen zu besänftigen, stellte er seine Objekte bereitwillig für Ausstellungen zur Verfügung unter der Bedingung, dass ihre Herkunft nur mit seinen Initialen, HK, bezeichnet wurde. Zudem dokumentierte er sorgfältig die rituelle Bedeutung, Herkunft und Geschichte jedes Kunstwerks und beschrieb sie in Fachzeitschriften mit künstlerisch hochstehenden Bildern, die er von einem bekannten Fotografen anfertigen liess. Daneben verfasste er ausgedehnte Studien zu ethnographischen und kunsthistorischen Themen. Auch seine Artikel signierte er bloss mit seinen Initialen. Dass dieser HK und seine Sammlung in Fachkreisen inzwischen höchst angesehen waren, erfüllte ihn mit Genugtuung. Trotzdem war ihm wichtig, dass ausser wenigen Eingeweihten niemand seinen vollen Namen, geschweige denn seine Adresse erfuhr.

Er selbst war eifriger Besucher von Ausstellungen. So hatte er kürzlich auch an der Einführung zur neuen Ausstellung «Afrikanische Meister» im Rietbergmuseum teilgenommen – und war dank einer unmöglichen Mütze und dunkler Brille glücklicherweise unerkannt geblieben. Während er die dort ausgestellten Werke bewunderte, war ihm die Idee gekommen, eine kritische Abhandlung über weniger meisterhafte Werke der Stammeskunst zu schreiben, vielleicht unter dem Titel «Clumsy Art».

Auch wenn dieser Arbeitstitel etwas provokativ klang, ging es ihm keineswegs darum, unbeholfene Darstellung anzuprangern oder einzelne Stücke abzuwerten, die ethnologisch durchaus von Bedeutung sein konnten. Ihn faszinierte vielmehr die Frage, woran es lag, dass manche, auch sorgfältig gefertigte Skulpturen nicht die geringste Ausstrahlung besassen, und andererseits auch grob ausgearbeitete Figuren stark und künstlerisch überzeugend wirkten. Diese Frage galt ja für alle Bereiche der Kunst, aber bei der Stammeskunst konnte dieser Aspekt offener behandelt werden. Kaum einer würde es wagen, gewisse Werke hochgehandelter Künstler als Bluff oder Pfusch zu bezeichnen – wenigstens nicht in einem gedruckten Artikel. Die afrikanischen Künstler hingegen waren, mit wenigen Ausnahmen, nicht namentlich bekannt, und so konnte es auch nicht zu einem Kult unantastbarer Halbgötter kommen. Man konnte sie auch nicht beleidigen – höchstens die Besitzer der Werke.

Die Sonne war hinter dem Schirm hervorgekommen und schien ihm ins Gesicht. Das weckte ihn aus seinen Überlegungen. Er rückte seinen Stuhl in den Schatten und machte sich daran, die letzte Examensarbeit zu lesen. Plötzlich lachte er laut auf. Eine derart hübsche Übersetzung hatte er noch nie gesehen! Der trinkfeste Studer hatte «ut Germanis metum iniceret» seinen Neigungen entsprechend statt mit «um den Germanen Angst einzujagen» mit «um den Germanen Bier einzuflössen» übersetzt. Wenn man berücksichtigte, dass für Studer Bier ein Göttergetränk war, so war das gar nicht so falsch.

Befriedigt lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und blinzelte in die Frühlingssonne. Studers geniale Fehlübersetzung hatte ihn aufgeheitert, und er verspürte ausnahmsweise Lust spazieren zu gehen. Sonst ging er tagsüber nur aus dem Hause, wenn er eine wichtige Besorgung zu erledigen hatte. Er brach sofort auf, bevor er auf seinen Entschluss zurückkommen konnte. Vor dem Haus blieb er an der Ufermauer der Limmat stehen und warf den Lachmöwen Brotstückchen zu. Die Köpfe der Männchen waren schon schwarz gefärbt – der Frühling war da.

