Читать книгу Vom Hohen und Tiefen und dem Taumel dazwischen - E. K. Busch - Страница 6
II
ОглавлениеSie verabschiedete sich mit einer flüchtigen Umarmung von Frida und winkte kurz auch deren Freunden zu, die sie nicht näher kannte. Dann suchte sie Elena. Sie fand sie auf der Armlehne von Raphaels Ohrensessel, wo sie bereits zu Beginn der Party gesessen hatte. Der zweite Sessel war inzwischen verschwunden. Vermutlich hatte man ihn in einen andern Raum geschleppt.
Elena und Raphael schienen tief im Gespräch versunken. Toni zögerte noch einen Augenblick, wollte die beiden nicht unterbrechen. Doch da verstummte man bereits.
«Und? Magst du dich noch ein bisschen zu uns setzen? Da hinten steht noch ein freier Hocker.» Elenas Ton war herzlich , fast schon zu herzlich.
Toni schüttelte den Kopf. «Ich spiele eher mit dem Gedanken, heim zu gehen.» Sie hatte es freundlich ausdrücken wollen, doch der Satz war ihr dennoch ein wenig forsch über die Lippen gekommen.
Elena nickte Raphael entschuldigend zu und trat für einen Augenblick mit Toni beiseite in den Schatten einer vertrockneten Zimmerpflanze. Die Blätter waren gelb und spitz und stachen in Tonis Unterarme. Sie kam sich vor wie in einer albernen Komödie und drückte die Pflanze ärgerlich beiseite.
«Eigentlich würde ich gerne noch eine Weile bleiben, jetzt wo Raphael und ich uns gerade so gut unterhalten. Im Zweifel würde er mich sicherlich auch heimbegleiten.» Elena warf einen Blick zu Raphael hinüber, setzte dann hinzu: «Für dich ist es natürlich ungeschickt. Vielleicht möchte ja noch irgendwer sonst aufbrechen in den nächsten Minuten und muss in die selbe Richtung.»
Toni schüttelte den Kopf. «Es sind nicht einmal zehn Minuten, Elena.»
«Es sind hier aber immer wieder perverse Spinner unterwegs», erklärte diese wenig einsichtig. «Ich habe da selbst schon ein paar wirklich hässliche Momente erlebt. Also wenn du noch eine Viertelstunde warten würdest, dann....»
Toni schien unzufrieden damit. «Das kommt überhaupt nicht in Frage, Elena. Du kannst solange bleiben, wie du magst. Ich komme schon zurecht. - Wirklich.»
Doch dann, noch ehe Toni irgendetwas einwenden konnte, fragte Elena bereits lautstark in die Runde, ob nicht irgendwer sonst nach Hause aufbräche demnächst und Toni auf dem Weg kurz heimbringen könnte. Es wäre auch gleich um die Ecke.
Toni blickte beschämt zu Boden.
«Ich wollte ohnehin los», räumte Lorenz ein und Toni erschrak, weil er kaum einen Meter hinter ihr stand.
Sie schüttelte unwirsch den Kopf und warf Elena einen vielsagenden Blick zu. «Also das ist wirklich nicht nötig. Es sind kaum fünf Minuten.»
«Nein, wirklich», meinte Lorenz und lächelte freimütig. «Das ist keine große Sache.» Damit machte er sich bereits auf den Weg in den Flur, um seine Jacke zu holen.
Elena schenkte Toni ein entschuldigendes Lächeln. «Er ist vielleicht nicht sonderlich sympathisch, aber wenigstens einigermaßen vertrauenswürdig.» Dann jedoch schienen sie bezüglich ebendieser Vertrauenswürdigkeit Zweifel zu überkommen und sie ergänzte: «Du kannst dich ja sicherheitshalber melden, wenn du heil angekommen bist.»
Toni nickte missmutig und wollte sich bereits in einen widerwilligen Trott in Lorenz' Richtung versetzen, als Raphael sie für den Moment mit einem Blick zurückhielt, den sie nicht deuten konnte.
«Also wenn du mich fragst, Toni», erklärte er dann und hob vielsagend die Augenbraue, «Der will dich bloß flachlegen heute Nacht.»
Einen Augenblick waren Tonis Züge wie versteinert, dann schüttelte sie entgeistert den Kopf und machte sich stapfend auf den Weg zu Lorenz, der bereits wartend in der Zimmertür stand.
