Читать книгу Die Welt der Illusionisten - Eberhard Saage - Страница 6
REIFUNG
ОглавлениеÜber Joseph Adams großen Triumph bei der Parteigründung berichteten seriöse Zeitungen sehr sachlich. Auf deren Seiten wurden Bilder von ihm am Rednerpult, nach der Wahl zum Parteivorsitzenden, bei der er über 90 Prozent Ja-Stimmen erhalten hatte, oder auf den Schultern seiner Anhänger, die ihn begeistert durch den Saal trugen, gedruckt. Die Boulevardzeitungen zeigten dagegen Bilder von Magda, wie auch sie ihm gebannt zuhört, wie sie die Bühne betritt, und wie sie ihn umarmt.
»Geheimnisvolle Schöne an Adams Seite«, titelte das Zentrale Kampfblatt der Mächtigen, das sich auch Zeitung nannte.
Andere schrieben: »Strahlende Schönheit« – »Das schönste Lächeln der deutschen Politik« oder »Sympathieträgerin.«
»Das passt mir überhaupt nicht«, meinte Magda, aber sie lächelte dabei.
Joseph führte sie vor einen großen Spiegel: »Überzeuge dich doch selbst. Du weißt ja, dass sie recht haben.«
Und die der Spiegel zeigte, war nicht mehr die Dorfschwalbe aus dem Harzvorland, sondern tatsächlich eine strahlende Schönheit. Nach der Entbindung war sie wieder rang und schlank wie eh und je geworden. Sogar ihre Brüste, die Lena zwei Jahre lang gestillt hatten, wirkten mädchenhaft und straff. Um das wieder zu erreichen, hatte sie als Wundermittel kaltes Wasser voller Eiswürfel angewandt.
Ihr langes, dunkelblondes, nur in den Spitzen gelocktes Haar umrahmte ein ebenmäßiges Gesicht mit hoher Stirn und großen blauen Augen, die oft eine kindliche Neugierde ausdrückten, und mit einer Nase im griechischen Profil. Auch das rechte Ohr, hinter das sie die Haare legte, das Kinn und die faltenlosen Wangen waren wohlgeformt. Jedes Detail entsprach dem zeitgemäßen Schönheitsideal, das ja auch kalt wirken könnte, aber bei ihr erzeugte etwas ganz Besonderes, Einmaliges bei jedem einen unvergesslichen Eindruck – ihr strahlendes, ungeheuer sympathisches Lächeln. Damit nahm sie jeden sofort für sich ein.
Nein, nicht jeden, wie sich schnell zeigen sollte, nicht die Reporter des Kampfblattes.
Joseph beeindruckten deren Meldungen zuerst nicht.
»Damit werden wir jetzt leben müssen«, meinte er locker.
»Naivling«, schimpfte seine Tante Sarah, »du hast zwar in den letzten Jahren viel gelernt, bist aber manchmal noch total unreif.«
»Warum denn schon wieder?«
»Wach auf! Wenn der Feind dich lobt, müssen in dir alle Alarmglocken läuten. Jetzt berichten die schon tagelang über Magda. Die bereiten doch etwas vor. Das spüre ich.«
»Sollen sie doch.« Ihr Neffe lächelte herablassend.
Aber dieses Lächeln verging ihm, als er am nächsten Tag die neueste Ausgabe in den Händen hielt. Ein groß aufgemachtes Foto zeigte Magda inmitten ihrer österreichischen Freunde, und darauf war sie unübersehbar hochschwanger. Und am nächsten Tag zeigte ein Foto Magda im knappen Bikini am Strandbad Wannsee, und ein fettgedruckter Pfeil deutete auf einen vergrößerten Ausschnitt ihres Bauches, und der trug die typischen Schwangerschaftsstreifen. Die balkendicke Überschrift lautete: »Wo ist Adams Kind?«
Am dritten Tag erschien ein Bild von Joseph Adam mit einer verzerrten, abstoßend wirkenden Grimasse, die man aus der Aufzeichnung einer seiner Reden herausgefiltert hatte, und darunter stand die Frage: »Ist Adam ein Kindesmörder?«
Bis zu dieser Frage hatten auch Josephs Parteifreunde verächtlich geschwiegen, aber jetzt klingelte das Telefon in seinem Büro fast ununterbrochen. Sein Kollege Haberecht drückte klar aus, was auch andere dachten: »Jetzt geht es nicht mehr um dich oder um Magda, jetzt geht es um die Partei. Bring das ins Reine. Sofort, unverzüglich!«
Auch bei Tante Sarah klingelte das Telefon. Der Fürst Golewani meldete sich aus Österreich: »So geht das nicht weiter! Wir müssen diese Lawine aufhalten, bevor sie bis zu meiner Familie rollt.«
»Das sehe ich auch so. Aber das Beste wäre, wenn du dich darum kümmern würdest. Du hast doch einen guten Draht zu euren Medien.«
Ohne langes Gerede stimmten sie alles Notwendige ab.
Wenig später brachte auch eine Wiener Boulevardzeitung ein Foto von Magda. Daneben wurde der Grabstein ihres Kindes auf einem Wiener Friedhof gezeigt, aber dessen genauer Standort zur Wahrung der Totenruhe verheimlicht. Der bekannte Direktor einer Privatklinik bedauerte zutiefst, dass Magdas Kind nur so kurz gelebt hätte und wegen einer Fehlbildung am Herzen bald nach der Geburt verstorben wäre. Nach seiner Meinung über die deutschen Boulevardzeitungen gefragt, meinte er nur: »Dazu muss ich nichts sagen, die kommentieren sich selbst.«
Die deutschen Zeitungen brachten darüber nur eine Kurzmeldung und fanden sofort eine neue Sensation – ein Mitglied der englischen Königsfamilie war fremdgegangen. Dieses unfassbare Ereignis bestimmte nun tagelang die Schlagzeilen.
»Willst du klagen oder forderst du eine Gegendarstellung?«, fragte Magda ihren Freund.
»Darüber habe ich nur kurz nachgedacht«, antwortete er, »aber was sollte das bringen? Das würde denen doch nur die Möglichkeit geben, alles noch einmal hochzukochen. Also Schwamm drüber.«
»Recht so«, bestätigte seine Tante, »du bist lernfähig.«
»Okay, das ist auch in meinem Interesse«, meinte Magda und äußerte trotzdem ihre Bedenken, »ein Fleck wird an uns bleiben und damit auch an deiner Partei. Nach der vorletzten Umfrage wart ihr schon an der Fünf-Prozent-Hürde, aber jetzt seid ihr auf 3 % zurückgefallen.«
»Ja, das stimmt, aber diesen Fleck kann ich mit etwas anderem wegwischen.«
»Womit denn?«, fragte Sarah, »sei dir da nicht so sicher. Die groß aufgemachten Berichte haben viele gelesen, die kleine Richtigstellung bestimmt nur wenige. Die wissen schon, was sie tun. Ein Sprichwort sagt ›Kein Rauch ohne Feuer.‹ Also erzeugen sie Rauch, und viele glauben, dass es ein Feuer geben würde. Also nochmals, wie willst du das wegwischen?«
»Warte es ab!« Joseph lachte selbstbewusst.
»Gefällt mir.« Magda stand im Zimmer ihrer Kommilitonin Bärbel vor der Kopie eines alten Gemäldes, die diese neu erworben hatte.
›Judith mit dem Haupt des Holofernes von Lucas Cranach‹, stand darunter. Diese Judith trug ein dunkelrotes Kleid, das an der Hüfte mit weißen Bändern festgeschnürt war, und am Hals eine breite, wuchtige Kette. In der rechten Hand hielt sie ein überlanges, breites Schwert, in der linken den abgeschlagenen, noch blutenden Kopf eines bärtigen Mannes mit weit geöffnetem Mund.
»Holofernes?«, fragte Magda.
»Keine Bildungslücke. Über diese biblische Gestalt musste ich mich auch erst schlau machen. Als assyrischer Feldherr belagerte er eine jüdische Stadt. Judith kam nur wegen ihrer großen Schönheit bis zu ihm durch. Er hoffte auf eine Liebesnacht und entließ seine Diener. Aber sie machte ihn betrunken, enthauptete ihn und rettete so ihre Stadt.« Sie blickte Magda an und lächelte spöttisch.
»Woran denkst du?«
»Die Schöne und der Feldherr bzw. der Politiker, vieles wiederholt sich.«
»Ja, manchmal könnte ich ihn auch erschlagen.«
»Hälst du es denn aus, wenn er höher und höher steigt?«
»Muss ich ja, uns verbindet viel.«
»Es gibt auch andere Männer. Nach dir drehen sich doch alle um. Du könntest an jedem Finger zehn haben.«
»Ach«, Magda winkte ab, »wir kennen uns schon seit wir 15 waren.«
Um das Thema zu wechseln, deutet sie auf das Bild. »Das Original würde ich gerne mal sehen.«
»Kannst du, es soll im Jagdschloss Grunewald hängen. Ich bin auch neugierig darauf.«
»Wollen wir gleich hinfahren? Wir haben heute doch Zeit.«
»Nein«, wehrte Bärbel überrascht ab, »heute auf keinen Fall.«
Magda blickte verwundert. Sie konnte ja nicht ahnen, dass ihre Kommilitonin noch etwas vorbereiten musste.
Erst Tage später fuhren sie zu dem Schloss, das an einem See tief im Wald lag, weit abseits von dem Westberliner Großstadtgetümmel. Alle Gebäude waren blendendweiß gestrichen und besaßen rote Wabendächer. Das Hauptgebäude wirkte mit seiner geringen Breite und nur 3 Stockwerken nicht besonders repräsentativ. Es hatte dem Kaiser ja auch nur für gelegentliche Jagden gedient, zum letzten Mal schon viele Jahre vor dem 1. Weltkrieg, wie eine Angestellte erläuterte.
»Judith mit dem Haupt des Holofernes?«, fragte sie dann, »das tut mir aber leid. Dieses Gemälde ist jetzt im Schloss Charlottenburg.«
»Schade.« Magda war enttäuscht.
Ihre Kommilitonin wirkte jedoch nicht so und blickte auf ihre Uhr: »In der Nähe ist ein idyllisches Restaurant. Wollen wir dort einen Happ essen, wenn wir schon mal hier sind?«
Im Seerestaurant war am frühen Nachmittag noch kein Gast und draußen nur ein Tisch gedeckt. Der stand etwas abseits geschützt von Fliederbüschen, deren Blütenduft Magda tief in sich einsog. Auf einer schneeweißen Decke standen nur zwei Gedecke, dazu ein festlicher Leuchter und eine hohe schmale Vase ohne Blumen.
»Für wen wird das sein? Lass uns doch mal gucken.«
»Na hör mal«, empörte sich Magda, »seit wann bist du so neugierig? Ich erkenne dich gar nicht wieder.«
»Komm schon.« Bärbel fasste sie an der rechten Hand und zog sie einfach mit.
Als sie den Tisch erreicht hatten, trat Joseph hinter den Fliederbüschen hervor. Er trug dieses Mal nicht eine seiner Kombinationen, sondern einen dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd und dunkelroter Krawatte. In einer Hand hielt er eine langstielige rote Rose.
»Liebe Magda, wir kennen uns schon ewig. Wir haben zusammen viel durchgemacht und unbeschadet überstanden. Du bist nicht nur eine wunderschöne Frau geworden, sondern auch eine tolle Kameradin, mit der ich durchs Leben gehen möchte. Willst du mich heiraten?«
Magda blieb vor Überraschung kurz der Mund offen stehen. Dazu hätte gepasst, dass sie nun glücklich ihr Ja hauchte. Aber sie lachte spöttisch: »Willst du damit in die Medien kommen und den Fleck wegwischen oder geht es auch ein bisschen um mich?«
»Na hör mal, nur um dich.«
Sie blickte ihn prüfend an: »Ich kenne dich, du willst zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.«
Sein Lächeln erlosch.
»Na gut«, sagte sie schnell und schmiegte sich an ihn, »versuchen wir es miteinander.«
Bärbel wandte sich ab: »Meine Aufgabe ist ja erledigt.«
Viele prominente Schäfchen hatten die katholischen Priester in Westberlin nicht. Die Partei »Die Anderen« zu wählen, würden sie von ihren Kanzeln zwar nicht empfehlen, aber dass sich deren Chef bei ihnen trauen lassen wollte, erregte sogar das Interesse ihres Bischofs.
Joseph wählte alles in Weiß, eine weiße Kutsche, makellose Schimmel davor gespannt, obwohl der Kutscher lieber Rappen genommen hätte, Magda im schneeweißen, Unschuld bezeugenden Brautkleid, er im leuchtend weißen Hemd, die Blumenmädchen in weißen Kleidchen.
Die Kameramänner hatten Mühe, den Zuschauern kontrastreiche Bilder zu liefern und mussten sich mit Magdas dunkelrotem Rosenstrauß und Josephs dunkelblauem Anzug begnügen.
Auch der Bischof erschien auf den Bildschirmen, er hatte also richtig kalkuliert. Und doch musste er sich über Joseph und über dessen Priester ärgern, denn der hatte den Bräutigam nicht auf den Vermählungsspruch vorbereitet.
»Vor Gottes Angesicht nehme ich dich an als meine Frau«, sagte er ihm vor, aber Joseph reagierte darauf nicht. Erst an den bohrenden Blicken des Bischofs erkannte er, dass irgendetwas von ihm erwartet wurde.
»Vor Gottes Angesicht nehme ich dich an als meine Frau«, wiederholte der Bischof.
»Vor Gottes Angesicht nehme ich dich an als meine Frau«, echote Joseph nun brav.
»Ich verspreche dir Treue.«
»Ich verspreche dir Treue.«
Und gemeinsam kamen sie bis zum Ende des Spruches gut durch.