Nachdem er die letzten Krümel verfüttert hatte, ging er flussaufwärts. Er wollte dem See entlang bis zum Zürihorn spazieren. Schon auf der Rathausbrücke bereute er seine Waghalsigkeit. Die Sonne hatte anscheinend alle Mütter Zürichs ins Freie gelockt, die nicht zur Arbeit mussten, und das waren erstaunlich viele. Die zahlreichen Steinbänke auf der Rathausbrücke waren dicht besetzt mit schwatzenden Frauen, die Unmengen an Nahrung und riesige Flaschen mit Süssgetränken mitgeschleppt hatten – was es für eine Expedition mit dem Nachwuchs eben so braucht. Einige Mütter schaukelten ihren Kinderwagen derart heftig, dass HK befürchtete, die armen Babys könnten einen Hirnschaden davontragen. Die grösseren Kinder tollten auf der verkehrsfreien Brücke herum. Keller war erstaunt, wie viele Kinder es in Zürich gab und – entgegen anderslautender Zeitungsberichte – offensichtlich nicht allesamt mit Ritalin ruhiggestellt wurden. Das übermütige Geschrei der Rangen störte ihn nicht. Er liebte Kinder und bedauerte, keine zu kennen. Was ihn beängstigte, war das Gedränge um ihn herum. Er hatte schon immer Mühe, sich in grössere Ansammlungen von Leuten zu mischen, und der Anblick der Kolosse, die in enge Trikots gestopft ihre Speckbäuche und andere Wülste zur Schau stellten, war ihm zuwider. Er musste sich zwingen nicht umzukehren. Mit zusammengekniffenen Augen überquerte er die Brücke, doch plötzlich stockte sein Schritt. Aus der Marktgasse kam ein dicklicher Mann mit flatternder, grauer Halsschlinge gerannt und winkte ihm zu. Er trug eine tomatenrote Manchesterhose und eine Fliegerjacke aus einem Armee-Outlet, die seinen Schmerbauch unbarmherzig zur Geltung brachte. Keller tat, als ob er ihn nicht bemerkt hätte, drehte sich um und wollte sich aus dem Staub machen, doch es war zu spät. Der Kerl setzte ihm nach, holte ihn rasch ein und klopfte ihm begeistert auf die Schulter. «Hoi, Jack! Ich habe gehört, dass du in Zürich wohnst, dich aber über alle die Jahre nie angetroffen. Was treibst du immer?»

«Darf ich fragen, mit wem ich es zu tun habe, ich kenne Sie leider nicht.»

«Stell dich nicht so an! Ich bin Claudio, dein Klassenkollege von Chur.»

«Tut mir leid, ich heisse Hans und bin meines Wissens nie in Chur zur Schule gegangen. Sie müssen mich mit jemandem verwechseln.» Trotz dieser korrekten Antwort war Keller nahe daran, die Fassung zu verlieren. Sein Gegenüber entsprach seinem Feindbild Nummer Eins: dicklich und klobig, aufgedunsenes Gesicht, Knollennase, wulstige Lippen und eine polternde Art zu sprechen! Jedes Mal, wenn er diesem Typus von Mensch begegnete, empfand er eine unerklärliche Abneigung. Es gab noch einen zweiten Menschenschlag, den er nicht ertragen konnte: kleingewachsen, knochig, scharfe Gesichtszüge, griesgrämige Miene und schneidende Stimme. Er hatte keine Ahnung, woher diese Aversionen stammten, denn er hatte noch nie bewusst schlechte Erfahrungen mit solchen Leuten gemacht. Trotzdem musste er sich zurückhalten, um den lästigen Kerl nicht von sich zu stossen.

Dieser starrte ihn immer noch erstaunt an, fühlte aber, dass er besser nicht weiter insistierte. «Tut mir leid. Es ist immerhin eine Ewigkeit her, seit ich Jack das letzte Mal gesehen habe, und als Churer würde er kaum einen so ausgeprägten Zürcher Dialekt sprechen wie Sie. Ich muss mich getäuscht haben. Aber die Ähnlichkeit …»

Keller winkte begütigend ab und liess ihn stehen. Die Lust am Ausflug war ihm gründlich vergangen. Er hastete nach Hause. Dort konnte er sich durch einen Sprung in die Wohnung noch knapp vor der honigsüssen, geschwätzigen Nachbarin vom oberen Stock retten, die ihm sonst brühwarm die Untaten der andern Hausbewohner aufgetischt hätte. Erschöpft lehnte er sich mit dem Rücken an die Wohnungstüre und beschloss, heute auf den üblichen Abendspaziergang zu verzichten.


«Hei Jack, sieht man dich endlich auch wieder einmal?» Peter Weber hatte seinen Freund sofort erkannt, als er aus der Dreikönigstrasse in die Beethovenstrasse einbog. Mit seinem hellem Kamelhaar-Jackett und einem lose um den Hals geschwungenem, beigen Schal mit unregelmässig angeordneten orangen Tupfern stach der grossgewachsene, sportliche Mann aus der dunkel gekleideten Prozession der Tonhalle-Besucher heraus. Mit federnden Schritten schlängelte er sich zwischen den Autos durch, die auf der Suche nach einem Parkplatz die Strasse verstopften.

Der Ausruf hatte die andern Gäste der Onyx-Bar, die dichtgedrängt unter dem Vordach des Hyatt Hotels an den Apéro-Tischchen standen und am obligaten Cüpli nippten, auf den Neuankömmling aufmerksam gemacht. Jack war oft hier anzutreffen, und viele der Stammgäste schätzten seine unterhaltsame Art und lächelten ihm zu. Bei andern, die wohl Opfer seiner spitzen Zunge geworden waren, wirkte das Lächeln gezwungen.

Jack klopfte seinem Freund auf die Schulter: «Schön dich zu sehen, Peter! Ich war lange weg. Paris, London, New York … ich kann dir beim besten Willen nicht alle Städte aufzählen, in denen ich übernachtet habe – und keine Zeit zum Flanieren hatte.»

«Tagsüber vielleicht, aber ich nehme an, das Nachtleben hast du nicht verpasst.»