«Und?», fragte er sie, als sie ihren Mantel in dem Wäscheberg hinter der Wohnungstür suchte, «Was hat er gesagt, dass du jetzt so verärgert bist?»
«Dass du unlautere Absichten hast», erwiderte sie trocken und trat dann ins Treppenhaus hinaus, ohne sich nach Lorenz umzusehen.
«Beunruhigt dich die Vorstellung?», fragte er, als er hinter ihr die Stufen hinab eilte. Er schien amüsiert.
«Darum geht es nicht.» Ihr Mund war eine schmale Linie, dass sie das Sprechen anstrengte. «Mich hat sein Ton verärgert und diese Überheblichkeit mit der er sich in Dinge einmischt, die ihn nichts angehen. Abgesehen davon hat er es lediglich gesagt, um sich vor Elena aufzuspielen.»
«Das ist jetzt fast ein wenig beleidigend.» Seine Schritte klangen laut und dumpf im Treppenhaus. «Als ob keinerlei Risiko von mir ausginge.»
Sie warf ihm einen genervten Blick zu, dass er es einen Moment vorzog, zu schweigen.
Als sie das Gebäude verlassen hatten und Toni ihren Mantel zuknöpfte, schien sie sich ein wenig beruhigt zu haben. Auf Lorenz' auffordernden Blick bemerkte sie schließlich: «Du bist mit Frida zusammen. Schon vergessen?»
Er folgte ihr die dunkle Straße hinauf. Sie legte einen strammen Schritt an den Tag.
«Also Frida und ich, wir sind kein Paar, wenn du das meinst.»
Toni vergrub ihre nackten Hände in den Manteltaschen. Es war kalt hier draußen, obwohl sie die frische Luft genoss. Sie mochte es, wenn ihr Kopf kalt war. Sie hatte das Gefühl, es hälfe ihr beim Denken. «Es ist mir ehrlich gesagt ziemlich egal, wie du es nennst.»
«Nein, wirklich.» Er sprach nun mit ungewohnter Ernsthaftigkeit. «Sie und ich: Das ist ein provisorisches Arrangement. Das haben wir ganz explizit miteinander ausgemacht.»
Toni rümpfte die Nase und bog dermaßen abrupt um die Ecke, dass Lorenz sie fast aus den Augen verloren hätte. «Darf ich ganz ehrlich sein?», fragte sie dann nach einem Moment der Stille und schenkte ihm einen misstrauischen Blick von der Seite.
«Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass du dich diesbezüglich zurückgehalten hättest.»
Sie lächelte unwillkürlich auf seinen Kommentar hin. Erstaunt bemerkte sie, dass dabei ihr Kiefer schmerzte, als wäre er für lange Zeit vollkommen erstarrt gewesen.«Also abgesehen davon, dass du mit Frida zusammen bist, - auch wenn ihr dafür vielleicht eine andere Bezeichnung gewählt habt, - und es ohnehin nicht meine Art ist, flüchtige Bekanntschaften mit hinauf zu nehmen: Nach Raphaels und deinem eigenen dämlichen Kommentar vorhin wäre es mir nun geradezu unmöglich. Es ist also reine Verschwendung, mich mit diesbezüglichen Andeutungen zu nerven.»
Er sah sie belustigt an. «Was ist das Problem mit seinem und meinem Kommentar gewesen? Es ist ja doch auch schmeichelhaft, dass er und ich dich als sexuell attraktiv wahrnehmen. Und das wohlgemerkt trotz deiner entgegengesetzten Bemühungen.»
«Da mangelt es mir wohl an Selbstverliebtheit. - Jedenfalls bin ich mir sicher, dass er und du selbiges auch jeder anderen gesagt hättet. Mit mir hat das alles herzlich wenig zu tun. Und soll ich mich jetzt deswegen geschmeichelt fühlen? Weil ihr mich für eure plumpe Selbstdarstellung benutzt wie irgendeine Requisite?»
Eine ganze Weile herrschte Schweigen und während Lorenz Toni von der Seite musterte, blickte diese stur auf ihren dunklen Rock hinab. Sie wollte ihm nicht ins Gesicht sehen. Der Blick seiner wachen Augen machte sie nervös. Er wirkte kein bisschen betrunken, nicht einmal müde. Offensichtlich konnte ihn die Nacht nicht einlullen und betäuben in ihrer dumpfen Dunkelheit.