Tränenreich umarmten die Mütter ihre Kinderchen, und sogar Magdas Vater brachte es über sich, diesen Kerl, der einmal seine Tochter einem schwer bewaffneten Sonderkommando ausgesetzt hatte, an sich zu drücken.
Nur Jesus am Kreuz blieb angesichts der prunkvollen Zeremonie stumm und unbeweglich, auch als der Bischof zu ihm aufblickte und murmelte: »Ja, schon gut, ich weiß ja, dass du nur mit italienischen Priestern sprichst.«
Aber plötzlich wirkte Jesus’ Gesicht heiter. Das konnte ja nur eine Täuschung gewesen sein, vielleicht hatte sie ein in die Kirche fallender Sonnenstrahl verursacht.
Irritiert wandte sich der Bischof ab und entdeckte erst jetzt die junge Frau mit dem kleinen Mädchen, die weit hinter der Hochzeitsgesellschaft in der allerletzten Bank im Schatten einer Säule saßen, einfach irgendwie unbeteiligt wirkten und leicht übersehen werden konnten, von den Reportern auch übersehen wurden.
Abends, als der Fotograf bereits die fertigen Fotos brachte, bemerkte sie nur Magda darauf und flüsterte Joseph etwas ins Ohr.
»Nicht möglich«, antwortete er, »und wenn schon! Nun werde ich sie bestimmt nicht wiedersehen.«
»Wenn du dich da mal nicht täuschst.«
Nach dieser Hochzeit schrieben die Reporter wieder über das schönste Gesicht der deutschen Politik, und vielleicht erinnerten sie sich sogar selbst nicht mehr an ihre kritischen Berichte über Joseph und Magda. Und worüber sie nicht berichteten, das interessierte auch die Wähler nicht. Bei der nächsten Umfrage überwand Josephs Partei erstmals die Fünf-Prozent-Hürde.
Der innere Zirkel des Arbeitgeberbundes traf sich nicht in einem Sylter Gourmetrestaurant, sondern in der strandnahen Villa eines Mitgliedes. Aber auch dort musste keiner darben. Als die Gäste eintrafen, hantierte in der Küche bereits ein bekannter 2-Sternekoch mit seinen Helferinnen, und die in Goldfarben gedruckte Karte versprach ein exklusives Menü über 14 Gänge mit den dazu passenden edlen Weinen. Der Champagner zur Begrüßung und die Kanapees mit Kaviar, Entenbrust oder Edelfischen wurden auf der Terrasse gereicht. Hier und verteilt auf den gepflegten Rasenflächen standen einzelne Tischchen, an denen sich kleine Gesprächsgruppen bildeten.
Zum geeisten Süppchen und zur Sushi Variation wurde bereits in den Wintergarten gebeten, von dem man ebenfalls einen weiten Blick über das Meer hatte, das an diesem Tage fast spiegelglatt war, und von dem nur ein zartes Lüftchen herüberwehte.
»Das stimmt mich hoffnungsvoll«, meinte ironisch Herr von Söben, der Vorstandschef eines Energiekonzerns, »dann dürfte uns daraus kein ernsthafter Konkurrent erwachsen.«
»Solche Tage sind hier eher selten«, widersprach der Gastgeber, »meist weht ein starker Wind.«
Er blickte in seine Gesprächsagenda: »Womit wir schon beim ersten Punkt wären – unser Verhältnis zu diesem Joseph Adam und seiner neuen Partei. Seine Vita habe ich zusammenstellen lassen. Ich nehme an, dass sie jeder gelesen hat.«
Alle nickten zustimmend.
»Um es kurz zu wiederholen, darin gibt es keinen Ansatzpunkt, um ihn sofort abschießen zu können. Also sollten wir es wieder mit unserer speziellen Methode versuchen, die uns sowieso meist die größten Erfolge brachte, wir sollten ihn einbinden.«
»Wie schätzen Sie in diesem wohl sehr speziellen Fall unsere Erfolgsaussichten ein?«, fragte ein Großunternehmer, »wer ›Die Anderen‹ führt, will sich ja wohl auch anders verhalten?!«
»Bitte, Herr Neumann.« Der Gastgeber forderte einen Referenten auf, dazu Stellung zu nehmen.
»Ich verweise auf einen besonderen Punkt in seiner Vita, auf seine Tumorerkrankung. Die hätte ihn sehr verändert, berichteten meine Mitarbeiter. Seitdem würde er nach Erfolg und Aufstieg gieren. Er wünsche sich, dass einmal etwas von ihm bleiben würde.«
Ein Gelächter unterbrach ihn.
»Ja, tatsächlich, das bewies ja auch sein Verhalten auf diesem Gründungsparteitag.«
»Und was schlagen Sie deshalb vor?«
»Um den ersten Kontakt zu ihm zu bekommen, brauchen wir ein Thema, das nicht einmal sein Vorstandskollege, dieser Haberecht, ablehnen könnte.«
»Also?«
»Darauf hat Herr von Söben gerade angespielt. Wir sollten ihn zur Inbetriebnahme dieser ersten großen Windkraftanlage einladen, die manchen ja schon als echte Alternative zu Atom- und Kohlekraftwerken gilt. Diese Einladung wird er annehmen, muss er annehmen.«
Der Gastgeber blickte in die Runde: »Einverstanden?«
Keiner widersprach.
»Gut, dann machen wir das so.«
Er gab dem Koch, der schon ungeduldig wartete, ein Handzeichen. »Damit kommen wir zur Gänseleber mit Gewürzaprikosen. Dazu wird ein vorzüglicher, 50 Jahre alter Dessertwein gereicht.«
Joseph Adam wartete in seinem Auto neben der weit einsehbaren Straße, bis die Begleitfahrzeuge der Polizei ihm die Ankunft des Ministerpräsidenten ankündigten. Deshalb erschien er fast gleichzeitig mit dem zur Inbetriebnahme der Windkraftanlage und wurde von ihm vor allen Augen per Handschlag begrüßt.
Während der Ansprache des Ministerpräsidenten stand er in der ersten Reihe, und als der den roten Knopf gedrückt hatte und sich das riesige Windrad in Bewegung setzte, hielt ihm ein Reporter sein Mikrofon unter die Nase.
»Ein historischer Tag«, sagte Joseph, »da stimme ich dem Redner zu, hier und heute beginnt die energiepolitische Zukunft.«
»Aber, gestatten Sie einen Widerspruch, Herr Adam, die Kosten für den Windstrom sind doch riesig, der ist doch absolut nicht wettbewerbsfähig. Diese Anlage wird dem Steuerzahler auf der Tasche liegen.«
»Noch«, meinte Joseph zuversichtlich, »noch! Es ist ja auch eine Versuchsanlage. Wir werden mit ihr viel lernen und es später besser machen.«
»Glauben Sie, dass diese Technologie eine Zukunft hat?«
»Ja, davon bin ich fest überzeugt, denn wir brauchen Alternativen zu den herkömmlichen Kraftwerken. Dass wir gegen die Atomkraftwerke sind, brauche ich Ihnen ja nicht zu erklären. Aber auch die Verbrennung fossiler Energieträger können wir uns nicht ewig leisten. Der Anstieg des Kohlendioxidgehaltes in der Atmosphäre wird bedrohlich.«
Diesen Satz hätte Joseph selbst vor wenigen Monaten noch nicht ausgesprochen, aber eine kleine Zeitungsnotiz hatte seine Meinung verändert.
Magda hielt ihm die Zeitung hin und fragte: »Hast du das gelesen?«
»Was?«
»Das von den Außerirdischen.«
»Nein.«
»Hier steht«, sie lachte unsicher, »in Mexiko hätten Außerirdische einen Wissenschaftler entführt und ihn vor einem dramatischen Klimawandel gewarnt. Die Menschheit würde mit den Emissionen ihren eigenen Untergang herbeiführen.«
»Aha.«
Sie blickte auf: »Das interessiert dich wohl nicht besonders?«
»Nein, viele Reporter schreiben viel, wenn der Tag lang ist. Und jeder Tag hat 24 Stunden.«
»Sollte dich aber interessieren. Hier wird auf diverse Literaturstellen verwiesen. Lies die doch mal, für deine Partei könnte das ein wichtiges Thema werden.«
»Mache ich.«
Auch der Reporter hatte davon noch nichts gehört.
»Bedrohlich?«, fragte er verwundert, »aber Herr Adam, darüber könnten doch nur Spinner reden.«
»Spinner? Nein, ich denke, dass das Vordenker sind.«
Im Festzelt für Prominente saßen Joseph und Magda noch nicht am Tisch des Ministerpräsidenten, aber unmittelbar daneben mit Ehrengästen aus der Wirtschaft. Viele zeigten sich erfreut, den aufstrebenden Politiker und seine reizende Gattin persönlich kennenzulernen.
»Gestatten Sie, mein Name ist Neumann. Ich vertrete hier den Arbeitgeberverbund«, sagte sein Nachbar zur Linken und reichte ihm die Hand, »angenehm.«
»Ganz meinerseits.«
»Wenn ich, ohne mit der Tür ins Haus fallen zu wollen, meine Erwartungen direkt äußern darf, ich sehe Sie bereits im nächsten Bundestag sitzen.«
»Vermuten Sie das, weil ich meinen Wohnsitz von Westberlin nach Frankfurt verlegt habe?«
»Auch deshalb. Dieses Signal hat jeder Insider verstanden. Zumindest alle, die wissen, dass Westberliner nicht in den Bundestag gewählt werden können.«
»Genau aus diesem Grund bin ich umgezogen.«
»Sie werden aber für die Landesgruppe Niedersachsen kandidieren?«
»Nein, für Hessen.«
»Auf Platz 1?«
»Ja.«
»Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg. Nach der Wahl werden wir uns ja in Bonn gelegentlich begegnen.«
»Gehören Sie zu den Lobbyisten?«
»Ehrlich gesagt, ich mag dieses Wort nicht. Es hat so einen negativen Touch bekommen. Wir sehen uns eher als Berater. Beratung schadet niemandem, auch keinem Politiker.«
»Auch uns nicht, meinen Sie? Aber können Sie darauf hoffen? In den Medien werden wir doch als beratungsresistente, bornierte Ideologen bezeichnet.«
»In denen vielleicht, aber wir bemühen uns um ein detaillierteres Bild. Und wir wissen, dass auch in Ihrer Partei die Einen so und die anderen so sind.«
Ihr Gespräch wurde unterbrochen, denn die Kellner servierten den ersten Gang des leckeren Menüs mit ausgewählten Weinen. Magda hielt sich lieber an den köstlichen, prickelnden Champagner. Ein junger Kellner, der sie ungeniert anhimmelte, schenkte ihr immer wieder nach.
»Ein schöner Tag«, sagte sie beschwipst so laut, dass es Neuman hörte.
»Ein interessanter«, meinte Joseph.
»Wirst du solche Einladungen jetzt öfter annehmen?«
»Wenn du willst, warum nicht?«
»Ich will.«
Neumann berichtete seinem Verbandschef brühwarm jedes Detail dieses Zusammentreffens.
»Dann könnten wir also auch bei seiner Frau ansetzen«, antwortete der.
»Mein Respekt, wie immer haben Sie sofort des Pudels Kern erfasst.«
Neumann überreichte einen Kurzbericht. »Das ist ihre Vita.«
»Na, lassen Sie mal sehen. Sie ist also mit ihrem Studium fertig und sucht in Frankfurt noch eine Arbeit. Sie will nicht nur die Politikergattin spielen. Sehr löblich. Und sie vermisst dort schon ihren Berliner Freundinnenkreis, muss sich in Frankfurt erst einen aufbauen. Okay. Und Sie meinten, dass ihr die erste Feier in der VIP-Lounge gefallen hätte?«
»Offensichtlich sehr.«
»Okay, dann haben wir ja einige Ansatzpunkte. Fangen wir bei ihrem Arbeitsplatz an, natürlich mit der gebotenen Vorsicht. Keiner aus Adams Partei darf erkennen, dass wir an den Stellschrauben drehen. Sie schreiben hier, dass sie BWL studiert hätte, aber auch künstlerisch interessiert wäre. Vielleicht könnten wir sie als Kulturfunktionärin etablieren und damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Aus den vielen Unternehmergattinnen, die in Kunst und Kultur machen, ergäbe sich dann gleich ihr neuer Freundinnenkreis. Prüfen Sie mal, ob sich da etwas anbietet.«
»Habe ich schon. Zum Beispiel sucht der Dezernent für Kultur und Wissenschaften eine Referentin. Aber ich befürchte, dass der keine Seiteneinsteigerin nehmen würde.«
»Kein Problem. Das regele ich mit dem Bürgermeister.«
Frankfurter Arbeitgeber trafen sich mit den Bundestagsabgeordneten des Landes und folgten der Anregung der neuen Kulturreferentin, Magda Adam, gemeinsam das Kunstmuseum zu besuchen. Im Foyer, in dem vor der offiziellen Begrüßung Fingerfood zu Sekt oder Orangensaft gereicht wurde, bildeten sich Gesprächsgruppen.
Magda ging von einer zur anderen und kurz auch zu Joseph, der hier noch niemanden kannte und einsam und verlassen in einer Ecke stand, und fragte ihn: »Was siehst du?«
»Was soll ich sehen?« Er überblickte das Foyer. »Verschiedene Gruppen von Wirtschaftsbossen und Politikern.«
»Genauer.«
Er zuckte mit den Achseln: »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Sieh dort.« Sie deutete auf 5 miteinander diskutierende Gäste. »Dort reden mehrere Arbeitgeber mit einem Politiker. Dort ist es genauso. Aber dort …«, sie blickte Joseph prüfend an, »fällt jetzt der Groschen?«
»Ach so«, er lachte auf, »dort steht der berühmte Superbanker Müller im Mittelpunkt, und mehrere Politiker scharen sich um ihn.«
»Genau! Du weißt, was das bedeutet?«
»Klar. Habe ich ja schon vorher gewusst.«
»Na gut, dann komm, ich stell dich dem Banker vor.«
Nach der Begrüßung führte der Museumschef seine Gäste sofort zu Andy Warhols Werken. Banker Müller trat nahe an das Bild »Green Disaster ten times« heran, also folgten ihm alle.