«Das kommt ganz darauf an, was man unter Nachtleben versteht. Jede Galerie, die etwas auf sich hält, organisiert an den Vorabenden der grossen Auktionen eine Vernissage mit Champagner und kleinen Häppchen. Jeder, der gesehen werden will, geht hin. It’s a must! Und so habe ich eben meine Abende damit verbracht, mit diesen ach so wichtigen Leuten zu diskutieren.»

Jack bat mit einer Handbewegung um Geduld und hielt die vorbeieilende Serviererin am Ärmel zurück. «Das Übliche, bitte, Irina.» Er war gespannt, ob die aparte Russin mit den grossen Ohrringen und dem verführerischen Lächeln sich nach seiner langen Abwesenheit noch erinnern konnte, welches Getränk er bevorzugte. Kennen sollte sie ihn noch, immerhin hatten sie einmal zusammen geschlafen.

«Taliskerrrr sec, ohne Eis.» Zumindest ihr gastronomisches Gedächtnis war fabelhaft – und sie rollte das R noch schöner als die Schotten.

Jack nickte anerkennend. Dann wandte er sich wieder Peter zu. «Nach diesen Anlässen bleibt weder genügend Zeit noch Kraft für eine Verlängerung!»

«Wenn du meinst, ich glaube dir das …» Peter wechselte das Thema. «Schade, dass du so lange weg warst. Du hättest sicher auch gegen diese katastrophale, als Umweltschutz getarnte fremdenfeindliche Einwanderungs-Initiative gestimmt.»

«Moment, welche Initiative?» Jack zog verunsichert an seiner Zigarette. Er interessierte sich wenig für Politik und beteiligte sich nur selten an Abstimmungen. Dann ging ihm ein Licht auf. «Natürlich, die mit den Apfelbäumchen! Wahrscheinlich haben die meisten Leute vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr gesehen. Das Traurige daran ist, dass man heute mit Hasspropaganda eine Mehrheit für oder eher gegen alles mobilisieren kann. Ich bin bloss erstaunt, dass Leute, die sonst prinzipiell gegen alles sind, imstande waren, Ja zu stimmen.»

«Ich mache mir Sorgen. Fast die ganze Produktion meines kleinen Betriebs ist für den Export bestimmt.»

«Ich hoffe das Beste für dich! Den Hetzpredigern würde ich allerdings von Herzen gönnen, wenn sie auch etwas von dem Schlamassel abbekämen, das sie angerichtet haben … aber ich bin noch gar nicht dazu gekommen, meinen Whisky zu trinken!» Jack hob sein Glas und stiess mit Peter an.

Wie üblich hatte er ungeniert und laut geredet. Sein Churer Dialekt schien nicht allen zu gefallen. Jedenfalls schossen ihm zwei ältere Herren vom Nebentisch giftige Blicke zu und hätten sich wohl ins Gespräch gemischt, wenn Jack nicht sein Glas erhoben und ihnen lächelnd zugeprostet hätte: «Auf Ihre Exportgeschäfte!»

«Hast du gestern die Diskussion am Fernsehen über die möglichen Auswirkungen dieser Abstimmung mitgehört …», versuchte Peter das Thema wieder aufzunehmen.

«Fernsehen? Hör mir bitte mit dieser Volksverdummungsanstalt auf.» Jack machte eine wegwerfende Handbewegung. «Die Unterhaltungssendungen mit ihren exaltierten Selbstdarstellern kannst du sowieso vergessen. Die haben offensichtlich den Regisseur einer Schmierenkomödie dritter Klasse engagiert!» Das Thema erregte Jack und er fuhr hitzig fort: «Anscheinend ist jetzt auch noch ein besonders intelligenter Sprachlehrer für die Moderatoren am Werk. Immer mehr von ihnen imitieren ihre blöden deutschen Kollegen und sagen jetzt ‘Diskusion’ und ‘Branje’, nur ‘Schiasso’ haben sie noch nicht gewagt.»

Weiter kam der Spötter nicht. Ein riesiger Kerl hatte ihn am Kragen gepackt. «Hab ich was von blöden Deutschen gehört?»

Jack hing in seinem Jackett und berührte den Boden nur noch mit den Zehenspitzen. Er versuchte ruhig zu bleiben: «Richtig, aber Sie haben nicht alles mitbekommen. Ich habe ‘blöde deutsche Kollegen’ gesagt, und meinte erst noch die vom Fernsehen.»

«Na, da sind wir uns ja einig. Nichts für ungut. Trinken wir ein Bier zusammen?» Trotz des Friedensangebots liess er seinen Griff noch nicht los. Immerhin stellte er Jack wieder auf die Füsse.

Dieser hatte keine Lust, sich mit dem Riesen zu schlagen, doch das schadenfrohe Lächeln einiger Anwesender konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Mit beiden Händen packte er das Handgelenk in seinem Nacken, duckte sich und drehte sich halb um die eigene Achse. Dann zog er den Arm des Gegners hinter dessen Rücken hoch, bis dieser vornübergebeugt vor ihm stand.

Das Gerangel hatte einiges Aufsehen erregt, und Jack beeilte sich, es zu einem guten Ende zu bringen. «Ich trinke gerne ein Glas mit Ihnen, aber nur wenn ich bezahlen darf.»

