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Kapitel 2

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So lehren sie es uns, dass wir Frauen nicht nur schwächer sind, sondern auch schlichter im Geiste und in allem geringer. Aber weshalb sollte die Erdmutter einer der unseren dann solche Macht verleihen?

– 14. Akh’Eldash, 5. Eintrag, Verse 17+18

Lynn saß mit angezogenen Beinen in einem der Lehnstühle im Arbeitszimmer der Priorin und zitterte trotz der Wolldecke. Das Zittern kam tief aus ihrem Inneren und wollte einfach nicht aufhören. Wieder und wieder befühlte sie die Erhebung in der Mitte ihre Stirn, dort, wo sie gesalbt worden war. Das Mal hatte eine glatte Oberfläche, glatter als Haut, mehr wie polierter Stein. Sie fühlte die Glätte zwar an den Fingerspitzen, aber an ihrer Stirn war die Stelle völlig taub. Als gehöre dieses Ding nicht zu ihr.

Die Priorin reichte ihr wortlos einen Spiegel. Lynn nahm ihn, zögerte aber, hineinzublicken. Noch konnte es eine einfache Schwellung sein, eine Beule, die sie sich in der Dunkelheit der Höhle zugezogen hatte.

»Schau hinein, Lynneth. Sieh dich an.«

Widerstrebend gehorchte sie. Ein blasses Gesicht schaute ihr entgegen, und auf der Stirn leuchtete rot wie ein Sonnenuntergang der No’Ridahl, der Kuss der Göttin.

Er wirkte durchsichtig, doch dahinter sah Lynn nicht ihre Stirn, sondern in eine weite, offene Leere, in der sich Schlieren bewegten. Bei dem Anblick wurde ihr schwindelig, und sie ließ den Spiegel sinken.

Unzählige Namen hatte man ihm gegeben: Liebesfleck, Himmelsauge, Rotstern, aber auch Sklavenmacher und Knebelstein.

Die Priorin setzte sich neben sie und legte die Hand auf Lynns angezogene Beine. »Du bist die achtundvierzigste Akh’Eldash des neuen Reiches, die Hohepriesterin der Erdmutter.«

Hohepriesterin. Genaugenommen stand sie damit sogar über der Priorin. Doch während die Priorin den Orden führte, waren die Aufgaben der Akh’Eldash ritueller Natur. Sie würde die Liebe der Göttin wirken, was immer das heißen mochte. Ihre wichtigste Aufgabe war es, sich mit dem König des Landes zu vereinigen und ihm Kinder zu gebären.

»Ich bin die Falsche.« Lynn war noch immer wie betäubt. »Die Erdmutter hat sich geirrt.«

Die Priorin lächelte nachsichtig. »Es ist nicht unsere Aufgabe, die Große Mutter zu hinterfragen. Sie hat entschieden, und niemand kann daran mehr etwas ändern.«

»Aber ich kann das nicht!«

»Was denn?« Der Blick der Priorin wurde streng. »Du wirst der Göttin dienen und ihre Liebe wirken, das ist deine Berufung.«

»Was bedeutet das überhaupt?«

»Dass du allen Menschen das Wesen der Erdmutter zeigst. In dir wird jeder die Liebe der Mutter erkennen.«

Wie sollte sie einem solch enormen Anspruch gerecht werden? Wie sollte irgendein Mensch das können – und nun gerade sie, die noch nie im Leben verliebt gewesen war?

Nicht nur, dass man ihr eine unlösbare Aufgabe stellte, sie durfte noch nicht einmal selbst entscheiden, wie sie ihr Leben gestaltete, um sie zu erfüllen. »Aber ich werde einem Mann gehören.«

»Ja, und er wird dir gehören. Er wird dich lieben.«

»Das ist keine Liebe«, sagte Lynn verstockt. »Es ist ein Zauber.«

Die Priorin seufzte. »Jede Liebe auf der Welt geht auf die Erdmutter zurück: die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, die einer Frau zu ihrem Mann und auch die, die der No’Ridahl weckt. Sie alle sind gleichermaßen ein Zauber.« Sie erhob sich. »Warte hier.«

Lynn legte den Spiegel zur Seite und zog die Decke fester um sich, obwohl sie nicht mehr fror. Das Zittern war abgeklungen, und das lähmende Entsetzen wich langsam einem zornigen Trotz. Sie würde natürlich tun, was der Orden von ihr erwartete. Was blieb ihr anderes übrig? Aber sie musste es weder unterwürfig noch gern tun.

Doch. Genau das wurde von ihr verlangt: Ergebenheit und Sanftmut, Demut und Fügsamkeit. Das erwartete man von jeder Ehefrau und umso mehr von der Akh’Eldash, deren Aufgabe es war, ein Vorbild an Liebe und Hingabe zu sein. Aber so war sie nicht, war sie nie gewesen. Die Priorin hatte es selbst gesagt: Sie würde daran zerbrechen – und nun verlangte die Göttin genau das von ihr. Die Große Mutter, die allen ihren Kindern ins Herz sehen konnte, musste doch wissen, dass Lynn die Allerungeeignetste für diese Aufgabe war. Hatte sie das nicht bewiesen, als sie Thaja geholfen und damit das Ritual gestört hatte?

Die Priorin kehrte mit einer Kassette zurück und Lynn fragte: »Wie geht es Thaja?«

»Sie ist aufgewacht und lässt dich grüßen.« Die Priorin setzte sich wieder, stellte das Kästchen auf ihren Schoß und entnahm ihm einen zarten, weißen Stoff. »Der Lorun-Uhn, der Reifschleier der Akh’Eldash.« In ihren Händen entfaltete sich ein luftiges Gespinst. »Man erkennt es von außen kaum, aber er ist in Augenhöhe weniger dicht gewebt.«

»Also werde ich mein Unglück zumindest kommen sehen.« Lynn biss sich auf die Unterlippe, aber der Satz war ihr schon entschlüpft. Die Priorin antwortete nicht darauf. Sie deckte den Schleier über Lynns Kopf und schob ihr den eingearbeiteten Reif über die Stirn. »Nicht der Schleier verdeckt den No’Ridahl, sondern der Reif, aber beides gehört zum Ornat der Akh’Eldash.«

Der Lorun-Uhn war angenehm zu tragen. Er drückte nicht auf den No’Ridahl und der Stoff behinderte den Blick weit weniger, als Lynn erwartet hatte. Es sah bloß aus, als sei die Welt von weißem Raureif überzogen.

Die Miene der Priorin wurde streng. »Es ist meine Pflicht zu betonen, dass kein Mann dieses Mal zu sehen bekommen darf, außer Prinz Siluren. Ich verstehe, dass es eine große Versuchung ist, zu erproben, ob der Anblick des No’Ridahl tatsächlich jeden Mann in Liebe entbrennen lässt, aber dieser Versuchung nachzugeben, hat schon viel Unglück über das Reich gebracht.«

»Natürlich, Hohe Schwester.« Lynn kannte die Legenden: Neran und Haldia, der Krieg der Brüder und natürlich das Los der unglücklichen Vhellin von Lathem. Sie hatte keinen Bedarf danach, mehrere Männer um ihre Gunst streiten zu lassen. Bis vor wenigen Stunden hatte sie noch geglaubt, sich niemals von einem von ihnen auch nur berühren lassen zu müssen.

»Muss ich diesen Schleier nun mein Leben lang ununterbrochen tragen?« Eine schreckliche Vorstellung. Ob man sich jemals daran gewöhnte?

»Nein, natürlich nicht. Nur bis der Prinz den Uhlan vollzogen hat.«

Lynn spürte ein unangenehmes Kitzeln im Genick. »Was ist der Uhlan?«

»Ein Ritual, mit dem der Prinz den No’Ridahl zerstört.« Die Priorin zögerte, ehe sie fortfuhr: »Es muss noch in der Nacht geschehen, in der du zum ersten Mal sein Lager teilst. Bevor die Sonne aufgeht, wird der Prinz den No’Ridahl mit einer glühenden Nadel durchstoßen und der No’Ridahl wird sich zurückbilden. An diesem Tage verliert er seine Wirkung, aber die Liebe, die er bis dahin erweckt hat, bleibt bestehen. Von diesem Tag an trägst du den Schleier nur noch bei offiziellen Anlässen, als Zeichen deiner Würde als Akh’Eldash.«

»Was bewirkt das Mal noch?«, fragte Lynn. »Werde ... ich den Prinzen auch lieben?«

»Nein.« Die Antwort war knapp und eindeutig. »Das ist auch nicht nötig, denn die Akh’Eldash ist gehorsam und fügt sich dem Willen der Erdmutter und den Befehlen des Ordens.« Die Priorin schaute streng und Lynn senkte den Blick.

»Andererseits«, die Stimme der Priorin wurde weicher, »ist es nicht ungewöhnlich, dass sich das Herz der Akh’Eldash dem Mann zuwendet, der sie mit seiner Liebe und Fürsorge umgibt. Es heißt, Prinz Siluren sei ein sanfter, liebenswürdiger Mann.«

Das bedeutete also, wenn sie Glück hatte, würde er sie nicht gleich in der ersten Nacht in sein Bett zwingen und sie unter seinem schwitzenden Körper begraben. Lynn wäre beinahe in Tränen ausgebrochen, aber sie nahm sich zusammen. »Wann werde ich das Stift verlassen müssen?«

»Wenn deine Eskorte am gleichen Tag aufgebrochen ist wie der Schwirrer, dann wird sie in fünf oder sechs Tagen hier sein.«

Einige Tage Galgenfrist also. »Wird der Prinz selbst kommen, um mich zu holen?«

»Das wäre ungewöhnlich. Meist schickt er den Kanzler oder einen anderen Vertrauten.«

Einen Vertrauten, natürlich. Am besten einen Greis. Nicht jemanden, der das Geschenk enthüllen und in Begehren entbrennen würde. Nicht jemanden, der zusammen mit der Akh’Eldash auch den Thron des Reiches erobern wollte. Also verlängerte sich ihre Galgenfrist um die Tage, die sie für die Reise nach Hohenvarkas benötigte.

»Was wird meine Aufgabe an der Seite des Königs sein?« Außer natürlich für Nachkommenschaft zu sorgen. Die letzte Akh’Eldash hatte diese Aufgabe nur unzureichend erfüllt und war schon nach der ersten Geburt im Kindbett gestorben. Da der König nicht noch einmal hatte heiraten wollen, hatte es seit zwanzig Jahren keine Hohepriesterin mehr gegeben. Ihre offiziellen Pflichten waren Lynn daher nur schemenhaft bekannt.

»Nun, zum Ersten machst du deinen Gatten zum König.«

Das war Lynn neu. »Ich dachte, das ist sein Geburtsrecht.«

»Nein. Erst durch die Ehe mit der Akh’Eldash wird der Prinzregent zum König. Ohne deinen Segen ist seine Position anfechtbar.«

»Und wenn ich einen anderen erwähle?«

»Das wäre sehr dumm.« Die Priorin hatte wieder ihren strengen Blick. »Kein Mann in seiner Position wird leichtfertig auf den Thron verzichten nur um der Grille eines Mädchens willen. Du kennst die Geschichte unseres Landes und seiner Spaltung.«

Schwester Galabins Lektionen waren nur schwer zu vergessen, denn ihre Strafe für Schwätzen oder Kichern bestand darin, dass die Delinquentin die verbliebene Zeit der Unterweisung stehend zu verbringen hatte, mit ausgestreckten Armen und einem Buch auf dem Kopf. Außerdem hatte Lynn aufgrund ihrer langen Zeit im Stift diese Lektion bestimmt dreimal gehört: Vor gut dreihundert Jahren hatte ein Bruderkrieg das Land Eldama in die Reiche Galathräa und Oneräa geteilt. Aber Lynn hatte immer angenommen, dieser Krieg sei dem üblichen Machthunger der Männer und der Streitlust zweier Brüder geschuldet gewesen.

