Читать книгу INQUISITOR MICHAEL INSTITORIS 1 - Teil Vier - Eberhard Weidner - Страница 3

15. Kapitel

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Wolfgang ließ den Jaguar langsam an den Rand der Straße rollen und brachte das Fahrzeug dort zum Stehen. Er warf einen kurzen Blick auf die digitale Anzeige der Uhr am Armaturenbrett, bevor er den Zündschlüssel drehte und das leise Brummen des Motors verstummen ließ. Es war Viertel vor drei an diesem Montagmorgen, und der neue Tag hatte längst begonnen. Ein besonders wichtiger Tag noch dazu, zumindest für ihn selbst, für seinen Boss Butcher, für die beiden Personen, denen er hierher gefolgt war, und nicht zu vergessen für den Pontifex maximus, für den es der letzte sein sollte. Und wenn Butchers Operation zum Abschluss gebracht wurde, würde sich dieser Tag auch als wichtiges historisches Datum für alle Luziferianer und die gesamte Menschheit erweisen. Allerdings nur für Erstgenannte in einem positiven Sinn. Die Menschen – zumindest der bedauernswerte Teil, der die kommenden Ereignisse überlebte – würden diesen Tag eher als Ausgangspunkt der größten Katastrophe in der Menschheitsgeschichte im Gedächtnis behalten.

Wolfgang blieb reglos im Wagen sitzen. Sein Blick war wie gebannt auf das Taxi gerichtet, das ungefähr zweihundertfünfzig Meter vor ihm angehalten hatte. Die beiden Fahrgäste stiegen aus und warteten am Straßenrand, bis das Taxi wieder losfuhr.

Der Inquisitor Michael Institoris hielt einen Metallkoffer in der linken Hand, den er seit seiner Flucht aus Neros Villa bei sich hatte, und trug einen Rucksack auf dem Rücken. Die freie rechte Hand hielt er in Höhe seines Bauchnabels dicht vor seinen Körper, um rasch unter seine Jacke nach der Waffe greifen zu können, während er die Umgebung aufmerksam im Auge behielt.

Wolfgang überlegte, was der Stahlkoffer enthalten mochte. Er bekleidete weder in Butchers Rudel noch in der Hierarchie der Luziferianer einen Rang, der hoch genug war, als dass er in derartige Dinge eingeweiht wäre. Aber um was auch immer es sich handelte, es musste wichtig sein, sonst hätte der Mann sich nicht auf der Flucht vor den Angreifern damit belastet und es in der Villa oder später im Hotel zurückgelassen. Wolfgang war überzeugt, dass es sich bei dem Gegenstand im Koffer um eine Waffe handeln musste. Sowohl die Größe als auch die ungewöhnliche Form des Behältnisses legten diesen Schluss nahe.

Die Hexe hatte dagegen nichts bei sich, nicht einmal ihre Handtasche, die sie aus Neros Villa gerettet hatte. Sie musste sie im Hotelzimmer zurückgelassen haben – in Wolfgangs Augen ein handfestes Indiz, dass sie dorthin zurückkehren wollte, nachdem sie den Inquisitor dort abgeliefert hatte, wo sie ihn in Butchers Auftrag hinbringen sollte.

Über dieses Ziel war Wolfgang natürlich informiert, da er von Butcher den Auftrag erhalten hatte, der Hexe und dem Inquisitor unauffällig zur Porta Santa Rosa zu folgen und dafür zu sorgen, dass bis dahin alles reibungslos funktionierte und weder die Hexe noch der Inquisitor aus der Reihe tanzte. Anschließend sollte er die Frau zu Nero zurückbringen, notfalls mit Gewalt. Was der Nekromant mit ihr vorhatte, war Wolfgang nicht mitgeteilt worden, doch aufgrund der Profession und der Vorlieben des Mannes konnte er sich ein Bild davon machen. Persönlich hielt er nichts von derartigen Perversionen, aber die Geschmäcker waren verschieden und jeder sollte nach seiner Fasson glücklich werden. Und ein Auftrag war ein Auftrag, vor allem, wenn er von jemandem wie Butcher erteilt wurde. Hinterher wäre sein Job hier in Rom erledigt. Allerdings hatte sich durch den Angriff der Inquisition auf Neros Villa, dem die Hexe, Institoris und er selbst, aber allem Anschein nicht der Hausherr entkommen waren, die Situation grundlegend verändert. Daher war es gut zu wissen, wo er die Hexe finden konnte, falls er sie versehentlich aus den Augen verlor.

Da er sowohl das Ziel der beiden als auch den Zeitrahmen kannte, innerhalb dessen sie dort eintreffen sollten, wunderte er sich, was die Hexe und der Inquisitor vor ihrem wichtigen Termin an der Vatikanpforte in dieser abgelegenen Gegend am Ufer des Tiber wollten. Es handelte sich um ein Industriegebiet im Süden Roms. Tagsüber war hier vermutlich eine Menge Betrieb, doch um diese nachtschlafende Zeit war die Gegend so menschenleer wie ein Mondkrater an einem normalen Werktag.

Während das Pärchen dem davonbrausenden Taxi hinterherblickte, als warteten sie darauf, endlich allein zu sein und keine Zeugen für ihr Tun zu haben – ein Verhalten, das Wolfgang verdächtig vorkam –, nutzte er die Gelegenheit, noch einmal über die Abfolge der aufregenden Ereignisse in den zurückliegenden Stunden nachzudenken, die sie alle hierhergeführt hatten.

Wolfgang war noch wach, als er die Explosion hörte, mit der die Stille der Nacht lautstark zerrissen wurde und die ihren Ursprung beim Hauptgebäude haben musste.

Die Chauffeurwohnung über der Garage, die Neros reichhaltigen und exklusiven Fuhrpark beherbergte, war mit allen Annehmlichkeiten ausgestattet, die man sich nur wünschen konnte, und hatte Wolfgangs Aufenthalt während der letzten Tage um einiges angenehmer gestaltet, als er sich das noch vor und während der Fahrt nach Italien vorgestellt hatte.

Es gab eine kleine, aber verschwenderisch eingerichtete Einbauküche, deren Kühlschrank und Vorratsschränke am Morgen nach seinem Einzug wie von Geisterhand mit allerlei Lebensmitteln und Getränken gefüllt worden waren. Dabei musste er gar nicht selbst kochen, sondern bekam mittags und abends warme Mahlzeiten aus der Küche des Hauptgebäudes hierhergebracht.

Neben einem riesigen Bett, das in seinen Ausmaßen einer kleinen Spielwiese glich, und einer hervorragend ausgestatteten Bar, die geeignet erschien, sämtliche Gäste eines großen Nachtklubs eine Woche lang zu versorgen, war ein riesiger Plasma-Fernseher vorhanden, auf dem neben unzähligen Satellitenprogrammen – unter anderem auch die meisten deutschsprachigen Sender, die er von zu Hause kannte – ein reichhaltiges Pay-TV-Programm zu empfangen war. Als Wolfgang nach seiner Ankunft probeweise die Programme durchgezappt hatte, hatte er neben reinen Spielfilmsendern zahlreiche Kanäle gefunden, auf denen pausenlos harte Pornofilme gezeigt wurden.

Hätte ihm also der Sinn nach derartigem Zeitvertreib gestanden, dann hätte er in seiner reichhaltigen Freizeit faul im Bett liegen können – seine Dienste als Fahrer waren in den zurückliegenden Tagen nur ein einziges Mal in Anspruch genommen worden –, während er gleichzeitig Pornofilme glotzte, sich volllaufen ließ und dann und wann einen runterholte. Für manch anderen mochten dies geradezu paradiesische Zustände sein, doch Wolfgang hatte keinerlei Interesse an solchen Dingen. Das hervorragende Essen ließ er sich natürlich schmecken, und er bediente sich auch am reichhaltigen Vorrat an Leckereien und Getränken, welche die Küche ihm bot. Aber auf den Konsum alkoholischer Getränke verzichtete er ohnehin komplett.

Stattdessen konzentrierte er sich auf die Aufgabe, die ihm von Butcher übertragen worden war und wegen der er sich überhaupt an diesem Ort aufhielt, und überwachte ausgesprochen diskret den Inquisitor und die Hexe. Dabei war es sogar erforderlich gewesen, dass er in seiner Tarnfunktion als Chauffeur tätig wurde und den Inquisitor durch die Straßen Roms kutschierte. Anstatt beide Male brav im Wagen zu warten, nachdem Institoris ausgestiegen und zu Fuß zu seinem Ziel gegangen war, hatte er den Jaguar einfach stehen lassen – sollte Nero ruhig die Strafen fürs Falschparken bezahlen, der Mann hatte ohnehin Geld wie Heu – und war seinem Fahrgast unauffällig gefolgt. Auf diese Weise hatte er beispielsweise interessante Informationen über einen Waffenhändler mit dem merkwürdigen Namen Rospo und dem Aussehen einer Kröte gewonnen, die seinen Gastgeber brennend interessiert hatten.