«Sie haben eine unwiderstehliche Art, Leute einzuladen.»


Keller stand in seinem Wohnzimmer vor einer zierlichen Deble-Statue, einer stehenden, völlig in sich gekehrten, mädchenhaften Figur mit vorgeschobenen Lippen, welche mit weit geöffneten Augen ins Leere starrte. Für ihn war sie das perfekte Abbild einer jungen Frau, die Schweres erlebt hat. Der erhobene Kopf und die aufrechte Haltung deuteten jedoch an, dass sie sich nicht aufgegeben hatte. Bei den Senufo im Norden der Elfenbeinküste wird diese Statue bei Beerdigungen gebraucht, um die Erde fest zu stampfen, damit der Geist des Toten nicht zurückkehren kann und gezwungenermassen ins Totenreich wandert. Die schöne Tochter des Geheimbundes, wie die Figur auch genannt wurde, kümmerte sich zudem um die Burschen während der schweren Initiationszeit und tröstete sie.

Er lächelte bei der Erinnerung an den Tag, an dem er die Statue von einer Auktion in Paris heimgebracht und seiner Putzfrau, Frau Petrovic, gezeigt hatte. Mit Entsetzen hatte sie die Figur als «nackte Madonna» bezeichnet und sich vor Schreck über ihre Ketzerei dreimal bekreuzigt. Seither war diese Statue für ihn seine «Mater dolorosa», bei der er in stummem Zwiegespräch Zuflucht und Trost suchte, wenn er sich einsam und verzweifelt fühlte.

Heute brauchte er keinen Trost und riss sich rasch von ihrem Anblick los. Vor ein paar Tagen hatte er mit den Vorarbeiten für seine geplante Studie über die unterschiedliche Aussagekraft afrikanischer Skulpturen angefangen und brannte darauf, damit weiterzufahren. Er hatte bereits einige Skulpturen ein und desselben Stammes gefunden, die dieselbe rituelle Funktion hatten und dennoch eine sehr unterschiedliche künstlerische Qualität aufwiesen. Selbst in angesehenen Sammlungen und Museen fanden sich Skulpturen, die alt und ethnographisch wichtig und doch völlig ausdruckslos waren.

Das war nicht weiter erstaunlich. Nicht jeder Bauer hatte die Mittel, einem bekannten Schnitzer viel Geld für ein Kunstwerk für den Hausaltar in seiner bescheidenen Hütte oder eine Maske fürs Erntedankfest zu bezahlen – und vielleicht gab sich der Künstler entsprechend weniger Mühe. Bei manchen Stämmen zwangen Geister gewöhnliche Dorfbewohner, eine Statue herzustellen. Die «Berufenen» machten sich gezwungenermassen an die ihnen auferlegte Aufgabe, auch wenn sie unbegabt waren. Zudem mochte eine Figur den rituellen Ansprüchen genügen, ohne schön oder teuer zu sein. Die Anforderungen konnten sehr bescheiden sein. Beim Stamm der Lobi galt eine Statue bereits als gut, wenn sie auf dem Hausaltar nicht umfiel – und trotzdem fanden sich dort viele aussergewöhnlich ausdrucksstarke Skulpturen.

Gestern hatte er besonders schlagende Beispiele mit zwei Meisterwerken und entsprechenden, schwachen Gegenstücken gefunden, deren Abbildungen auf seinem Scanner kopiert und in seinem Computer gespeichert. Das Dossier wollte er sich jetzt nochmals genauer ansehen. Er holte seinen Laptop und öffnete das Dokument. Dann stockte sein Atem: Lobi4.docx, last modified March 3, 2014, 17:36 – heute war der zehnte! Seine Uhr und der Computer waren sich darin einig.

Keller stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub den Kopf in die Hände. Er versuchte, sich zu erinnern, wie er die verlorene Woche verbracht hatte – nichts! Es war, als ob er in ein schwarzes Loch starrte. Er konnte sich genau erinnern, wie er gestern – oder vor einer Woche – nach einem bescheidenen Imbiss überlegt hatte, ob er einen Abendspaziergang unternehmen sollte. Dann musste er eingeschlafen sein. Vielleicht war er im Halbschlaf ins Bett gekrochen und hatte sieben Tage durchgeschlafen. Das war zwar nicht wahrscheinlich, aber die einzige Erklärung, die ihm einfallen wollte.

Schon früher hatte er derartige Absenzen erlebt – oder vielmehr nicht erlebt. Meistens erstreckten sie sich bloss über einen oder zwei Abende. Nein, wenn er ehrlich war, fehlten manchmal auch ganze Tage. Irgendwie hatte er solche Episoden jeweils verdrängen können. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als es auch diesmal wieder zu versuchen.