»Aus der Nähe kann man ein einziges Bild detailliert studieren«, erläuterte der Direktor, »Sie erkennen das schwer beschädigte Autowrack, den darin eingeklemmten Körper, dessen linker Arm das Gesicht verdeckt, das Opfer also anonymisiert. Aber lassen Sie uns wenige Schritte zurücktreten. Jetzt können Sie sich nur noch mit bewusster Anstrengung auf ein einziges Bild konzentrieren. Der Gesamtaufbau, je 5 Bilder in 2 Reihen, erinnert uns an einen Filmstreifen. Wir assoziieren deshalb automatisch auf minimale Veränderungen von Bild zu Bild. Aber die gibt es nur im Kontrast, es ist immer das gleiche Bild. Die brutale Situation wirkt aussichtslos für das Opfer.«
»Wollte Warhol damit die Lust am Grauen befriedigen?«, fragte Joseph Adam.
»Er hatte plötzlich erkannt, dass grausame Bilder für uns alltäglich geworden sind und deshalb im Grunde keine Wirkung mehr erzielen. Deshalb begann er seine Serie zu Katastrophen, zu der dieses Bild gehört.«
»Ein weites Feld«, meinte der Banker.
»Sie sagen es. Aber ich denke …«
Während der Direktor weiter über die Gründe dieser Schaffensperiode mutmaßte, zerfiel der zuvor geschlossene Zuhörerkreis wieder in Gruppen, und bei den nächsten Bildern gab er nur noch kurze Erläuterungen.
Auch Joseph fand jetzt einen Gesprächspartner. Neumann, der Verbandsreferent, dessen Erwartungen, dass Joseph Adam in den Bundestag einziehen würde, sich erfüllt hatten, war verspätet eingetroffen.
»So einsam?«, fragte er lächelnd und gab sich selbst die Antwort, »die hiesigen Topmanager wissen mit einem Bundestagsabgeordneten Ihrer Partei noch nichts anzufangen, obwohl Sie ja im Wirtschaftsausschuss tätig sind«
»Blieb mir nichts weiter übrig. Mein Kollege Haberecht drängte darauf, selbst in den Umweltausschuss zu gehen.«
»Ich weiß. Aber ich denke, dass Sie es besser getroffen haben als er. Der Kanzler wird Sie zu seiner Indienreise mitnehmen, bei der ihn wieder viele Topmanager begleiten werden.«
»Mich? Bisher hat er mich noch nicht eingeladen.«
Neumann lachte amüsiert: »Unter uns, im Vertrauen, aber Ihnen kann ich das ja sagen. Sie wissen, wie der Hase läuft. Das hat der auch erst jetzt erfahren.«
Joseph blickte einen Moment verblüfft, aber dann verzog er sein Gesicht.
Magda beobachtete ihn gerade und wirkte kurz irritiert.
»Worüber habt ihr gesprochen?«, fragte sie ihn später.
»Warum fragst du?«
»Du hast gegrinst, so, so, ich konnte es nicht richtig deuten, so triumphierend, ja, triumphierend! Ihr wirktet wie zwei Verschwörer.«
»Ach«, wehrte Joseph ab, »das war eher Unsicherheit.«
Und damit gab er sich selbst das Stichwort, um Magda abzulenken.
»Du weißt ja, wie unsicher ich in den ersten Monaten in Bonn war. Alle neuen Abgeordneten brauchen Zeit, um sich einzuleben. Und viele versinken dann schnell im Alltag. Diverse Sitzungen, nicht nur im Plenum, sondern auch mit Mitarbeitern, in der Fraktion, in der Landesgruppe oder in Arbeitsgruppen und Ausschüssen. Kontakt halten zu dem Wahlkreisbüro, noch abends diverse Treffen mit Gremien des Bundestages oder Wirtschaftsvertretern und mit vielen anderen.«
»Lobbyisten?«
»Auch mit denen, oft verbunden mit einem Essen. Nicht selten geht es bis weit nach Mitternacht. Manche stöhnen, dass ein 24-Stunden-Tag nicht reichen würde.«
»Und du bist ja auch noch Parteivorsitzender.«
»Eben!«
»Aber du hast kein leichenblasses, ständig übernächtigt wirkendes Gesicht wie zum Beispiel dein Kollege Haberecht. Was machst du anders als der?«
»Ich kann Wichtiges und Unwichtiges unterscheiden. Ich muss nicht zu jedem Scheiß gehen. Und es macht mir nichts aus, wenn mir Wähler empörte Briefe schreiben, weil sie mich nicht im Plenum gesehen haben. Da habe ich anderes zu tun, als mir dort den Hintern breit zu sitzen.«
»Und was ist das?«
Joseph lächelte: »Du weißt doch, dass ich nicht ewig als Hinterbänkler gelten will.«
»Frau Adam, wenn ich bitten dürfte!«
Der Direktor ersparte Joseph eine bohrende Nachfrage.
Außerhalb der Sitzungsperioden war Joseph meist in seinem Wahlkreis, also auch bei Magda. Aber auch in Frankfurt hatten sie nur wenig Zeit füreinander, denn Magda war schnell zur rechten Hand des Kulturbürgermeisters geworden, der viele Abendtermine auf sie ablud. Dafür durfte sie sich ab und zu wenige Tage frei nehmen, um Joseph in Bonn zu besuchen. So oft es möglich war, begleitete sie ihn dort zu Abendveranstaltungen. Deren Anzahl stieg, seitdem Joseph den Kanzler zu Auslandsterminen begleitete, und deren Teilnehmerkreis veränderte sich stark. Nicht nur die Lobbyisten der Industrie hatten den vielversprechenden Abgeordneten Adam entdeckt, auch Vorstandsvorsitzende hielten es nicht mehr für vergeudete Zeit, mit ihm zu sprechen.
Seinem Kollegen Haberecht schien das in die Karten zu spielen. Der kultivierte schon äußerlich die Unterschiede zu Joseph Adam. Wenn der immer wohlfrisiert und gepflegt in seinen vornehmen Kombinationen auftrat, erschien Haberecht mit seinem Rauschebart und schulterlangen Haaren in Jeans und Pullover. Während Joseph es für zweckmäßig hielt, als Bundestagsabgeordneter Probleme mit der Energiewirtschaft zu diskutieren, fühlte sich Haberecht weiter als Angehöriger der außerparlamentarischen Opposition. Auf den Bildschirmen war er meist bei Blockaden vor Atomkraftwerken zu sehen. Wenn er auch bei der Parteigründung neben Joseph Adam wie ein grüner Junge gewirkt hatte, gelang es ihm nun doch, einige von dessen Anhängern auf seine Seite zu ziehen.
»Der schadet dir«, stellte Magda fest, »ewig kann das nicht so weitergehen.«
»Kommt Zeit, kommt Rat«, meinte Joseph gelassen, »so Gott will, wird sich entscheiden, wer die Partei besser führt.«
Bereits kurz vor dem 26. April hatte Joseph Magda eine Wanderung von Bonn zum Kloster Heiterbach vorgeschlagen.
»Etwa hin und zurück?«
»Warum nicht? Das Wetter soll ja schön werden.«
»Eine Strecke sind 13,9 Kilometer.«
»Notfalls können wir zurück ja ein Taxi nehmen.«
Das Wetter hielt, was die Meteorologen versprochen hatten, strahlender Sonnenschein, kaum eine Wolke am tiefblauen Himmel und eine gute Sicht, die einen Blick über den Rhein bis zum Ahrgebirge ermöglichte. Doch an diesem Tag hatten beide kein Auge dafür.
»Verdammt heiß für eine so lange Wanderung«, stöhnte Joseph schon vor Ramersdorf, »die ersten warmen Tage sind sowieso immer belastend.«
»Vielleicht kann uns das wenigstens ablenken.«
»Ablenken? Heute? Ich denke immerzu daran.«
»Hier ist nicht viel runtergekommen«, meinte Magda zuversichtlich, »die Bayern hat es viel schlimmer erwischt. Dort hatte es ja stark geregnet, also den Staub aus der Atmosphäre gewaschen.«
»Aber auch bei uns tickt der Geigerzähler. Würdest du etwa Salat von hier essen?«
»Nein, das nicht. Die neuen Grenzwerte für Gemüse, die sie heute herausgegeben haben, sind doch insbesondere aus ökonomischen Gründen festgelegt worden.«
»Du sagst es.«
Joseph holte einen Zettel aus seiner Jackentasche, auf dem die Empfehlungen der Behörden standen. »Milch und andere Lebensmittel bevorraten, Kinder nicht rauslassen, nach einem Regen gründlich duschen …«
»Es reicht«, unterbrach ihn Magda. Sie blickte sich suchend um. Der Rheinpark war auch an diesem Samstag gut besucht, aber hinter ihm lagerte kaum jemand in der Rheinaue. Sie deutete auf eine Baumgruppe: »Komm, wir suchen uns dort ein Plätzchen, scheiß auf die geplante Wanderung.«
Minutenlang lagen sie schweigend in der Sonne.
»Es tickt«, sagte Joseph plötzlich.
»Ein komisches Gefühl ist das«, bestätigte Magda, »man will die ersten warmen Tage genießen, denkt aber nur an Tschernobyl. Wer weiß, was wir gerade einatmen oder auf uns runterfällt.«
»Ich hatte die gleichen Gedanken. Vor drei Tagen hat dieser dümmliche Innenminister noch herausposaunt, dass für uns eine Gefährdung absolut auszuschließen wäre. Und genau an diesem Tag drehte sich der Wind und blies alles zu uns. Die Schweden hatten ja schon die Radioaktivität gemessen, als die Sowjets noch alles verheimlichten, auch die Evakuierung von Prypjat.«
Er holte einen anderen Zettel heraus und las Magda die wichtigsten Ereignisse nach dem Supergau vor.
»Wozu hast du den mit?«
»Um es zu verinnerlichen.«
»Wofür?«
»Für die Interviews und Diskussionen im Fernsehen, die es geben wird«, sagte er leichthin.
Aber Magda kannte ihn zu gut: »Worauf zielst du ab?«
»Auf nichts Besonderes. Es ist doch klar, dass jetzt auch unsere Meinung gefragt ist.«
»Ja, das ist klar, aber du denkst noch an etwas anderes bzw. an einen anderen.«
»So?«
»Ja. Und ich ahne schon an wen, an Haberecht.«
»Mag sein. Da spitzt sich einiges zu. Einmal muss ja eine Entscheidung fallen. Und ich glaube, dass Haberecht sie jetzt sucht. Eine bessere Chance kann er nicht bekommen.«
Sie wandte sich erregt ab: »Das kotzt mich an.«
»Was?«
»Der Supergau fordert jetzt schon viele Opfer. Künftig werden Zehntausende oder wer weiß wie viele deshalb vorzeitig sterben. Und Politiker wollen daraus Kapital schlagen.«
»Ich muss das nüchtern und sachlich sehen. Was immer ich mache, an den Tatsachen kann das überhaupt nichts ändern. Aber Haberecht und ich können nicht ewig als gleichberechtigte Parteivorsitzende zusammenarbeiten. Unsere Vorstellungen über die Entwicklung der Partei sind zu unterschiedlich. Einer muss sich durchsetzen. Ich werde erst einmal abwarten, was er jetzt macht. Im Moment triumphiert er und stolziert wie ein Gockel durch den Bundestag. Er und seine Gruppe hätten ja schon seit Jahren vor einer solchen Katastrophe gewarnt.«
»Die spielt ihm ja tatsächlich in seine Karten«, meinte Magda nach kurzem Schweigen, »wenn jetzt eine Entscheidung fallen würde, dann für ihn. Würdest du dich jetzt gegen ihn wenden, würde er dich unangespitzt in den Boden rammen.«
»So weit bin ich auch schon.«
»Aber?«
»Ich muss jetzt langfristig denken, sehr langfristig.«
»Was meinst du?«
»An die weitere Entwicklung. Gestern wurde gemeldet, dass in bestimmten Regionen die Feldfrüchte untergepflügt werden müssten. Nicht etwa nur in der Sowjetunion, nein, auch bei uns in Deutschland. Im Moment sind die Menschen in Schockstarre, aber das wird sie aufschrecken. Die Diskussionen darüber und über die Atomkraftwerke werden sich lange hinziehen. Aber«, er lächelte zuversichtlich, »aber nicht ewig andauern. Heute schwingt das Pendel zu Haberecht, aber eines Tages muss es seine Richtung ändern.«
»Und wieder zu dir schwingen?«
»Ich denke schon.« Josephs Stimme wirkte wieder zuversichtlich. »Eine Zeitlang muss ich aber kleine Brötchen backen. Doch die werde ich nicht ungenutzt verstreichen lassen.«
So realistisch Joseph Adam die neue Situation bewertete, so falsch schätzte er deren Dauer ein. Was er eine Zeitlang genannt hatte, sollte Jahre erfordern. Erst ein neues, historisch zu nennendes Ereignis sollte sie wieder verändern.
Aber so weit war es jetzt noch nicht. »Die Anderen« bestätigten zwar ihre beiden Vorsitzenden, aber praktisch führte sie Haberecht alleine. Und er trieb die so genannten Altparteien vor sich her. Wenn deren Spitzenpolitiker nun auch über die Verringerung des Anteils an Atomstrom diskutierten oder sogar zögerlich das Wort Ausstieg in den Mund nahmen, wurde das als sein Erfolg gewertet.