»Eine Akh’Eldash hat dies verursacht? Davon hat Schwester Galabin nie gesprochen.«

»Weil sie euch die Landesgeschichte lehrt, nicht Liebesgeschichten. Aber ja, die fünfunddreißigste Akh’Eldash, Erina von Brelach, erwählte statt des Thronfolgers Oneron dessen jüngeren Bruder Galather. Nach ihm heißt unser Land Galathräa, und das Land jenseits des Rimbeth nach seinem Bruder Oneräa.«

Lynn ließ sich das durch den Kopf gehen. »Aber wenn Oneron der Ältere war, bedeutet das dann nicht, die Könige von Oneräa sind die wahre königliche Linie von Galathräa?«

»Nein.« Der Tonfall der Priorin ließ keinen Widerspruch zu. »Die Akh’Eldash macht den Mann zum König. So ist das Gesetz und der Wille der Erdmutter selbst. Diese Tradition reicht weiter zurück als sogar das Volk der Eldamiten.«

»Weiter zurück als das Reich Eldama?«

Jetzt lächelte die Priorin. »Akh’Eldash heißt nichts weiter als ›Königin der Eldash‹.«

Die Eldash. Das ominöse Volk, von dem nur noch Legenden sprachen. Bereits sie hatten ihre Königinnen durch die Göttin selbst erwählen lassen. Vielleicht sollte sie doch noch einmal Schwester Galabin danach fragen.

»Zurück zu deinen Pflichten«, sagte die Priorin. »Du wirst die Frau des Königs sein, und dir gebührt der rechte, der hölzerne Teil des Doppelthrones. Deine Treue aber gilt der Göttin. Du wirst dem Orden regelmäßig Bericht erstatten und unsere Weisungen treu ausführen.« Sie entnahm der Kassette ein Buch. »Ich weiß, du hast viele Fragen, und du darfst sie mir alle stellen, doch viele von ihnen wird dir das Buch der Eldash beantworten. Deine erste Aufgabe ist, das Buch abzuschreiben.«

Lynn nahm den gut drei Finger dicken Band und ließ die Seiten durch ihre Finger gleiten, bis sie irgendwo anhielt. Das Buch war nicht gedruckt, sondern mit einer zierlichen, fließenden Schrift gefüllt.

»Es sind die Gedanken all der Frauen, die vor dir von der Erdmutter erwählt wurden. Du schreibst es ab und erhältst damit dein eigenes Exemplar des Eldash-Mithral, und du wirst ihm etwas anfügen.«

Lynn blickte auf. »Was denn?«

»Es kann ein Wort sein, ein Satz oder viele Seiten. Es kann gleich heute geschehen, am Ende deines Lebens oder mehrfach zu verschiedenen Zeiten. Die Göttin wird es dir aufs Herz legen.«

»Dieses Buch hat die letzte Akh’Eldash abgeschrieben?« Lynn betrachtete den Band ehrfürchtig.

»Es wurde uns nach ihrem Tode aus dem Palast übersandt.«

Lynn blätterte die hinterste Seite auf, zu dem letzten Eintrag der letzten Akh’Eldash, der Mutter ihres zukünftigen Gatten. Das Blatt war von der gleichen zierlichen Schrift bedeckt wie der Rest der Seiten, aber hier war sie weniger fließend. Vermutlich hatte die Akh’Eldash unter Schmerzen gelitten, als sie die wenigen Zeilen zu Papier brachte. Die Worte sprachen nicht gerade von einem glücklichen Leben im Dienste der Göttin.

»Wenn die Liebe einer Mutter Kraft über das Grab hinaus besitzt, wird mein Sohn ein Mann des Friedens werden. Die Göttin schenke ihm Weisheit und Kraft, um diese Welt zu verändern.«

***

Siluren nutzte die Schwirrer selten, auf die sein Vater schwor. Die kaum zwei Fäuste großen Tiere konnten nur winzigste Nachrichten überbringen. Die Schreiben von Silurens Korrespondenzpartnern hingegen waren lang und ausführlich, und so ahnte Siluren Entwicklungen oft voraus, noch ehe die entsprechenden Botschaften das Nest auf Hohenvarkas erreichten.

Längst hatte er es aufgegeben, seinen Vater über seine Annahmen und Schlussfolgerungen in Kenntnis zu setzen. Viel zu oft hatte er dafür nur Spott und Hohn geerntet. Doch die Nachrichten, die ihn heute erreicht hatten, waren so besorgniserregend, dass er seinen Stolz – und seine Furcht – überwinden musste. Silurens Zuträger berichteten von ganzen Bergen schnell geschmiedeter Schwerter. Offenbar hatten jenseits der Grenze die Essen den gesamten Winter über geglüht. Außerdem war von Aushebungen in ganz Oneräa die Rede. Das konnte nur bedeuten, dass Krolan der Fahle, König von Oneräa, einen Feldzug plante.

Wieder einmal. Seit mehr als drei Jahrhunderten, seit der Spaltung des Reiches, hatte nahezu jeder König auf beiden Seiten des Rimbeth versucht, die Herrschaft über das gesamte Reich wiederzuerlangen. Die Könige von Oneräa beriefen sich auf die Blutlinie, die von Galathräa auf die Wahl der Akh’Eldash, aber eigentlich ging es doch bloß um Machthunger und althergebrachte Rituale von Ehre und Männlichkeit – und beide Völker litten darunter.

Aus dem Kabinett seines Vaters drangen aufgebrachte Stimmen. Als Siluren eintrat, zog Kanzler Panald dem Schreiber gerade ein Blatt vom Tisch und überflog es. Ruothgar hingegen nahm Siluren in den Blick. »Was willst du hier?« Seine heisere Stimme und die gerötete Nase zeugten noch von der abklingenden Krankheit, sein Blick aber war fest und geradezu feindselig. Siluren musste sich zwingen zu sprechen. »Marschiert Krolan auf unsere Ostgrenze zu?«

»Hast dir wohl wieder mal etwas zusammengereimt.«

In Siluren stieg die altbekannte Wut auf, aber dies war nicht der Zeitpunkt für kleinliches Gezänk. »Ich denke, wir sollten Unterhändler senden. Herausfinden, was er will.«

»Er will Galathräa, was sonst?«

»Das wissen wir nicht mit Sicherheit. Und miteinander zu reden kann …«

»Reden will nur der Unterlegene. Krolan wird reden, wenn mein Schwert an seiner Kehle liegt.«

Es sei denn, es kam umgekehrt. Auch wenn das schwer vorstellbar war. Ruothgar war selbst mit ergrauendem Haar noch immer ein Kämpfer und König. Aber Krolan war um einiges jünger, und nach allem, was man hörte, war er absolut skrupellos.

Siluren blickte zu der Karte auf dem Tisch. Sie zeigte die nördliche Grenzregion um Elsthorn. »Also gibt es wieder Krieg?«

»Wir können ihn nicht verhindern, also werden wir ihn gewinnen. Ich habe unseren Fürsten die Aushebungen bereits im Winter angekündigt, als du noch selig deine Gänsekiele gespitzt hast.« Ruothgar wandte sich an Kanzler Panald. »Nun?« Der Kanzler war mit dem soeben verfassten Befehl einverstanden und Ruothgar winkte, dass er weitergegeben werden sollte. Ein junger Soldat übernahm das Blatt und ging.

Siluren holte tief Luft und bemühte sich um einen ruhigen Ton. »Krolan hat eine enorme Anzahl von Männern in den Dienst gezwungen. Ich hörte von achtzigtausend Mann.«

Ruothgar grunzte. »Piss dir bloß nicht in die Hosen. So viele wehrfähige Männer gibt es in ganz Oneräa nicht.«

Doch, die gab es, wenn man keine Rücksicht darauf nahm, dass Bauern und Handwerker ihre anderen Aufgaben nicht mehr erfüllen konnten. »Wenn wir all unsere Bauern von den Feldern in die Schlacht schicken, gibt es bald nichts mehr zu essen.«

»Und wenn wir das nicht tun, gehört Galathräa bald einem Schurken und Geisterdiener.«

»Warum hören wir uns nicht zuerst Krolans Ford-«

»Es reicht!« Ruothgars Faust landete auf dem Tisch. »Krolan schickt keine Unterhändler, sondern Soldaten! Ein König darf den Kampf nicht fürchten, wenn seine Untertanen in Sicherheit leben sollen.«

»Wie sicher leben sie wohl, wenn sie mit Schwert und Spieß auf dem Schlachtfeld stehen?«

»Opfer müssen eben gebracht werden, und noch wird dieses Land nicht von einem Schlappschwanz geführt!«

Siluren war so angespannt, dass sein Nacken schmerzte. Mehr zu sich selbst sagte er: »Es ist nicht dein Schwanz, der mir Sorgen macht.« Doch so leise die Worte auch waren, sie entgingen Ruothgar nicht.

»Raus!«

Das war wohl inzwischen der übliche Abschluss eines Gespräches zwischen ihnen. Siluren ging wortlos, doch seine zornigen Schritte knallten auf dem Marmorboden wie die Schüsse einer Hakenbüchse.

Kampf und Krieg – gab es keine anderen Lösungen? Und selbst wenn, schätzte Ruothgar die Gefahr auch richtig ein? Zugegeben, achtzigtausend Mann waren ein Kontingent, wie die Welt es nur selten gesehen hatte und vermutlich völlig unnötig. Würde eine solche Armee eine Stadt wie etwa Elsthorn belagern, würden sich die Männer bloß gegenseitig auf den Füßen stehen. Mit passendem Kriegsgerät wären schon vierzigtausend mehr als ausreichend, um eine Stadt mittlerer Größe ohne lange Belagerung zu stürmen.

Das nahm er zumindest an. Cor hatte Carondim damals mit nur zehntausend Mann eingenommen. Siluren hatte derweil hier, auf Hohenvarkas, lediglich die Berichte gelesen. Was wusste er schon von der Wirklichkeit des Krieges und wie man ihn führte? Vermutlich war es wirklich unsinnig, ein so großes Heer aufzustellen, wenn eine kleinere Armee ausreichte. Wozu sollte man mehr Männer als nötig in die Disziplin zwingen, befehligen, und vor allen Dingen verpflegen?

Aber konnte man von einem Mann wie Krolan dem Fahlen vernünftige Entscheidungen erwarten? Es hieß, er habe seinen älteren Bruder getötet, um König zu werden. Außerdem sagte man ihm nach, er verehre die Geister und strebe nach leiblicher Unsterblichkeit, aber das war womöglich bloß abergläubisches Geschwätz des Volkes, das einem Feind jede nur erdenkliche Missetat andichtete. Nein, ein Wahnsinniger konnte die Macht nicht erringen und halten.

Aber was, wenn es Krolan nicht nur um kleine Landgewinne ging? Nicht darum, Carondim oder Elsthorn zurückzuerobern, oder Teile der Ostmark? Wenn er es tatsächlich auf den Doppelthron abgesehen hatte? Auf ganz Galathräa? Wenn er die beiden Reiche tatsächlich wiedervereinen wollte – wäre das nicht eine große Armee wert?

Siluren blieb stehen. Er war im Thronsaal angekommen und sah hinüber zum Doppelthron, der in der Abenddämmerung groß und dunkel vor den Fenstern der Stirnwand aufragte. Selbst in der Dämmerung der aufsteigenden Nacht war er beeindruckend. Massiv und wuchtig umgab er das Herrscherpaar, betonte ihre Bedeutung. Die linke Seite, die des Königs, war aus Eisen geschmiedet und teilweise vergoldet. Ihr Zierrat zeigte Insignien der Macht – Krone und Zepter –, aber auch des Kampfes – Schwert und Schild, Armbrust, Bogen und Köcher. Diese Seite war riesig und überladen, weil seit Generationen jeder König etwas anfügen ließ. Erst vor fünf Jahren hatte Ruothgar seitlich das Abbild einer Hakenbüchse anbringen lassen, einer der modernsten Waffen überhaupt. Inzwischen war diese Seite des Thrones so schwer, dass rückwärtige Stützen notwendig geworden waren, damit die massige Lehne ihn nicht nach hinten umriss.