Er fuhr auf. Beim Rasieren heute früh hatte er den Eindruck erhalten, sein Gesicht sei gebräunt. Er hatte angenommen, sein langes Verweilen auf der Terrasse habe seine Winterblässe vertrieben, obwohl er meistens unter dem Sonnenschirm gesessen war. Zudem hatte ihm der Elektriker versichert, die neue Beleuchtung im Badezimmer schmeichle dem Teint. Damit hatte er die Sache abgetan. Im Hinblick auf die entdeckte Zeitlücke wurde diese Erklärung weniger stichhaltig. Er versuchte sich vorzustellen, er sei in die Berge gefahren und habe vor einem Panorama weisser Bergketten auf einer Sonnenterrasse in einem bequemen Korbsessel ein Glas Weisswein getrunken. So sehr er sich auch Mühe gab, gelang es ihm nicht, sich davon zu überzeugen, dies wirklich erlebt zu haben. Keller rang nach Atem. Er musste aus seinen vier Wänden hinaus und sich irgendwie ablenken.

Mit eingezogenen Schultern hastete er über die Rathausbrücke in der Hoffnung, von keinem rotbehosten Kampfpiloten mit Schmerbauch belästigt zu werden. Nichts dergleichen geschah und er schlenderte etwas entspannter die Storchengasse hinauf und sah sich die Auslagen der Boutiquen an. Im Café Presse Club am Münsterhof waren alle Tische besetzt, und er ging weiter zum Hotel Metropol. Dort war das Bistro fast leer. So wagte er es einzutreten, wählte einen kleinen Tisch, machte es sich auf dem braunen Sofa bequem und hoffte, dass sich innerhalb der nächsten Stunde ein Kellner zu ihm verirren würde. Zu seinem Erstaunen wurde er sofort bedient.

Vorsichtig nippte er an seinem Riesling-Silvaner und versuchte vergeblich, seinen Schreck zu vergessen. Er nahm die NZZ vom Nebentisch und blätterte darin. Er las sonst ziemlich regelmässig die zahlreichen Zeitungen, die im «Presse Club» auflagen. So war ihm der Volksaufstand in der Ukraine nicht neu, doch während seiner «Abwesenheit» war einiges geschehen. Die pro-westlichen Aufständischen hatten sich durchgesetzt und forderten bereits das Verbot der russischen Sprache, was die Westmächte anscheinend nicht störte – wenn sie bloss ein weiteres Gebiet der ehemaligen Sowjetunion unter ihren Einfluss bringen konnten. Im Gegenzug benutzten die Russen dies als Ausrede, sich die Krim unter den Nagel zu reissen. Angewidert drehte er die Seite um. Das Geläster zweier Politiker über unverantwortliche Kolleginnen, die landesverräterisch gegen den Kauf des neuen Kampfjets Gripen auftraten, war auch nicht geeignet seine Stimmung aufzuhellen.

Entmutigt schmiss er das Blatt auf den Tisch, nippte an seinem Glas und dämmerte vor sich hin, bis eine ältere Dame und ihr bedeutend jüngerer Begleiter am Tisch gegenüber Platz nahmen. Er konnte nicht umhin, sie ein wenig zu beobachten. Das waren bestimmt Mutter und Sohn. Diese Annahme bestätigte sich, als der junge Mann die gebrechliche Dame mit Mami ansprach. Das hatte Seltenheitswert: Sohn führt seine Mutter in den Ausgang, ohne andauernd am Handy zu hängen. Er selbst hatte nicht die geringste Erinnerung an seine Kindheit. Seine Eltern hatte er nie gekannt. Er wusste bloss aus den Unterlagen zur Erbschaft, dass seine verwitwete Mutter ihm ein beträchtliches Vermögen hinterlassen hatte. Seine ganze Jugend war einem Filmriss zum Opfer gefallen. Was hiess da Riss? Die ganze Filmrolle war abhandengekommen.

Seine erste Erinnerung war, wie er in einer Vorlesung an der Universität sass, als ob der Storch ihn soeben dort abgesetzt hätte. Von da an hatte er eifrig studiert, sich kaum eine Abwechslung gegönnt und in Rekordzeit sein Doktorat in Kunstgeschichte gemacht. Um alte Inschriften lesen zu können, hatte er Latein als Nebenfach gewählt, was ihm jetzt erlaubte, gelegentlich an Mittelschulen zu unterrichten. Die Klassik hatte ihn jedoch wenig fasziniert. Sein Hauptinteresse galt von Anfang an der Stammeskunst, besonders der afrikanischen. Er verbrachte die ganze Freizeit in den Sammlungen des völkerkundlichen Museums der Uni, im Museum Rietberg, in Bibliotheken und besuchte Ausstellungen in der Schweiz und den umliegenden Ländern. Für diese Periode konnte er sich an alles lückenlos erinnern.

«Leider nicht alles …», knurrte er vor sich hin, «denk an die schwarzen Löcher.» Schon während der Studienzeit hatte er Momente von Abwesenheiten erlebt, die ein paar Stunden, manchmal auch Tage dauern konnten. Einmal hatte er eine Prüfung verpasst und nie herausgefunden weshalb. Es ging um eines seiner Lieblingsfächer, und er war gut vorbereitet. Der verständige Professor hatte ihm freundlicherweise einen andern Termin gegeben, und er hatte glänzend bestanden. Genau genommen fehlten ihm an den meisten Tagen ein paar Stunden, doch längere Lücken waren mit der Zeit selten geworden. Deshalb hatte er auf den jetzigen Aussetzer so panisch reagiert.

