Читать книгу Die Kinder vom Hühnerberg - Eberhard Schiel - Страница 3

1. Kapitel: Tod und neues Leben

Оглавление

Ich habe lange überlegt, mit welchem Transportmittel ich durch die Geschichte meiner Kindheit reisen werde. Ein Flugzeug ist zu schnell, auf dem Rücken einer Riesen-Schildkröte bin ich zu langsam, daher fiel die Entscheidung für ein Pony, das man ja heute, wie alles auf der Welt, kaufen oder ausleihen kann. Wir nennen es einfach “Liese”. Sie schafft das schon, wenn wir auch mal schneller, mal langsamer laufen, vielleicht auch gelegentlich stehen bleiben, oder, wenn das Pferdchen bockt, einige Schritte zurück traben, dann wieder nach vorne preschen, so wie es seine Laune gebietet. Wenn wir an gewissen Stellen unseres Weges stolpern, in eine Sackgasse geraten sollten, uns verirren, so ist das weiter nicht schlimm. Da kommen wir schon raus. Habt also Nachsicht mit uns. Seid tolerant gegenüber dem Temperament meines Pferdes und meinem nachlassenden Gedächtnis.

So, nach dem dieser Punkt auch geklärt ist, geht es gleich los. Die “Liese” wird schon ganz unruhig. Na, dann komm! Ich zeige dir die Stationen meiner Kindheit, führe dich dort hin, wo auch ich einst ein Wildfang gewesen bin. Ja, lach` nur. Du wirst schon sehen. Bei dir bleibt das Alter auch nicht stehen. Das sag` ich dir: Irgendwann kommt die Zeit, da du nur noch von der Erinnerung zehrst. Eventuell - und das wäre sehr anständig von dir - erscheine ich dann in deinem Rückblick und du denkst an den Ausflug mit dem schreibenden Reiter. Jetzt packen wir erst einmal die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in den Futtersack und entfliehen der Langeweile.

Ja, nun mach hin! Warum geht es nicht los? Hast du etwas in den falschen Hals gekriegt? - Aha, ich ahne es. Du möchtest gerne wissen, was es mit den Zeitformen auf sich hat, stimmt`s? Dann spitze mal deine Ohren. Vergangenheit ist alles, was ich gleich erzählen werde. Die Gegenwart steuert auf dich zu, wenn wir uns beide unterhalten. Und zur Zukunft gehören alle meine Träume, die stets unerfüllt bleiben. Alles klar? Pferdchen nickt. Wir starten:

Es war am 28. August 1942, da in der Privatklinik von Dr. Karl in der Tribseer Straße 30 ein neuer Reichsdeutscher geboren wurde. Spötter haben diese Adresse gern als “Drei-Mörder-Haus” bezeichnet, weil dort neben diesem Arzt noch zwei weitere Mediziner arbeiteten. In jenem anrüchigen Gebäude hat man mich also aus dem geborgenen Schoß der Mutter in die raue Wirklichkeit des Krieges gezerrt. Es geschah unter künstlicher Beleuchtung, die nicht nach draußen scheinen durfte wegen eines drohenden Fliegerangriffs. Düstere Aussichten sind vorprogrammiert. Aber noch breitet der Reichsadler auf meiner Geburtsurkunde seine mächtigen Schwingen aus. Das Hakenkreuz ist fest an seinen Krallen verankert. Er glaubt noch nicht, was einst mit ihm geschehen wird. Der deutsche Raubvogel hat die halbe Welt erobert, ist über die Oder und die Weichsel immer weiter nach Osten geflogen. Er drehte an der Wolga weiter südlich auf Stalingrad zu, machte einen Abstecher zu den Ölfeldern des Kaukasus. Niemand hielt ihn in seinem Höhenflug auf. Er träumte schon von neuer Beute, wollte ganz Russland unter seine Fittiche nehmen. Der Größenwahn bricht ihm das Genick, als er erneut um Stalingrad kreist. Da nimmt er Kurs auf sein Verderben. Dort fliegen die Fetzen. Er wird verwundet. Das Federkleid ist zerzaust. Unter Hunger und Durst leidend, sucht der einst so stolze Diktator der Lüfte Schutz in den russischen Wäldern. Partisanen lauern ihm auf. Nach einer schweren Verwundung bleibt er am Boden liegen, kriecht noch mit letzter Kraft über die verbrannte Erde, schutzlos dem russischen Bären ausgeliefert, der ihn seit Stalingrad verfolgt. An der Oder bäumt sich der Adler noch einmal gegen das Ungeheuer mit dem roten Stern auf. Dann ist es um ihn geschehen. Er haucht vor der Reichskanzlei, wo alles begann, sein Leben aus. Wenn ihm dieses Schicksal ein Hellseher in dem Jahre, da ich geboren wurde, vorausgesagt hätte, wäre er auf der Stelle erschossen worden.