Nach den nächsten Wahlen mussten für »Die Anderen« neue Bänke ins Plenum gestellt werden. Hinter den beiden Fraktionsvorsitzenden saß Joseph weiter neben Haberecht in der zweiten Reihe, aber sein Platz blieb oft leer. Manchmal sonderte er sich mit anderen Fraktionsmitgliedern in die hinteren Bänke ab, um irgendein Thema zu diskutieren, und dort redete er sogar mit Regierungsmitgliedern.
Erst als es keine Abkehr von den Atomkraftwerken gab und sogar Neubauten genehmigt wurden, wurde die Gruppe um Joseph wieder größer. Weil vorher der scheinbare Erfolg Haberecht zugeschrieben wurde, passierte das jetzt auch mit den Misserfolgen.
»Das Pendel ist umgekehrt«, sagte Joseph zu Magda.
»Dann bist du bald wieder obenauf.«
»Nein, nicht automatisch. Ich denke oft darüber nach, was ich machen muss, um wieder die Oberhand zu gewinnen. Und ich glaube, dass ich dafür ein völlig neues Thema brauche. Ein Thema, das für unsere Partei noch überhaupt keine Rolle spielt, das ich als erster in unsere Agenda bringe, am besten gegen Haberechts erbitterten Widerstand.«
»Welches?«
»Ja, das ist eben die Frage.«
Auch mit Tante Sarah, die nach wie vor seine wichtigste Beraterin war, diskutierte er darüber. Sie fand die Antwort nicht sofort, lud ihn dann aber überraschend nach Westberlin ein.
»Komm am Wochenende zu mir. Welche Termine du auch hast, lass sie platzen.«
»Aber ich …«
»Kein Aber, komm her und frage am Telefon nicht warum. Nur so viel, wir werden noch einen anderen Gast haben, einen ganz besonderen.«
Bundestagsabgeordnete nutzten die Transitstrecke über die Autobahn eher nicht. Aber Joseph wollte sich darauf einlassen, um wenigstens seine Vormittagstermine nicht absagen zu müssen. Die lange Wartezeit und die gründliche Prüfung seiner Papiere und des Kofferraums am Grenzübergang hielt er für normal. Hinter Eisenach blickte er alle paar Sekunden auf den Tacho, um die erlaubte Geschwindigkeit von 100 oder 80 Sachen auf den Holperstrecken ja nicht zu überschreiten.
Nur von dem freien Blick auf den Inselsberg ließ er sich kurz ablenken. Ein ehemaliger DDR-Bürger hatte ihm erzählt, dass manche Rennsteigläufer diesen steilen Hang rückwärts runterliefen, weil ihre überlastete Beinmuskulatur unerträglich schmerzte.
Danach konzentrierte sich Joseph wieder auf den Tacho, und in der Baustelle am Hermsdorfer Kreuz wurde ihm das zum Verhängnis. Er verpasste die Abfahrt nach Westberlin. Das ging ihm wohl nicht alleine so, denn ein Mercedes mit Westberliner Kennzeichen folgte ihm. Und das war scheinbar kein Problem, denn die Abfahrt nach Rüdersdorf war auch als Wendestelle für Transitreisende nach Westberlin gekennzeichnet.
Der andere Fahrer folgte ihm weiter und hielt sich ebenfalls streng an die vorgeschriebene Geschwindigkeit. Erst einige Kilometer vor der Berliner Kontrollstelle überholte er ihn, und dort wurde Joseph sofort auf einen Sonderparkplatz geleitet. Ein Offizier nahm ihm seine Papiere ab und wies ihn an, im Auto sitzen zu bleiben. Als Wächter stellte er einen bewaffneten Soldaten daneben. Eine Zeitlang beobachtete Joseph interessiert die Grenzkontrolle, die völlig unterschiedlich gehandhabt wurde. Bei manchen Insassen wurden nur die Papiere kontrolliert, andere mussten aussteigen und den Kofferraum öffnen, Dritte wurden auch zu Sonderparkplätzen dirigiert.
»Das System ist die Systemlosigkeit«, hatte ihm der Rennsteigläufer erklärt, »keiner kann vorher abschätzen, was mit ihm passiert.«
Das einmal selbst zu beobachten, war spannend, ermüdete aber auch. Joseph stieg kurz entschlossen aus.
Der Soldat griff zu seiner Waffe. »Steigen Sie sofort wieder ein!«
»Entschuldigung, ich müsste mal dringend zur Toilette.«
»Steigen Sie sofort wieder ein!«
»Verstehen Sie mich nicht? Ich habe ein dringendes …«
»Maul halten!«, brüllte der Soldat, »Einsteigen!«
Erst als die mit Tante Sarah vereinbarte Zeit bereits verstrichen war, kam ein höherer Offizier zum Auto, der freundlich lächelte: »Tut mir leid, dass Sie Unannehmlichkeiten hatten, aber Sie wissen weshalb.«
»Ja, ich weiß. Leider habe ich in der Baustelle die Ausfahrt übersehen.«
»Hat sich bereits erledigt. Sie dürfen ausreisen.« Der Offizier zögerte kurz. »Ihre Partei bemüht sich um ein gutes Verhältnis zur DDR. Das erkennen wir an.« Er ging persönlich vor Josephs Auto und entfernte das Hüttchen. »Gute Weiterreise.«
Joseph hob grüßend eine Hand.
Er kam erst bei seiner Tante an, als sie mit ihrem Gast nach dem Abendbrot bereits beim Kaffee und Kognak saß. Joseph hatte längst gelernt, vor Fremden keine Gefühle zu zeigen, aber als er Sarahs Besucher erkannte, blieb er kurz verblüfft stehen und riss seine Augen weit auf. Der Gast lächelte amüsiert, er blickte aber bereits auf seine Uhr.
»Darf ich kurz vorstellen? Joseph Adam, mein Neffe, Herr von Lenthe, den du ja in Bonn schon oft gesehen hast.«
»Sehr erfreut.«
»Angenehm.«
Die Herren reichten sich die Hand, und Tante Sarah tadelte: »Warum kommst du erst jetzt?«
Joseph berichtete kurz sein Missgeschick, und Sarah meinte dazu: »Da hattest du großes Glück. Westberliner haben mir darüber schon ganz andere Sachen erzählt.«
»Na gut«, sie wandte sich wieder an Herrn von Lenthe, »oder schlecht. Ich weiß, dass deine Zeit begrenzt ist.«
»Einige Minuten habe ich noch. Die reichen noch für ein Schlückchen.«
Sie goss ihm einen Kognak ein, und in Josephs Kopf überschlugen sich inzwischen die Gedanken. Herr von Lenthe war der wichtigste deutsche Manager, der seit Jahrzehnten in alle Himmelsrichtungen enge Kontakte besaß, der mit den Politikern in Moskau genauso vertrauliche Gespräche führte wie mit denen in Washington. Bei allen wichtigen Empfängen in Bonn war er wie selbstverständlich anwesend, aber Joseph hatte sich ihm bisher nicht nähern können. Und nun saß der ihm direkt gegenüber und taxierte ihn völlig ungeniert.
»Joseph Adam, der alles anders machen will. Sarahs Neffe! Das hätte ich nicht für möglich gehalten.«
Sarah legte ihm vertraulich eine Hand auf die Schulter: »Nun weißt du es aber.«
»Und nun weiß ich auch von dir, dass er manches anders sieht als viele Politiker seiner Partei, wie zum Beispiel dieser unsägliche Haberecht.«
Er blickte Joseph direkt in die Augen, der tapfer standhielt. »Für eine lange Diskussion ist keine Zeit, auch nicht für detaillierte Erläuterungen, die können Sie von Sarah erhalten. Den Rat, den Sie benötigen, kann ich Ihnen geben.«
Wieder sah er Joseph direkt an und war wohl mit dessen Reaktion zufrieden. »Von Ihnen persönlich habe ich zu innerdeutschen Fragen noch keinen Kommentar gehört, die scheinen Sie nicht zu interessieren. Aber Ihre Parteifreunde setzen bewusst auf die Zweistaatentheorie. Die wollen denen, deren Grenzsoldaten Ihnen gerade so übel mitgespielt haben, zu internationaler Anerkennung verhelfen. Deshalb empfehle ich Ihnen, machen Sie es anders, setzen Sie das Thema Wiedervereinigung ganz oben auf Ihre Agenda.«
Josephs Gesicht verriet schon wieder seine Gefühle. Er wirkte enttäuscht.
Von Lenthe lächelte nachsichtig: »Junger Mann, Sie meinen, es hätte sich nicht gelohnt, dafür nach Berlin zu fahren und all diese Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen? Sprechen Sie mit Sarah und denken Sie darüber nach.«
Er erhob sich. »Es tut mir leid, Sarah, aber ich muss.«
Sarah begleitete ihn hinaus.
Als sie endlich zurückkam, hatte sich Joseph einen Kognak eingegossen. »Entschuldige, aber jetzt brauche ich einen.«
»Du bist enttäuscht?«
»Maßlos. Was soll dieser, dieser, entschuldige, dieser Unsinn?« Er trank einen großen Schluck. »Ich weiß ja, dass der Gott und alle Welt kennt. Der wird doch von Politikern und sogar anderen Topmanagern wie der Herrgott persönlich verehrt. Aber woher kennt der dich?«
»Wir sind uralte Freunde, schon seit dem Krieg. Er hatte damals deutsche Wirtschaftsinteressen im Ausland vertreten, aber seine Frau musste hier in Berlin bleiben, quasi als Geisel. Die Nazis haben ja niemand vertraut. Sie war sehr einsam und wurde meine beste Freundin. Ich habe mich um sie gekümmert, und er war mir deshalb sehr dankbar.«
»Seine Frau? Das ist doch die, na, ich komme nicht drauf.«
»Du meinst seine zweite Frau. Die erste hatte sich scheiden lassen. Nach dem Krieg ist er steil aufgestiegen und hat sie wieder vernachlässigt. Eines Tages reichte es ihr. Die Kontakte zu mir hat er danach einschlafen lassen. Aber vor einigen Jahren, du warst damals noch nicht hier, hat er seine eigene Schuld eingestanden, und seitdem treffen wir uns meist, wenn er in Berlin ist.«
»Aha.«
»Ja, ich verstehe, dich interessiert anderes. Also pass auf, der hat noch nie in seinem Leben Unsinn erzählt oder vorgeschlagen. Aus deiner Sicht ist seine Andeutung nur deshalb unverständlich, weil du den Hintergrund nicht kennst.«
»Dann erkläre ihn mir.«
»Ungern.«
»Na, Tante Sarah, du glaubst ja selbst nicht, dass ich mich so abspeisen lasse.«
»Eben.« Sie überlegte kurz. »Dir sagt der Name Bilderberger doch etwas?«
»Na hör mal, selbstverständlich.«
»Dann weißt du auch, dass deren Geheimtreffen jedes Jahr stattfinden. Und seit vielen Jahren gibt es nur einen Deutschen, der ständig dazu eingeladen wird, und das ist er.«
»In diesem Jahr auch?«
»Ja.«
»Und?«
»Erstmals seit Jahren«, Sarah stockte, »bitte, Joseph, sei nicht beleidigt. Du musst mich verstehen, das ist das allergrößte Staatsgeheimnis der Bundesrepublik seit dem Kriegsende. Noch in Jahrzehnten wird niemand offiziell darüber sprechen. Du musst mir hoch und heilig schwören, es niemanden weiterzusagen. Auch nicht Magda.«
»Gut, ich schwöre es, wenn es dir so wichtig ist.«
»Ist es, aber eben nicht mir. Also, erstmals seit Jahrzehnten stand das Thema Wiedervereinigung Deutschlands auf der Agenda.«
»Stand es? Das dachte ich mir ja nun schon. Und was wurde beschlossen?«
»Ach, Joseph, du verstehst die Tragweite dieser Information nicht. Du brauchst Zeit, um gründlich darüber nachzudenken. Aber, um deine Frage zu beantworten, die beschließen nichts offiziell, von diesen Treffen gibt es keine Protokolle. Aber trotzdem machen die danach Nägel mit Köpfen.«
Joseph wurde nun doch nachdenklich. Er erinnerte sich an sein Gespräch mit dem Rennsteigläufer. Der hatte ihm erzählt, dass auch in der DDR nicht mehr Friedhofsruhe herrschen würde. »Seitdem Honecker Perestroika und Glasnost ablehnt, gärt es sogar unter den Genossen. Die Zeitschrift Sputnik, die über viele Veränderungen in der Sowjetunion berichtet, wird von Hand zu Hand gereicht. Nicht die materiellen Versorgungsengpässe bestimmen die Diskussionen der Bevölkerung, wie man hier glaubt, sondern Gorbatschows neue Politik.«
Joseph erzählte das seiner Tante und sagte dann: »Ehrlich gesagt, ich habe mich für die DDR noch nie interessiert. Vielleicht bewegt sich in der tatsächlich etwas. Ohne Grund werden die Bilderberger nicht darüber diskutiert haben. Aber was könnten die denn konkret machen?«
»Einen kleinen Anstoß geben. Wenn die Situation für Veränderungen reif ist, genügt der oft. Das sagt mir meine Lebenserfahrung.«
»Und das sagt zu diesem konkreten Fall auch dein Herr von Lenthe?«
»Ach, Joseph, wir müssen nicht über alles reden. Wichtig ist doch jetzt, welche Schlussfolgerungen du ganz persönlich für deine Politik ziehst.«
Bis zur nächsten Bundestagswahl waren es noch fast zwei Jahre, aber Haberechts Gruppe wurde bereits unruhig. Die Umfrageergebnisse für »Die Anderen« sanken nach einem Zwischenhoch schnell unter die letzten Wahlergebnisse. Die Bevölkerung hatte die Angst nach dem Supergau schon vergessen und wehrte sich nur noch an lokalen Brennpunkten gegen die Atomkraftwerke. Haberechts Reden rüttelten niemand mehr auf und wirkten oberlehrerhaft wie bei der Parteigründung.