Trotz dieser beständigen Anfügungen reichte das Werk aber noch immer nicht an die Größe der anderen Seite heran. Der Sitz der Akh’Eldash war seit den ersten Tagen der Eldamiten nicht verändert worden. Er bestand ganz aus dem edlen, dunklen Holz des Lebensbaumes, aber außer pflegender Öle und beständigem Polieren hatten menschliche Hände nichts zu seiner Form beigetragen. Vielmehr sah es so aus, als wäre der Baum ganz natürlich zu einem riesigen Stuhl gewachsen, als hätten sich Zweige von selbst zu einer Lehne verwoben, als hätten sie sich von alleine zu einem mächtigen Baldachin geformt. Keine Spuren von Schnitten oder Sägen waren an dem Holz zu finden – außer dort, wo man die Wurzeln abgesägt hatte. Selbst die kleinsten Zweige waren fest und biegsam, als wäre noch Leben in ihnen, als habe der Baum nur seine Blätter für einen Winter abgeworfen und wäre bereit, im Frühjahr erneut auszutreiben. Die Legende besagte, der Thron habe bis zur dritten Akh’Eldash tatsächlich noch Blätter getragen. Nun, womöglich hatte man ihn erst damals von seinen Wurzeln getrennt und aus der Riefenau nach Varkaspol gebracht.

Zwischen den beiden Seiten des Thrones erhob sich eine Armlehne, in der Holz und Metall miteinander verwoben waren. Vermutlich hätte Ruothgar dieses trennende Mittelstück nur allzu gern entfernen lassen, um den gesamten Thron allein einnehmen zu können, doch das hatte nicht einmal er gewagt. Immerhin hatte er durchsetzen können, dass nach dem Tod von Silurens Mutter keine neue Akh’Eldash gesalbt worden war. Seit über zwanzig Jahren symbolisierte nur ein elegant drapierter weißer Schleier die Anwesenheit der Schwesternschaft und die Macht der Erdmutter. Wie oft hatte Siluren sich gewünscht, dass neben Ruothgar eine Frau sitzen möge, eine Stimme der Sanftmut und des Friedens.

Bald schon würde das der Fall sein. Oder nein, keine Frau. Ein Mädchen. Wie hatte Ruothgar sich das eigentlich vorgestellt? Wenn die Akh’Eldash erst einmal im Schloss war, würde er der Hohepriesterin den ihr zustehenden Platz nicht verweigern können. Selbstverständlich würde das nicht bedeuten, dass er seinen eigenen Platz für Siluren räumte. Er würde selbst weiterherrschen wollen. Vermutlich würde er das Mädchen einschüchtern, sie »auf Linie bringen«. Er würde sie zu seinem eigenen Geschöpf formen, zu einer verängstigten Gehilfin seiner Ziele. Und Siluren, durch den Zauber der Göttin an die Akh’Eldash gebunden, würde wiederum ihr willfähriger Diener sein.

Mit leiser Übelkeit wandte Siluren sich ab. Gleichgültig, ob er selbst oder Coridan die Akh’Eldash ehelichten, Ruothgar konnte nur gewinnen.

***

Die nächsten Tage verbrachte Lynn damit, das Eldash-Mithral gewissenhaft abzuschreiben. Es war eine Reise in die Vergangenheit, die ersten Seiten lasen sich so seltsam, dass Lynn sie nicht einmal verstand. Sie enthielten nur sinnlos aneinandergereihte Worte. Womöglich hatte das wiederholte Kopieren Fehler erzeugt und die Bedeutung verschleiert.

Vielleicht gab es ja ältere Exemplare des Eldash-Mithral, mit deren Hilfe sich das eine oder andere berichtigen ließ. Mit diesem Gedanken machte Lynn sich auf zur Priorin, um sie danach zu fragen. Sie fand sie im Kreise einiger jüngerer Kanonissen, das Buch der Ursprünge auf den Knien, aus dem sie gerade las.

»Die Geister aber sprachen: Es ist nicht recht, dass ein leiblich Ding Verstehen haben soll, gleich unserem Verstehen. Und sie kamen hernieder und ließen die Geschöpfe der Erdmutter erstarren, und einer nach dem anderen verloren die Riesen ihre Weisheit und ihr Verständnis für die Dinge der Welt. So kehrte der Stein zurück zu dem, was er gewesen war, und war nichts anderes mehr als Stein.«

Lynn blieb hinter der Türe stehen und lauschte. Sie hatte die Worte schon so oft gehört, dass sie sie mitsprechen konnte, aber sie liebte diese seltsam altertümlich anmutende Sprache aus ferner Vergangenheit.

»Zuletzt«, fuhr die Priorin fort, »blieben nur drei Getreue, welche die Erdmutter zu sich rief, und sie sprach zu ihnen: Ihr drei sollt meine Ammen sein, denn ich will Geschöpfe gebären aus den Tiefen meines Leibes, und sie sollen sein Leib von meinem Leib und Geist von meinen Geist.

Und sie gebar die Pflanzen, die Tiere, und zuletzt auch das erste Menschenpaar. So bevölkerte sie die Welt zu der Zeit, als die drei letzten Getreuen zu Stein erstarrten.

Erneut zürnten die Geister, doch die Zahl der Geschöpfe war zu groß, ihre Art zu vielfältig, als dass die Geister sie alle hätten vernichten können, und so säten sie in jeden Erstling nur einen winzigen Keim, dass er wachse und sich ausbreite und zersetze, was immer er fände. Und dieser Keim ist der Tod. Darum werden alle Kinder der Erdmutter alt und sterben, bis auf den heutigen Tag.

Doch zu mächtig war der Zauber der Erdmutter, zu groß ihre Weisheit. Denn auch das Leben, das die Mutter in ihre Geschöpfe gelegt hatte, floss weiter an deren Kinder und Kindeskinder, und so besteht auch das Leben in der Welt fort, bis auf den heutigen Tag.«

Sie schloss das Buch und blickte in die Runde. Sibyllin hob die Hand. »Muss ich auch sterben?«

»Irgendwann schon«, sagte die Priorin. »Dann kehrt dein Leib zurück zu ihrem Leib und dein Geist zu ihrem Geist. Aber davor darfst du leben. Das ist das große Geschenk der Erdmutter an uns alle.« Sie hob den Blick. »Lynneth, meinst du wirklich, ich würde dich dort nicht bemerken?«

Verlegen trat Lynn vor. »Verzeiht, Hohe Schwester. Ich wollte nicht stören.« Sie brachte ihr Anliegen vor, ob es nicht einige ältere Exemplare des Eldash-Mithral gäbe, um das eine oder andere berichtigen zu können, und die Priorin begegnete diesem Ansinnen mit Wohlwollen. Sie entließ die Kleinen und forderte Lynn auf, sie zu begleiten.

Zum ersten Mal betrat Lynn den Bereich hinter dem Schleier, der nur den Heiligen Schwestern und Anwärterinnen vorbehalten war. Er war tatsächlich durch nichts als einen dünnen Schleier vom Rest der Tempelanlage abgetrennt, aber keine der Kanonissen und niemand aus der Dienerschaft hätte es jemals gewagt, diese Grenze zu überschreiten. Sogar jetzt, an der Seite der Priorin, fühlte Lynn sich seltsam schuldig, als sie über die niedrige, marmorne Schwelle trat und der Vorhang hinter ihr wieder zurückglitt. Sie durchschritten einen weiß getünchten Tunnel, dann öffnete sich vor ihnen ein lichtdurchfluteter Raum.

Weißer Marmor bedeckte die Wände, Säulen aus dem gleichen Material strebten über mehrere Galerien empor zu einer durchbrochenen Kuppel, durch deren gläserne Scheiben Tageslicht fiel.

Lynn rief sich den Tempel in Erinnerung, wie man ihn bei der Ankunft sah: eine an und in den Felsen gebaute Ansammlung von Gebäuden, Mauern, Erkern und Zinnen, entstanden über Jahrhunderte, ästhetisch zusammengehalten nur durch den einheitlich weißen Verputz. Aber nirgendwo war ihr je eine Kuppel aufgefallen.

»Von außen sieht man die Kuppel nicht«, stellte sie fest.

»Das ist richtig. Sie ist umgeben von Felsen.«

Ehrfurchtsvoll schritt Lynn weiter in den Raum hinein. In den weißen Marmor des Bodens war ein geometrisches Muster aus dunklem Granit eingelassen, und in der Mitte wölbte sich ein polierter Monolith aus dem Boden. Seine ovale Form und die schlierenartigen Einschlüsse erinnerten an den No’Ridahl. Nur dass der Stein blau war und nicht rot.

Ringsum an den Wänden reihten sich mannshohe Nischen aneinander, in fünf Reihen übereinander bis unter die Kuppel, so hoch war der Raum. In einigen davon waren Türen eingelassen, in den meisten aber standen Regale und darin Bücher über Bücher. Dies war eine Bibliothek.

»Was du suchst, findest du hier.« Die Priorin wies auf die zweite Nische neben dem Eingang. »Das Eldash-Mithral, beginnend von dem der vierten Akh’Eldash des neuen Reiches.«

Respektvoll betrat Lynn den Raum zwischen den Regalen. Die Bücher auf der linken Seite wirkten so alt und brüchig, dass sie es nicht wagte, eines aus dem Regal zu nehmen. Womöglich würden sie in ihren Händen zu Staub zerfallen.

Plötzlich wurde ihr bewusst, was die Priorin gesagt hatte. Genau so hatte sie es schon einmal formuliert. Sie wandte sich abrupt um. »Des neuen Reiches?«

Die Priorin nickte. »Des Reiches der Eldamiten.«

Lynn wies zur Seite. »Was ist dann in der ersten Nische?«

Eigentlich hatte sie erwartet, dass die Priorin sie zurechtweisen oder ihrer Neugier zumindest eine Grenze setzen würde, doch das tat sie nicht. »Dort liegen die wenigen Schriften des alten Reiches, die uns überliefert wurden – alle, bis auf die Rolle von Fengajahr.«

Des alten Reiches. Des Reiches der Eldash. Von diesen Menschen wusste Lynn nicht mehr, als dass sie die ersten Bewohner der Riefenau gewesen waren, des Landstriches zwischen dem Mutterschoß und dem Südersee.

»Warum hat uns Schwester Galabin nie mehr von den Eldash erzählt?«

»Weil diese Zeit ins Reich der Legenden gehört. Schwester Galabin legt viel Wert darauf, euch nur Dinge zu lehren, die durch Schriften zu belegen sind.«

Aber offenbar gab es doch Schriften! Lynn wechselte die Nische. Hier gab es keine Bücher, nur Schriftrollen. Sie zeigte darauf. »Darf ich?«

Die Priorin nickte.

Behutsam nahm Lynn eine der kleineren Rollen. Sie war erstaunlich schwer. Lynn wog sie in der Hand und warf der Priorin einen fragenden Blick zu.

»Das ist Pergament. Dünn gegerbtes Leder.«

Lynn versuchte, die Rolle auseinanderzubiegen, doch schnell spürte sie den Widerstand des uralten Leders und fürchtete, es würde brechen. Sie hielt inne, spähte in den Spalt. Was sie sah, war faszinierend und enttäuschend zugleich.

Das Blatt war nicht beschrieben. Nicht im herkömmlichen Sinne jedenfalls. Farbige Bildchen waren in langen Reihen angeordnet, kaum eines davon wiederholte sich, soweit Lynn es erkennen konnte.

Sie legte die Rolle zurück, betrachtete eine weitere und eine dritte – stets mit dem gleichen Ergebnis.

»Ist das eine Schrift?«, fragte sie.