Aber auch wenn seine Dienste als Fahrer wenig gefragt gewesen waren, war er die restliche Zeit nicht untätig gewesen. Indem er sich unauffällig im Hintergrund gehalten hatte, war er im Garten und im Erdgeschoss der Villa herumspaziert und hatte sich über die jeweiligen Aufenthaltsorte seiner Zielpersonen auf dem Laufenden gehalten. Dass der Inquisitor erst heute Vormittag erwacht war, hatte seine Aufgabe vereinfacht und es ihm am ersten Vormittag sogar ermöglicht, Neros Grundstück zu verlassen, um ein paar dringende Besorgungen zu erledigen. Denn da er von Butcher nach der Verletzung des Inquisitors so überraschend dazu beordert worden war, die Hexe und den bewusstlosen Institoris nach Rom zu kutschieren, hatte er bei seiner Ankunft nur die Sachen bei sich gehabt, die er am Leib getragen hatte. Doch auch nachdem der Inquisitor heute früh zu sich gekommen und aufgestanden war, war sein Job nicht komplizierter geworden. Er war ständig informiert, wo die Hexe und der Hexenjäger sich aufhielten, folgte ihnen heimlich und behielt sie unauffällig im Auge, sofern sie sich nicht gerade in den Gästezimmern aufhielten. Hätte einer von ihnen sich tagsüber dazu entschlossen, das Grundstück auf eigene Faust zu verlassen, hätte Wolfgang dies bemerkt. Entweder hätte er es – im Falle der Hexe – unterbunden oder wäre – im Falle des Inquisitors – unauffällig gefolgt. Und sobald es dunkel wurde, musste er sich noch weniger Gedanken darüber machen, dass eine seiner Zielpersonen ausbüxen könnte, da Nero ihm am Tag nach ihrer Ankunft bei einer ersten Unterredung mitgeteilt hatte, dass die grundstückseigenen Sicherungseinrichtungen nicht nur ein Eindringen unberechtigter Personen von außen, sondern darüber hinaus auch eine eigenmächtige Flucht ihrer Gäste verhinderten. Details hatte er nicht genannt, Wolfgang aber gleichzeitig ernsthaft davor gewarnt, sich nachts der Villa zu nähern.

Aus diesem Grund konnte er sich nach Einbruch der Dunkelheit, und sobald er die Hexe und der Inquisitor in der Villa sicher aufgehoben wusste, entspannen und sich den wenigen Dingen widmen, die ihm wahre Freude bereiteten. Dazu gehörten in erster Linie ein gutes Buch und klassische Musik – nach Möglichkeit beides gleichzeitig.

Bei seinem Einkaufsbummel durch die Straßen und Gassen der Ewigen Stadt hatte er unter anderem in einer internationalen Buchhandlung ausgiebig durch das vorhandene Sortiment deutscher Klassiker gestöbert und war erfreulicherweise rasch fündig geworden. Neben anderen Werken, die er kannte, aber bei dieser Gelegenheit gern noch einmal las, war er passenderweise auch auf Johann Wolfgang von Goethes autobiografische Schrift Die italienische Reise gestoßen. Da er sich ebenfalls auf einer Italienreise befand, hatte er, ohne lange zu überlegen, zugegriffen und war jetzt in dieses Buch vertieft, während auf dem hochwertigen CD-Player, mit dem die Wohnung ausgestattet war, in niedriger Lautstärke – wie die dezente Hintergrundmusik in einem Fahrstuhl – eine Oper mit dem Titel Lo frate ’nammorato gespielt wurde. Weder die Musik noch der Gesang störten ihn beim konzentrierten Lesen. Erstens war er es gewohnt, und zweitens wurde nicht nur in italienischer Sprache, sondern sogar in neapolitanischem Dialekt gesungen, sodass er kein einziges Wort verstand. Er hatte die CD in einem Fachgeschäft gefunden und vor allem gekauft, weil der Komponist Giovanni Battista Pergolesi Italiener war und damit sowohl zu seinem Aufenthaltsort als auch zu Goethes Buch passte. Er mochte es nämlich, wenn die Dinge stimmig waren und alles perfekt zueinanderpasste und aufeinander abgestimmt war.

Also saß Wolfgang im luxuriös eingerichteten Wohnzimmer der Chauffeurwohnung seines italienischen Gastgebers auf einem der historischen Hügel der italienischen Hauptstadt in einem bequemen Ledersessel – der vermutlich ebenfalls Made in Italy war –, trank acqua minerale aus einer italienischen Mineralquelle, begleitete in Gedanken seinen verstorbenen Landsmann und Namensvetter Johann Wolfgang von Goethe auf dessen italienischer Reise und hörte gleichzeitig die Oper eines italienischen Komponisten, gesungen in neapolitanischem Dialekt. Im Grunde war also alles stimmig und perfekt – perfetto hätte es Wolfgang mithilfe seiner kaum vorhandenen Kenntnisse der Landessprache vermutlich genannt, um die vollkommene Synchronizität dieses Augenblicks nicht zu verletzen –, bis … ja, bis ein lautes Donnern die nächtliche Ruhe und den beschaulichen Moment in Fetzen riss.

Er war so gefangen genommen von den Worten des Meisterdichters, dass ihn der unerwartete Knall aufschrecken ließ. Er zuckte heftig zusammen und hätte beinahe das Buch fallen gelassen und das halb volle Wasserglas von dem Beistelltischchen neben dem Sessel gestoßen. Im ersten Moment war er völlig desorientiert und wusste weder, wer, noch wo er war. Doch rasch fand er wieder zu sich. Und sofort wurde ihm klar, was er soeben gehört hatte. Er war lange genug Mitglied von Butchers Rudel und hatte zahlreiche, bisweilen lebensgefährliche Aufträge erledigt, um die Detonation einer Sprengladung zu erkennen, wenn er sie hörte.

Wolfgang nahm sich noch die Zeit, mit dem Lesezeichen die Stelle zu markieren, bis zu der er gekommen war, und legte das Buch anschließend neben das Glas auf den Tisch. Erst dann sprang er auf, als nahezu zeitgleich zwei weitere, ein wenig gedämpftere Explosionen folgten. Er schloss daraus, dass der erste Knall auf dieser Seite der Villa, die der Garage zugewandt war, erfolgt sein musste. Da hat wohl jemand die Haustür aufgesprengt, weil er nicht warten konnte, bis ihm jemand aufmacht!, dachte er zynisch. Die beiden anschließenden Sprengsätze mussten hingegen auf der gegenüberliegenden Seite detoniert sein. Das müssen der Hintereingang zur Küche und die Terrassentür gewesen sein! Die drei Detonationen machten Wolfgang nicht nur deutlich, dass Neros Villa soeben Ziel eines schweren Angriffs wurde und dass sie es mit einer Übermacht an Feinden zu tun haben mussten, wenn sie über alle Zugänge ins Haus eindringen konnten, sondern auch, dass er in der Wohnung über der Garage unter Umständen ebenfalls nicht mehr sicher war. Hätte er zum Fluchen geneigt, hätte er es wohl jetzt getan, und zwar laut und deftig. Doch da er jede lautstarke Gefühlsäußerung verabscheute und generell eher der schweigsame Typ war, der sich unauffällig im Hintergrund hielt, sparte er sich jeden Ausruf, der ihm ohnehin nur kurzfristig Erleichterung verschafft, ansonsten aber nichts bewirkt hätte. Stattdessen reagierte er auf die Bedrohung auf seine Weise, indem er augenblicklich handelte, da er ahnte, dass auch für ihn die Lage früher oder später brenzlig werden konnte, wenn er nicht richtig und vor allem nicht besonnen und schnell genug reagierte.

Er eilte ans Fenster und blickte nach draußen. Die Villa lag hinter einem Hain, der aus hohen Bäumen und dichtem Unterholz bestand, doch von seinem erhöhten Standort konnte er zwischen den Stämmen undeutlich das Hauptgebäude erkennen. Er richtete den Blick dorthin, wo der Eingang lag, und sah, dass die Eingangstür fehlte und an ihrer Stelle ein finsteres Loch in der Fassade klaffte. Außerdem schienen mehrere Fenster im Erdgeschoss zerstört worden zu sein. Ob dies von der Explosion oder davon herrührte, dass dort Angreifer ins Haus eingedrungen waren, entzog sich seiner Kenntnis, doch er tippte auf Letzteres. Ab und zu irrlichterten dünne, hochkonzentrierte Lichtstrahlen durch die Dunkelheit, die jenseits des zerstörten Eingangs und der zerschmetterten Fensterscheiben herrschte. Es musste sich um die Lampen der Eindringlinge handeln, die sich durch das Gebäude bewegten und nach ihren Zielpersonen suchten.

All dieser Details hätte es gar nicht bedurft, um Wolfgang mit letzter Konsequenz klarzumachen, dass er sich nicht getäuscht hatte und die Villa tatsächlich Ziel eines Angriffs war. Warum es geschah, wer die Angreifer waren und wie sie auf Nero und seine Gäste aufmerksam geworden waren, war für ihn nebensächlich, auch wenn er sich natürlich Gedanken machte und leicht ausrechnen konnte, um wen es sich handelte und auf wen sie es in erster Linie abgesehen hatten. Lediglich die Frage, wie die Inquisition so rasch herausgefunden hatte, wo der Inquisitor sich versteckte, konnte Wolfgang nicht abschließend klären, auch wenn der Ausflug des Mannes zum Waffenhändler und in die Nähe des Vatikans genug Raum für Spekulationen ließ.