Sie gingen eine Weile schweigend. Ihn schien das nicht zu stören. Sie wusste nicht, ob er verstanden hatte, was sie zu erklären versucht hatte. Es konnte ihr auch egal sein. Das Schweigen war ihr angenehmer. Sie konnte nicht sagen, dass etwas gegen seine bloße Gegenwart auszusetzen war. Vor allem verunsicherten sie seine Bemerkungen und die uneingeschränkte Aufmerksamkeit, die er ihr zuteil werden ließ, wenn sie miteinander sprachen. Seine Aufmerksamkeit machte sie nervös und ihre Nervosität beschämte sie. Nein, sein Blick beschämte sie. Er war ein gutaussehender Mann. Das war sogar ihr aufgefallen. Vielleicht war es aber auch nur dieser selbstgerechte Habitus, der einen das glauben machte. Der feste Gang und der sichere Blick. Toni ärgerte es, dass sie sich von Derlei in die Irre führen ließ.
Sie deutete Lorenz mit einem Nicken an, dass sie nun am Kornmarkt abzubiegen hätten in Richtung der Bergbahn. Sie besahen sich für einen Moment die Marienstatue, deren Haupt mit goldenen Sternen geschmückt war wie mit einem seltsamen Disco-Lametta. In ihrem Rücken das erleuchtete Schloss auf dem Berg. Der plätschernde Brunnen zu Füßen der steinernen Madonna war über den Winter lahmgelegt und lag nun leblos unter einem Holzkasten verborgen wie in einem Sarg.
Toni wartete bereits ein wenig ungeduldig, so dass sich Lorenz schließlich vom Anblick der Statue losriss und ihr die Straße hinauffolgte. Toni führte ihn um einige Ecken und man fand sich schließlich vor ihrer Haustür wieder.
«Das ist es schon», erklärte sie und sah an der düsteren Fassade hinauf.
Er folgte ihrem Blick. «Üblich gammlig», erwiderte er ein wenig belustigt. «Aber immerhin mit Charakter.»
Sie kramte ihren Schlüssel aus der Tasche. «Dann danke ich vielmals für das sichere Geleit.» Sie bemühte sich um ein Lächeln.
«Nicht der Rede wert. Es lag quasi auf dem Weg. Ich hole jetzt nur noch mein Fahrrad vorne bei der Bib ab und fahre dann auch nach Hause.»
«Hast du es noch weit?», fragte sie. Es schien ihr höflich.
Er schüttelte den Kopf. «In Neuenheim.»
Sie hatten sich bereits verabschiedet und er war schon einige Meter die Straße hinabgelaufen, als er plötzlich stehen blieb und sich noch einmal umwandte. «Eine Sache würde mich noch interessieren, Toni.»
Sie stemmte den Fuß in die aufgesperrte Tür und drehte sich erstaunt zu ihm um.
«Es ist allerdings ein wenig persönlich.» Er ließ seine Hände in die Manteltaschen gleiten.
Sie senkte den Schlüssel und sah ihn auffordernd an. Einen Moment schien er mit sich zu hadern.
«Vorhin, als du meintest, ich hätte so eine Art, die Leute zu provozieren, da klang das sehr missbilligend. Und dann hast du mich einfach stehen lassen. Das hat mich zugegebenermaßen etwas irritiert. Ich hatte bis dahin den Eindruck, dass wir beide uns gut unterhalten hätten.»
«Ich weiß nicht, ob man es wirklich als eine gute Unterhaltung bezeichnen sollte. Ich hatte eher das Gefühl, dass wir uns immer hart am Abgrund entlang bewegt haben.» Sie hob vielsagend die Augenbraue.
Er lächelte. «Eben.»
Sie schwieg einen Augenblick, erklärte dann: «Du bist schrecklich arrogant gewesen in diesem Moment. Deshalb bin ich gegangen.»
«Arrogant?», wandte er kopfschüttelnd ein. «Ich habe von uns beiden gesprochen. Dass wir uns nicht so ernst nehmen würden.»
«Nur weil du mich mit einbezogen hast, ist es nicht weniger arrogant. Du hast mich lediglich zu deiner Komplizin gemacht dadurch.»