Er versuchte sich abzulenken. Auf einem Sofa schräg vis-à-vis sass eine prächtig aufgemachte Dame in modisch vielschichtiger Kleidung. Das mit glitzernden Fäden durchzogene Jäckchen passte zu ihrem silbergrauen, eng anliegenden Rock. Ihr platinblondes, gestrecktes Haar war in der Mitte gescheitelt. Sie konnte sehr wohl Besitzerin einer der teuren Boutiquen im Quartier sein, die sahen sich alle ähnlich. Ein kleiner Schosshund sass neben seiner Herrin, stützte seine Pfoten auf ihrem üppigen Busen ab und schnappte Häppchen eines Kuchens von ihren aufgespritzten Lippen. Es war zum … Austrinken und Gehen!

Kaum hatte er das Glas an die Lippen gesetzt, erstarrte er. Vorgestern hatte er die letzte Stunde seines Unterrichts ausgelassen! Er schnappte verzweifelt nach Luft und zog damit die Aufmerksamkeit seiner Nachbarin auf sich. Sie starrte ihn zuerst fragend an, doch dann schien sie ihn zu erkennen und winkte ihm freudig zu. Er stand hastig auf, bedeutete ihr mit einer beschwichtigenden Geste, dass er in Eile sei, und schickte sich an zu gehen.

Da hörte er neben sich eine Stimme: «Eliane? Ich habe dich zuerst gar nicht gekannt – es ist ja auch schon lange her …» Unter der Türe drehte er sich nochmals um und sah, wie ein Mann in seinem Alter sich an den Tisch der blonden Dame setzte. Keller war erleichtert. Ihre Aufmerksamkeit hatte nicht ihm gegolten.


Jack sass an einem der ovalen Tische mit marmoriertem Steinsockel in der Onyx-Bar, und stürzte ein Bitter Lemon hinunter. Die vergangene Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen, und zum Ausgleich hatte er am Nachmittag drei Stunden im Fitness-Club trainiert. Jetzt war er völlig geschafft. Als er das Glas vorsichtig auf der Glasplatte absetzte, bemerkte er die hinreissende Rothaarige, die schräg gegenüber an einem andern Tisch sass. Vor der schwarzen Wand im Hintergrund leuchtete ihr krauses Haar im Licht der Deckenspots wie ein roter Lampion – ein faszinierendes Bild! Jack beobachtete sie eingehend. Ende dreissig, feines Gesicht, elegante Kleidung und sicheres Auftreten, wahrscheinlich eine Geschäftsfrau, die im Hyatt übernachtete. Er hatte schon einige nette Abende mit einsamen Damen verbracht, die er hier aufgegabelt hatte, und diese gefiel ihm besonders. Nach der vergangenen Nacht brauchte er zwar dringend etwas Ruhe, aber in diesem Fall wollte er nicht klein beigeben. Er versuchte, Blickkontakt mit der Schönen aufzunehmen, doch sie schaute teilnahmslos durch ihn hindurch und schenkte ihm keine Beachtung. Das würde er schon noch hinbekommen.

«Herr äh … auch wieder einmal in Zürich? Das trifft sich gut. Ich muss Sie etwas fragen.» Jack hatte Mühe, seine Augen von der roten Verlockung loszureissen und wandte sich unmutig dem Störenfried zu. Robert Schnyder, gepflegt, in tadellosem anthrazitfarbenem Anzug hätte ebenso gut Banker sein können, führte jedoch die exklusive Galerie Flair an der Talstrasse und kam öfters allein oder mit wichtigen Kunden auf einen Drink im «Onyx» vorbei. Jack kannte ihn flüchtig von solchen Gelegenheiten. Umso mehr interessierte ihn, was der Kunsthändler von ihm wollte.

Dieser kam auch gleich zur Sache. «Entschuldigung, wenn ich Sie so unverblümt frage. Sie sind doch HK, der bekannte Experte für afrikanische Kunst? Ich hätte eine grosse Bitte an Sie.»

Jack antwortete vorsichtig: «Sie irren sich, ich bin nicht der, den sie meinen.»

Schnyder runzelte die Stirn. «Seltsam. Ich war kürzlich in London und habe zufällig bei einer Auktion afrikanischer Kunst hineingeschaut und gesehen, wie Sie gegen harte Konkurrenz eine Skulptur ersteigert haben. Ein Bekannter hat mir zugeflüstert, Sie seien der Kunsthistoriker, der Artikel in den einschlägigen Journalen schreibe und oft mit Beispielen aus der eigenen, grossartigen Sammlung illustriere, wünschten jedoch anonym zu bleiben und unterzeichneten deshalb bloss mit dem Kürzel HK. War diese Information falsch? »

«Teilweise. Ich war an dieser Auktion, aber leider bin ich nicht HK. Ich kenne seine Sammlung sehr gut und hätte nichts dagegen, wenn sie mir gehörte! HK ist menschenscheu und will nicht in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten. Deshalb schickt er mich manchmal an seiner Stelle auf Auktionen mit Angaben, bei welchem Angebot ich bis zu welchem Preis mitbieten soll.»