»Wir brauchen schon heute ein umfassendes Wahlprogramm«, entschied er, »wir müssen unsere Aussagen schärfen, insbesondere zu unseren traditionellen Themen Atomenergie, Frieden und Gleichberechtigung, um den Wählern wieder bewusst zu machen, dass wir die einzige Alternative zu den Altparteien sind.«
Als der Entwurf vorgelegt wurde, enthielt der natürlich auch einen Absatz zu den zwischenstaatlichen deutschen Beziehungen. Die Selbstständigkeit der DDR sollte international gestärkt werden.
Eine Diskussion über diese nebensächliche Aussage war nicht vorgesehen. Viele Vorstandsmitglieder wirkten deshalb irritiert, als Joseph Adam sie dazu aufforderte.
Aber er widersprach ihnen entschieden: »Um das Thema Wiedervereinigung dürfen wir uns nicht drücken. Der Wähler will auch dazu unsere Position erfahren.«
»Wiedervereinigung?«, fragte Haberecht erstaunt. »Dieses Wort nehmen doch sogar die Politiker der Altparteien kaum noch in ihren Sonntagsreden in den Mund, höchstens mal am 17. Juni. Ich frage mich, was du damit bezwecken willst.«
Nun begann eine heftige, nicht nur gegen Joseph Adams Vorschlag, sondern auch gegen ihn persönlich gerichtete Diskussion. Haberecht hielt es jedoch für überflüssig, die Rivalität gegen den wieder hochkochen zu lassen und fragte einlenkend: »Wie würdest du das denn formulieren?«
»Wir sollten zwar zum Ausdruck bringen, dass wir weiter für die Zweistaatlichkeit sind, sollte sich aber eine veränderte Situation ergeben und würden beide Seiten für eine Wiedervereinigung sein, würden wir uns nicht davor verschließen. Oder so ähnlich.«
»Veränderte Situation?«, lachte Einer auf, »die wird es nicht einmal im Traum geben.«
»Schon gut«, schnitt Haberecht eine neue Diskussion sofort ab, »wenn es dir, Joseph, so wichtig ist und du nicht mehr willst, könnten wir das mittragen.«
Er blickte zu seinen Anhängern. »Da würde uns kein Zacken aus der Krone fallen.«
Also stand im Wahlprogramm plötzlich eine Aussage zur Wiedervereinigung.
Erst als die Medien öfter darüber berichteten, interessierte sich Joseph Adam für die Friedensinitiative der Christen in der DDR, die sich auch von gewaltsamen Übergriffen der Stasi nicht stoppen ließen. Im Mai 1989 fanden Regimekritiker dann noch ein anderes Thema. Offensichtlich hatte die DDR-Führung die Wahlergebnisse gefälscht, um nicht viele Gegenstimmen ausweisen zu müssen. Jetzt versammelten sich am siebten Tag jeden Monats junge Ostberliner auf dem Alexanderplatz und protestierten dagegen.
Beim nächsten Treffen sprach Joseph mit seiner Tante Sarah auch darüber und fragte: »Ich weiß schon, keine Namen, keine Namen, aber hast du mit ihm noch einmal gesprochen? Hat er sich dazu geäußert?«
»Nein, selbstverständlich nicht. Seit damals war das nie ein Thema zwischen uns.«
»Ehrlich?«
»Natürlich ehrlich, was denkst du denn von mir?« Ihre Stimme wirkte kurz verärgert, sie fragte aber sofort zurück: »Was hälst du denn davon?«
»Ich denke an deine Worte, du weißt schon, ein kleiner Anstoß. Und ich habe mich über die deutschen Kirchen mal schlau gemacht. Der allgemeine Eindruck ist ja, dass auch die sich auseinander gelebt hätten, aber die arbeiten ja noch immer eng zusammen. Unsere finanzieren nicht nur deren Kirchenrestaurierungen, sondern, was meines Erachtens besonders schwer wiegt, zum Beispiel auch die Altersversorgung von Pfarrern und vieles andere.«
»Und was denkst du darüber?«
»Für konkrete Schlussfolgerungen sind meine Kenntnisse noch nicht ausreichend. Ich sage nur: Nachtigall, ick hör dir trapsen.«
Die Leipziger Demonstranten riefen im Oktober 1989: »Wir sind ein Volk.«
Und Joseph Adam verkündete im Parteivorstand: »Die wählen nächstes Jahr mit.«
Haberecht begriff nicht, was er damit meinte: »Was werden die mitwählen?«
»Die jetzigen DDR-Bürger werden im nächsten Jahr den Bundestag mitwählen.«
Haberechts Leuten blieben die Münder offen stehen, und für Adams Spion unter denen war das das Signal, nun seinen vereinbarten Part zu spielen:
»Unfassbar, was du hier absonderst, jetzt drehst du wohl völlig durch?«
Er wandte sich an Haberecht: »Jetzt müssen wir dieses Thema aber endgültig klären. Es war ein schwerer Fehler, diese Wischiwaschi-Formulierung zur deutschen Frage in unser Parteiprogramm aufzunehmen. Die trägt dazu bei, dass unsere Umfragewerte stagnieren. Wir müssen dem Wähler eindeutig sagen, was wir wollen, und das ist die Zweistaatlichkeit, gleichberechtigte Beziehungen zwischen beiden Staaten und eine normale zwischenstaatliche Zusammenarbeit. Sollen die Altparteien über Deutschlands Zukunft schwadronieren, wir müssen über unsere Themen reden.«
Erregt wirkend sprang Joseph auf: »Vor allem brauchen die Wähler Visionen. Und wer soll die ihnen übermitteln, vielleicht die Altparteien? Die müssen wir ihnen übermitteln, klar und eindeutig, ohne Wischiwaschi, da gebe ich dir recht. Von der Regierung gewinnt man ja den Eindruck, dass die noch nicht begriffen hätte, welche einmalige Chance uns die DDR-Bürger bieten.«
»So!« Haberecht grinste zynisch. »Keiner begreift etwas, nur du. Du alleine hast den großen Durchblick, du bist, um dein Wort zu benutzen, der Visionär. Bravo!« Er klatschte höhnisch Beifall, und seine Anhänger fielen mit ein.
Joseph senkte tief den Kopf, um seinen Triumph zu verbergen, denn er verstand sofort, dass auch Haberecht dieses Mal nicht um des lieben Friedens Willen nachgeben wollte. Der suchte nun eine endgültige Entscheidung darüber, wer die Partei führen sollte. Nun gut, diesen Sieg gönnte er ihm, denn es würde ein Pyrrhussieg sein. Heute hatte Joseph nur das Ziel, dass er später tatsächlich als der große Visionär gelten würde. Das hatte er seinem Spion vorher gesagt, der sofort nachhakte.
»Ich höre immerzu Visionen, aber wer hat die denn wirklich? Das Haus eines wiedervereinigten Deutschlands, das Joseph unseren Wählern aufbauen will, würde sich schnell als Kartenhaus erweisen. Würden wir es als Partei mitbauen, würde dessen Zusammenbruch unseren nach sich ziehen. Deshalb muss ich dringend davor warnen, Josephs Weg mitzugehen. Auf die Wiedervereinigung dürfen wir nicht setzen. Das würde uns von unseren wirklichen Visionen ablenken, und die sind die Stillegung der Atomkraftwerke, Gleichberechtigung und, und, und. Mit einem Wort: Weitere Demokratisierung. Das sind, ich wiederhole es, die Visionen, mit denen wir beim Wähler punkten können.«
Joseph gab nicht klein bei und stritt weiter energisch für seinen Vorschlag. Er wollte eine Entscheidung, und er bekam sie. Der gesamte Parteivorstand stellte sich gegen ihn. Die vage Andeutung über die Wiedervereinigung wurde aus dem Parteiprogramm gestrichen und durch die Betonung der Zweistaatlichkeit ersetzt. Über eine Neuwahl des Parteivorstandes musste danach nicht diskutiert werden, denn Joseph trat von diesem Amt zurück.
Sie frühstückten auf dem Balkon des Aparthotels. An der gedrechselten Brüstung, die der Hausherr angefertigt hatte, hingen Kästen mit Geranien, deren dunkelrote Blüten mit denen auf den benachbarten Balkons wetteiferten. Unter ihnen lag eine breite Wiese, auf der vormittags sieben Kühe weideten.
»Sieben«, sagte Joseph, »eine Glückszahl.«
»Seit wann bist du abergläubig?«
»Seitdem ich Glück brauche.«
»Du glaubst doch, dass du gerade dein eigenes Glück schmiedest.«
»Ich habe aber sehr hoch gepokert.«
»Eben, das meine ich ja.«
»Ich werde aber siegen!«
»Na, abwarten.«
Frühmorgens versetzte der Bauer den Weidezaun um einige Meter und gab den Kühen saftige Kräuter und frische Gräser frei. Danach mähte er ein anderes Stück und fuhr das Futter für nachmittags in den nahen Stall.
Die Penkenbahn wurde in Betrieb gesetzt, und von oben näherten sich die ersten Gondeln der Talstation. Joseph Adam nahm sich schon die dritte Tasse Kaffee, er saß bequem und völlig entspannt und beobachtete den Bauern beim Mähen. Erst als Magda zum dritten Mal auf ihre Uhr blickte, reagierte er: »Wir haben doch Zeit, nichts drängelt uns.«
»Heute schon, wir müssen nach Hintertux fahren.«
»Müssen?«
»Müssen!«
»Ich dachte, wir wollten einfach mal zwei Wochen Urlaub machen, ganz gemütlich mit ein paar Wanderungen durch die Täler, bevor der Sommer endet.«
»Machen wir ja auch.«
»Aber ich sehe es dir an der Nasenspitze an, dass wir nicht nur deshalb hier sind.«
»Kann sein.«
»Also heute?«
»Ja, heute!« Sie blickte wieder auf die Uhr.
»Okay, okay, ich bin ja schon fertig.« Gespielt hastig schüttete Joseph den letzten Schluck Kaffee in sich rein. »Da bin ich aber mal gespannt!«
Sie verriet ihm nichts und genoss die Autofahrt bis Hintertux durch die schöne Bergwelt und die herausgeputzten Dörfer.
»Eins habe ich unserem Hausherrn schon gesagt, aber das hört der gar nicht so gerne, ich habe noch nie eine so stinkreiche Gegend gesehen wie hier im Zillertal.«
»Ich auch nicht, obwohl andere ja auf die Schweiz verweisen. Die Leute hier haben ein unglaubliches Schwein. Als vor etwa 140 Jahren der Tourismus begann, brauchte ein Ahne nur ein Haus mit Grundstück zu besitzen, und schon hatten alle nachfolgenden Generationen ausgesorgt.«
»Das solltest du dem Hauswirt aber nicht sagen.«
»I bewahre.«
In der Talstation der Hintertuxer Bergbahnen wollte Joseph gleich Tickets bis ganz nach oben kaufen. »Wenn wir schon mal hier sind, will ich auch den Gletscher erleben. Vielleicht haben wir ja auch eine gute Sicht bis zur Zugspitze.«
»Nein! Wir müssen nur bis zur Sommerbergalm.«
Magda verschwieg immer noch ihr Ziel und übersah die tiefe Falte, die sich zwischen seinen Augenbrauen bildete.
Mit ihnen betrat ein junges Paar die Kabine. Er war klein und schmächtig, hatte aber ein brutal wirkendes, feistes Gesicht mit unangenehmen Augen. Sie war einen Kopf größer als er, schlank, rassig, bildschön. Er redete in einer hart klingenden, slawischen Sprache auf sie ein, und sie senkte ihre Augen.
Oben blickte Magda auf ihre Uhr: »Wir haben noch etwas Zeit.«
Sie gingen zu dem Aussichtspunkt hinter der Station. Tief unter ihnen schlängelte sich die Straße durch das weite Tal mit den langgestreckten Dörfern. Am Südhang grasten viele Kühe auf den Almen, der Nordhang war unten bewaldet, darüber zeugten Lawinenschutzzäune von den Gefahren, denen die Bewohner im Winter ausgesetzt waren.
»Wunderschön!« Magda konnte nicht genug fotografieren. Dann wandte sie sich zurück zu dem steil aufragenden Olperer. Auf seinem tief herabhängenden Gletscher bewegten sich kleine dunkle Punkte nach unten. Einer verharrte kurz, war vielleicht gestürzt, während ein anderer noch wenige Meter weiterfuhr und dann wartete.
»Wenn das der Reiche war, wird er seiner Frau die Schuld geben«, meinte Joseph.
»Das müsste sie ertragen.«
Magda behielt nun den Ausgang der Bergbahn im Blick. Und dann kamen dort vier Personen heraus, ein älterer, graumelierte Herr, ein jüngeres Paar und ein kleines Mädchen.