Damit löst sich Butchers Operation wohl gerade im wahrsten Sinne des Wortes in Rauch auf, überlegte Wolfgang. Außer natürlich, Institoris überlebte den Angriff seiner Kollegen und entkam. Dann konnte er noch immer sein Rendezvous mit dem Schweizergardisten wahrnehmen und seinen – den wichtigsten und abschließenden – Beitrag zum Gelingen des ehrgeizigen Plans der Luziferianer leisten. Nero und die Hexe waren dagegen nur noch Randfiguren und nicht mehr wichtig. Sie konnten ruhig draufgehen. Für Wolfgang galt im Grunde dasselbe, allerdings hatte er ein persönliches Interesse daran, in dieser Nacht nicht zu sterben. Außerdem konnte er noch immer einen wichtigen Beitrag zur laufenden Operation leisten, indem er das Grundstück fluchtartig verließ und hinterher dafür sorgte, dass Institoris seine Verabredung einhielt – sofern dieser ebenfalls entkam.

Das ferne Krachen eines Gewehrs riss ihn aus seinen Überlegungen. Da er davon ausging, dass die Angreifer keine Schrotflinten, sondern schallgedämpfte, vollautomatische Waffen bei sich hatten, musste es Nero sein, der sich gegen die Angreifer zur Wehr setzte. Der Nekromant war passionierter Jäger, der seine Jagdbeute eigenhändig präparierte und in einem eigenen Jagdzimmer zur Schau stellte, und hatte eine imposante Waffensammlung. Somit war zumindest Nero noch am Leben und leistete Widerstand. Und indem der Gastgeber die Aufmerksamkeit der Eindringlinge auf sich lenkte, verschaffte er Wolfgang eine größere Chance, zu entkommen.

Wolfgang überlegte nur kurz, was er tun sollte, da es in seinen Augen keine Alternativen, sondern nur eine Möglichkeit für ihn gab. Er musste sich eines der Fahrzeuge aus der Garage schnappen und verschwinden, bevor die Angreifer es auch auf ihn abgesehen hatten. Wenn er Pech hatte, war dieses Gebäude ebenfalls schon umstellt und würde alsbald gestürmt werden. Er musste also so rasch wie möglich von hier weg. Und selbst wenn die Eindringlinge ihn noch nicht im Visier hatten, würde sich das spätestens dann ändern, wenn sie ihren Job in der Villa erledigt hatten.

Nicht für eine einzige Sekunde kam er auf den aberwitzigen Gedanken, zur Villa zu schleichen und den Nekromanten, die Hexe und den Inquisitor gegen die Angreifer zu unterstützen. Die anderen mussten schon selbst sehen, wie sie mit heiler Haut davonkamen. Für ihn zählte nur der eigene Pelz, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Das Schicksal von Nero und Marcella interessierte ihn demgegenüber herzlich wenig. Der Nekromant war unter den Luziferianern in Rom und Italien ein Big Player. Er hatte Wolfgang in den letzten Tagen trotz aller Annehmlichkeiten, die seine Küche und die Chauffeurwohnung geboten hatten, wie einen Lakaien behandelt. Wolfgang hatte sich nicht beschwert, tief in seinem Innersten, das er vor jeder anderen Person sorgsam verschloss, hatte er sich jedoch gedemütigt gefühlt, da er auf eine Stufe mit den anderen Dienstboten gestellt wurde. Was immer Nero daher widerfuhr, Wolfgang würde ihm keine einzige Träne hinterherweinen, wenn der Mann heute Nacht ins Gras biss. Für ihn gab es nur eine einzige Person, der er loyal ergeben war und von der er sich wie ein Befehlsempfänger behandeln ließ, und das war Butcher. Denn auch wenn er es nie laut eingestanden hätte, hatte er sogar ein wenig Angst vor dem Rudelführer. Neros Anweisungen hatte er dagegen nur erfüllt, weil Butcher dies bei ihrer letzten Besprechung unmittelbar vor der Abreise in München von ihm verlangt hatte. Außerdem hätte es nur seine Aufgabe erschwert, wenn er sich den Nekromanten zum Feind gemacht hätte.

Gegen die Hexe, die während der Fahrt von München nach Rom im Leichenwagen mehrere Stunden unmittelbar neben ihm gesessen hatte, hegte er eigentlich keine Aversionen. Aber da sie ihn andererseits auch als Frau nicht reizte, war ihm ihr Schicksal letzten Endes egal. Freunde waren sie während der langen Autofahrt jedenfalls nicht geworden. Aber das hatte nichts zu bedeuten, da Wolfgang ohnehin keine Freunde hatte.

Bei Michael Institoris sah die Sache anders und komplexer aus. Als Inquisitor war er der Todfeind jedes Luziferianers. Auch Wolfgang hatte schon Rudelangehörige und flüchtige Bekannte an die Inquisition verloren, und allein deswegen wäre es für ihn Vergnügen und tiefe Befriedigung zugleich, wenn der Inquisitor sinnigerweise von seinen eigenen Leuten abgeschlachtet werden würde. Andererseits war Institoris für Butchers Operation von herausragender Bedeutung, sodass Wolfgang insgeheim wünschte, er würde diesen nächtlichen Angriff ebenfalls unverletzt überstehen und entkommen.

Doch trotz dieses Wunsches, der einzig aus Notwendigkeit und nicht aus Mitgefühl oder echter Sorge geboren war, war Wolfgang sein eigenes Überleben wichtiger. Daher kam es ihm nicht einmal ansatzweise in den Sinn, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, um den Inquisitor zu retten oder zumindest zur Flucht zu verhelfen. Butcher würde ihm schon nicht den Kopf abreißen, wenn der Inquisitor starb, da Wolfgang schließlich nichts dafürkonnte und hinterher behaupten würde, er habe alles versucht, aber gegen die Übermacht keine Chance gehabt, etwas für den Mann zu tun.

Wolfgang war noch vollständig angezogen – er trug, sorgsam aufeinander abgestimmt, eine schwarze Cordhose, ein T-Shirt von derselben Farbe und dunkelgraue Turnschuhe – und musste sich daher nicht erst noch anziehen. Die bevorzugte Farbe seiner Kleidung würde ihm bei seiner Flucht zugutekommen, da er auf diese Weise leichter mit der Dunkelheit verschmolz. Er ließ alles andere zurück – sogar das Buch von Goethe und die Opern-CD –, da jedes Teil im Gegensatz zu seinem Leben ersetzbar war, und startete.

Er rechnete damit, dass auch bei seinem gegenwärtigen Domizil jederzeit die Eingangstür aus den Angeln gesprengt werden und ein schwer bewaffneter Haufen eindringen könnte, doch noch war in der unmittelbaren Umgebung alles ruhig. Selbst aus der Garage unten war die ganze Zeit über kein verdächtiger Laut zu hören gewesen. Dennoch gelang es ihm nicht, sich zu entspannen. Im Gegenteil, der Umstand, dass nichts passierte, zehrte noch stärker an seinen Nerven.

Als er das Wohnzimmer hinter sich ließ und in den Flur kam, schnappte er sich die Schlüssel für den Jaguar. Er war ohnehin davon ausgegangen, dass er den Wagen in dieser Nacht benötigen würde, um dem Inquisitor und der Hexe zur Vatikanstadt zu folgen. Deshalb hatte er aus reiner Bequemlichkeit die Schlüssel nicht wieder zurückgegeben, sondern einfach mit nach oben genommen und auf den hüfthohen Flurschrank gelegt. Nun kam ihm seine eigene Faulheit zugute.

Es gab zwei Eingänge zur Chauffeurwohnung. Einer davon führte direkt von draußen herein und war über eine Treppe an der Rückseite des Gebäudes zu erreichen. Daneben gab es eine unmittelbare Verbindung zwischen Garage und Wohnung, sodass der Chauffeur nicht jedes Mal außen herumgehen musste, sondern auf direktem Weg zu den Fahrzeugen gelangen konnte.

Wolfgang entschied sich für den direkten Weg, und das nicht nur, weil er befürchtete, die Killer der Inquisition könnten bereits vor der Tür nach draußen auf der Lauer liegen. Vor der geschlossenen Tür verharrte er kurz, um auf ungewöhnliche Geräusche zu lauschen. Als er nichts hörte, öffnete er sie vorsichtig und folgte den dahinter liegenden Treppenstufen ins Erdgeschoss.

Beim Verlassen des Wohnzimmers hatte er das Licht der Leselampe brennen und den CD-Player weiterlaufen lassen, um etwaige Gegner in dem Glauben zu bestärken, er hielte sich noch immer dort auf. Auf seinem Weg zur Treppe hatte ihn daher die leise Musik der italienischen Oper begleitet, doch jetzt verstummte die Musik, weil die Oper zu Ende war. Im ersten Moment irritierte ihn die unvermittelt einsetzende Stille. Er horchte erneut, aber außer dem Pochen seines eigenen Pulsschlags war es absolut still. Nicht einmal vom Hauptgebäude waren noch Geräusche zu hören. Möglicherweise war der Kampf dort schon zu Ende. Ein Grund mehr, sich zu beeilen. Wolfgang gab sich innerlich einen Ruck und stieg weiter in die Tiefe. Er machte auf seinem Weg nirgends das Licht an, um seinen Aufenthaltsort nicht zu verraten. Zum Glück kannte er den Weg mittlerweile gut genug, um sich auch im Halbdunkel zurechtzufinden. Und wo es zu dunkel war, wie hier im fensterlosen Treppenaufgang, tastete er sich mit den Händen voran.