»Vermutlich. Aber niemand ist mehr in der Lage, sie zu lesen.«

Das war enttäuschend, aber auch irgendwie aufregend. »Was wissen wir über die Eldash? Was ist aus ihnen geworden?«

»Sie waren es wohl, die das Heiligtum fanden und als Erste die Erdmutter verehrten. Später kam aus dem Norden das Volk der Amiten. Sie wurden von einem König angeführt, und um den Frieden zu wahren, wurde der Doppelthron geschaffen, den sich die Königin der Eldash und der König der Amiten teilte. Dies ist der Beginn unserer Geschichte. Das Volk wurde zu den Eldamiten. Das zumindest sagen die Legenden.«

Während die Priorin weitersprach, entfaltete sich vor Lynns geistigem Auge die Geschichte. Sie sah wilde Krieger aus dem Norden in das Land eindringen, rau und ungeschlacht, sah die Akh’Eldash ihnen voller Würde entgegentreten und den Herrscher mit dem Zauber der Göttin besänftigen, um ihr Volk zu retten. Ob diese erste Akh’Eldash den König geliebt hatte? Oder hatte sie sich für ihr Volk geopfert? Was mochte sie über die Fremden gedacht haben, die sie gezwungen hatten, ihre Macht zu teilen?

Aber auch sie war nicht die Erste gewesen. Nur die Erste auf dem Doppelthron. Unvorstellbar, wie weit die Kette von Lynns Vorgängerinnen zurückreichte, weit über die bekannte Geschichte und die geschriebene Sprache hinaus. Sie war nicht die achtundvierzigste Akh’Eldash, es hatte noch viel mehr gegeben. Niemand wusste, wie viele es tatsächlich gewesen waren, und diese, ihre frühesten Vorgängerinnen, waren Königinnen aus eigenem Recht gewesen, nicht Anhängsel eines Mannes, dem sie den Thron sicherten und Nachkommen schenkten.

Dieser Gedanke verursachte Lynn Herzklopfen. Mit einem Mal erschien es ihr noch wichtiger, den völlig unverständlichen Text der ersten Akh’Eldash des neuen Reiches in seiner ältesten Fassung zu lesen.

»Kann ich das allererste Eldash-Mithral sehen?«

»Leider ist das in den Wirren der Zeit verloren gegangen. Das älteste Exemplar ist dieses hier«, die Priorin zog ein dünnes Buch aus dem obersten Regal. »Es stammt aus der Hand Gennahs von Nhim, der vierten Akh’Eldash.«

Das war nun wieder enttäuschend, aber vielleicht hatte Gennah von Nhim – oder auch einige ihrer direkten Nachfolgerinnen, noch Zugriff auf die originalen Schriften gehabt. Lynn reckte den Hals, um in das oberste Regal zu spähen.

»Darf ich ein paar davon mitnehmen?«

»Natürlich, aber das musst du nicht. Du hast das Recht, jederzeit diesen Raum zu betreten und jedes Buch zu lesen oder mitzunehmen.«

Erstaunt sah Lynn die Priorin an. Wie oft hatte man ihr gesagt, Neugier und Wissensdurst schickten sich nicht für Frauen, für eine Frau von Adel seien Ergebenheit und Sanftmut die höchsten Tugenden – und nun standen all diese uralten, kostbaren Papiere zu ihrer freien Verfügung? »Weil ich die Akh’Eldash bin?«

Die Priorin nickte. »Im Buch der Verheißungen steht: ›Der Akh’Eldash bleibt nichts verborgen. Sie lernt, was die Erdmutter ihr ins Herz legt.‹ Das wird so ausgelegt, dass ihr keine Schrift und keine Wissensquelle vorenthalten werden darf.«

Lynn trat aus der Nische zurück in die Halle und ließ den Blick durch den Raum bis ganz nach oben schweifen. So viele Bücher! Niemand würde sie alle in einem einzigen Leben lesen können. Dieses Wissen reizte sie schon allein deshalb, weil es unschicklich war.

»Wenn ich im Schloss bin«, sagte sie, »darf ich mir dann Bücher aus der Bibliothek schicken lassen?«

»Ja – aber einige davon enthalten geheimes Wissen, gefährliches Wissen. Sie sollten diesen Raum besser nicht verlassen.«

»Etwa über die Geister?«

Jetzt zögerte die Priorin. »Es ist nicht heilsam, sich zu viel mit ihnen zu beschäftigen.«

Lynn erinnerte sich meist nicht an ihre Träume, und im Grunde war sie froh darum. Es war unheimlich genug zu wissen, dass sich ihr eigener Geist jede Nacht in den körperlosen Gefilden aufhielt. Dennoch besaß dieses Thema eine gewisse Faszination. »Die Geister sollen denen, die sie beherrschen können, große Macht verleihen.«

Die Priorin hob die Brauen. »Die Geister sind ein Teil der Ewigkeit. Wie kann ein Sterblicher jemals glauben, sie beherrschen zu können?«

»Aber tun die Magoi nicht genau das?« Blinthe kannte die seltsamsten Geschichten über diese Männer.

»Du solltest nicht zu viel auf das Geschwätz deiner Zofe geben. Wie die meisten einfachen Leute ist sie abergläubisch und leicht zu beeinflussen, und es gibt genügend Scharlatane, die das ausnutzen.«

Tatsächlich glaubte Lynn nicht einmal die Hälfte von Blinthes Geschichten. Allerdings waren da durchaus einige, die ihr bei jedem Hören wieder eine Gänsehaut verursachten.

»Aber wenn das alles nur Lügen sind«, sagte sie, »warum ist das Wissen über die Geister dann gefährlich?«

»Ich habe nicht gesagt, dass es alles Lügen sind.« Der Blick der Priorin war nun sehr streng. »Aber wer glaubt, die Geister beherrschen zu können, der ist ein Narr, und ein gefährlicher noch dazu. Sie suchen immer ihren eigenen Nutzen.«

»Aber was könnte ein Mensch den Geistern schon bieten?«

»Sich selbst.«

Verständnislos sah Lynn die Priorin an. Diese seufzte, aber sie erklärte es. »Hast du nicht eben das Buch der Verheißung gehört? Wir sind Geist von ihrem Geist. Die Große Mutter hat einen Teil von sich selbst in jeden von uns gelegt. Jeder menschliche Geist, der verloren geht, schwächt sie, und jeder, der voll neuer Erfahrungen zu ihr zurückkehrt, macht sie stärker. Darum sollte sich die Akh’Eldash von allen Menschen am wenigsten mit den Geistern beschäftigen.«

Weil die Geister die Feinde der Erdmutter waren und die Akh’Eldash ihre Gesalbte. Aber Lynn hatte auch genug gehört. Es war eine Sache, an dunklen Herbstabenden Blinthes schaurigen Geschichten zu lauschen und den wohligen Schauder mit den Freundinnen zu teilen. Tiefer wollte Lynn in diese finstere Welt der Geister gar nicht eintauchen.

Zunächst war ihre Aufgabe das Eldash-Mithral, und nachdem sie die neuen Schätze in ihre Räume gebracht hatte, widmete sie sich diesem mit neuem Eifer.

***

Leider erwiesen sich die Texte der ersten drei Akh’Eldash selbst bei den ältesten Schriften als genauso unverständlich wie in ihrem eigenen Exemplar. Also gab Lynn es auf, zu den ersten Ursprüngen zurückzukehren, und sie verlor erst einmal auch die Lust an der Übertragung der Texte. Vermutlich blieben ihr noch Jahre dafür. Zuerst einmal wollte sie mehr über diese Frauen erfahren.

So zog sie sich mit dem Eldash-Mithral in die gepolsterte Fensternische ihres Zimmers zurück und schmökerte mal zielstrebig, mal aufs Geratewohl darin.

Neugierig und auch ein wenig ängstlich suchte sie nach einem Eintrag Vhellins von Lathem. Diese Akh’Eldash war auf dem Weg zu ihrem Bräutigam von Barbaren aus dem Westen entführt worden. Die Männer hatten sie in Unkenntnis über die Macht des No’Ridahl entschleiert und sich anschließend in einem blutigen Gefecht um sie gegenseitig zerfleischt. Vhellin selbst hatte das Massaker nicht überlebt.

Doch es gab keinen Eintrag von ihr, nur eine Notiz, die besagte, man habe ihr Exemplar des Eldash-Mithral niemals gefunden. Soweit Lynn das beurteilen konnte, war Vhellin die einzige ihrer Vorgängerinnen, die keinen Eintrag hinterlassen hatte. Die übrigen Texte zeugten von der Vielfalt der Frauen, die das Amt bisher innegehabt hatten. Manche hatten das Eldash-Mithral wie ein Tagebuch genutzt, hatten Sorgen und Ängste oder Stunden großer Freude darin festgehalten. Natürlich hatten sich viele auch damit auseinandergesetzt, was es bedeutete, die »Liebe der Göttin zu wirken«. Das half Lynn ein wenig, ihre zukünftigen Pflichten besser zu verstehen. Als Frau des Königs würde sie keineswegs nur die Mutter seiner Kinder sein. Von ihr wurde Mildtätigkeit erwartet, wie es ja generell den Frauen des Adels zukam. Manche ihrer Vorgängerinnen hatten dies bis ins Extrem betrieben und hatten auf diese Weise unglaubliche Not und Armut gesehen. Es war erschreckend, in welchem Elend manche Menschen leben mussten. Ob das wohl noch heute so war? Viele Kranke waren zu den Königinnen gebracht worden, weil nach dem Volksglauben die Berührung der Akh’Eldash heilende Wirkung hatte, ein Glaube, den nicht jede Akh’Eldash bereitwillig übernahm. So schrieb etwa die dreiunddreißigste Akh’Eldash: »Ich fühle mich keineswegs so, als verfüge ich über besondere Fähigkeiten. Ich spüre keine Kraft von mir ausgehen, wenn ich diese Menschen berühre. Aber in dem einen oder anderen Fall ist tatsächlich, nachdem ich meine Hand auf einen Kranken gelegt habe, eine Besserung eingetreten, ohne dass ich sagen könnte, was ich in diesen Fällen anders getan hätte als in anderen. Aber der Segen der Erdmutter liegt auf mir, und das kann ich wohl nicht verleugnen.«

Lynn untersuchte gewissenhaft ihre Handflächen auf eine Veränderung hin, bis sie über ihre eigene Einfältigkeit lachen musste. Wenn sie als kleines Mädchen gestürzt war, hatte da nicht der Schmerz nachgelassen, wenn ihre Mutter über die Schramme gepustet und sie in den Arm genommen hatte? Vermutlich hatte einfach die beruhigende Gewissheit, dass alles gut werden würde, die Angst und damit auch den Schmerz gelindert. Außerdem musste Lynn feststellen, dass einige Akh’Eldash an eben jenen Leiden erkrankt waren, die sie zu heilen versucht hatten. Die angebliche Zaubermacht der Akh’Eldash war wohl allein auf den Aberglauben des Volkes zurückzuführen.

Doch dieses Wunderwirken war nicht das Einzige, womit sich die Frauen auseinandergesetzt hatten. Manche von Lynns Vorgängerinnen hatten mit philosophischem Geist Weisheiten und Merksprüche hinterlassen, denen Lynn allerdings nicht immer vorbehaltlos zustimmte. Andere hatten mit geradezu wissenschaftlicher Akribie versucht, den No’Ridahl und seine Wirkung zu erforschen. Offenbar hatten sie, genau wie Lynn, stundenlang vor einem Spiegel gestanden und zu ergründen versucht, was die endlose Weite und die wabernden Schlieren zu bedeuten hatten, und wie dieser Eindruck zustande kommen mochte. Zumindest hatten sie das getan, bis der Uhlan vollzogen worden war.

Danach wurde es um das Mal der Göttin merkwürdig still. Selbst der Uhlan an sich war offenbar für keine von Lynns Vorgängerinnen bedeutungsvoll genug gewesen, um das Geschehen niederzuschreiben. Oder hatte man diese Stellen beim späteren Kopieren getilgt? Lynn blätterte suchend herum und fand schließlich einen einzigen Eintrag. Er machte deutlich, warum keine der Frauen darüber hatte schreiben wollen. Erst die dreiundvierzigste Akh’Eldash hatte den Mut dazu gefunden.