Damit schien die Sache abgetan, und Jack sah sich wieder nach der Rothaarigen um. Zu seinem Erstaunen lächelte sie ihn – oder vielleicht seinen Gesprächspartner – strahlend an. Bevor er reagieren konnte, hob Schnyder die Hand und winkte ihr zu. «Meine Frau ist bereits hier, früher als abgemacht. Ich werde Sie nachher bekannt machen. Zuvor möchte ich doch noch mein Anliegen vorbringen.»

Für Jack hatte der Galerist dank seiner Gemahlin gewaltig an Interesse gewonnen, und er schenkte ihm volle Aufmerksamkeit.

«Eine Erbengemeinschaft hat mich angefragt, ob ich den Verkauf der bedeutenden Sammlung Gerster in Kommission nehmen würde. Sie haben diesen kürzlich verstorbenen Industriellen sicher auch gekannt. Seine Gemäldesammlung ist weltbekannt: Braque, Picasso, Jawlensky, alles, was in dieser Zeit Rang und Namen hat – das Ganze ist x Millionen wert. So eine Chance bekommt man nur einmal im Leben. Ein solcher Auftrag würde unserer Galerie gewaltigen Auftrieb verleihen. Ich kenne mich da aus und habe einige Kunden, die sich um die Werke reissen würden. Der Haken ist bloss, dass auch eine Sammlung afrikanischer Kunst zum Nachlass gehört und die Erben der Einfachheit halber alles an denselben Agenten übergeben wollen. Von primitiver Kunst verstehe ich leider nichts. Ich weiss nicht einmal, ob der Ausdruck primitive Kunst politisch korrekt ist – sollte ich besser Stammeskunst sagen?»

Jack zuckte bloss die Schultern. Er hielt nichts von politischer Korrektheit. Nach seiner Erfahrung bemühten sich vor allem Leute um political correctness, die rassistische oder anderswie voreingenommene Ansichten vertuschen wollten.

Schnyder zögerte kurz, dann kam er auf sein Anliegen zurück: «Ich hoffe, Sie können mir helfen. Verraten Sie mir, wie dieser HK mit vollem Namen heisst und wie ich ihn erreichen kann. Ich würde mich sehr erkenntlich zeigen». Das «sehr» war vielversprechend in die Länge gezogen.

Jack zuckte bedauernd die Schultern. «Bedaure, ich habe dem Herrn geschworen, seine Identität zu wahren.» Als er das enttäuschte Gesicht seines Gegenübers sah, fügte er bei: «Vielleicht kann ich Ihnen trotzdem helfen. Ich kenne mich in der Branche selbst gut aus. HK und ich haben zusammen studiert und wir sind befreundet, soweit dieser Eigenbrötler überhaupt Freundschaft schliesst. Alles, was ich über Stammeskunst weiss, habe ich von ihm gelernt. Als sein gelegentlicher Agent kenne ich seine Sammlung und die Kriterien für seine Ankäufe sehr gut. Ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis und bin dank meinem Kontakt mit ihm selbst zum Kenner geworden. Seit Jahren beschäftige ich mich als Experte für afrikanische Kunst bei Auktionshäusern, berate Kunsthändler und vertrete Kunden an Auktionen – manchmal auch HK.»

Schnyder nickte anerkennend, und Jack machte ihm einen Vorschlag: «Wenn Sie möchten, kann ich den Nachlass sichten und einschätzen. Um die Erben zu beruhigen, kann ich danach HK bitten, meine Bewertung zu überprüfen. Die wertvollsten oder eventuelle zweifelhafte Stücke müsste ich ihm allerdings mitbringen. Eine genaue Beurteilung auf Grund von Bildern ist nicht möglich. Er wird mir diesen Gefallen bestimmt tun, nur braucht das Vorgehen etwas mehr Zeit.»

Der Kunsthändler machte Anstalten, ihn zu umarmen, beschränkte sich jedoch darauf, ihn an den Schultern zu packen und kräftig zu schütteln. «Zeit spielt keine grosse Rolle! Ihr Vorschlag ist genial. Das müssen wir begiessen, natürlich zusammen mit Lucie – gehen wir zu ihr.»

Jack verzichtete darauf nachzufragen, ob Frau Schnyder manchmal in der Galerie anzutreffen sei. Er hatte sich soeben die Gelegenheit verschafft, dies in Ruhe selbst herauszufinden.


Keller sass vor seinem Computer und seufzte. Er hatte den Eindruck, er sei seit Tagen mit seiner Arbeit nicht vorangekommen, wagte es aber nicht, das Datum der letzten Bearbeitung nachzusehen. Der Schock vom letzten Mal sass noch zu tief.

Er fuhr hoch, als er hörte, wie jemand die Wohnungstüre aufschloss. Dann beruhigte er sich. Das musste die Putzfrau sein. Nur sie besass einen Schlüssel. War heute wirklich schon wieder Donnerstag?