Am Fuß der Treppe befand sich eine weitere Tür, hinter der die aus einem einzigen großen Raum bestehende Garage lag. Dort gab es keinerlei Trennwände, hinter denen er Deckung finden konnte, sondern nur Säulen, die das obere Stockwerk trugen.

Wolfgang atmete noch einmal tief durch, bevor er vorsichtig und wie in Zeitlupe die Klinke nach unten drückte und die Tür aufschob. Sie öffnete sich völlig lautlos. Durch den Spalt spähte er in die finstere Garage. Alles wirkte verlassen und unverdächtig auf ihn und war noch genau so, wie es vor wenigen Stunden ausgesehen hatte. Allerdings konnte er aufgrund der Dunkelheit nicht alles gut genug erkennen. Und in den tiefsten Schatten – vor allem in den Ecken des Raumes –, wo das Mondlicht nicht hingelangte, konnte sich eine ganze Armee verstecken.

Vielleicht hatten die nächtlichen Angreifer ihn aber auch tatsächlich übersehen. Oder sie hielten ihn für zu unwichtig, um sich mit ihm zu befassen. Schließlich gab es wichtigere Ziele, zum Beispiel Michael Institoris, und der saß in der Villa. Ihm wäre das nur recht, und seine Eitelkeit deswegen nicht gekränkt. Er zog die Bedeutungslosigkeit in den Augen seiner Feinde der tödlichen Wirkung einer silbernen Kugel bei Weitem vor.

Behutsam und möglichst geräuschlos schob er sich durch den Türspalt in die Garage. Durch zahlreiche Fenster fiel das Mondlicht herein und erleuchtete weite Bereiche seiner Umgebung ausreichend genug, damit er sich orientieren konnte und ohne Schwierigkeiten seinen Weg fand. Langsam bewegte er sich voran und hielt sich möglichst im Schatten. Dabei lauschte er beständig aufmerksam, ob sich noch jemand in der weitläufigen Garage aufhielt und sich an ihn heranschlich. Die Fahrzeuge waren nur dunkle Schemen und wirkten wie zum Sprung geduckte, urzeitliche Ungeheuer. Da sie zum Schutz vor Schmutz und Staub größtenteils abgedeckt waren, konnte allenfalls ein Kenner die Marken anhand der vagen Formen unter den schützenden Planen erkennen. Wolfgang kannte sich mit Autos aus. Außerdem hatte er sich hier bei Tageslicht umgesehen, sodass er die Fahrzeuge, an denen er vorbeikam, auch unter diesen Bedingungen eindeutig identifizieren konnte. Sie waren für ihn jetzt wie Geländemarken, die ihm den richtigen Weg wiesen.

Wie so viele reiche Leute, die nicht wissen, was sie mit ihrem Vermögen Sinnvolles anfangen sollen, besaß Nero einen riesigen Fuhrpark. Die meisten Fahrzeuge waren jedoch nicht hier, sondern in einer Garage seines Zweitwohnsitzes am Comer See geparkt, wie er Wolfgang erzählt hatte. Dennoch waren auch die vor Ort verbliebenen Fahrzeuge beeindruckend. Der Jaguar, den Wolfgang benutzt hatte, um den Inquisitor zu chauffieren, war sogar noch das gewöhnlichste Fahrzeug. Daneben gab es, wie es sich für einen italienischen Multimillionär gehörte, mehrere Sportwagen der einheimischen Marken Ferrari, Maserati und Lamborghini, einen Porsche 911 Cabrio Carrera, zwei Rolls-Royce, einen Bentley, einen Mercedes-Benz SLS AMG mit Flügeltüren und einen Hummer H2. Hätte Wolfgang freie Auswahl gehabt, hätte er lieber eines der anderen Autos genommen – vermutlich den Hummer, der womöglich gepanzert war. Doch da er nicht wusste, wo die Schlüssel aufbewahrt wurden, und keine Zeit hatte, danach zu suchen, musste er sich erneut mit dem Jaguar zufriedengeben, den er erst vor wenigen Stunden ganz rechts neben der Außenmauer abgestellt hatte. Was aber auch nicht die schlechteste Wahl war, wie er insgeheim eingestehen musste.

Als Wolfgang all die anderen verhüllten Karossen passiert hatte, ohne dass er aus deren Schatten heraus attackiert worden war, stellte er erleichtert fest, dass der Jaguar noch dort stand, wo er ihn geparkt hatte. Die Tür war unverschlossen und die Innenbeleuchtung, die beim Öffnen anging, verräterisch, doch dagegen konnte er nichts tun. Er nahm hinter dem Steuer Platz, schloss so rasch und dennoch so leise wie möglich die Tür und schob den Schlüssel ins Zündschloss.

Wolfgang stieß die Luft aus, die er unwillkürlich angehalten hatte, und schnappte nach frischem Sauerstoff. So weit, so gut, dachte er und war erleichtert, dass er es bis hierher geschafft hatte. Doch der schwierigere Teil stand ihm unter Umständen erst noch bevor, sobald er den Wagen aus der Garage fuhr. Bisher hatte er sich lautlos vorwärtsbewegen können, während der Wagen Lärm verursachen würde.

Auf seinem Weg durch die dunkle Garage hatte er beständig auf verdächtige Geräusche gelauscht und nach verstohlenen Bewegungen in den Schatten um sich herum Ausschau gehalten. Er hatte jedoch von den Eindringlingen auf Neros Grundstück nichts sehen und hören können. Zudem meldeten ihm auch die viel feineren Sinne des Raubtiers, das in ihm schlummerte und auf dessen Fähigkeiten er auch in menschlicher Gestalt in abgeschwächter Form zurückgreifen konnte, dass in seiner unmittelbaren Umgebung keine akute Gefahr drohte.

Nach einem letzten Blick in die Runde nahm er die Fernbedienung für das Garagentor zur Hand, mit der jedes von Neros Fahrzeugen, die regelmäßig benutzt wurden, ausgerüstet war. Nach einem Druck auf den richtigen Knopf hob sich das elektrisch betriebene Tor hinter dem Wagen mit einem metallischen Ächzen und Knacken langsam in die Höhe. Die Geräusche, die tagsüber kaum auffielen, waren in der nächtlichen Stille sicherlich weithin zu hören. Dies war vermutlich der kritischste Punkt seiner Flucht, denn wenn die Angreifer draußen auf ihn warteten, würden sie spätestens jetzt auf ihn aufmerksam werden und genau wissen, wo er sich befand.

Wolfgang hätte jetzt selbst gern eine Waffe zur Hand gehabt, um sich gegen die Eindringlinge verteidigen zu können, doch als Gestaltwandler hatte er normalerweise wenig Bedarf für Schusswaffen. In gefährlichen Situationen verließ er sich lieber auf seine Fähigkeit, seine körperliche Erscheinung wechseln und mit den natürlichen Waffen seiner tierischen Gestalt – messerscharfe Krallen und lange, spitze Reißzähne – zu kämpfen. In Vollmondnächten waren Gestaltwandler gezwungen, sich zu verwandeln, ob sie wollten oder nicht, doch in der übrigen Zeit konnten sie ihre Erscheinung wechseln, wie und wann sie wollten. In tierischer Form war er in der Lage, alle Vorteile, die ihm diese bot, hundertprozentig zu nutzen. Daher verfügte er als Wolf über ein entschieden besseres Gehör, einen wesentlich effektiveren Geruchssinn, größere Kraft, Geschicklichkeit, Wendigkeit und Ausdauer sowie eine niedrigere Verwundbarkeit und weniger Schmerzempfinden.

Aus verschiedenen Gründen hatte er sich allerdings dazu entschieden, vorerst seine menschliche Gestalt beizubehalten und nur im äußersten Notfall auf die Bestie in seinem Innern zurückzugreifen. Dazu hatte ihn in erster Linie die Entscheidung bewogen, einer Auseinandersetzung mit den Angreifern nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Denn nach seiner Überzeugung musste es sich mindestens um ein halbes Dutzend Personen handeln, die in Neros Villa eingedrungen waren. Und möglicherweise gab es noch weitere, die das Grundstück sicherten. Er sah sich also einer Übermacht an Feinden gegenüber, bei denen es sich darüber hinaus mit Sicherheit um Inquisitoren handelte, die dem Anwesen einen nächtlichen Überraschungsbesuch abstatteten. Wer sonst sollte sowohl einen Grund als auch den Mut haben, einen einflussreichen und mächtigen Mann wie Nero auf seinem eigenen Territorium anzugreifen? Und die Inquisition besaß sowohl die Erfahrung als auch die Mittel, um mit einem Gestaltwandler mühelos fertig zu werden. Für ihn war es daher sicherer, den Angreifern weiträumig aus dem Weg zu gehen und keine Konfrontation zu riskieren. Das war als Mensch leichter zu bewerkstelligen, da er in seiner tierischen Gestalt weniger von seinem Intellekt, sondern fast ausschließlich von seinen Instinkten gesteuert wurde. Und die ließen ihn eher den direkten Weg wählen und kopfüber mitten in eine gefährliche Situation hineinstürzen, ungeachtet der Möglichkeit eines negativen Ausgangs. Davon ganz abgesehen würde er in seiner tierischen Erscheinung weder ein Auto lenken noch seine Kleidung mitnehmen können. Hinterher würde er splitterfasernackt und ohne fahrbaren Untersatz durch Rom irren, wo er eventuell gesehen wurde und ungewolltes Aufsehen erregte. Da er all das momentan überhaupt nicht gebrauchen konnte, war es eindeutig besser, wenn er in seiner menschlichen Gestalt agierte und hoffte, dass sich die Eindringlinge auf das Haupthaus konzentrierten und, möglicherweise alarmiert durch die Geräusche des sich öffnenden automatischen Garagentors, die Garage erst erreichten, wenn er längst über alle Berge war.