Für die Zeit meiner Geburt im August 1942, bis zum Kriegsende im Mai 1945, zehre ich nur von einem einzigen Bild des Vaters, von dem ich nicht einmal weiß, ob die Skizze dazu nicht durch Mutters spätere Erzählung entstanden ist. Ich sehe meinen Vater, wie er mich auf sein Fahrrad setzt. Er lenkt mich ein Stück des Weges, so als wolle er mir symbolisch eine Starthilfe für mein weiteres Leben geben, für ein Leben, das ohne ihn stattfinden wird. Anschließend verschwindet der Vater völlig aus meiner Erinnerung. Papa ist nicht mehr da. Mutter sagt nur, er sei da oben im Himmel, bei den Engeln. Dort würde er mit ihnen singen. Er hätte schon als Kind im Chor gerne Lieder angestimmt. Na, ja, ich sollte nicht traurig sein. Das Leben müsste irgendwie weiter gehen. Wir würden uns neu einrichten. Der übliche Trost für kleine Kinder. Kein Kommentar. Ich nehme alles zur Kenntnis. Aber ich vermisse ihn, und Mitbegründer der “Plattdütsch Späldäl to Stralsund”, den unermüdlichen Bastler, Fotografen, Zeitungsschreiber, und natürlich, in erster Linie, den lieben Vater.

In seiner Hosentasche fand man einen Zettel, auf dem geschrieben stand: “Ich bin von den Angehörigen der Roten Armee immer gut behandelt worden.” Die pure Angst hatte ihm die Feder diktiert. In Wirklichkeit musste er etliche Schikanen erdulden. Zuletzt noch bei seiner Beerdigung. Er wurde, angeblich aus Sicherheitsgründen, nicht in einem Sarg aufgebahrt. Sein Leichnam steckte in einem Papiersack. Auf einem Karren brachte man ihn auf den Friedhof. Einzige Freiheit: Mutter durfte um ihn weinen, aber das ging nicht, denn die Quelle, aus dem das Leid nach außen dringt, war bereits versiegt.

Die Mutter spricht in dieser Zeit wenig über die Vergangenheit. Sie ist überhaupt recht wortkarg. Erst Jahre später, als die Mangelwirtschaft in der DDR ihre ersten Vorboten sendet, der Strom unverhofft abgeschaltet wird, unterhält sich meine Familie bei Kerzenschein über das, was ich nicht bewusst erlebt habe. Ich bekomme eine Identität. Sie wächst langsam, doch vom “Drei-Mörder-Haus” erfolgt zunächst mein Umzug in die Dienstwohnung des Vaters, Greifswalder Chaussee 6a. Es riecht hier mächtig nach Gas, besonders, wenn der Druck aus dem großen Kessel abgelassen wird. Ohnehin dreht sich alles in der Familie - wenn nicht gerade vom Krieg gesprochen wird - um das Gaswerk. Vater ist als Werbeleiter beschäftigt, Onkel Hans arbeitet auch im Büro, und Opa Schiel verwaltet die Rohrleitungen. Wenn nicht gerade Krieg wäre! Es ist aber Krieg. Darum sage ich als erstes deutlich gesprochenes Wort auch nicht “Mama” oder “Papa”, sondern “Buttertonni”. Gemeint war allerdings kein Depot für Lebensmittel, sondern eher ein maritimer Begriff, der aktuell einen militärischen Anstrich erhielt. Es ging um Kriegsnachrichten. Schließlich horchte Vater jeden Tag am Radio die Meldungen ab, wie viele feindliche Schiffe mit wie vielen Bruttoregistertonnen von unseren U-Booten versenkt worden sind. Der Mann aus dem Volksempfänger machte mich darauf aufmerksam. Von ihm hatte ich das Wort gehört und einfach in Kurzform nachgesprochen.