Als er die Stirn runzelte, setzte sie ein wenig verlegen hinzu: «Außerdem lagst du auch völlig falsch damit, dass ich mich nicht ernst nehmen würde. Ich nehme mich sogar sehr ernst. Wie übrigens alles andere auch.»
«Ich glaube nicht, dass das stimmt. Zumindest scheinst du deine eigene Wahrheit durchaus in Frage zu stellen. Wie überhaupt alles. Das mag ziemlich nervtötend sein, aber immerhin machst du dir nichts vor.»
Toni lachte trocken. «Soll das ein Kompliment sein oder eine Beleidigung?»
«Eine Beobachtung», erwiderte Lorenz, «Abgesehen davon finde ich dein Verhalten noch sehr viel arroganter als meines. Denn ich besitze immerhin die Bescheidenheit, meine Arroganz einzugestehen. Du dagegen hältst dich für dermaßen überlegen, dass du einen nachsichtigen Großmut an den Tag legst. Das ist ja noch viel widerlicher.»
Toni schien etwas einwenden zu wollen, doch da führte er bereits aus: «Du betrachtest uns alle hier doch als alberne Hampelmänner. Du brauchst nicht zu glauben, dass man dir das nicht anmerken würde. Man sieht es mit einem einzigen Blick. Eben deshalb standest du allein herum auf dieser Party. Aus keinem anderen Grund.»
«Ich betrachte überhaupt niemanden als Hampelmann. Überhaupt müsste man sich dann doch Fragen, wer an den Fäden zieht und wozu dieser jemand die Männer eigentlich tanzen lassen sollte.» Sie schüttelte den Kopf und schien ärgerlich, dass sie sich überhaupt auf dieses Gespräch einließ.
«Interessanter ist doch wohl eher die Frage, warum du meinst, von diesem Spiel verschont zu bleiben.»
Sie rümpfte die Nase. «Allerhöchstens betrachte ich mich als einen defekten Hampelmann. Allerhöchstens.»
Einen ganzen Moment herrschte Schweigen und er musterte sie nachdenklich. Sie fühlte sich unwohl dabei und blickte auf ihre Füße hinab.
«Jedenfalls bist du der Meinung, dass du dich von den anderen unterscheidest», stellte er schließlich fest. «Ob zum Besseren oder Schlechteren ist dann nur noch eine Frage der Tagesform.»
«Natürlich unterscheide ich mich in meinen Augen von den anderen. Alleine dadurch, dass ich ich bin und die anderen eben die anderen. Das ist eine Frage der Perspektive. Im Gegensatz zu dir allerdings ist mir klar, dass es jedem anderen genauso ergeht. Womit wir ein weiteres Mal bei deinem egozentrischen Weltbild wären.»
«Wieso fällt es dir so schwer, zuzugeben, dass du dich für überlegen hältst?»
«Weil es nicht stimmt. Ich verstehe auch nicht, wieso du das unbedingt von mir hören willst.» Sie schien aufgebracht.
«Weil ich glaube, dass du und ich die Dinge eigentlich ganz ähnlich sehen. Nur dass du diese ekelhafte Moralität vorschiebst, die nicht recht zu deinem sonstigen Scharfsinn passen will. - Wobei diese verstockte Tugendhaftigkeit natürlich auch reizvoll ist irgendwie.»
Toni starrte ihn unverwandt an.
Er schien sich mit ihrem Schweigen zufrieden zu geben und fügte leichthin hinzu: «Ich meine: Es ist doch offensichtlich, dass du dich in sexueller Hinsicht zu mir hingezogen fühlst. Deshalb dieses längliche Gespräch hier unten vor der Tür und deshalb auch diese schwelende Aggressivität.»
Als sie ihn aufgebracht zu unterbrechen versuchte, fuhr er bereits fort: «Natürlich käme es niemals in Frage für dich, mich einfach mit hinauf zu bitten. Aber warum? Du hast gesagt, dass du nicht der Typ dafür wärst. Aber was heißt das schon? Dass du es nicht willst? Nicht kannst? Oder hast du dich eben einmal auf eine Rolle festgelegt, die du in diesem Leben zu spielen gedenkst? Das macht es ja auch sehr viel einfacher. Oder nicht? Einfach seine Rolle zu spielen.»