Wolfgang wartete nicht ab, bis das Tor ganz oben und zur Ruhe gekommen war, sondern startete den Motor, kaum dass die Öffnung groß genug war, um mit dem Wagen problemlos hindurchfahren zu können. Er legte den Rückwärtsgang ein und fuhr zügig aus der Garage, ohne dabei allerdings zu viel Gas zu geben, damit die Reifen nicht durchdrehten und laut kreischten. Der Platz vor den Garagen war gepflastert. Obwohl Wolfgang vorerst darauf verzichtete, das Licht anzuschalten, um möglichst lange unentdeckt zu bleiben, konnte er im Mondlicht genug von seiner unmittelbaren Umgebung erkennen.

Als keine menschlichen Umrisse zu entdecken waren, die aus den Schatten auf den Jaguar zusprangen, und auch keine Schüsse aufpeitschten oder Kugeln die Karosserie durchschlugen und die Scheiben zerschmetterten, atmete Wolfgang auf. Er fuhr einen Bogen und bremst. Dass dadurch die Bremslichter aufleuchteten und ein deutliches Ziel boten, konnte er nicht verhindern. Anschließend schob er rasch den Schaltknüppel in den ersten Gang und stieg aufs Gas, sodass die Reifen auf dem Pflaster kreischend durchdrehten. Doch das war ihm egal, da es jetzt nicht mehr auf Heimlichkeit, sondern auf Schnelligkeit ankam. Sollten die Feinde ruhig hören, dass er davonfuhr, solange sie nur nicht in der Lage waren, ihn einzuholen. Das grelle Quietschen des Gummis zerriss weithin hörbar die Stille und war sicherlich auch in jedem Winkel der Villa wahrnehmbar.

Doch Wolfgang hatte keine Zeit, einen Blick zu der Stelle zu werfen, wo das Loch in der Fassade des Hauses klaffte, durch das die Angreifer eingedrungen waren, und nachzusehen, ob jemand nach draußen rannte. Er konzentrierte sich auf den schmalen Fahrweg, der zum Tor führte. Rasch schaltete er die Gänge hoch, während der Wagen schneller wurde. Eigentlich fuhr er für diese Verhältnisse viel zu schnell, doch er musste ein Wagnis eingehen, wenn er es schaffen wollte. Und das Risiko wurde belohnt, da er ohne Zwischenfall zum Tor gelangte. Als die schmiedeeisernen Gitterstäbe nur noch ein gutes Dutzend Meter vor der Kühlerhaube des Wagens lagen, betätigte er einen weiteren Knopf der Fernbedienung, worauf sich die beiden Torflügel automatisch nach innen öffneten. Die beiden Hälften des Tors bewegten sich mit einer Langsamkeit, die an seinen Nerven zehrte. Ständig rechnete er damit, dass dunkle Schatten von beiden Seiten aus dem Gebüsch auf den Weg sprangen und damit begannen, die Windschutzscheibe und Frontpartie des Jaguar mit Feuergarben zu überziehen, um seine Flucht zuletzt doch noch zu vereiteln. Deshalb wagte er es nicht, den Wagen auch nur ein kleines bisschen langsamer rollen zu lassen und den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. Er vertraute darauf, dass er das Tempo des Jaguar und die Geschwindigkeit, mit der die beiden Hälften des Tores auseinanderschwangen, perfekt aufeinander abgestimmt hatte, um genau rechtzeitig hindurchfahren zu können, sobald es problemlos möglich war. Und tatsächlich war die Lücke breit genug, als sie der leicht schlingernde Wagen passierte. Lediglich der rechte Außenspiegel wurde beim Durchfahren abgerissen, da Wolfgang eine Spur zu weit nach rechts gekommen war. Ansonsten geschah jedoch nichts. Der Jaguar schleuderte auf die Straße, wo um diese Uhrzeit niemand unterwegs war. Wolfgang riss das Steuer herum und brachte das ausbrechende Fahrzeug mit protestierend aufheulenden Reifen auf die richtige Spur. Ohne Beleuchtung verschwand der Wagen anschließend in der Nacht.

Im Innern stieß Wolfgang einen lang gezogenen, tiefen Seufzer aus, als er allmählich realisierte, dass er tatsächlich mit heiler Haut davongekommen war. Allerdings war ihm bewusst, dass es die Angreifer nicht auf ihn, sondern in erster Linie auf die Personen im Hauptgebäude abgesehen hatten. Und er fragte sich, wie es dem Inquisitor, der Hexe und dem Nekromanten ergangen war. Hatten sie den Angriff unbeschadet überstanden? War es ihnen unter Umständen sogar ebenfalls gelungen, aus der Villa zu entkommen?

Antworten auf seine Fragen erhielt er etwa eine halbe Stunde später, als er den Inquisitor und die Hexe sah, die nebeneinander die abschüssige Straße des Aventin herunterkamen und sich wie Hänsel und Gretel, die sich im Wald verirrt hatten, an der Hand hielten. Dabei sahen sie sich ständig um, als fürchteten sie, sie könnten verfolgt und jeden Moment eingeholt werden.

Wolfgang hatte den Wagen in einer schmalen Querstraße hinter einem anderen Auto geparkt, wo es kaum zu entdecken war, sich auf die Lauer gelegt und geduldig gewartet. Seine Geduld wurde belohnt, als er Institoris und Marcella bemerkte, die eilig voranschritten, um möglichst schnell möglichst weit von Neros Anwesen und damit von den Angreifern wegzukommen.

Dabei sah es fast so aus, als müsste der Inquisitor die Hexe hinter sich herzerren und als würde sie ihm nur widerstrebend folgen. Gibt es etwa schon den ersten Krach zwischen den Verliebten, und das noch vor der Hochzeitsnacht?, dachte Wolfgang amüsiert. Ihm war selbstverständlich nicht verborgen geblieben, dass zwischen den beiden etwas gelaufen war, obwohl sie so unterschiedlich waren und in verschiedenen Lagern standen. Wolfgang redete zwar nicht viel und hielt sich dezent im Hintergrund, aber gerade deshalb sah er vieles – auch so manches, was nicht für seine Augen bestimmt war – und zog in der Regel die richtigen Schlüsse. In diesem Fall vermutete er, dass die raffinierte Hexe den Inquisitor ins Bett gelockt hatte, um ihn leichter kontrollieren zu können. Und vielleicht war der Mann ja inzwischen dahintergekommen, dass die Frau nur mit ihm spielte. Aber wie auch immer es sich verhielt, ihm konnte es letzten Endes egal sein.

Wichtig war, dass es Institoris geschafft hatte, seinen Häschern zu entkommen. Butcher würde beruhigt sein, dass die sorgfältig geplante Aktion nicht doch auf der Zielgeraden gescheitert war. Und obwohl Wolfgang nichts dafürkonnte, dass die Inquisition das Versteck des vermeintlichen Verräters ausfindig gemacht und gestürmt hatte, war ihm dennoch seit seinem eigenen Entkommen mulmig zumute gewesen bei dem Gedanken, er müsste Butcher mitteilen, dass die Operation gescheitert war. Zu oft wurde der Überbringer schlechten Nachrichten zur Rechenschaft gezogen, weil niemand anderes zur Hand war, an dem man seinen Frust auslassen konnte.

Auch die Hexe hatte den Angriff überlebt, obwohl es um sie nicht schade gewesen wäre. Neros Fehlen ließ allerdings vermuten, dass er entweder ins Gras gebissen hatte oder von der Inquisition gefangen genommen worden war. Geschieht dem arroganten Pinsel ganz recht!, dachte Wolfgang und grinste schadenfroh.

Nachdem das Händchen haltende Pärchen die Einmündung passiert hatte, ließ er noch ein paar Minuten verstreichen, bevor er den Wagen startete und losfuhr. An der Einmündung stoppte er und hielt Ausschau. Die Hexe und der Inquisitor waren schon ein gutes Stück entfernt, da sie es eilig hatten und rasch ausschritten.