»So heiß brennt in mir die Scham darüber, dass ich das Geschenk der Erdmutter nicht mit meinem Leben verteidigt habe. Doch ich wusste es nicht besser, bis die glühende Spitze mich berührte. Da schrie ich auf voll Entsetzen und der König verschloss meinen Mund mit der Hand, sodass ich fast erstickte. Der Schmerz der glutheißen Nadel war so tief, so durchdringend, erfasste mein ganzes Wesen, als würde er das Leben selbst in mir zu Asche verbrennen. Der König hat mir mein Herz entrissen, meine Seele, und dafür werde ich ihn hassen, solange ich lebe.«

Hastig schlug Lynn das Buch zu, als könne der lederne Einband zugleich die schrecklichen Bilder verdecken, die sich in ihrem Kopf formten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Das also stand ihr bevor. Etwas so Schreckliches, dass keine ihrer Vorgängerinnen je wieder daran hatte denken wollen.

An diesem Tag las sie nicht weiter. Stattdessen half sie Thaja, ausgekeimte Butterzwiebeln zu pflanzen. Die fröhliche Gemeinschaft brachte sie bald auf andere Gedanken und die Erinnerung an die erschreckenden Worte sank ganz tief in Lynns Geist hinab, wo es leicht war, so zu tun, als habe sie sie niemals gelesen.

Am vierten Tag suchte Lynn nach den Einträgen der legendären Haldia. Jedes Kind kannte ihre Geschichte. Die vierundzwanzigste Akh’Eldash hatte ihr Herz an den schneidigen Neran von Fherrn verloren und den No’Ridahl vor ihm enthüllt. Gemeinsam waren sie geflohen, doch der geprellte Bräutigam hatte in seinem Zorn das gesamte Haus von Fherrn ausgelöscht und das liebende Paar bis in die Berge der Thulmark verfolgt. Dort hatte man die beiden erst im darauffolgenden Frühjahr gefunden. Eng umschlungen waren sie in einer Höhle erfroren.

Die blumigen, aber wenig kunstvollen Worte, mit denen Haldia ihre Liebe im Eldash-Mithral festgehalten hatte, ließ sie vor Lynns innerem Auge lebendig werden. Die mythische Sagengestalt trat gleichsam aus der Geschichte heraus wie aus einem alten Gemälde und schrumpfte zu einem unreifen, verblendeten Mädchen, das offenbar nicht begriffen hatte, welches Unglück ihre Selbstsucht über sie und andere brachte. Wenn das die Liebe war, von der Mädchen wie Beringa und Thaja immer schwärmten, dann war Lynn froh, dass sie das noch niemals erlebt hatte. Es war dumm, verblendet und selbstsüchtig.

War aus Liebe nicht noch Schlimmeres geschehen? Über dreihundert Jahre war es her, dass Erina von Brelach statt des Thronfolgers Oneron dessen jüngeren Brüder Galather erwählt und damit den Bruderkrieg ausgelöst hatte, der das Reich spaltete. Ihre Einträge waren zwar weniger schwülstig als die der verliebten Haldia, aber das Ergebnis ihres Handelns zeigte doch, wie verantwortungslos es am Ende gewesen war. Es hatte zu dreihundert Jahren wiederkehrender Kriege geführt.

Wie dumm war ihre Frage an die Priorin gewesen, ob sie ihren Gatten auch lieben würde! Wie unwichtig das war! Ergebenheit und Sanftmut. Die Liebe der Göttin wirken. Vielleicht war dies tatsächlich der bessere Weg. Nicht die eigene Liebe, die eigene Erfüllung suchen. Sie war die Gesalbte der Göttin. Ihr Leben gehörte nicht ihr allein. Sie glaubte zwar noch immer, die Erdmutter müsse sich bei ihrer Wahl geirrt haben, aber es war nun einmal geschehen, und so würde sie ihr Bestes geben, zum Wohle des Reiches und des Tempels. Sie würde der Weisheit der Erdmutter vertrauen und sich den alten Traditionen beugen.

Sie empfand bei diesem Entschluss eine schmerzhafte Wehmut, als verabschiede sie sich nun endgültig von ihrer Kindheit – und doch war da auch eine gewisse Erleichterung. Nun, da sie sich entschieden hatte, schien der Weg klarer und heller vor ihr zu liegen.

Es klopfte, und Lynn schreckte auf. »Ja?«

Blinthe, ihre Zofe, trat ein. »Eure Eskorte ist eingetroffen. Die Priorin erwartet Euch, um sie gemeinsam zu begrüßen.«

»Ich komme.« Lynn erhob sich und wollte zur Tür eilen, doch Blinthe trat ihr in den Weg und warf einen bedeutsamen Blick zur Kommode hinüber. Dort ruhte der Lorun-Uhn, der Reifschleier, auf einem Gestell. Da es im Stift nur Frauen gab, hatte Lynn den Schleier in den vergangenen Tagen nicht getragen. Blinthe half ihr, ihn anzulegen, dann gingen sie gemeinsam hinunter.

Die Priorin empfing sie in ihrem Arbeitszimmer, von dem aus eine Tür in den öffentlichen Saal führte. »Wie weit bist du mit dem Eldash-Mithral?«

Lynn wurde verlegen, wollte nicht zugeben, dass sie mehr gelesen als geschrieben hatte. »Ich werde noch viele Tage brauchen, um den Rest zu kopieren.«

»Das war zu erwarten. Du wirst eine Abschrift des Buches mitnehmen, um dein eigenes Exemplar fertigzustellen. Aber versäume nicht, es auch wirklich zu tun.«

Lynn hatte sich anfangs gefragt, warum sie die Texte abschreiben musste, wo es doch genügend von den Heiligen Schwestern gefertigte Kopien im Tempel gab, doch inzwischen war ihr der Grund dafür klar geworden. Die Worte, die sie abgeschrieben hatte, waren bereits tief in ihrem Gedächtnis verankert, und bei manchem Satz offenbarte sich erst beim Schreiben eine Bedeutung und Weisheit, die ihr beim bloßen Lesen verborgen geblieben war.

»Ich werde alles kopieren und Euch das andere Exemplar zurücksenden«, versprach sie. »Wisst Ihr schon, wann der Kanzler aufzubrechen gedenkt?«

»Es ist nicht der Kanzler, der die Eskorte führt.« Die Priorin kam hinter ihrem Schreibtisch hervor. »Es ist Coridan Graf von Thul persönlich.«

Der Sohn des Königs. Der uneheliche Sohn des Königs. Lynn verzog das Gesicht. »Ruothgar schickt seinen Bastard?«

»Lynneth!« Die Priorin blickte tadelnd. »Er ist zwar nicht der Kronprinz, aber durch seine Adern fließt königliches Blut. Also benimm dich entsprechend.«

»Das werde ich.« Lynn nahm sich vor, den Mund zu halten. Zumindest, bis sie das Damenstift verlassen hatten. Danach würde der königliche Bastard durchaus die wahre Lynneth von Vallathrys kennenlernen.

Oh nein, sie tat es schon wieder. Ergebenheit und Sanftmut, ermahnte sie sich selbst. Die Liebe der Göttin wirken. Himmel, was hatte sich die Erdmutter nur gedacht!

Blinthe zupfte noch einmal an dem Schleier herum und maß ihre Herrin mit einem letzten, kritischen Blick, ehe sie die Tür öffnete. Mit gemessenen Schritten betrat Lynn den Audienzsaal, gefolgt von der Priorin.

Lynn wusste nicht genau, was sie erwartet hatte. Vielleicht einen unreifen Gecken, einen blasierten Stutzer. Doch der Mann, der sich ihr zuwandte, war keines von beidem. Das Wort, das ihr bei seinem Anblick in den Sinn kam, war »Krieger«.

Der Staub der Straße lag auf seiner Kleidung aus Leder und Eisen. Sein Haar war regenfeucht und schwarz wie Rabenfedern, eine einzelne Strähne fiel ihm verwegen in die Stirn. Sein Kinn war seit Tagen nicht rasiert worden. Seine Rechte hielt den Helm, die Linke ruhte locker auf dem Griff seines Schwertes – keine Drohung, mehr ein Zeichen langjähriger Gewöhnung. Mit klirrenden Schritten trat er auf sie zu. Jetzt, da er ihr näher kam, nahm sie seinen herben Geruch nach Ulphan und Holzrauch wahr.

Lynn wusste, dass sie in der aufbauschenden Wolke ihres Rockes versinken sollte, aber aus irgendeinem Grunde konnte sie sich nicht bewegen. Stattdessen sah sie mit Erstaunen, wie der Königssohn vor ihr das Knie beugte und den Kopf senkte. »Gesalbte«, sagte er. »Prinz Siluren schickt mich, Euch nach Hohenvarkas zu geleiten.«

»Bitte, Erlaucht.« Die Priorin klang entsetzt. »Ihr solltet nicht knien.«

Er erhob sich geschmeidig, doch ohne Hast. Seine Augen waren dunkel, fast schwarz. Bei der Göttin, ob dieser Blick den Lorun-Uhn zu durchdringen vermochte?

»Es ist keine Schande, vor der Akh’Eldash zu knien.«

»So wie die Gesalbte ihr Haupt vor der Macht des Königs neigt.« Die Priorin stieß Lynn einen Finger hart in den Rücken, und endlich reagierte Lynn. Sie sank in einen Knicks und wünschte sich ganz weit weg.

Noch nie hatte sie einen Mann wie diesen dunklen Krieger gesehen. Er wirkte hart und unbarmherzig, geradezu gefährlich. Sein Anblick erfüllte sie mit Furcht. Aber gleichzeitig weckte er in ihr den Wunsch, ihn zu berühren. Sie wollte an dieser gemeißelten Kinnlinie entlangstreichen, wollte die Kraft dieser Arme fühlen.

Ein weiterer, verstohlener Stoß der Priorin bedeutete ihr, dass die Verneigung lange genug gedauert hatte. Lynn richtete sich auf und war dankbar für den Schleier, der ihre glühenden Wangen verbarg.

»Ich würde meine Männer gerne einen Tag ausruhen lassen, ehe wir wieder aufbrechen. Ist Euch das genehm?« Er schaute sie an, wurde ihr klar, nicht die Priorin. Es war ihre Zustimmung, die er suchte.

Entsprechend schwieg die Priorin.

»N… natürlich.« Auch das noch, sie stotterte! Lynn reckte die Schultern. Sie war die Akh’Eldash, die Gesalbte der Göttin. Sie sammelte sich kurz, dann sagte sie betont würdevoll: »Lasst Eure Männer ausruhen. Wir brechen übermorgen beim ersten Hahnenschrei auf.«

»Danke. Falls Ihr Fragen habt, stehe ich Euch zur Verfügung.«

»Ich …« Sie hatte viele Fragen, aber im Augenblick kam ihr keine davon in den Sinn. »… werde Euch rufen lassen.«

»Wann immer Ihr wünscht. Gibt es noch etwas, das ich wissen muss?«

Diesmal mischte sich die Priorin ein. »Nur das Eine: Kein Mann außer Prinz Siluren darf den Schleier heben und das Mal der Göttin sehen.«

»Gewiss.« Sein Blick richtete sich kurz auf die Hohe Schwester und kehrte sofort zu Lynn zurück. »Wie groß wird Euer Gefolge sein?«

»Nur meine Zofe.« Sie konnte nicht anders, als seinen knappen, präzisen Fragen ebenso zu antworten.

»Schoßtiere? Ein Trell vielleicht?«

Ein Fellknäuel mit riesigen Augen, winzigen Händchen und buschigem Schwanz – bei der Vorstellung, der Graf müsse ihr einen solchen Ausbund an Niedlichkeit hinterhertragen, lächelte Lynn unter ihrem Schleier. Zum ersten Mal kam ihr in den Sinn, dass dieser Krieger die Aufgabe, eine Frau zu eskortieren, vielleicht für unter seiner Würde hielt. »Nein, keine Tiere, und mein Gepäck wird sich in einem überschaubaren Rahmen halten.«

»Gut.« Eine knappe, geradezu militärische Verbeugung deutete an, dass er bereit war zu gehen. Es war an ihr, darüber zu entscheiden, wurde ihr klar.