Sie rang sich ein halbherziges Lächeln ab. «Es mag schon sein, dass du recht gut aussiehst. Aber du solltest deine Anziehung trotzdem nicht überschätzen. Außerdem davon finde ich auch nicht, dass du und ich uns besonders ähnlich sind. Diese zornige Gleichgültigkeit ist mir zuwider.»
Er schien erstaunt, lächelte dann. «Zornige Gleichgültigkeit», wiederholte er. Der Begriff schien ihm zu gefallen.
«Du hast mich nach meiner Meinung gefragt. Jetzt brauchst du nicht so zu tun, als wäre ich es gewesen, die davon angefangen hätte.»
Er bemühte sich um ein ernsthaftes Gesicht und meinte beschwichtigend: «Das stimmt. Und ich bin auch wirklich an deiner Meinung interessiert. Also: Was stellst du dir vor unter einer zornigen Gleichgültigkeit?»
Als sie lediglich die Nase rümpfte, bemerkte er: «Es ist nicht unbedingt meine Stärke, ein ernsthaftes Interesse an etwas oder jemandem einzuräumen. Lass dich also bitte nicht irritieren davon. Wenn ich nachfrage, dann interessiert es mich auch.»
Einen Moment schien sie mit sich zu hadern. Zögerlich und ein wenig trotzig räumte sie schließlich ein: «Dann stell dir vor, du wärst ein einsam Reisender in der Wüste, du hättest deine Karawane verloren und es wäre kaum mehr ein Schluck Wasser in deinem Beutel.»
Er sah sie perplex an. Offensichtlich hatte er diese Wendung des Gesprächs nicht erwartet. Sie wusste nicht, ob sein Blick bloße Überraschung oder eher Skepsis ausdrückte. Als er zaghaft nickte, fuhr sie jedenfalls fort.
«Du hast also deine Karawane verloren und bist dir sicher, dass du nicht mehr den nächsten Morgen erleben wirst.
Trotzdem schleppst du dich voran in der Hitze des Tages auf der Suche nach einer rettenden Oase. Aber da ist nichts außer Sand und Staub. Du bist den ganzen Tag über durch die sengende Hitze gewandert. Nun wird es dunkel und es wird dir mit aller Deutlichkeit klar, dass du dich in dieser Nacht zum Sterben legen wirst. Denn deine Füße sind schwer und wund, deine Kehle trocken und es ist noch immer keine Rettung in Sicht. Nur die Sterne beginnen grausam und kalt zu leuchten.»
Sie hielt einen Moment inne, schien zu überlegen, wie sie fortfahren sollte.
Er musterte sie mit einer Mischung aus Neugierde und Argwohn. Sie ließ sich davon nicht beirren, schenkte ihm lediglich ein trockenes Lächeln.
Er hatte sich eine Erklärung gewünscht, als würde er eine Erklärung bekommen!
«Du schleppst dich also mit deiner letzten Kraft voran, hin und her gerissen zwischen einer erschöpften Todessehnsucht und dem Glauben an eine wundersame Rettung. Da, im silbrigen Schein des nächtlichen Himmels, erblickst du eine einsame Blume im Sand. Fast meinst du, deine Gebete wären erhöht worden. Eine Oase! Zu den Wurzeln der Blume suchst du gierig nach einer Quelle, gräbst mit beiden Händen wie ein räudiger Hund. Aber da ist nichts als trockener Sand. Und du gibst auf nach einer Weile und legst dich erschöpft neben der Blume nieder, denn alle Hoffnung ist fort, lediglich ein jämmerlicher Schluck Wasser noch in deinem Beutel und diese Blume neben dir, die schon zu welken begonnen hat, wie du jetzt feststellst.» Sie gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass dies das Ende ihrer Geschichte wäre.
Er runzelte die Stirn. «Es läuft auf die Frage hinaus, ob ich mein letztes Wasser der Blume gebe, oder nicht? Und mich darauf zum Sterben lege.»
Toni nickte und er setzte zögerlich hinzu: «Aber wie könnte ich dieser Blume mein Wasser geben, wo sie mich doch regelrecht zu verhöhnen scheint als bösartiges Zerrbild der Erlösung?» Er verzog angewidert das Gesicht und klang nun fast ein wenig aufgebracht. «Ohnehin würde sie in der Wüste auch mit einem weiteren Schluck Wasser nicht viel länger überleben als einen einzigen Tag.»