Doch in diesem Augenblick näherte sich aus der Richtung, in die sie gingen, ein Wagen, der schon von Weitem als Taxi erkennbar war. Wäre es ohne leuchtendes Taxischild von der anderen Seite gekommen, wären die beiden wohl rasch von der Straße verschwunden und hätten sich in die Büsche geschlagen oder in den Schatten verborgen, aus Angst, es könnte sich um die Eindringlinge handeln. So aber sahen sie den Wagen nicht als Bedrohung, sondern schienen ihn im Gegenteil erwartet zu haben. Michael hob die linke Hand, in der er einen merkwürdig geformten Koffer trug. Es gelang ihm, die Aufmerksamkeit des Taxifahrers zu erregen. Das Taxi wurde langsamer, als es die beiden nächtlichen Spaziergänger erreichte, wendete mitten auf der ansonsten verwaisten Straße und kam neben ihnen zum Stehen. Vermutlich hatten sie den Wagen durch einen Anruf übers Handy bestellt. Rasch stiegen die Hexe und der Inquisitor ein. Die Beleuchtung des Taxizeichens erlosch, und das Fahrzeug fuhr los.

Auch Wolfgang reagierte umgehend. Er schaltete die Scheinwerfer an und fuhr los, um nicht den Anschluss zu verlieren. Um diese Zeit herrschte vor allem in dieser Gegend kaum Verkehr, und das hatte für einen Verfolger, der unentdeckt bleiben wollte, nicht nur Vorzüge. Einerseits war die Gefahr gering, dass er das verfolgte Fahrzeug mit einem anderen, ähnlich aussehenden Wagen verwechselte. Und sollte er es doch aus den Augen verlieren, würde er es rasch wieder entdecken, sobald er die Stelle erreichte, an der der andere abgebogen war. Andererseits würde er bei dieser geringen Verkehrsdichte einen größeren Abstand halten müssen und dennoch leichter zu entdecken und nach kurzer Zeit als Verfolger identifizierbar sein. Die Verfolgung mit dem Auto um diese Uhrzeit war daher wie eine Wanderung auf einem schmalen Grat, die Wolfgang aber gut genug meisterte. Es gelang ihm nicht nur, am Taxi dranzubleiben und es auch dann nicht zu verlieren, als sie in die sogar um diese Zeit belebteren, überwiegend von Nachtschwärmern bevölkerten Teile Roms kamen und der Verkehr etwas dichter wurde, sondern schaffte es wohl auch, weder von den beiden Fahrgästen noch vom Fahrer des Taxis entdeckt zu werden, da sie nicht den geringsten Versuch unternahmen, ihn abzuschütteln.

Nachdem sie den Aventin hinter sich gelassen hatten, fuhren sie durch die nächtlichen Straßen der Metropole in Richtung Stazione Termini, wo Wolfgang erst vor Kurzem gewesen war, als er den Inquisitor dorthin chauffiert hatte. Wie alle Großstädte dieser Welt schlief auch die Ewige Stadt nie wirklich.

Zunächst argwöhnte Wolfgang, die Hexe und der Inquisitor wollten zum Bahnhof, um mit dem Zug aus Rom zu verschwinden. In diesem Fall hätte er umgehend reagieren und Butcher Meldung erstatten müssen. Entweder wäre es dann seine Aufgabe gewesen, die beiden aufzuhalten oder weiterhin an ihnen dranzubleiben. Die Stazione Termini war jedoch nicht das Ziel dieser Fahrt, sondern ein heruntergekommenes, billiges Hotel in der Nähe des Bahnhofs. Wolfgang stellte fest, dass sie nicht weit von dem Schallplattenladen des krötenartigen Waffenhändlers entfernt waren, den Institoris am Nachmittag besucht hatte. Offenbar kannte er sich in diesem Teil der Stadt von früheren Besuchen aus und bevorzugte die Geschäfte und Unterkünfte in diesem Viertel. Außerdem war Marcella Römerin und hier zu Hause. Sie dürfte die Stadt fast ebenso gut kennen wie das Innere der modischen Handtasche, die sie bei sich hatte, und wissen, wo man untertauchen konnte, ohne dass allzu viele Fragen gestellt wurden.

Als Wolfgang sah, wie das Taxi vor dem Hotel am Straßenrand hielt, lenkte er den Jaguar rasch zur Seite in eine leere Einfahrt. Er löschte die Scheinwerfer und schaltete den Motor aus. Durch eine Lücke zwischen zwei parkenden Fahrzeugen konnte er den Bereich unmittelbar vor dem Hotel im Auge behalten, ohne selbst gesehen zu werden.

Insgesamt machte die Umgebung einen schäbigen, reichlich heruntergekommenen Eindruck. Fünfzig Meter vom Hotel entfernt sah Wolfgang mehrere aufreizend gekleidete Frauen am Rand der Straße stehen, die Zigaretten rauchten oder sich unterhielten. Zweifellos ein Straßenstrich, an dem Dirnen auf ihre Freier warteten. Und gewiss vermietete man im nahen Hotel die Zimmer bevorzugt stundenweise und stellte keine neugierigen Fragen nach dem Namen oder der Herkunft der Gäste. Die Nähe der Prostituierten zum Hotel war sicherlich alles andere als Zufall. Es handelte sich somit um die ideale Absteige für jemanden, der auf der Flucht war und nicht gefunden werden wollte.

Wolfgang beobachtete, wie die beiden Fahrgäste ausstiegen und im Eingang des Hotels verschwanden. Institoris trug den länglichen Koffer und hielt Marcellas Hand, die sich fügsam führen ließ und mit der freien Hand ihre Handtasche umklammerte. Kaum waren die beiden im Innern verschwunden, fuhr das Taxi davon.

Wolfgang legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Zum ersten Mal, seit der Knall der ersten Explosion ihn aus Goethes Italienischer Reise gerissen hatte, konnte er sich entspannen und die Erregung der Flucht und der anschließenden Verfolgung abschütteln. Er überlegte, was er tun sollte, da er sich unter Umständen auf einen längeren Aufenthalt gefasst machen musste. Wenn der Inquisitor und die Hexe die Nacht im Hotel verbrachten, war es besser und vor allem bequemer, er nahm sich ebenfalls ein Zimmer. Andererseits konnte er die beiden dann nicht konsequent genug überwachen. Wie sollte er etwa mitbekommen, wenn sie das Hotel mitten in der Nacht verließen? Ihm kam der Gedanke, einfach bei den beiden anzuklopfen und wahrheitsgemäß zu sagen, er habe es ebenfalls geschafft, den Eindringlingen zu entkommen. Er könnte ihnen anbieten, weiterhin seine Dienste und das Fahrzeug zur Verfügung zu stellen. Dadurch hätte er sich eine gute Möglichkeit verschafft, in ihrer unmittelbaren Nähe zu bleiben und sie gleichzeitig im Auge behalten zu können. Außerdem könnte er leichter dafür sorgen, dass Institoris in wenigen Stunden seine wichtige Verabredung am Portal der Vatikanstadt einhielt. Aber wie sollte er dem stets misstrauischen Inquisitor erklären, wie er sie gefunden hatte, ohne zugeben zu müssen, dass er ihnen heimlich gefolgt war. Ein Umstand, der nicht gerade vertrauenerweckend war, vor allem, da er ohnehin das Gefühl hatte, dass Institoris ihn weder mochte noch vertraute. Daher war es vermutlich besser, er hielt sich weiterhin unauffällig im Hintergrund und behielt den Eingang des Hotels im Auge, auch wenn das bedeutete, dass ihm eine lange und schlaflose Nacht bevorstand.

Immerhin konnte er einen Teil der Zeit dazu nutzen, Butcher anzurufen und über die neuesten Entwicklungen zu informieren. Warum sollte er als Einziger auf seinen wohlverdienten Schlaf verzichten. Außerdem hatte der Rudelführer in dieser Phase der Operation gewiss Verständnis, um diese Zeit geweckt zu werden, wenn er erst erfuhr, was sich Überraschendes getan hatte. Der Ausfall des Nekromanten dürfte Butcher interessieren, aber keineswegs beunruhigen, da für die weitere Entwicklung Neros Mitwirkung ohnehin nicht zwingend erforderlich war. Aber darüber, dass der Inquisitor und die Hexe dem Angriff der Inquisition entgangen waren und ein neues Quartier bezogen hatten, wollte Butcher bestimmt umgehend informiert werden.

Wolfgang holte sein Mobiltelefon aus der Hosentasche, wo er es stets bei sich trug, andernfalls würde es jetzt in dem verlassenen Apartment über der Garage liegen, und wählte Butchers Handy-Nummer, die er auswendig kannte.

Die Warterei dauerte dann doch nicht so lang, wie Wolfgang anfangs befürchtet hatte.

Er hatte neue Instruktionen von seinem Boss erhalten und das Telefonat mit Butcher rasch beendet. Seitdem wünschte er sich, er hätte bei seiner Flucht wenigstens das Goethe-Buch mitgenommen, da die Müdigkeit ihn ständig zu überwältigen drohte und es nichts gab, was er tun konnte. Zum Lesen hätte er allerdings die Innenbeleuchtung anmachen müssen und womöglich unnötige Aufmerksamkeit erregt – unter anderem bei den Nutten. Also wartete er im Dunkeln und warf in regelmäßigen Abständen aus müden Augen prüfende Blicke zum Hoteleingang. Auszusteigen, um sich durch Bewegung wachzuhalten, wagte er ebenfalls nicht, weil er befürchtete, der Inquisitor könnte ausgerechnet dann aus dem Hotel kommen oder aus einem der Fenster schauen und ihn entdecken. Allerdings hatte er das Fenster heruntergekurbelt, um wenigstens frische Luft schnappen zu können.