Joseph hatte sie noch nicht entdeckt, aber Magda sagte: »Jetzt müssen wir gehen.«
Nur 50 Meter hinter der Gruppe erreichten sie den Wanderweg zum Tuxer Jochhaus. In diesem Moment blickte sich der ältere Herr um, und Joseph blieb abrupt stehen:
»Da, da, das ist …«
»Ja, das ist er.«
»Dann, dann ist das Mädchen …«
»Ja, das ist unsere Tochter.«
Er schwieg verwirrt und meinte dann: »Das wird dem Weinbauern aber nicht gefallen.«
»Dem nicht, aber der musste sich beugen. Seine Frau und seine Schwiegereltern sind schließlich Georgier. Für die ist die Familie das allerwichtigste. Die haben verstanden, dass ich meine Tochter noch einmal sehen will, wenn wir das auch anders vereinbart hatten.«
»Und deshalb habt ihr euch hier verabredet?«
»Ja, weitab vom Schuss. Wir treffen uns zufällig, gehen ein Stück miteinander, essen oben und gehen wieder auseinander. Keiner bemerkt etwas, auch Lena nicht.«
Am Wegrand standen zwei Kühe. Eine säuberte der anderen mit ihrer langen Zunge gründlich den Hals. Die andere blieb ganz ruhig stehen, ohne sich von den neugierigen Menschen stören zu lassen. Die Eltern stellten sich mit Lena davor, und der Opa wollte sie fotografieren.
»Möchten Sie mit auf das Foto?«, fragte Magda.
»Ja, danke, das ist nett.«
Jetzt bemerkte eine Kuh den Blumenstrauß, den Lena sich gepflückt hatte und fraß ihn auf, bevor Lena ihre Hand wegziehen konnte.
»Meine Blümchen, schade.«
»Guck mal dort«, Magda entdeckte in einer Felsspalte gelb leuchtende Arnikablüten und nahm ihre Tochter an die Hand, »komm, die holen wir dir.«
Ohne Scheu folgte Lena der fremden Frau.
»Sind die nicht schön?«
»Findest du noch mehr?«
»Ja, guck dort.«
Die Beiden pflückten zusammen viele Blumen, während die anderen weitergingen. Der Aufstieg zur Hütte wurde steiler als sie von unten vermutet hatten. Der Fürst fiel etwas zurück, und Joseph blieb bei ihm. Als die anderen sie nicht mehr hören konnten, blieb der Fürst stehen und sagte: »Sie haben sich sehr verändert.«
»So? Mit anderen Worten, Sie interessieren sich für meine Karriere?«
»Gelegentlich.«
»Natürlich habe ich mich seit Lenas Taufe verändert. Aber Sie haben mich damals auch in einer schlechten Situation kennengelernt. Ihr Schwiegersohn hatte mir absichtlich zu viel von diesem schweren Wein eingeschenkt.«
»Ich denke nicht nur daran.«
»Ja, klar, auch an Lena. Aber eins müssen Sie wissen, ich hatte bei der Entscheidung, sie zur Adoption frei zu geben, kein Mitspracherecht. Das haben mir Tante Sarah, von der Sie ja wissen, wie resolut sie sein kann, und Magda im gleichen Moment mitgeteilt, in dem ich von der Schwangerschaft erfuhr.«
Der Fürst nickte und hielt dieses Thema für abgeschlossen. »Noch einmal zu Ihrer Karriere. Ihre Partei fällt im Moment ja ins Bodenlose. Auch für die trifft Gorbatschows Spruch zu ›Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.‹ Sie waren der Einzige, der eine Vision hatte, aber Sie wurden dafür abgestraft.«
»Sie sind wirklich gut informiert. Aber«, Joseph lachte auf, »das macht nichts, ich werde wieder auf die Füße fallen.«
»Dann sind Sie im Wahlkampf wohl so wenig aktiv, weil Sie sich auf die Zeit danach vorbereiten?«
Joseph blickte ihn überrascht an. Nicht einmal im Traum hätte er es für möglich gehalten, dass sich der Fürst so für ihn interessieren könnte. Warum machte der das? Und was hatte der vor? Offensichtlich wollte der dieses Treffen für etwas Konkretes nutzen.
Zurückhaltend antwortete er: »Diese Schlussfolgerung haben noch nicht einmal meine Gegner gezogen, zumindest nicht mir gegenüber.«
Der Fürst ging schneller, um nicht zu weit zurückzufallen.
»Sie finden Ihren Weg«, sagte er dann, »Sie werden schneller aufsteigen als ich auf diesen Berg. Es wird Sie nun nicht mehr überraschen, dass ich Ihre Frau gebeten habe, Sie zu diesem Treffen mitzubringen. Als Politiker wissen Sie ja, dass es nicht nur in Osteuropa große Veränderungen geben wird, sondern auch in Asien. Haben Sie den Namen Berkel Zorbas schon einmal gehört?«
»Habe ich, manche nennen ihn den aufsteigenden Stern Asiens.«
»Ich würde eher sagen die aufsteigende Sonne. Ich kenne ihn gut. Er wird Abestan zu einer Großmacht entwickeln. Keine Frage. Aber«, er suchte direkten Blickkontakt mit Joseph Adam, »heute braucht er Hilfe aus Westeuropa, auch und gerade aus Deutschland. Weil er weiß, dass ich viele Kontakte habe, hat er mich gebeten, ihm dafür geeignete deutsche Politiker zu empfehlen. Aber mit den etablierten, die sich erdreisten, arrogant auf ihn herabzublicken, kann er nichts anfangen, er sucht neue, aufsteigende. Wenn sich Ihre Karriere so entwickeln würde, wie ich vermute, könnten auch Sie ihm bald helfen.«
»Das muss man abwarten«, wich Joseph aus.
»Selbstverständlich. Aber wenn es dann so weit ist, werden Sie ihn kennenlernen können.«
»Interessanter Vorschlag«, sagte Joseph, und er konnte in diesem Moment ja nicht ahnen, was dieses Gespräch für seine Zukunft bedeuten würde.
Ihren Gedanken nachhängend holten sie die anderen wieder ein, die an einer Weggabelung auf sie warteten.
»Hat sie dich erkannt?«, fragte Joseph leise.
»Nein.«
»Aber du hast sie doch so lange gestillt.«
»Das ist Jahre her. Ein Kind vergisst das.«
Als sie weitergingen, gab Lena Magda eine Hand und reichte die andere Joseph hin: »Holla hupp?«
»Du wirst lästig«, meinte der Weinbauer, aber Joseph ergriff die Hand seiner Tochter.
Sie nahmen Anlauf. »Eins, zwei, drei«, und sie schleuderten Lena weit hoch, »holla hupp.«
Das Kind quietschte vergnügt. »Noch mal.«
»Eins, zwei, drei, holla hupp.«
»Noch mal.«
»Eins, zwei, drei, holla hupp.«
Lenas Lachen schallte durch das weite Tal. Aber Magda drehte plötzlich ihr Gesicht weg.
Die DDR-Bürger werden mitwählen, hatte Joseph schon vor einem Jahr prophezeit. Sie taten es, und Haberecht erhielt für seine Strategie eine schallende Ohrfeige. Schon bei der ersten Wahlprognose lag die 5%-Hürde unerreichbar fern. Aber unbeirrt trat er nach der ersten Hochrechnung vor seine Parteifreunde und verteidigte diese Strategie, sprach von einer Wahlschlappe, die dem Zeitgeist geschuldet und zu überwinden wäre. Doch es klatschten nur wenige. Die Mehrheit der Zuhörer gehörte zu Adams Anhängern, und die buhten Haberecht so aus, dass es dem die Sprache verschlug und er ratlos und schweigend am Mikrofon stehen blieb.
Und plötzlich war aus dem Hintergrund ein leiser Ruf zu hören: »Joseph, Joseph, Joseph!«
Alle blickten sich um.
»Joseph, Joseph, Joseph!«, riefen nun schon mehrere und schließlich fast alle.
Und der ließ seine Freunde noch ein bisschen zappeln, betrat dann von hinten die Bühne und ging schnurstracks zum Mikrofon. Die Masse jubelte auf. Haberecht blickte ihn nur kurz an, senkte sein Haupt und schlich sich davon. Seine Anhänger folgten ihm in der gleichen Körperhaltung.
Joseph stand nun alleine auf der Bühne und genoss den Beifall. Erst als der ein bisschen nachließ, senkte er seine Hände beschwichtigend und stellte sich das Mikrofon ein. Dann blickte er in den Saal, der etwas leerer geworden war und lächelte breit. Ohne eine Erklärung zu benötigten, lachten die Zuhörer auf und klatschten wieder.
»Liebe Freunde, diese Wahlschlappe wirft uns nicht um, sondern sie macht uns stark. Was wir soeben erlebt haben, bedeutet eine Zäsur in der Entwicklung unserer Partei. Eine Gruppe spaltet sich ab, eine kleine Randgruppe, der wir nicht nachtrauern müssen.«
Gelächter und zustimmender Applaus erklangen. Obwohl er schon in Wien gelernt hatte, dass die Massen Ironie nicht mögen und ein seriöser Politiker lieber darauf verzichten sollte, fühlte sich Joseph zu einer kurzen Bemerkung angestachelt. »Ich will jetzt kein Wortspiel mit einem Namen machen.«
Wieder unterbrach ihn Gelächter.
»Gut, das ist ja sowieso vorbei. Wir stehen heute nicht am Ende, sondern vor einem neuen Anfang. Wir befreien uns von dem ideologischen Müll, ohne dabei unsere Visionen aus den Augen zu verlieren. Wir nennen uns ›Die Anderen‹. Aber was bedeutet denn dieser Name? Wollen wir nur anders sein als die Altparteien? Würde uns das genügen? Würde mir das genügen? Natürlich nicht! Das Land muss anders werden. Wir wollen unser Land verändern, das ist unsere historische Aufgabe, das ist unsere Vision.«
Zustimmender Beifall brandete auf.
»Und dieser Aufgabe stellen wir uns jetzt. Wir verlassen die Nische, in die uns Ideologen getrieben haben. Wir stellen uns neu auf und machen uns regierungsfähig.«
Ein ungläubiges Raunen ging durch den Saal. Dieses Wort hatte noch kein Politiker der Partei in den Mund genommen. Und ausgerechnet nach dieser schweren Niederlage, die sie alle in die außerparlamentarische Opposition trieb, wagte Joseph das.
»Ja, das sage ich ganz bewusst, und ich wiederhole es: Wir müssen regierungsfähig werden. Unser Ziel kann nicht nur sein, bei der nächsten Wahl wieder ins Parlament einzuziehen, sondern wir müssen so viele Stimmen erhalten, dass wir als Koalitionspartner an die Macht kommen.«
Auch das Wort Macht hatte bisher nur Einer ausgesprochen – Joseph selbst auf dem Gründungsparteitag, aber daran erinnerten sich nur noch wenige. Vielen Zuhörern blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Aber sekundenschnell machte sie Josephs Ziel zu ihrem eigenen und tobten vor Begeisterung. Adam redete noch weiter, aber viel mehr hätte er nicht sagen müssen.
Joseph Adam hatte seine Bude in Bonn aufgegeben und wohnte wieder mit Magda zusammen in Frankfurt. Zum Neuaufbau der Partei reiste er kreuz und quer durch das Land.
Noch nie hatte sich Magda in seine Terminplanung eingemischt, aber plötzlich sagte sie: »Wann musst du nach München? Am 15.? Das geht nicht.«
»Was ist denn jetzt los?«
Sie holte einen Monatskalender aus ihrem Nachttisch. Ein Tag am Monatsanfang und einer am Ende war rot gekennzeichnet, einer in der Mitte dunkelgrün und jeweils zwei Tage davor und danach hellgrün.
»Was ist denn das?«
»Musst du doch erkennen.«
»Nein, keine Ahnung.«
»Das ist mein Zyklus. Am dunkelgrünen Tag, also an dem Tag, an dem du verreisen willst, habe ich den Eisprung. Die anderen vier Tage sind auch noch fruchtbar.«
»Du willst?«
»Ja, ich will.«
»Schon seitdem wir Lena getroffen haben, nehme ich an.«
»Ich kann dir auf die Sekunde genau sagen seit wann. Als wir mit ihr holla hupp gespielt haben.«
»Ach so. Und ich habe mich in der letzten Zeit gewundert, warum du so oft wolltest. Also bist du nicht sexsüchtig geworden.«
Sie lachte auf: »Aber es hat bisher nichts gebracht. Also müssen wir uns jetzt ganz genau an meine fruchtbaren Tage halten.«
»Aber die Reise am 15. muss ich noch machen. Die kann ich nicht mehr absagen.«
Magda atmete tief ein und lächelte. Und weil sie ihm das nicht erklären wollte und musste, sagte sie schnell: »Gut, wenn es sein muss, aber danach musst du deinen Terminplan mit mir abstimmen.«
»Wie du sagst, wenn es sein muss.«
Joseph lachte amüsiert. Noch! Er war ja nun fast vierzig und hielt es schon aus, mal einen ganzen Tag lang nicht an Sex zu denken. Andererseits glaubte er aber noch, allzeit bereit zu sein. Doch Sex nach Plan, sozusagen mit der Stoppuhr in der Hand, gefiel ihm nicht lange. Sex nicht aus Liebe, nicht zum beiderseitigen Vergnügen, sondern als Pflicht mit einem konkreten Ziel, befriedigte ihn nicht so wie vorher.
Die Lehre seiner ersten, reifen Geliebten, nicht nur an sich selbst zu denken, hatten sie immer beide beherzigt. Aber als es nach vielen Versuchen nicht klappte, einfach nicht klappen wollte, vielleicht nie mehr klappen würde, dachte Magda nicht mehr an ihn, auch nicht mehr an sich selbst. Nach Monaten ging es nicht mehr nur um ihre fruchtbaren Tage, nun musste es an jedem Tag sein. Kündigte er eine Dienstreise außerhalb ihrer Periode an, kamen ihr sofort die Tränen: »Du denkst ja nur noch an deine Karriere, ich bin dir doch scheißegal.«
»Bitte Magda, jetzt bist du aber ungerecht.«
Sie schluchzte auf: »D...d... du interessierst d...d...dich nicht mehr für m...m...mich.«
Sie warf sich auf die Couch. Ihr Oberkörper zuckte. Sprachlos stand er wie erstarrt neben ihr. Dann setzte er sich zu ihr und versuchte, sie zart zu streicheln. Sie schlug seine Hand weg: »B...b...bleibst d...d...du?«
»Bitte, Magda, ich muss doch meine Arbeit machen.«
»D...d...dann liebst d...d...du m...m...mich nicht mehr.«
Völlig ratlos, wie er sie beruhigen sollte, versucht er es anders: »Jetzt ist aber Schluss, Magda so können wir doch nicht miteinander umgehen.«
Sie sprang auf und stürzte hinaus.