Eines Abends, da mal wieder mitten im “Mensch-Ärger-dich-nicht”- Spiel der Strom abgeschaltet wird, legt Mutter verärgert die Brille beiseite, holt tief Luft und zündet dann eine bereits in Reichweite befindliche Kerze an. Und ein Lächeln huscht über ihre ausgetrockneten Lippen. Sie sagt:

“Weißt du noch, Bübi, wie du - als wir noch auf der Greifswalder Chaussee wohnten - wie du da plötzlich auf den großen Gasbehälter geklettert bist? Du warst noch nicht mal drei Jahre alt. Ach, nein, dann kannst du es ja gar nicht wissen. Also, ich ging in den Garten. Du hinter mir her. Hieltst dich an meiner Kittelschürze fest. Ich ahnte nichts Böses. Mitten beim Unkraut ziehen schaute ich nach dir. Du warst verschwunden. Ich dachte: so ein kleiner Kerl wird sich doch nicht in Luft auflösen. Die Nachbarin, Frau Ewert, rief plötzlich: `Frau Schiel! Der Bübi ist da oben. Das gibt`s ja gar nicht. Der klettert da auf dem Gasbehälter rum. Erschrecken Sie ihn nicht, Frau Schiel. Er kommt von ganz allein wieder runter.` Frau Ewert behielt recht. Du bist wie ein kleiner Dackel zu mir an die Schürze gekrabbelt. So als wäre nichts gewesen.”

Warum hatte ich diesen Höhenflug unternommen? Religiöse Gründe, etwa dem lieben Gott etwas näher zu sein, schieden aus. Das Schicksal hatte uns während des Krieges zu hart bestraft. Selbst wir Kleinkinder glaubten nicht mehr an Gott. Was war es dann? Etwa der erste Versuch sich abzuheben von der grauen Masse. Einmal ganz oben zu stehen, wo keiner schimpft und tadelt und dich zurechtweist. Oder bin ich einfach der inneren Neugier gefolgt? Wollte ich als Erster in Erfahrung bringen, was es mit den weißen Tannenbäumen auf sich hat, von denen die Erwachsenen immer redeten, wenn es am Himmel dröhnte und brummte. Wahrscheinlich kommt dies der Tatsache am nächsten. Ich dachte, wenn sie davon anfingen, im Himmel ist Weihnachten. Mitten im Frühling. Der liebe Gott beschert seine Engel zu einer anderen Jahreszeit als der Weihnachtsmann die Kinder der Erde. Hätte ja sein können. Das war für mich eine Entdeckung, die nur mir allein gehören sollte. Stolz kehrte ich von der Stufenleiter meines ersten Erfolges wieder zurück in den Garten.

Später, viel später, dringt die wahre Geschichte über die Tannenbäume am Himmel ans Licht der Erkenntnis. Dazu bin ich im März 2013 mit einer Zeitzeugin verabredet. Sie lebt im “Betreuten Wohnen”, ist 88 Jahre alt und seit 70 Jahren meine Schwester. Inge hat sich gut auf die Fragen ihres Bruders vorbereitet. Auf dem Tisch liegen Briefe, alte Zeitungen und Fotos ausgebreitet. Wir kommen über die Ereignisse des Bombenangriffes ins Gespräch. Inge erzählt:

Der 6. Oktober 1944 war einer jener hellen und goldenen Herbsttage, wie sie bei uns oft zu erleben sind. Die Insel Hiddensee mit dem Leuchtturm auf dem Dornbusch lag zum Greifen nahe. Besucher am Hafen freuten sich über die weite Sicht zum “Söten Länneken”. Arglos gingen die Leute in der Mittagssonne spazieren. Die wenigsten Stralsunder hatten die 11-Uhr-Luftlage im Radio gehört. Sie besagte, dass ein starker Fliegerverband über der Nordsee in Richtung Schleswig-Holstein gesichtet worden sei. Um 11.45 Uhr gingen die Sirenen. Vollalarm für Stralsund. Um 12.30 Uhr fielen die ersten Bomben auf die Altstadt. Bei uns am Gaswerk wurde der Sportplatz Süd getroffen. Wir standen große Ängste aus. Es schlug rechts und links von uns ein. Wir hörten die Detonationen. Im Luftschutzkeller fiel der Putz von der Decke. Der Fußboden erzitterte. Wir zuckten unwillkürlich zusammen, wenn es krachte, mir wurde übel. Jemand sagte: `Wenn eine Bombe im Gasbehälter explodiert, sind wir verloren.` Diese Worte beherrschten den Raum. Dann Schweigen. Jeder war mit den Gedanken bei seiner Familie. So ging das eine halbe Stunde lang: Immer nur Abwarten auf das, was über uns geschieht, und die Hoffnung im Herzen tragen, dass die Unsrigen vom Bombenterror verschont bleiben. Dreißig Minuten wurden eine Ewigkeit. Auf einmal Stille. Ende des 1. Aktes. Zwei weitere folgten, wie im Theater, doch das hier war kein Theater, es war grausame Wirklichkeit. Plötzlich verstummte das Geräusch der Motoren. Endlich hörte das entsetzliche Getöse der Flugzeuge auf. Sie waren wohl abgedreht. Hatten ihren Auftrag erfüllt. Papa bestätigte unsere Vermutung. Er ging aus seinem Büro in den Luftschutzraum und rief uns zu: `Der Angriff ist vorbei. Kommt raus!` Unser Vater machte sich sogleich Sorgen über Oma Matzanki, die im Großen Diebsteig wohnte. Die Gegend sollte, wie man erfuhr, stark betroffen worden sein. Er lief so schnell er konnte zu ihr. Sie war nicht mehr da. Papa sah noch die Rauchschwaden, die schwelenden Deckenbalken, verkohlte Möbelstücke, von der Glut versengte Textilien. Er sah die Trümmer, aber kein Haus. Omas Heim war eine Adresse für Leichen geworden. Papa hatte anschließend überall nach ihr gesucht und sie nicht gefunden. Keiner wusste genau, wo die Toten des Bombenangriffs aufgebahrt wurden. Es waren zu viele. Man sprach schon von über achthundert Opfern. Unser Vater rannte verzweifelt durch die Straßen der Stadt, drängelte sich an blutverschmierten Leibern vorbei, an Leuten, die völlig geschockt auf ihrer letzten Habe saßen. Auf seinem Weg nach Nirgendwo sah er brennende Häuser, Rauch geschwärzte Gesichter, halb verrückt gewordene Menschen. Er taumelte von Leichenhalle zu Leichenhalle, fragte im Krankenhaus, in der Not-Ambulanz und bei ihm bekannten Ärzten nach dem Verbleib unserer Oma. Die Sanitäter, die er um Auskunft bat, hatten nicht einmal Zeit ihm zu antworten. Papa drehte die grausam verstümmelten Körper eigenhändig um, sah in die Grimassen des Todes und wurde selbst halb irre. Im Chor der kleinen gotischen Johanniskirche endete seine Odyssee. Der Schluss entbehrt nicht einer makabren Fußnote der Geschichte. Unser Vater war erleichtert, Oma Matzanki wenigstens als Leiche identifiziert zu haben, damit er sie christlich beerdigen konnte. Welch ein Wahnsinn, nicht wahr?

Ja, liebe Schwester, das war wirklich der reinste Wahnsinn, von dem ich mich jetzt gleich verabschiede, um wieder in die Haut des unschuldigen Kindes zu schlüpfen.

Die Kinder vom Hühnerberg

Подняться наверх