Er hatte soeben die Uhrzeit überprüft und wusste daher, dass es exakt 2:33 Uhr war, als hinter ihm ein Auto vorbeifuhr und vor dem Hotel hielt. Er sah hin und bemerkte, dass es sich erneut um ein Taxi handelte. Nur Sekunden später erschienen der Inquisitor und die Hexe und bestiegen das wartende Taxi. Institoris hatte wieder den Metallkoffer bei sich, während Marcella ohne ihre Handtasche unterwegs war.

Machen die sich etwa schon auf den Weg zum Vatikan?, fragte sich Wolfgang. Seiner Meinung nach war es dazu noch zu früh. Aber vielleicht wollten sie auf keinen Fall zu spät kommen und vorher in Ruhe die nähere Umgebung des Treffpunkts kontrollieren. Er zuckte mit den Schultern und startete den Motor. Nachdem er den Jaguar rückwärts auf die Straße gelenkt hatte, folgte er erneut einem Taxi durch das nächtliche Rom. Und schnell wurde ihm klar, dass nicht der Vatikan das Ziel ihrer Fahrt war, sondern dass die Reise woanders hinging. Ans Ufer des Tiber inmitten eines verlassenen Gewerbegebiets, wo das Taxi seine beiden Fahrgäste absetzte und davonfuhr.

Erst als die Rücklichter des Taxis hinter einer Abzweigung verschwunden waren, packte der Inquisitor die Hexe am Oberarm und zog sie über die Straße in Richtung Fluss.

Wolfgang kam dies merkwürdig vor. Von Zärtlichkeit oder Zuneigung war im Verhalten des Inquisitors nichts zu entdecken. Man konnte sogar den Eindruck gewinnen, Marcella wäre mittlerweile eine Gefangene des Mannes und würde nur widerstrebend mit ihm gehen. Aber falls das zutraf, wie war es dann zu diesem Sinneswandel gekommen? Hatte Institoris etwa herausgefunden, wer oder besser was Marcella in Wirklichkeit war? War er dahintergekommen, dass sie ihn die ganze Zeit nur belogen und hinters Licht geführt hatte und für Butcher arbeitete, einen der erbittertsten Feinde der Inquisition?

Wolfgang war klar, dass er keine Antworten auf seine Fragen erhalten würde, wenn er im Wagen sitzen blieb und dort auf die Rückkehr der beiden wartete. Außerdem interessierte ihn brennend, was der Inquisitor mit der Hexe um diese Zeit an diesem gottverlassenen Ort vorhatte, und wollte sie schon aus diesem Grund nicht aus den Augen verlieren.

Er beobachtete, wie Institoris die Hexe zu einer nahen Brücke führte, die sich über den Fluss bis zum jenseitigen Ufer spannte. Doch nicht die Brücke war ihr Ziel, sondern ein Treppenabgang unmittelbar daneben, der hinunter zum Ufer führen musste und nach wenigen Stufen in der Dunkelheit verschwand. Der Inquisitor und die Hexe folgten der Treppe und waren alsbald seinen Blicken entschwunden.

Erst jetzt stieg Wolfgang aus dem Wagen und rannte dorthin, wo die beiden vom Erdboden verschluckt worden waren. Er hielt sich zunächst hinter der hüfthohen Steinbrüstung der Brücke verborgen und spähte vorsichtig daran vorbei nach unten. Allerdings sah er niemanden, da diejenigen, denen er folgte, schon ein gutes Stück in die Tiefe gestiegen und im Dunkeln verschwunden waren. Von unten war die Stimme des Inquisitors zu hören, doch Wolfgang konnte nicht verstehen, was der Mann zu seiner Begleiterin sagte.

Da die Finsternis nicht nur die Zielpersonen vor seinen Blicken verbarg, sondern gleichzeitig auch ihn vor einer Entdeckung schützte, nahm Wolfgang die Stufen in Angriff. Vorsichtig und möglichst lautlos folgte er ihnen durch die Dunkelheit. Schon nach wenigen Stufen gewöhnten sich seine Augen an die dürftigen Lichtverhältnisse, sodass er mithilfe seiner verbesserten Nachtsichtigkeit vage Umrisse erkennen konnte. Von Institoris und Marcella sah er jedoch nichts, da diese bereits das Ende der Treppe unten am Fluss erreicht haben und unterhalb der Brücke verschwunden sein mussten. Er hörte allerdings ihre Stimmen, die deutlicher wurden, je näher er ihnen mit jedem Schritt kam. Und je tiefer er stieg, desto vorsichtiger wurde er. Behutsam setzte er den Fuß auf die jeweils nächste Stufe, um keinen herumliegenden Gegenstand – eine weggeworfene Flasche oder einen herumliegenden Kieselstein – loszutreten, der die übrigen Stufen hinunterrollen, Lärm verursachen und seine Gegenwart verraten könnte.

Schließlich erreichte auch er das Ende der Treppe. Er blieb auf der letzten Stufe im Schatten der Brückenmauer stehen und spähte um die Ecke. Die Hexe und der Inquisitor waren so nah, dass er die Worte, die sie wechselten, über das beständige Rauschen des Wassers hinweg gut verstehen konnte. Und der Schein einiger heller Lichter vom jenseitigen Ufer und ihre Reflexionen auf dem Wasser ließen ihn die beiden Personen erkennen, denen er bis an diesen einsamen Ort gefolgt war.

Marcella und Institoris standen auf einem schmalen Streifen festgestampfter Erde, der an dieser Stelle das erhöhte Ufer des rasch dahinströmenden Flusses bildete und unter der Brücke hindurchführte, und befanden sich etwa auf halber Höhe zur anderen Seite. Der Ort war höchstwahrscheinlich auch bei Tage verlassen und bot die ideale Kulisse für eine ungestörte Unterhaltung. Doch was hatten die beiden zu besprechen, was sie nicht auch in der Abgeschiedenheit ihres Hotelzimmers hätten bereden können? Und wieso waren sie dazu ausgerechnet an diesen Ort gekommen?

Auf den ersten Blick erkannte Wolfgang, dass Marcella und Institoris in eine verbale Auseinandersetzung verwickelt waren. Marcella stand mit dem Rücken zum Fluss und hatte die Arme vor der Brust verschränkt, als wäre ihr kalt. Der Inquisitor lehnte nur wenige Meter von ihr entfernt mit der Schulter gegen den gemauerten Grundbau der Brücke, der den schmalen Fußweg auf einer Seite begrenzte. Da Institoris dem heimlichen Beobachter den Rücken zuwandte, erkannte Wolfgang erst auf den zweiten Blick, dass er eine Pistole in der Hand hielt, deren Mündung auf die Hexe gerichtet war. Hatte sich also Wolfgangs Verdacht bewahrheitet, dass der Inquisitor die Hexe mittlerweile durchschaut hatte und wusste, wen er in Wirklichkeit vor sich hatte?

Wolfgang rührte sich keinen Millimeter von der Stelle, um seine Anwesenheit nicht versehentlich zu verraten, während er alles aufmerksam beobachtete und interessiert den Worten der beiden lauschte.

»In Wirklichkeit bist du also eine Hexe! Mehr muss ich nicht wissen, um zu erkennen, mit wem ich es hier tatsächlich zu tun habe.«

»Aber ich liebe dich trotzdem, Michael. Das musst du mir einfach glauben.«

»Liebe?« Der Inquisitor lachte humorlos und hämisch. »Als wenn Kreaturen wie du zu derartigen Gefühlen überhaupt in der Lage wären. Und warum sollte ich dir auch nur ein einziges Wort glauben? Du hast mich die ganze Zeit über nach Strich und Faden belogen. Erzähl mir also nicht, dass du ausgerechnet jetzt damit anfängst, die Wahrheit zu erzählen. Dir geht es doch nur darum, dein armseliges Leben zu retten, und dazu ist dir vermutlich jedes Mittel recht. Außerdem ist ohnehin alles gelogen, was ihr Luziferianer von euch gebt, sobald ihr nur den Mund aufmacht. Das weiß doch jeder.«

»Ich bestreite ja gar nicht, dass ich eine Hexe bin und dich getäuscht habe«, wandte Marcella ein. »Aber … aber ich wollte dir mit Sicherheit nie schaden. Zumindest das musst du mir glauben, auch wenn du mich wegen all der bisherigen Täuschungen zu Recht verachtest. Aber nur weil ich eine Hexe bin, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht fähig wäre, die Wahrheit zu sagen oder jemanden zu lieben.«

»So? Dann muss man mir während der Ausbildung die Unwahrheit erzählt haben, als man mich lehrte, dass Luziferianer – und dazu gehört ohne Zweifel auch das Hexengezücht – keine wahren Gefühle entwickeln können, weil sie gottlose Wesen ohne Seele sind. Willst du allen Ernstes behaupten, dass meine Vorgesetzten und Ausbilder und alle andere Repräsentanten der Kirche und der Inquisition, die diese Meinung teilen, Lügner sind?«