«Es zwingt dich niemand dazu, dein Wasser der Blume zu geben. Es liegt ganz bei dir.»
Lorenz musterte sie misstrauisch, fast feindselig. Einen Moment herrschte Schweigen, dann hob er die Augenbrauen. «Ist das jetzt die Pointe deiner Geschichte, oder kommt da noch etwas?»
«Genau das ist das Schöne daran. Es ist genau wie im echten Leben. Es gibt keine Pointe.»
Er schien unzufrieden damit. «Aber du würdest der Blume dein Wasser geben, oder nicht?», fragte er nun.
«Ja», meinte Toni leichthin und nickte. «Ich hoffe zumindest, dass ich das tun würde.»
Lorenz schüttelte widerwillig den Kopf. «Und ich hoffe gerade, dass ich es nicht tun würde. Es würde mich mit Ekel erfüllen.»
«Mit Ekel?»
«Weil es mir vorkäme, als wolle ich mir damit einen Sinn erkaufen. Nämlich die Versöhnung. Das käme mir heuchlerisch und abgeschmackt vor, vor allem aber jämmerlich.»
Toni nickte nachdenklich.
«Ich erwarte nicht, dass du das verstehst, Toni», räumte er nun ein. «Es geht darum, Standhaftigkeit zu beweisen im Angesicht des Missklangs, der Disharmonie. Natürlich ist es immer erträglicher, wenn die Dinge sich am Ende in einem allgemeinen Wohlgefallen auflösen, sich alles nahtlos ineinanderfügt. Aber um welchen Preis denn? Die Wahrheit zu verleugnen?»
Nun lächelte sie. «Es ist nicht so, dass ich der Blume mein Wasser geben würde, um dem ganzen Geschehen damit einen Sinn zu verleihen oder gar einen ominösen Kreis zu schließen. Das käme auch mir recht abgeschmackt vor. Nein. Ich würde der Blume mein Wasser geben, um mich auch von diesem letzten illusorischen Hoffnungsträger zu befreien, statt mich bis zum bitteren Ende gierig und beschränkt an diesen albernen Beutel und drei Tropfen Wasser zu klammern. Auch weil es die einzige Freiheit wäre, die ich dann noch besäße.»
«Aber warum verschüttest du das Wasser dann nicht einfach?»
«Weil ich keinem Schicksal, keinem Gott zu trotzen brauche. Weil ich weder an das eine noch an das andere glaube.»
«Wie kommst du darauf, dass ich daran glaube?» Er schüttelte den Kopf. «Ich habe doch gerade eben erklärt, dass ich jede Idee von Sinn und Schicksal ablehne.»
«Eben gerade deswegen komme ich darauf», erwiderte sie nun. «Wenn du nicht an ein Schicksal glauben würdest, dann würde dich diese Geschichte weder mit Zorn noch mit Ekel erfüllen. Dann hättest du nicht dieses Gefühl, verhöhnt zu werden. Dann könntest du dich weder sträuben noch widersetzen. Dann brächtest du nicht diese zornige Gleichgültigkeit an den Tag zu legen.»
Es dauerte einen Augenblick, dann zeigte sich ein sprödes Lächeln in Lorenz' Gesicht. «Das ist eine sehr kluge Schlussfolgerung», meinte er dann.
Sie hob gleichmütig die Arme.
«Überhaupt ist es eine gute Geschichte gewesen», erklärte er in die Stille hinein.
«Ich hatte eher das Gefühl, dass sie dich gegen mich aufgebracht hat.»
«Ich habe ja schon gesagt, dass das die guten Unterhaltungen ausmacht.»
Wiederum herrschte Stille. Toni schien ein wenig beschämt und öffnete die Haustür. «Es ist lange her, dass ich jemandem eine Geschichte erzählt habe. - Vermutlich habe ich zu viel getrunken heute Abend.»
Er sah sie einen Moment aufmerksam an. «Es war ein sehr interessanter und unterhaltsamer Abend.»
Einen Moment musterte man sich schweigend und Toni fragte sich, ob er häufig derartige Gespräche führte. Sie jedenfalls tat es nicht.
«Dann wünsche ich eine gute Nacht.» Er lächelte.
Toni nickte. «Und einen guten Heimweg.»
Er hob noch die Hand zum Abschied, schlenderte dann gemächlich die Straße hinab.