Und dann kamen die mitleidigen, oft spöttischen Blicke ihrer Kolleginnen, Bekannten und Freundinnen. Joseph fragte einen Freund direkt: »Spricht Magda denn mit jeder darüber?«
»Mit jeder! Sie kennt nur noch dieses Thema. Du solltest, entschuldige, wenn ich das so unverblümt sage, dich mal untersuchen lassen.«
Joseph rührte fast der Schlag. Ohne nachzudenken, was er damit verriet, platzte er raus: »Aber ich habe den Fruchtbarkeitstest doch schon bestanden.«
»So, meinst du? Die Mutter ist immer sicher.«
Joseph schluckte auch das noch runter und entschied sich für die Offensive: »Wenn es einfach nicht klappt, obwohl wir zusammen schon ein Kind gezeugt haben, sollten wir uns testen lassen. Wir beide.«
Magda erwies sich als kerngesund, und zu Joseph sagte der mit ihm befreundete Arzt anerkennend: »Wenn du mal einen anderen Job brauchen würdest, könntest du als Zuchtbulle arbeiten. Du schaffst 6 Milliliter mit weit über 100 Millionen Spermien, von denen mehr als 80 Prozent leben. Das ist das beste Testergebnis in meiner Laufbahn.«
Also war alles in bester Ordnung, nur eins nicht, Magda wurde nicht schwanger.
Gold! Goldene Wände, goldene Decke, goldene, wuchtige Ledersessel mit goldfarbenen Kissen, goldener Tisch, für die 10 Gäste gedeckt mit goldenem Service und Besteck, goldfarbener Teppich. Acht Gäste, die einzeln die breite Esskabine des privaten Jumbojets von Berkel Zorbas betraten und dabei nicht ahnten, dass sie gefilmt wurden, blieben wie der Ehrengast, Superbanker Müller, dem Joseph Adam ja schon vorgestellt worden war, überrascht und tief beeindruckt in der Eingangstür stehen. Nur der letzte, Joseph, dessen Teilnahme an dieser hochrangigen Wirtschaftdelegation alle anderen überraschte, blickte für einen Moment angewidert. Als er saß, irrte sein Blick unruhig hin und her und fand endlich in den drei grünen Lampenschalen über dem Tisch und in den hellen Wolken hinter den Flugzeugfenstern einen Halt.
»Die Farben gelb, goldgelb waren in Asien alleine dem Kaiser vorbehalten«, erläuterte sein Sitznachbar, Herr von Söben, den Joseph schon von der Inbetriebnahme des ersten Windrades kannte, »sie stehen ja auch heute noch für Wärme, Sympathie, Ewigkeit, ja sogar für die Sonne, der Quelle allen Lebens.«
»In Asien schon, aber bei uns bezeichnet sie kaum einer als seine Lieblingsfarbe, uns erinnert sie auch an Gier, Neid, Ruhmsucht oder Verrat.«
»Aber wir fliegen ja nach Asien. Und dort ist gelb auch die Farbe der Männlichkeit, für deren Schöpferkraft und Weisheit.«
Joseph fiel auch noch ein, dass die Nazis den schwarz umrandeten Judenstern aus zwei gelben Dreiecken gebildet hatten, aber er lenkte ein: »Auch in unserer Kultur ist gelb mit positiven Assoziationen verbunden. Helios ist im gelben Gewand über den Himmel gefahren.«
»Eben! Aber ich verstehe Ihre Vorurteile durchaus, dieser Speiseraum überrascht mich auch. Ehrlich gesagt, die Privatsphäre unserer Großaktionäre blieb mir bisher verschlossen. Ich hätte nicht erwartet, dass sie so offen mit ihrem Reichtum protzen würden.«
Der Konzernchef dachte kurz nach: »Ich habe versucht, mich über unseren Gastgeber zu informieren. Der hat sich zwar dieses riesige Schloss gebaut und nutzt es nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten als Amtssitz, aber er soll darin eine Jurte bewohnen, sicherlich eine luxuriöse. Dieser Raum hier passt vielleicht gar nicht zu ihm. Vielleicht will er damit nur seinen Gästen imponieren.«
»Und das gelingt ihm auch.« Joseph deutet zu den anderen, die immer noch die Einrichtung bewunderten, ohne zu bemerken, dass der livrierte Kellner den Aperitif einschenken wollte.
»Kennen Sie eigentlich dessen Werdegang?«
»Ja«, antwortete Joseph, »sehr interessant!«
»Stimmt, diese Oligarchen konnten sich selbst hochkatapultieren.«
Früher hatte es Berkel Zorbas als Generaldirektor eines riesigen Kombinates für wichtig gehalten, die Meinung der Partei über den faulenden, absterbenden Kapitalismus zu verbreiten.
»Die Einführung des Privateigentums vor zehntausend Jahren war der Anfang vom Ende der Menschheit«, pflegte er zu sagen, »der Erste, der sich vor einen Acker stellte und behauptete, der wäre sein eigener, hätte gleich erschlagen werden müssen. Die Menschheit kann nur überleben, wenn wir wieder eine klassenlose Gesellschaft einführen.«
Aber dann kam die so genannte Wende auch in sein Land und mit ihr die Privatisierungswelle. Als Generaldirektor konnte er unbemerkt Geld des Kombinates auf ein Privatkonto überweisen und damit die meisten Vouchers seiner Betriebe kaufen. Als der Neustart dieser Firmen alles andere als vielversprechend verlief, waren die Arbeiter und Angestellten bald froh, wenn sie ihre Vouchers gegen geringe Erlöse versilbern konnten, und quasi über Nacht erwarb sich Zorbas mit Millionen ein Milliardenvermögen. Aber nur für kurze Zeit befriedigte ihn das, er kaufte sich Banken dazu, eine 110-Meter Yacht, diesen Jumbo Jet, und einen westeuropäischen Fußballclub, der die Champions League gewinnen sollte. Während sich Superreiche in anderen Ländern Politiker kauften, an die Macht brachten und völlig unsichtbar aus dem Hintergrund die Strippen zogen, wollte er schließlich selbst regieren. Also ließ er sich zum Präsidenten von Abestan wählen und verschaffte sich durch Reformen eine nahezu unbegrenzte Machtfülle.
Obwohl er deren Wirtschaftssystem übernommen hatte, verfolgten viele westeuropäische Politiker diesen rasanten Aufstieg nicht besonders wohlwollend, und deren Medien ließen meist kein gutes Haar an ihm. Deshalb hatte er sich durchaus interessiert gezeigt, als ihn sein alter Ego, der georgische Fürst, auf diesen jungen, aufsteigenden deutschen Politiker aufmerksam gemacht hatte. Das Video von dessen Auftritt nach der Wahlschlappe überzeugte ihn bereits, um so mehr aber das große Medieninteresse an der eigentlich nun unbedeutenden Partei in der außerparlamentarischen Opposition, deren Umbau Adam abgeschlossen hatte und die in Umfragen bereits wieder weit über der Fünf-Prozent-Hürde lag.
»Der steigt auf, keine Frage«, prophezeite ihm der Fürst, »denn der will aufsteigen, vielleicht um jeden Preis. Wer ihn jetzt protegiert, sichert sich für immer seine Dienste. Wenn er nach der nächsten Wahl Minister werden würde, hättest du mit ihm ein wichtiges Standbein in Deutschland und damit auch in der EU.«
»Na, nun aber langsam mit den jungen Pferden. Wenn ich dich richtig verstanden habe, müsste sich seine Partei noch sehr verändern, bevor der Minister werden könnte.«
»Kein Problem für den, das kriegt der hin. Lade ihn doch mal ein, dann kannst du ihn persönlich kennenlernen.«
Zorbas zögerte kurz und wechselte plötzlich das Thema: »Dessen Partei ist doch auch von Atomkraftgegnern gegründet worden. Interessiert die sich eigentlich für den Klimawandel?«
Der Fürst wunderte sich über diese unerwartete Frage. Aber er hakte nicht nach, sondern antwortete:
»Die redet davon, wie andere auch.«
»Und er persönlich?«
»Ich habe gehört, dass er ihn ernster nehmen würde. Manche sollen ihn deshalb sogar schon ausgelacht haben.«
»So! Interessant. Ich kann es ja mal mit ihm versuchen.«
»Lade ihn aber nicht direkt ein, das würde seine Partei noch überfordern. Wenn er im Rahmen einer deutschen Delegation kommen könnte, würde das nicht so auffallen.«
»Der hätte den Kanzler doch schon früher mit Wirtschaftsbossen begleitet, sagtest du, dann lade ich ihn eben mit denen ein. Ich will mit den Deutschen sowieso ins Geschäft kommen.«
»Mach das, das wäre besser.«
Die Delegierten wurden direkt am Flugzeug mit schneeweißen, fast 10 Meter langen Lincoln Town Cars abgeholt und in diesen von bildhübschen Bediensteten empfangen, die perfekt deutsch sprachen und nach dem anstrengenden langen Flug Fingerfood und Champagner anboten. Durch die dunkel getönten Fensterscheiben konnte von außen kein Einheimischer einen Blick auf die illustren Gäste werfen. Innen lief auf Bildschirmen ein Film über den geplanten Neuaufbau des Landes. Eine neue Hauptstadt, in der einmal 100 Millionen Abestaner wohnen würden, sollte errichtet werden, riesige Dämme die Flüsse anstauen, um das karge Land mit Wasser und Energie zu versorgen, und mit gewaltigen Industrieanlagen sollte danach der Agrarstaat und Rohstofflieferant in eine Supermacht verwandelt werden. Blickte Joseph Adam nach außen, war davon noch nichts zu erahnen. Die jetzige Hauptstadt wirkte halb zerfallen, öde die kleinen Dörfer und weiten Ebenen, auf denen Schafe weideten und noch keine Baukräne standen. Aber nur ihm fiel dieser krasse Gegensatz zum Film auf. Alle anderen waren von den angekündigten Milliardeninvestitionen noch faszinierter als von dem goldenen Speiseraum. Der Präsident wollte sein Land in die Neuzeit katapultieren! Aufträge winkten, Aufträge in Dimensionen, die sogar für den Superbanker Müller neu und noch nicht vorstellbar waren.
Die holprige Straße wurde plötzlich asphaltiert und eben, sie ging in eine Allee mit jungen Bäumen über, an deren Ende die Türme und Kuppeln des Palastes zu erkennen waren. Jeder Gast, auch Joseph, wusste, dass der 366 Zimmer besaß, für jeden Tag des Jahres eins, denn Zorbas war an einem 29. Februar geboren worden. In dem weitläufigen Park vor dem Palast zeugten eingefriedete Gehege von der skurrilen Leidenschaft des Besitzers, er wollte vom Aussterben bedrohte Arten retten, insbesondere die in der Natur selten gewordenen Amurtiger und -leoparden. Die Tiger wurden gerade gefüttert und jagten hinter Kadavern her, die an Seilen mit hoher Geschwindigkeit durch das Gehege gezogen wurden.
Die Creme der deutschen Wirtschaft war es gewohnt, dass ihr der Hausherr bereits am Eingang entgegenkam. Doch Zorbas ließ sie erst einmal in der riesigen Audienzhalle warten, in der ihm schon Hunderte Anhänger gehuldigt hatten. Bögen, die aus vergoldeten und bemalten Marmorpfeilern emporstiegen, teilten die Halle in kleinere Bereiche und erinnerten den Kenner sofort an einen weltberühmten indischen Empfangssaal. Und wie in diesem war die Decke mit Gold und Silber eingelegt und auf einem Marmorpodium stand ein mit Edelsteinintarsien verzierter Thron für den Herrscher, dessen Arbeitsbereich durch ein goldenes Geländer vor den Untertanen geschützt wurde.
Den Gästen blieb nicht genügend Zeit, alle Details der prunkvollen Halle zu betrachten, denn nun ließ sich der Präsident wegen dringender Staatsangelegenheiten entschuldigen. Als sein Beauftragter begrüßte sie der Wirtschaftsminister, ohne anscheinend ihre Verärgerung wahrzunehmen. Ohne Umschweife sprach er über das riesige Investitionsprogramm Abestans, das auch den deutschen Unternehmen und Banken große Chancen bieten würde, und da leuchteten die Augen der Gäste wieder auf.
Alle nahmen verständnisvoll zur Kenntnis, dass der Superbanker aus dem Saal gebeten wurde, aber dass ihm wenig später Joseph Adam folgen musste, verwunderte sie schon. Nicht zu den bekannten Palastsuiten, über deren luxuriöse Ausstattung auch in deutschen Zeitungen orakelt wurde, ohne dass je ein Foto von denen gezeigt werden konnte, wurde Joseph geführt, sondern geradewegs zu dem Tigergelände, in dessen Mitte ein großer Teich mit einer überdachten Insel zu erkennen war. Kurz vor der Einfriedung ging der Fußweg durch einen mit Marmor verkleideten Torbogen hinunter in einen Tunnel zur Insel. Die weißen Wände waren mit Bildern von riesigen Welsen, Amurkarpfen und Zandern bemalt.
Joseph schritt ein Welsbild ab und sagte: »Etwa drei Meter.«
»Exakt 2,82 Meter«, präzisierte der Bedienstete.