»Kommt morgen zur dritten Stunde nach Sonnenaufgang in meine Gemächer. Dann werde ich Fragen haben. Bis dahin seid Ihr entlassen.«

Seine Reverenz war nur ein kurzes Versteifen, wie ein Salut, und drückte mehr Stolz als Unterwürfigkeit aus. Sie sah ihm nach, wie er mit ausgreifenden, klirrenden Schritten den Raum verließ. Erst, als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, atmete sie freier.

»Nun?«, fragte sie. »Wie habe ich mich gehalten?«

»Du hast dich gefangen«, sagte die Priorin. »Er ist nur ein Mann – lass dich von ihm nicht verunsichern.«

Nein, das würde sie nicht mehr zulassen. Hatte sie nicht für ihre Freundinnen am Verhandlungstisch gestritten? Hatte sie nicht die Stallknechte und Diener im Tempel zurechtgewiesen, wenn keine der Heiligen Schwestern anwesend war, um es zu tun? Männer prügelten sich in Wirtshäusern und schlugen einander in Schlachten tot. Das waren wahrlich keine Gründe für Überheblichkeit. Sie würde dem königlichen Bastard deutlich machen, wer hier die Überlegene war.

Aber durfte sie das als Gesalbte? Sie war nun die Hohepriesterin der Großen Mutter, die jedes ihrer Kinder gleichermaßen liebte. Sie konnte nicht mehr nur nach ihren eigenen Vorstellungen handeln. Ergebenheit und Sanftmut!

»Ist es angemessen, ihn in meinen Gemächern zu empfangen? Sollte ich Thaja hinzubitten?«

»Es reicht, wenn deine Zofe anwesend ist. Während der Reise wirst du auch nur sie als Ehrendame bei dir haben. Aber falls du dich mit einer deiner Freundinnen sicherer fühlst …«

Lynn hatte sich früher nicht gescheut, einem Mann nur in Begleitung ihrer Zofe gegenüberzutreten, aber damals hatte sie auch noch ganz sie selbst sein dürfen. »Ergebenheit und Sanftmut«, murmelte sie.

Jetzt legte ihr die Priorin beide Hände auf die Schultern. »Verwechsle Sanftmut nicht mit Schwäche«, sagte sie ernst. »Das ist ein Fehler, der den Männern allzu oft unterläuft. Die Göttin selbst ist sanft, und dennoch gibt es in dieser Welt keine größere Macht als die ihre. Lass dir von dem Grafen und seinen Männern keine Angst machen. Du bist die Akh’Eldash, und in wenigen Tagen wirst du seine Königin sein.«

Lynn reckte die Schultern. Sie mochte kein Schwert tragen und keine Schlachten schlagen, aber ihre Würde hatte sie von der Erdmutter selbst erhalten.

»Ich werde Thaja nicht brauchen.«

Was immer sie eben so demütigend schwach hatte erscheinen lassen, es würde kein zweites Mal geschehen. Morgen würde er kein verängstigtes, kleines Mädchen mehr antreffen, sondern eine Königin.

***

Cor hatte darauf bestanden, dass die Männer ihre Ulphane selbst versorgten. Sie waren zwei Tage lang durch Schneeregen geritten, und er wollte sichergehen, dass die Tiere nicht krank wurden. Als er den Stall betrat, fragte Dendar: »Und? Wie ist sie?«

»Verschleiert.« Cor schaute nach Jorand, den die Männer bereits trockengerieben hatten. Er nahm eine Handvoll Getreide aus einem der Beutel und hielt es ihm hin, prüfte mit der anderen das dichte Winterfell. Die Unterwolle war erfreulich trocken geblieben.

»Ist sie anspruchsvoll?«, fragte Dendar. »Zimperlich?«

»Schwer zu sagen. Wir haben kaum ein paar Worte gewechselt.« Es war schwer, einen Menschen einzuschätzen, wenn man seine Augen nicht sah. Dennoch hatte ihre Haltung viel über sie ausgesagt: die Schultern gestrafft, den Kopf erhoben, der ganze Körper in stolzer Spannung. Dabei war sie ihm nicht etwa angestrengt erschienen. Ihre Haltung war Ausdruck einer vitalen Anmut, einer Lebendigkeit und Wachheit, die er selten in einer Frau gesehen hatte.

»Wie alt ist sie?«

»Sie ist jedenfalls kein Kind mehr.« Ganz im Gegenteil – ihr Dekolletee hatte reizvolle, weibliche Formen enthüllt und einen langen, schlanken Hals. Allerdings war da auch eine gewisse Kühle gewesen, vielleicht sogar Arroganz. Bestimmt war sie eine anspruchsvolle Frau, die wusste, was sie wollte. Aber das sollte Silurens Sorge sein, nicht die seine.

»Was starrst du so verträumt vor dich hin?«, wollte Dendar grinsend wissen.

»Ich warte darauf, dass ihr fertig werdet. Können wir gehen?«

Helims Kopf schaute hinter einem der Ulphane hervor. »Hat sie einen Trell?«

»Nein.«

»Gut. Ich hasse diese Biester. Klettern überall hinauf und ziehen dir an den Haaren.«

Cor klopfte sich die verbliebenen Körner von der Hand. »Sie gönnt uns einen Tag Rast. Die Verwalterin wird euch eure Räume zuweisen.«

»Im Stift?« Dendar grinste frech.

»Ich kann der Verwalterin auch sagen, dass du lieber im Stall schlafen möchtest.«

»Tu mir das nicht an, mein Prinz. Lass mir wenigstens meine Träume.«

Die Ulphane waren alle wohlversorgt, und Cor wandte sich zum Gehen. Während sie den Hof überquerten, stieß Dendar ihm den Ellbogen in die Seite. Als er Cors Aufmerksamkeit hatte, hob er vielsagend den Blick.

Auf einer umlaufenden Balustrade drängten sich Seite an Seite gut zwanzig Mädchen, alle in helle Pelze gekleidet, alle mit ausdrucksstark geschminkten Lippen und Augen.

»Das wird eine Nacht mit wundervollen Träumen, mein Prinz.«

»Es schmerzt mich, dich enttäuschen zu müssen, aber du bist vermutlich nicht ihre erste Wahl.«

»Das macht nichts.« Dendar grinste. »Das Schöne an geträumten Freuden ist, dass eine Jungfrau danach noch immer eine ist. Sie können zuerst zu dir und dann zu mir kommen.«

Eine der Heiligen Schwestern stand auf den Stufen vor dem Hauptportal und sah ihnen entgegen. »Die Priorin erwartet Euch«, sagte sie zu Cor. »Sie möchte ein paar Worte mit Euch wechseln. Diese Magd wird Euch zu ihr führen, während ich Euren Begleitern die Gastgemächer zeige.«

»Gut.« Cor sah besagte Magd auffordernd an. Die junge Frau senkte schüchtern den Blick und ging voran.

Die Priorin besaß einen Raum eigens für die Arbeit, welche die Verwaltung der Schwesternschaft mit sich brachte, und diese Arbeit war sicher umfangreich. Der über dem Mutterschoß erbaute Tempel war zwar das Hauptheiligtum, doch gab es Schwesternschaften überall im Lande, die der Mildtätigkeit für die Armen und Kranken verschrieben waren und der Priorin unterstanden. Viel Arbeit und viel Verantwortung also. Nicht verwunderlich, dass diese Frau einen energischen, harten Eindruck machte.

Sie hieß Cor mit reservierter Freundlichkeit willkommen. Wie alle Heiligen Schwestern war auch sie eine Frau des Adels, Hochadel sogar, aus dem Geschlecht der Merkadinger. Sie saß sehr aufrecht. Vermutlich stieß es ihr sauer auf, ihr Anliegen mit einem Bastard bereden zu müssen.

Cor setzte sich in einen Lehnstuhl ihr gegenüber und legte die Arme entspannt auf die gepolsterten Lehnen. »Wie kann ich Euch dienen, Hohe Schwester?«

Sie begann mit den üblichen Floskeln. Aber es dauerte nicht lange, bis sie auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen kam. »Die Verbindung des Königshauses mit dem Tempel hat eine lange Tradition«, sagte sie. »Auch wenn die Zusammenarbeit seit einigen Jahren brachliegt, da sich Euer Vater nach dem Tode der Akh’Eldash geweigert hat, erneut zu heiraten.«

Cor lächelte. »Ihr könnt nicht erwarten, dass ein Mann dem No’Ridahl verfällt und diese Liebe dann für eine neue Akh’Eldash zur Seite legt.«

Sie wussten beide, dass Ruothgar nach dem Tod der Akh’Eldash durchaus körperliche Freuden in den Armen anderer Frauen gefunden hatte. Er hatte mit der Heirat der Akh’Eldash und der Geburt eines Thronfolgers aus ihrem Schoß seine Pflicht gegenüber dem Tempel erfüllt. Ihr Tod war ihm insofern entgegengekommen, als er die Macht auf diese Weise nicht mehr hatte teilen müssen, und nur aus diesem Grunde hatte es seit über zwanzig Jahren keine Akh’Eldash mehr gegeben.

Zwar war der Tempel nicht ganz ohne Einfluss geblieben, es gab wechselnde Beraterinnen am Hof. Doch alleine die Wirkung, die der Anblick des leeren Thrones auf das Volk und Gesandte hatte, musste für die Priorin ein ständiges Ärgernis darstellen. Ruothgar hatte ihr allerdings bereits vor Jahren klargemacht, dass es für die Schwesternschaft besser war, sich mit diesem Arrangement zu begnügen, als in einem Kräftemessen die Privilegien zu gefährden, die sie trotz ihres Geschlechtes innehatten.

All das war Cor genauso bekannt wie der Priorin, und dieses beiderseitige Wissen drückte die Frau mit einem durchdringenden Blick und einem langen Schweigen aus, bevor sie sagte: »Selbstverständlich nicht. Umso größer ist meine Freude darüber, dass die Zeit der Entfremdung der Vergangenheit angehört. Königshaus und Tempel werden das Schicksal Galathräas zukünftig wieder mit vereinten Kräften gestalten.«

Cor lächelte dünn. »Ihr richtet diesen Appell an den Falschen, Hohe Schwester. Ich bin nur ein Bote, die Eskorte für die Akh’Eldash.«

»Das ist mir bewusst. Doch als Bote werdet Ihr mein Anliegen sicher getreulich weitergeben.«

»Sowohl der König als auch der Kronprinz sind über dieses Euer Anliegen im Bilde.«

»Ich spreche nicht als Bittstellerin. Zu einer Partnerschaft müssen beide Seiten einen Beitrag leisten, und ich möchte zeigen, dass wir dazu in der Lage sind.« Sie legte die Hand auf einige Blätter. »Ich habe hier Briefe, die belegen, dass Oneräa sich zu einem Krieg gegen Galathräa rüstet.«

Der Tempel verfügte sicher über ein ähnlich enges Netz von Zuträgern wie das Königshaus. Nicht zuletzt darum war das Verhältnis zum Tempel ein ständiger Streitpunkt zwischen dem König und Siluren. Wenn Siluren den Thron bestieg, würde die bessere Zusammenarbeit mit dem Tempel nicht nur auf den No’Ridahl zurückzuführen sein. Siluren würden weder falscher Stolz noch Machtgier daran hindern, alle Wissensquellen zu Galathräas Wohl zu nutzen.