«Gutes Morrgen, Herr Keller!» Die rassige, schwarzhaarige Frau legte die Post vor ihm auf den Tisch.

«Guten Morgen, Frau Petrovic!» Keller begann den beachtlichen Stapel von Briefen durchzusehen. Wann hatte er das letzte Mal den Briefkasten geleert? Dann sah er fragend auf. Marjana war vor ihm stehen geblieben, anstatt sich wie gewöhnlich diskret zurückzuziehen und mit der Arbeit zu beginnen. «Ist noch was?»

«Waren schöne Ferien? Letztes Mal Sie nicht zuhause, Bett nicht gebraucht, darum ich Wäsche nicht gewechselt. Recht so?»

«Äh … bestens! Ja, ich war ein paar Tage im äh … in den Bergen. Es war sehr schön.»

«Gut! Sind auch braun geworden. Ferien gut!» Damit entschwand die besorgte Fee im Korridor und nach kurzem Rumpeln im Besenschrank begann der Staubsauger zu summen.

Keller nahm den nächsten Brief in die Hand. Absender: Rektorat Kantonsschule Rämibühl. Er schoss hoch. Hatte er die verdammten Übersetzungen überhaupt abgeliefert? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Hastig riss er den Umschlag auf und las den Brief quer durch:

Sehr geehrterdie korrigierten Arbeiten mit einiger Verspätung und ohne Kommentar (!) beim Hauswart hinterlegt habender Klassenlehrer endlich der Klasse die Noten mittteilen konnteFalls ihr Versäumnis auf eine Erkrankung zurückzuführen warohne jegliche Entschuldigung inakzeptabel!sehen wir uns gezwungen, auf eine weitere Zusammenarbeit mit Ihnen zu verzichten und Sie nicht mehr als Stellvertreter zu beschäftigenMit vorzügl…

Keller war ziemlich sicher, dass er die Arbeiten nicht selbst zur Schule gebracht hatte. Nachdem ihm im «Metropol» in den Sinn gekommen war, dass er seine letzte Unterrichtsstunde versäumt hatte, wollte er sie unverzüglich abliefern, doch das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war die platinblonde Bombe mit Schosshündchen. Er versuchte, logisch zu denken. Wenn er selbst in der Schule vorbeigegangen wäre, hätte er die Korrekturen dem Klassenlehrer persönlich gebracht und sich gehörig entschuldigt. Nein, jemand anders musste das während seiner Abwesenheit für ihn besorgt haben – aber wer?

Wie immer, wenn er eine Krise zu bewältigen hatte, setzte er sich zu seiner Trösterin, um wieder zu sich zu finden. Plötzlich schlug er sich vor die Stirn. Natürlich, Frau Petrovic! Sie hatte wahrscheinlich am Donnerstag die vergessenen Arbeiten auf dem Tisch vorgefunden und zur Schule gebracht. Auf dem Blatt, auf dem er die Noten eingeschrieben hatte, stand ja die Adresse der Schule.

Heute würde er die pfiffige Marjana mit einem grosszügigen Zuschuss für ihre Initiative belohnen. Langsam beruhigte sich Keller. Die von der Schule ausgesprochene Kündigung war eine Erleichterung für ihn. Er wollte sich schon lange aus der Liste der möglichen Stellvertreter streichen lassen, und hatte dies nur unterlassen, weil er sich zu einem Minimum an Sozialkontakt zwingen wollte. Jetzt war er endlich davon befreit. Plötzlich hatte er Lust zu arbeiten. Er ordnete seine Notizen und setzte sich an den Computer. Das Schreiben ging wie von selbst. Er klapperte munter auf der Tastatur herum und liess sich nicht einmal von Frau Petrovic stören, die mit Zeitungspapier quietschend die Fenster nachpolierte.

«Fertig, brauchen Sie noch etwas?»

Keller gab ihr den Umschlag, den er inzwischen vorbereitet hatte. «Das ist für heute und letzten Donnerstag und dann bezahle ich Ihnen auch gleich einen Monat im Voraus. Wahrscheinlich muss ich nächstens wieder auf Reisen.» Er zögerte, bevor er unsicher beifügte: «Das kleine Extra ist für Ihre Zuverlässigkeit.» Er unterliess es, ihr zu erklären, weshalb er diese beachtliche Summe draufgelegt hatte. Er fürchtete, sie würde ihm sonst empört versichern, sie nehme bestimmt nie etwas ungefragt von seinem Tisch, habe keinem Herrn Rämibühl etwas gebracht und wisse nicht einmal, wer das sei.

Die Putzfrau genierte sich nicht, den Inhalt vor seinen Augen zu begutachten. «Das aber sehr grosses Extra! Danke schön, und können Sie immer auf mich verlassen.» Sie schenkte ihm ein reizendes Lächeln. Er sah ihr nach, wie sie mit geschmeidigen Schritten zur Türe ging. Als sie verschwunden war, empfand er ein seltsames Gefühl in der Magengrube, eine leise Sehnsucht.

Der afrikanische Janus

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