»Toll!«, betonte Joseph spöttisch.
Aber dann begann an einer Wandseite unterhalb des Wasserspiegels eine hohe Glasfront, die sich entlang einer breiten, mit Pflanzen bewachsenen Bucht bis zur Insel erstreckte. Neben auf dem Grund befestigten Baumstämmen, unter denen sich Raubfische verstecken konnten, schwammen Schwärme von Friedfischen. Und auf die lauerte der Wels, so riesig groß, als wäre er gerade aus dem Bild gekommen. Joseph riss seine Augen weit auf.
»2,82 Meter lang, 130 Kilogramm schwer«, bekräftigte der Führer, »bei der letzten Messung.«
Die Maße für den folgenden Zander: »1,30 Meter, 20 Kilogramm«, und Karpfen: »1,40 Meter, 60 Kilogramm«, bezweifelte Joseph bereits nicht mehr.
Aber er fragte: »Ihr Land zieht ja viele Anglertouristen an. Ist Ihr Präsident auch ein großer Angler, etwa wie Hemingway einer war?«
»Nein, er taucht gerne.« Die Stimme des Dieners signalisierte, dass er nicht über seinen Herrn sprechen wollte, und Joseph stellte ihm keine weitere Frage.
Die von außen massiv wirkende Inselüberdachung war von innen durchsichtig. In der Inselmitte stand eine Luxusjurte, an den Rändern mehrere kleinere. Ein breites Fenster der großen Jurte gab den Blick frei auf den Teich und auf die jagenden Tiger. Dahinter standen zwei Männer, die sich, als sich Joseph Adam näherte, zum Eingang begaben.
Der Hausherr empfing Joseph an der Tür seiner Privatsphäre, und der Superbanker musste sich also auch dahin bemühen. Was diese Geste bedeutete, hatte Joseph bereits in Wien gelehrt bekommen, und jetzt überraschte sie ihn so sehr, dass er nicht einmal Genugtuung empfinden konnte. Lächelnd ging ihm Berkel Zorbas noch zwei Schritte entgegen. Er war nicht groß gewachsen, Napoleon hätte er nur um die Höhe seiner lockigen, schwarzen, vielleicht getönten Haare überragt. Aber er besaß nicht wie dieser einen unübersehbaren Bauchansatz, sondern hatte auch noch mit 55 eine drahtige, sportliche Figur. Seine kräftigen Bizeps und sein muskulöser Brustkorb füllten die meist körperbetonte Oberbekleidung prall aus. Dies alles kannte Joseph Adam bereits von Fotos und Fernsehsendungen, aber jetzt blickte er Berkel Zorbas erstmals direkt in die Augen, und diese wirkten wach und lebendig, konnten bestimmt auch unangenehm stechend werden, öffneten sich jetzt jedoch für Adam. Noch bevor sie sich die Hand gaben, fand Joseph ihn schon tief beeindruckend und sympathisch. Als sie sich die Hände schüttelten, verbanden sich deren Energiefelder zu einem gemeinsamen, einheitlichen, was beiden, wie jeder an den Blicken des anderen erkannte, sofort bewusst wurde.
Auch der Händedruck des Superbankers war kräftig, doch dessen Energiefeld lehnte Adams ab, wenn auch sein Lächeln plötzlich den Willen zur Zusammenarbeit signalisierte.
In der Jurte fiel Joseph zuerst das von einem Baldachin und weißen Vorhängen geschützte Bett auf. Es war sehr schmal und diente dem Hausherrn, dem die deutschen Medien den Ruf eines guten Hengstes verpasst hatten, wohl nur zum Schlafen. Gemessen an dem Speiseraum des Jumbo Jets oder an der Ausstattung der Straßenkreuzer wirkte die Einrichtung der Jurte bescheiden, ja sogar nüchtern. Sie war mit edlen Hölzern ausgelegt, aber nicht mit kostbaren Teppichen. In der Mitte standen zwei breite dunkle Couches mit einem gleichfarbenen Tisch, an einer Seite ein ähnliche, aber kleinere Sitzgruppe, an der anderen ein Esstisch mit zwei wuchtigen Stühlen. Die Wände waren reinweiß, wurde von keinem Bild oder anderes verschönt. Und, was Joseph besonders überraschte, hinter einem kleinen Schrank stand ein Waschtisch mit einem Wasserkrug und einer Porzellanschüssel wie zu Großmutters Zeiten.
Doch Joseph Adam war nur ein kurzer Blick in die Jurte vergönnt, noch bevor sie sich setzen konnten, wurden sie von einem Diener herausgebeten. Auf einer Wiese außerhalb der Überdachung loderte ein Holzfeuer, neben dem drei Felle ausgelegt waren, eines vom weißen Tiger für den Hausherrn, zwei von Maralen für die Gäste.
Joseph zögerte kurz, und der Hausherr sah ihn erstaunt an.
»Marale kenne ich von Aitmatows Erzählung ›Der weiße Dampfer‹, die ich als Jugendlicher gelesen habe.«
»Ja?«
»Wie viele, die dieses Buch kennen, habe ich damals so etwas wie Ehrfurcht vor diesen Hirschen bekommen.«
Berkel Zorbas lächelte verständnisvoll: »Sie bedeuten auch uns sehr viel, aber nehmen Sie trotzdem Platz.«
Der Diener servierte Blinis, Piroggen und andere Snacks, aber er brachte dazu keinen Samowar, wie Joseph erwartet hatte, sondern zerstampfte einen Teeziegel in feines Pulver und schüttelte dies in einen verrußten Kessel, in dem bereits Wasser kochte. Er strahlte tiefe Ruhe und Gelassenheit aus und ließ sich bei jedem Arbeitsgang viel Zeit.
Auch der Präsident nahm sich diese, aber schließlich wandte er sich an den Banker: »Wie ich vorhin schon feststellte, Herr Müller, nicht nur bei uns hat sich viel verändert, sondern auch bei Ihnen. Nicht so rasant wie bei uns, aber die Wege in die Zukunft werden uns zusammenführen. Was uns heute noch trennt, ist eigentlich bereits nebensächlich geworden, aber es wird von vielen Politikern noch total überbewertet. Wir dürfen denen nicht gestatten, dass sie unsere Zusammenarbeit behindern. Wären die nicht in der Lage, die weltpolitischen Entwicklungen zu erkennen, müssten Sie die austauschen.«
Ruhig, ohne eine sofortigen Antwort zu erwarten, blickte er ins Feuer. Der Diener gab Butter und Salz in eine Holzschale, goss den Teesud darauf, verrührte alles und schüttete es wieder in den Kessel.
Wie Berkel Zorbas ließ sich Müller nicht von Adams Anwesenheit stören: »Wenn Sie damit auch auf Spitzenpolitiker unserer wichtigsten Parteien zielen würden, wären Sie nicht im Recht. Die ebnen uns die Wege, keine Frage. Aber ob uns alle unterstützen werden, auch manche Neue, bezweifele ich schon eher, trotzdem Sie mir vorhin anderes andeutet haben.«
Der nun fertige Tee wurde in kostbaren grünen Jadeschalen serviert. Berkel Zorbas tauchte eine Fingerkuppe hinein und schnipste den Tee nach alle Himmelsrichtungen.
Müller nahm wie der Gastgeber nun kleine Schlückchen: »Vorzüglich, ganz vorzüglich. Eine Teequalität, die man nur selten genießen kann, ein außergewöhnlicher Geschmack.«
Nur der letzten Bemerkung hätte Joseph ehrlich zustimmen können, denn er hatte den Geschmack einer Maggibrühe auf der Zunge. Aber auch er wandte sich direkt an den Hausherrn: »Exzellent, absolut exzellent. Ein Genuss.«
Als ihre Schalen geleert waren, goss der Gastgeber persönlich nach.
»In neuen Parteien gibt es immer Ideologen«, sagte er dann zu Müller, »aber die rennen sich ihre Köpfe an der Realität ein.«
Nun wandte er sich direkt an Adam. »Sie haben die gesamtdeutsche Realität vor den meisten anderen Politikern erkannt und deshalb die Niederlage Ihrer Partei zu Ihrem persönlichen Erfolg gemacht. Was, denken Sie heute, werden Sie bei der nächsten Wahl erreichen?«
»In den Prognosen liegen wir jetzt bei 10 Prozent, aber wir werden die deutlich überbieten und über dem Ergebnis des jetzigen Koalitionspartners liegen.«
»Sie denken bereits konkret über Ihren Eintritt in die Regierung nach?«, fragte der Banker erstaunt.
»Wer nicht regieren will, sollte nicht in die Politik gehen.«
Berkel Zorbas lächelte: »Ich bin durch einen guten Freund besser über Herrn Adam informiert als Sie, Herr Müller. Ich sagte Ihnen doch, unterschätzen Sie ihn nicht.« Er trank seine Schale aus und beendete die Teezeremonie.
Am letzten Besuchstag wurde die deutsche Delegation nach dem Dinner in den Rauchersalon gebeten. Auf niedrigen Tischchen vor bequemen Sofas standen neben den Teeschalen, für die der Tee dieses Mal in Samowars zubereitet wurde, Wasserpfeifen bereit.
Joseph Adam hatte nur in seiner Jugend mal gepafft, aber keinen Gefallen daran gefunden. An Wasserpfeifen mit fruchtigen Melassen hatte er jedoch auch schon bei anderen Veranstaltungen gesaugt, bei denen die Gastgeber abends eine entspannte Stimmung erzeugen wollten. Auch die erste Melasse hier war insbesondere aus Früchten, enthielt wohl auch etwas Tabak, der den Geschmack jedoch nicht dominierte. Sie war durchaus geeignet, in der gedämpften Stimmung im Salon mit orientalischem Ambiente persönliches Wohlergehen zu erzeugen. Aber in Anwesenheit des Präsidenten Berkel Zorbas, der die konkreten Verhandlungen seinen Ministern überlassen hatte, wirkten die Topmanager trotz glänzender Geschäftsaussichten gehemmt.
Bevor ihr Schweigen peinlich wurde, klatschte Zorbas dreimal in die Hände, und die Diener ersetzten die alten Wasserpfeifen durch neue. Adam gefiel seine tiefblaue Pfeife, deshalb wollte er sie behalten.
»Eine neue Melasse erfordert eine neue Pfeife«, entschuldigte sich der Diener.
Berkel Zorbas, dessen Melasse möglicherweise einen anderen Farbton hatte, genoss sofort den ersten Zug, und auch Adam folgte seinem Beispiel. Der Rauch schmeckte nicht mehr fruchtig. Wie eigentlich? Er kannte ihn nicht und hätte ihn nicht beschreiben können. Aber nach wenigen Zügen fühlte er sich zwischen dem Banker Müller und dem Topmanager von Söben sauwohl.
Kurze Zeit später stupste ihn Müller mit dem Ellbogen in die Seite und breitete dann seine Arme wie Flügel aus: »Adam, mein Freund, ich schwebe. Du auch?«
Er reichte ihm die rechte Hand: »Egon heiße ich. Und du?«
»Joseph. «
»Maria und Joseph, ha, ha, ha. Wir werden uns schon zusammenraufen. Komm, mein Freund, zieh mal von meiner.«
Er stopfte Adam seine Pfeife in den Mund, und der zog gierig daran und lachte plötzlich ohne erkennbaren Grund drauflos.
»Ja, altes Haus, werden wir. Aber du musst meine Vorgeschichte kennen, ich werde sie dir mal erzählen.«
Und er plapperte heiter und belustigt über seinen Kampf gegen diesen Haberecht, an den er lange nicht mehr gedacht hatte. Müller hörte ihm jedoch nur kurz zu, denn nun verspürte auch er das Bedürfnis, über seinen Aufstieg auf der Karriereleiter zu sprechen. Und so erzählten sie gleichzeitig, schlugen sich gegenseitig auf die Schultern und verstanden sich einfach prächtig. Hätten sie die anderen beobachtet, hätten sie bei denen die gleiche Leichtigkeit und Fröhlichkeit festgestellt.
Aber das konnten sie nicht mehr, das konnte nur Berkel Zorbas. Er erhob sich lächelnd, ging von Manager zu Manager und stellte jedem ein paar Fragen. Und sein Gesicht zeigte bald die gleiche Zufriedenheit wie das aller. Als er den Banker und Adam erreichte, lagen die sich gerade in den Armen.
»Ich komme auch von unten und habe es bis ganz nach oben geschafft«, jubelte der Eine.
»An meinem Elternhaus wird einmal eine Gedenktafel für mich angebracht werden«, prophezeite der andere.
»Das möchte ich erleben«, meinte Zorbas.
»Wirst du«, – »Wirst du«, bestätigten ihm beide.
»Meine Magda glaubt das auch«, prahlte Joseph.
»Ach ja, Magda, deine schöne Frau. Ich habe eine Überraschung für sie und für dich.« Zorbas reichte Adam einen dicken Briefumschlag. »Steck den ein und vergiss ihn nicht.«
»Mache ich, mache ich.« Ohne es zu beachten, legte Adam das Kuvert auf den Tisch.
»So nicht, komm her.« Zorbas zog ihn hoch und steckte ihm den Umschlag in die Jackentasche. »Verlier ihn nicht.«
»Nein, nein.«
Der Gastgeber wandte sich nun an Müller, fragte aber eine Minute später Adam: »Hast du den Umschlag noch?«
»Welchen Umschlag?«
Als Zorbas seine Runde beendet hatte, blickte er sich noch einmal zufrieden um und klatschte wieder dreimal in die Hände. Sofort strömten junge, schlanke, glutäugige Asiatinnen in den Salon. Auch Joseph Adam folgte kichernd den Beiden, die sich um ihn bemühten.