Aber Cor war nicht als Unterhändler hier, seine Aufgabe bestand nicht darin, die Politik des Königshauses zu verteidigen. »Die Könige von Oneräa«, sagte er, »haben schon mehrfach versucht, Galathräa zu überwältigen, das letzte Mal vor drei Jahren. Es ist ihnen nicht gelungen.«

»Seit zwei Jahren nun sitzt Krolan der Fahle auf dem Thron, ein Anhänger der Geister, wie man munkelt. Er hatte genug Zeit, neue Waffen zu schmieden und neue Männer auszuheben. Für Galathräa ist dies eine Zeit großer Unsicherheit. Er wäre klug, die Gelegenheit zu nutzen, und genau das scheint er im Sinn zu haben.«

»Diese Zeit ist auch nicht unsicherer als andere.«

Die Priorin musterte ihn scharf. »Haltet mich nicht für dumm, Graf Thul. Ich weiß sehr wohl, dass der König nicht nach der Akh’Eldash geschickt hätte, wenn er sich bester Gesundheit erfreute. Ich bin sicher, König Krolan von Oneräa kann die Zeichen ebenso deuten.«

»Mein Vater ist ein besonnener, vorausschauender Mann«, sagte Cor und fragte sich dabei, warum ihn diese Worte nicht würgen ließen. »Sollte Krolan die Grenze tatsächlich überschreiten, wird er feststellen, dass der König weder krank noch schwach ist. Sorgt Euch nicht, das Reich ist bestens gerüstet.«

Das Lächeln der Priorin machte deutlich, dass sie diese Worte mit gesunder Skepsis aufnahm. Offenbar war sie eine kluge Frau. Siluren würde in ihr eine wertvolle Verbündete finden. »Dennoch stelle ich dem Königshaus unser Wissen zur Verfügung. Zieht Eure eigenen Schlüsse daraus.« Sie schob ihm die Blätter zu. »Soll ich eine Vorleserin in Eure Räume schicken?«

»Danke, ich bin des Lesens mächtig.« Er griff nach den Papieren und fing einen erstaunten Blick der Priorin auf.

Wieder einmal setzte man ihn mit seinem Vater gleich. Der König hatte sich nie die Mühe gemacht, Feder und Tinte zu meistern. Er hatte zu diesem Zwecke ausreichend Schreiber zur Verfügung und würde sich damit ebenso wenig die Hände beschmutzen wie mit dem Leeren seines Nachttopfs.

Seines Vaters Abneigung gegen diese Kunst hatte sich noch verstärkt, als Siluren sie sich angeeignet hatte, und darum hatte Cor es heimlich lernen müssen. Siluren war sein geduldiger Lehrer gewesen. In aller Verschwiegenheit hatten die Jungen dies betrieben, hatten Griffel und Wachstafel im Stall verborgen gehalten, um Vaters Missfallen zu vermeiden. Der König wusste bis heute nicht, dass Cor einen Brief ebenso sicher lesen konnte wie die Fährte eines Karindenbocks.

Er nahm die Blätter an sich. »Ich werde die Briefe heute Abend lesen und Euch morgen wieder zukommen lassen.«

»Das ist nicht nötig, Graf Thul. Das sind Kopien für Euch.«

»Sehr aufmerksam, danke.« Vermutlich waren die Schreiben um Passagen gekürzt, von denen das Königshaus in den Augen der Priorin keine Kenntnis zu haben brauchte. Er erhob sich und die Priorin entließ ihn mit einem Nicken.

Die scheue Dienerin hatte vor der Tür gewartet und brachte ihn nun zu den Gästequartieren, die sich im östlichen Flügel des Gebäudes befanden. Auch hier waren die Zimmer von einem offenen Gang aus erreichbar, der zu einer freundlicheren Jahreszeit wohl die Wärme der Sonne einfing. Auf diesem umlaufenden Söller stand Helim, der Kutscher, und ließ Rauchwolken aus seiner Pfeife steigen. Sie füllten die Luft mit würzigem Duft.

Cor blieb neben ihm stehen und betrachtete die Landschaft, die der Abend in ein verwaschenes Blau tauchte.

»Schlechte Nachrichten?«, frage Helim.

»Unruhe an der Ostgrenze. Nichts, was uns Sorgen machen müsste.« Noch konnte der Winter jederzeit zurückkehren. Krolan würde nicht so unvernünftig sein, seine Truppen jetzt auszusenden.

Helim nahm die Pfeife aus dem Mund und hob die Nase in den Wind. »Es riecht nicht mehr nach Schnee«, sagte er.

Er mochte recht haben. Es war wärmer geworden. Die Mittagssonne hatte bereits Kraft, und selbst hier, in den Bergen, taute es schon an den sonnigen Plätzen.

»Sie haben uns Abendbrot gebracht«, fuhr Helim fort. »Gut und reichlich, aber Dendar war dennoch enttäuscht.«

Coridan lächelte. »Sie werden uns nicht mit den Stiftsdamen speisen lassen.«

»Nicht einmal Euch?«

»Die meisten von ihnen sind bereits lange versprochen, Helim, und ich bin keine gute Partie.« Das war nicht völlig richtig. Es hatte durchaus die eine oder andere Anfrage gegeben, niederer Adel, der gehofft hatte, durch eine Ehe mit dem königlichen Bastard die Gunst oder zumindest die Aufmerksamkeit des Königs zu erringen. Doch unter den Angeboten war keines gewesen, das Ruothgar ernsthaft in Betracht gezogen hätte, und Coridan hatte es nicht eilig mit dem Heiraten.

»Ihr seid immerhin ein Graf.«

Coridan lachte auf. »Herr einer kalten Burg zwischen kahlen Felsen. Mein Vater hat mir die Thulmark geschenkt, weil niemand sie haben wollte.«

Helim schob sich das Mundstück der Pfeife wieder zwischen die Lippen. »Es kann dort sehr schön sein«, sagte er. »Wenn die Hochweiden in der Sonne liegen und der Schnee auf den Gipfeln leuchtet.«

Coridan drehte sich zu ihm und betrachtete den alten Mann. »Du stammst aus der Thulmark?«

»Ich bin dort geboren und aufgewachsen.«

Das hatte er nicht gewusst. »Ein karges Land, heißt es, das harte Menschen hervorbringt.«

»So sagt man.« Der Kutscher nickte bedächtig. »Seid Ihr schon dort gewesen?«

»Einmal.« Cor wandte sich wieder der Landschaft zu. Nach und nach verbarg die Dunkelheit die Felder und das Dorf, das am Fuße der Berge lag. »Die Menschen sind tatsächlich hart. Wie du.«

»Habt Ihr mich deshalb für diese Reise ausgewählt?« Helim schmunzelte. »Ich dachte, der Grund sei, dass ein Graubart wie ich der Akh’Eldash nicht mehr verfallen kann.«

»Ich habe dich ausgesucht, weil du kein Duckmäuser bist. Die meisten Bediensteten im Schloss fürchten meinen Vater – und sie fürchten mich, weil ich ihm ähnlich bin. Das kann ich nicht gebrauchen.«

Helim kaute auf dem Mundstück seiner Pfeife herum. »Ihr täuscht Euch. Die Menschen sehen keineswegs Euren Vater in Euch. Ruothgar ist maßlos und unberechenbar, Ihr hingegen seid in allem diszipliniert und kaltblütig. Ich habe nie einen beherrschteren Menschen kennengelernt als Euch.« Er nahm die Pfeife aus dem Mund und betrachtete den Kopf, in dem das Feuer erloschen war. »Das ist es, was sie an Euch fürchten.«

Cor sah den Kutscher zweifelnd an. »Warum sollten sie meine Beherrschtheit fürchten?«

»Sie macht Euch unbarmherzig.«

»Unsinn.«

Helim klopfte den Tabak an der Balustrade aus. Dann hob er den Kopf und sah Cor gerade ins Gesicht. »Wie kann ein Mann barmherzig sein, der nicht einmal barmherzig ist gegen sich selbst?«

***

Am nächsten Tag bereitete Cor sich gewissenhaft auf das Treffen mit der Akh’Eldash vor. Er wusch und rasierte sich und tauschte die robuste Reisekleidung gegen etwas Angemesseneres. Lieber allerdings hätte er weiterhin Leder und Eisen getragen.

Er war sonst keineswegs unsicher in der Gegenwart von Frauen, hatte durchaus schon von den Wonnen gekostet, die sie einem Mann zu schenken vermochten. Aber dies war die Akh’Eldash, und ihre geheimnisvolle Macht über die Männer beunruhigte ihn. Nicht mehr Herr über seine Entscheidungen zu sein, dieser Gedanke behagte ihm nicht. Und was anderes bedeutete es, sich zu verlieben?

Er klopfte und wartete, bis die Zofe öffnete. Dann trat er in einen Raum, dessen Einrichtung Bequemlichkeit und Schönheit miteinander verband. Gepolsterte Sitzmöbel in sanften Farben, Tische mit geschwungenen Beinen, ein Schrank mit Intarsien, wie sie typisch für die Riefenau waren. Er würde der Akh’Eldash verdeutlichen müssen, dass die Reisetage weniger angenehm verlaufen würden.

Die Akh’Eldash, wieder verschleiert, erhob sich hinter einem Schreibtisch. »Ich danke für Euren Besuch, Erlaucht.« Noch immer klang sie kühl, sogar noch kühler als am Vortag. »Bitte. Tretet näher.« Sie wies auf einen Stuhl vor dem Tisch.

Er gehorchte, setzte sich jedoch nicht. »Der Kronprinz sendet Euch seine Verehrung. Er hat mir aufgetragen, Euch dies hier zu übergeben.« Er stellte das Holzkästchen auf den Tisch, das Siluren ihm mitgegeben hatte. Ihr Zögern verriet ihre Verwunderung. Sie hob es hoch und betrachtete die Intarsien.

»Es gehörte seiner Mutter«, erklärte er, »der siebenundvierzigsten Akh’Eldash, Mirana von Etharold. Er sendet es Euch zum Zeichen seiner aufrichtigen Zuneigung. Ihr werdet auf Hohenvarkas mit Freude erwartet.«

Es war noch immer befremdlich, mit einem weißen Schleier zu reden. Andererseits schürte das zarte Gewebe seine Neugier. Welches Gesicht mochte sich darunter verbergen? Ob es so zierlich war, wie ihre Hände vermuten ließen? Die Akh’Eldash hatte grazile Finger mit perfekt geformten Nägeln. Damit öffnete sie das Kästchen und betrachtete das Medaillon.

Coridan erinnerte sich an die Worte seines Bruders und räusperte sich. »Prinz Siluren trug mir auf, Euch zu versichern, dass er Euer Lager nicht teilen wird, bevor Ihr ihm dieses Medaillon zukommen lasst. Damit könnt Ihr ihm Eure Bereitschaft zeigen, ihn zu empfangen.«

Die Bewegung des Schleiers verriet, dass sie den Kopf hob. »Das ist sehr rücksichtsvoll«, sagte sie und schloss die Schatulle energisch, »aber ich bin bereit, meine Pflicht zu erfüllen.«

Anders als ihrer beider Vater würde es Siluren sicher nicht genügen, dass seine Frau »ihre Pflicht erfüllte«. Aber Gefühlsangelegenheiten waren nicht Coridans Stärke. Siluren würde sicher bessere Worte finden, und so sagte er zur Erklärung nur: »Wir hatten mit einer jüngeren Akh’Eldash gerechnet.«

»Ich bin nicht verantwortlich für die Wahl der Erdmutter.« Sie setzte das Kästchen mit einem dumpfen Ton auf den Tisch zurück. »Wie mein Gemahl muss auch ich auf ihre Weisheit vertrauen.«

Hatte er sie etwa beleidigt?

Wie sollte ein Mann jemals eine Frau verstehen? Cori­dans Umgang mit ihnen hatte sich bisher auf willige Mägde und kurze Liebschaften mit Bürgerlichen beschränkt. Von den kichernden jungen Damen des Adels hatte er sich ferngehalten, und auch sie hatten zumeist keinen Wert auf Umgang mit dem Bastard des Königs gelegt. Die Akh’Eldash sah sicher nichts anderes in ihm, und vermutlich fühlte sie sich schon allein dadurch beleidigt, dass er sie statt des Kanzlers abholte.

Er straffte die Schultern. Es war klüger, nur noch Fragen zu beantworten, die ihm gestellt wurden. Sie hatte ihn kommen lassen, es war an ihr, den Verlauf des Gespräches zu bestimmen.

Das tat sie auch. Sie griff nach einer Papierröhre und entrollte sie auf dem Tisch: eine Karte des Reiches, deren Enden sie mit Statuetten mythologischer Figuren beschwerte. »Ich möchte den Weg besprechen. Welche Strecke hattet Ihr Euch vorgestellt?«

»Wir folgen der traditionellen Route über Atankaja«, er zeigte ihr die Stadt auf der Karte und ließ seinen Finger dann der Straße folgen. »Von dort nach Mirin, Gut Fengajahr und Liffim. Falls Ihr wünscht, können wir von Mirin aus Eure Familie besuchen, das würde kaum einen Tag Umweg bedeuten.«

»Warum nehmen wir nicht diese Strecke?« Ihr Finger glitt über das Papier. »Sie erscheint mir viel kürzer.«

»Über die Berge?« Er schüttelte den Kopf. »Die Pässe sind im Winter mit der Kutsche nicht befahrbar. Außerdem gibt es dort keine standesgemäße Unterkunft.«

»Ich verstehe. Welche Unterbringung habt Ihr vorgesehen?«

Sie war fordernd, aber sie respektierte vernünftige Argumente. Gut. »Es ist ein jahrhundertealtes Vorrecht einiger Häuser, die Akh’Eldash auf ihrer Brautreise zu beherbergen. Ich habe sie auf der Herreise bereits angewiesen, alles entsprechend vorzubereiten.«

»Um welche Häuser handelt es sich dabei?«

Er zählte ihr die Namen der Fürsten auf, die sie in den jeweiligen Städten beherbergen würden. »Unsere Gastgeber werden außerdem eine Zusatzeskorte für die jeweils nächste Wegstrecke stellen.«

»Erwartet Ihr Schwierigkeiten?«

»Nein. Es ist lediglich der Würde Eures Amtes angemessen.«

Sie schwieg einen Moment lang, und er hatte den Eindruck, dass ihn hinter dem Schleier aufmerksame Augen musterten. »Ich habe gehört, dass an der Ostgrenze die Wachbesatzungen verstärkt wurden.«

Es erstaunte ihn, dass sie über solche Dinge informiert war. Natürlich, der Tempel war ein Machtfaktor im Reich und die Priesterinnen wussten diese Macht zu bewahren, aber die Akh’Eldash war doch recht jung und gerade erst geweiht. Traditionell war sie nicht mehr als ein Instrument in den Händen der Schwesternschaft.

»Das ist richtig«, sagte er. »Es gibt Hinweise darauf, dass Krolan der Fahle erneut seine Truppen mobilisiert.« Die Briefe der Priorin hatten zwar nichts völlig Neues enthalten, aber sie hatten doch deutlich gemacht, wie ernsthaft der König von Oneräa seine Kriegsvorbereitungen betrieb. Glücklicherweise war auch sein Vater in den vergangenen Monaten nicht untätig gewesen. »Noch ist Winter, Gesalbte. Es ist unwahrscheinlich, dass Krolan in den kommenden Tagen angreift. Anderenfalls hätte König Ruothgar Euch nicht holen lassen.«

»Man führt im Winter keine Kriege?«

»Nicht, wenn man bei Verstand ist, Gesalbte.«

Sie schwieg abwartend. Also erklärte er es ihr.

»Man würde die Truppen unnötigen Fährnissen aussetzen. Die Angreifer würden in ihren Zelten erfrieren, während unsere Leute sich in ihren Städten und Festungen wärmen könnten. Außerdem ist das Schanzen bei gefrorenem Boden kaum möglich.«

»Ich verstehe.« Sie hob die Figurinen hoch, und das Papier rollte sich zusammen. »Wie viele Tage veranschlagt Ihr für die Reise?«

»Fünf. Entsprechend mehr, wenn Ihr Eure Familie zu sehen wünscht.«

»Die Schwesternschaft ist meine Familie. Ein Umweg ist unnötig.«

Das hatte hart geklungen. Hegte sie einen Groll gegen die ihren, oder hatte sie sich schlicht damit abgefunden, dass ihr bisheriges Leben zu Ende war?

»Wie Ihr wünscht.«

»Wann erwartet Ihr mich morgen?«

»Wenn es Euch genehm ist, möchte ich bei Sonnenaufgang aufbrechen.«

»Einverstanden.« Sie nahm die Papierrolle auf. »Von meiner Seite wäre dann alles geklärt. Ich danke für Euer Kommen.«

Tatsächlich? Keine Frage über Siluren oder den König? Keine über Hohenvarkas und die Art, wie man dort lebte?

Sie bemerkte sein Zögern. »Besteht Eurerseits noch Klärungsbedarf, Erlaucht?«

»Nein, ich ... dachte nur, Ihr hättet vielleicht noch andere Fragen. Fragen, die Euren zukünftigen Gatten betreffen.«

Sie ließ das Papier sinken. »Da mir keine Wahl in der Angelegenheit bleibt, ist das unnötig. Ich ziehe es vor, mir meine eigene Meinung zu bilden, sobald ich Gelegenheit dazu habe.«

Das verschlug ihm die Sprache. Für die Akh’Eldash schien diese Verbindung, die doch vom Zauber der Liebe umsponnen sein sollte, tatsächlich mehr eine Geschäftsbeziehung zu sein. Hatte die Göttin für Siluren tatsächlich eine so kalte, hartherzige Gefährtin gewählt?

»Wie Ihr wünscht.« Er verneigte sich knapp und wandte sich zum Gehen. Die Zofe öffnete ihm, doch er blieb an der Tür stehen und drehte sich noch einmal zu der Akh’Eldash um. »Prinz Siluren ist ein guter Mann«, sagte er. »Er hat es verdient, dass Ihr ihm unvoreingenommen gegenübertretet.«

»Das werde ich, Erlaucht, seid Euch dessen gewiss.«

Er überlegte kurz, ob er noch etwas sagen sollte, entschied sich aber dagegen und verließ den Raum.

***

Als der Graf endlich gegangen war, atmete Lynn auf. Was hatte er nur an sich, dass ihr Puls flatterte und ihre Beine zitterten? Sie hasste es, hasste sich selbst dafür, dass sie sich nicht unter Kontrolle hatte.

»Ihr habt ihn ganz schön abgefertigt«, sagte Blinthe, nachdem sie die Tür geschlossen hatte.

»Die sollen gleich wissen, dass sie mich nicht herumschubsen können.« Lynn zog den Schleier vom Kopf und ließ sich auf den Stuhl fallen.

»Und es interessiert Euch gar nicht, wie der Kronprinz so ist?«

»Natürlich interessiert es mich, aber was wird mir sein Bote schon anderes sagen, als was man über einen Prinzen eben sagt?«

Außerdem hatte Lynn bereits ihre neuen Rechte als Akh’Eldash genutzt, um bei Schwester Dregna, der Herrin über die Korrespondenz des Tempels, Erkundigungen über beide Brüder einzuholen.

Siluren führte offenbar selbst einen Briefwechsel mit dem Tempel. Seine klare, geschwungene Schrift wirkte fast feminin, und auch der Inhalt war befremdlich unmännlich. Offenbar tauschte er sich mit Schwester Felingra über die Wirkung und den Anbau von Kräutern aus, und philosophierte mit Schwester Grathania über die Gleichheit der Menschen trotz verschiedener Stände. Immerhin schrieb er präzise und verständlich.

Im Volk bestand noch keine Einigkeit über den Beinamen, den man ihm zulegte. Manche nannten ihn Siluren den Zauderer oder sogar noch unverblümter Prinz Hasenfuß. Bei anderen trug er den Beinamen der Gutherzige. Immerhin das ließ hoffen. »Ich habe genug Lobhudeleien über Prinzen, Erbgrafen und Junker gehört. Sie sind doch alle gleich.«

»Graf Thul ist anders«, sagte Blinthe leise. Offenbar hatte der Mann sie beeindruckt.

»Natürlich. Er ist ein Bastard.« Lynn benutzte mit Absicht das hässliche Wort. Das Wort, das ihn herabwürdigen sollte, ihn verächtlich machen. Seltsamerweise tat es das nicht. Es umgab ihn im Gegenteil mit einer Glorie tragischen Heldentums.

Wie entschlossen er für seinen Bruder eingestanden war – seinen Halbbruder. Den Mann, der alles hatte, was ihm selbst verwehrt bleiben würde, nur, weil er die falsche Mutter hatte. Dabei war er der Ältere von beiden. Und anscheinend der Beeindruckendere. Er führte zwar keine eigene Korrespondenz mit dem Tempel, aber auch von ihm hatte Schwester Dregna berichten können. Coridan der Kaltblütige, durch seines Vaters Gnaden Graf von Thul, war ein Turniersieger und ein Kriegsheld. Trotz seiner Jugend hatte er schon zu einigen Gelegenheiten ein eigenes Regiment in eine Schlacht geführt, und offenbar hatte er vor drei Jahren bei der Rückeroberung Carondims eine bedeutende Rolle gespielt, hatte den Sieg möglich gemacht, weil er unerschütterlich geblieben war, wo andere längst den Kopf verloren hätten.

Verdammt – warum dachte sie schon wieder über ihn nach? Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und fühlte den Abdruck des Lorun-Uhn.

»Mein Haar ist ganz zerdrückt«, maulte sie und Blinthe ließ sich nicht lange bitten. Während sie die Bürste über Lynns Locken zog, sagte sie: »Er hat gar kein Schwert getragen.«

»Das wäre auch unhöflich gewesen in den Räumen einer Dame.«

»Ich meine ein Schauschwert.«

Diese leichten, stumpfen Waffen waren unter den Männern des Adels als Statussymbol Mode geworden. Lynn lächelte bei dem Gedanken eines solchen Spielzeuges an seiner Hüfte. »Ich bezweifle, dass Graf Thul eine einzige Waffe besitzt, die nicht zum Kampf taugt.«

»Da habt Ihr wohl recht.« Blinthe seufzte. »Obwohl er keinerlei Waffe bräuchte, um mich zu überwältigen.«

Dieser Satz beschwor in Lynn ein Bild herauf: Der Graf mit dem Schwert in der Hand, erhitzt und schwitzend vom Kampf, wie er mit dem Lächeln eines Siegers den Arm um ihre Hüften legte und sie zu sich heranzog …

Sie räusperte sich und setzte sich aufrechter hin, um das Bild zu vertreiben. Was war nur los mit ihr? Die Männer, die sie in den letzten Jahren zu sehen bekommen hatte, waren ihr allesamt entweder abstoßend oder lächerlich erschienen. Warum fand sie nichts Lächerliches an ihm?

Weil sie ihn noch nicht lange genug beobachtet hatte! Früher oder später würde er genau wie die anderen seine überragende Männlichkeit und seine eingebildete Überlegenheit beweisen wollen. Er würde in der festen Überzeugung, dass alle Frauen ihn anhimmelten, herumstolzieren. Sie musste ihn nur dazu bringen, die Maske der Gelassenheit fallen zu lassen und sein wahres, überhebliches Ich zu zeigen, dann würde diese merkwürdige Verzauberung verschwinden und sie würde ihn genauso als Maulheld entlarven, wie sie es sonst auch tat.

Es war ja nicht so, dass ihr Vater in all den Jahren gar keine möglichen Partien gefunden hätte. Das Haus Vallathrys war einflussreich genug, dass sich die eine oder andere Familie von solch einer Verbindung Vorteile versprechen mochte. Aber Lynn hatte jedem der Bewerber gezeigt, dass sie das hohle Gehabe und die leeren Phrasen durchschaute. Sie hatte dafür gesorgt, dass diese Männer sich ihrer eigenen Lächerlichkeit bewusstwurden. Keiner der Kandidaten hatte danach noch großes Interesse an ihr gezeigt.

Das würde ihr mit diesem Bastard-Prinzen auch gelingen. Es würde nur ein wenig länger dauern. Vielleicht sollte sie sich doch noch rasch einen Trell zulegen, nur um ihn zu ärgern.

Welt der Schwerter

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