Marcella zuckte in einer Geste der Hilflosigkeit mit den Achseln. Denn ganz egal, was sie auf diese Frage erwiderte, es wäre auf jeden Fall falsch und könnte ihr Todesurteil besiegeln. »Was sollen sie euch auch anderes erzählen?«, fragte sie im Gegenzug, und eine Spur ehrlicher Entrüstung verdrängte die tiefe Verzweiflung, die sich in ihrem Gesicht abgezeichnet hatte. »Das ist doch auch nur Propaganda. Schließlich führen Kirche und Inquisition, die vermeintlich Guten, auf der einen Seite und Luziferianer, die angeblich Bösen, auf der Gegenseite seit Jahrzehnten einen furchtbaren, erbarmungslosen Krieg gegeneinander. Bei uns geschieht das Gleiche, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Uns wird von Kindesbeinen an beigebracht, dass alle Inquisitoren brutale, gnadenlose und blutrünstige Monster sind, die uns und alle anderen Luziferianer nur deshalb verfolgen, weil wir andersartig sind und in ihrem von der katholischen Kirche geprägten Weltbild keinen Platz haben. Wie im Mittelalter werden tagtäglich Unschuldige von der Inquisition verhaftet und in deren Kellerverliesen grundlos, aber genüsslich gefoltert. Dass es genau so und nicht anders geschieht, dachte ich früher auch. Doch nachdem ich dich getroffen und besser kennengelernt hatte, merkte ich sehr schnell, dass das, was mir einst beigebracht worden war, nicht völlig der Wahrheit entspricht. Mag sein, dass es in euren Reihen Leute gibt, auf die all das zutrifft, was uns gelehrt wird, und die man mit Fug und Recht als bösartig bezeichnen kann – so wie es auch bei uns viele gibt, auf die diese Bezeichnung zutrifft. Man kann aber doch nicht alle über einen Kamm scheren. Ich selbst unterscheide mich beispielsweise kaum von einem gewöhnlichen Menschen, da meine Fähigkeiten als Hexe gering sind. Und vielleicht bin ich deshalb eher in der Lage, wahre Liebe für jemand anderen zu empfinden. Außerdem habe ich mir nichts davon bewusst ausgesucht – weder meine Herkunft, für die ich nichts kann, noch dass ich unverhofft tiefer gehende Gefühle für dich entwickelte, als gut für mich war. Und wenn ich dich jetzt so ansehe in deiner Verblendung und deiner Selbstgerechtigkeit, würde ich lieber heute als morgen auf jegliche Empfindung für dich verzichten.«

Michael hatte Marcella ausreden lassen, doch das geschah wohl nur aus Höflichkeit, da weder an seiner Mimik noch an seiner Körperhaltung zu erkennen war, ob etwas von dem, was sie sagte, zu ihm durchdrang und ihn in seinem Innersten berührte. Stattdessen wirkte er so unnahbar wie ein Pflasterstein.

»Hör zu, Hexe!«, sagte er und ließ das Wort Hexe wie ein Schimpfwort klingen. »Selbst wenn ein Körnchen Wahrheit in dem stecken sollte, was du sagtest, kann ich dennoch nichts für jemanden wie dich empfinden, da du zu denen gehörst, die der Menschheit Schaden zufügen und sie ins Verderben stürzen wollen. Als ich vom Papst zum Inquisitor ernannt wurde, schwor ich, die Menschheit zu beschützen und dich und deinesgleichen gnadenlos zu bekämpfen. Diesen Schwur leistete ich vor Gott und kann ihn somit nicht brechen, ohne das Heil meiner eigenen unsterblichen Seele zu riskieren. Spar dir also gefälligst deine erbärmlichen Beteuerungen und Ausflüchte, da diese bei mir ohnehin auf taube Ohren stoßen. Erzähl mir lieber von den Dingen, die ich von dir wissen will.«

Marcella seufzte lang und laut und senkte den Blick. Ihre Angriffslust schien aus ihr heraus und in den Erdboden zu sickern. Sie sackte sichtbar in sich zusammen, als würde alle Kampfeslust und jede Widerstandskraft in ihr ersterben. Es waren mehr als deutliche Anzeichen, dass sie resigniert hatte und sich ihrem Schicksal – wie immer dieses aussah – ergab. Scheinbar hatte sie erkannt, dass sie den Inquisitor mit Worten allein nicht von der Wahrhaftigkeit ihrer Empfindungen überzeugen konnte. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich, als sie einen folgenschweren Entschluss fasste, der nicht nur sie betraf, sondern auch den Mann, den sie zu lieben behauptete. Sie hob den Blick und richtete ihn auf den Inquisitor, der noch immer mit der Pistole auf sie zielte, obwohl sie alles andere als eine Bedrohung für ihn darstellte. Ihre Augen füllten sich mit neuer Lebhaftigkeit und funkelten in finsterer, nahezu tödlicher Entschlossenheit.

»Es tut mir aufrichtig leid, Michael,« sagte sie. »Aber ich kann dir nichts von dem erzählen, was ich weiß. Töte mich, wenn du der Meinung bist, dadurch das Richtige zu tun! Aber glaub mir: Eines Tages wirst du erkennen, dass ich die Wahrheit gesagt habe. Und dann wird das, was du mir antust, auf dich selbst zurückfallen. Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet! Steht das nicht in eurem heiligen Buch, der Bibel?«

»Schweig, Hexe!«, befahl der Inquisitor mit donnernder Stimme, aber gerade die Vehemenz seiner Reaktion ließ erkennen, dass ihre Worte ihn nun doch erreicht und getroffen hatten. Allerdings schien er es dem Keim der Unsicherheit, den sie gesät hatte, nicht zu erlauben, in seinem Gewissen Wurzeln zu bilden und zu wachsen, sondern jegliche Bedenken, er könnte das Falsche tun, wie eine lästige Fliege abzuschütteln.

»Aber die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen! Das steht ebenfalls in der Heiligen Schrift, die jemand wie du nicht lästern, ja nicht einmal ungestraft zitieren sollte. Überleg es dir daher noch einmal gut, ob du dein Schweigen aufrechterhalten willst. Denn wenn du mir wirklich nicht verraten willst, in wessen Auftrag du mich nach Rom gebracht und die ganze Zeit über getäuscht hast und was in Wahrheit hinter all diesen Aktivitäten steckt, hast du für mich bedauerlicherweise keinen weiteren Nutzen mehr. Unter normalen Umständen würde ich dich der hiesigen Inquisition übergeben, aber da ich dank eurer Bemühungen und deiner tatkräftigen Hilfe von meinen Kollegen zur Persona non grata erklärt wurde, ist das zurzeit leider nicht möglich. Mitnehmen kann ich dich natürlich auch nicht, da ich eine wichtige Verabredung in der Vatikanstadt habe, die ich nicht aufschieben kann. Abgesehen davon, dass du ohnehin ein Klotz am Bein wärst, kannst du das Zentrum der christlichen Welt wegen der schützenden Banner gar nicht betreten, ohne wie eine Grillkartoffel geröstet zu werden. Was soll ich also mit dir tun?« Der Inquisitor machte eine kleine Pause, als würde er sorgfältig nachdenken, und sah bedeutungsvoll auf die Pistole in seiner Hand, bevor er fortfuhr: »Ich gebe dir noch eine letzte Chance. Sprich endlich, um Himmels willen! Wenn du mich wahrhaft liebst, wie du behauptest, dann hilf mir und sag mir endlich, was ich wissen muss! Wenn ich nicht weiß, was meine Feinde planen, renne ich möglicherweise ins Verderben. Also rede endlich!«

»Ich liebe dich wirklich, Michael. Von ganzem Herzen, auch wenn es dir schwerfällt, das zu glauben. Aber genau deshalb, weil ich dich so sehr liebe, muss ich nun schweigen, auch wenn es mir beinahe das Herz zerreißt. Doch es geht nicht anders. Also tu, was du glaubst, tun zu müssen, aber lass es uns wenigstens rasch beenden!«

Michael musste angesichts dieser Worte sichtlich schlucken. Trotz des nachvollziehbar schlechten Images seines Berufsstandes in Luziferianerkreisen war er alles andere als ein kaltblütiger Killer. Doch offenbar konnte er nicht anders handeln, weil die Situation es erforderte und er letztendlich zu dem konditioniert worden war, was als Nächstes geschah.

»Dann bleibt mir wirklich nichts anderes übrig, Marcella. Ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Vorzeichen kennengelernt. Ich kann nur noch einmal wiederholen, dass es mir leidtut, doch du lässt mir gar keine andere Wahl.«

»Man hat immer die Wahl, Michael. Erinnere dich an diese Worte: Man hat immer die Wahl!« Marcellas eindringliche Worte wirkten wie ein Versprechen und schienen unterschwellig noch eine tiefere Bedeutung zu haben, die aber allenfalls von ihr und dem Inquisitor, nicht aber von dem heimlichen Beobachter richtig interpretiert werden konnte. Dann verstummte die Hexe und schloss schicksalsergeben die Augen vor dem Kommenden.

Michael zögerte. Die Hand mit der Waffe, die sonst so ruhig ihr Werk verrichtete, zitterte deutlich erkennbar. Für einen Moment sah es so aus, als würde sie langsam nach unten sinken, weil das Gewicht der Waffe immer größer wurde – zu groß, um sie noch länger in der Waagerechten zu halten und die Mündung auf die wehrlose Frau am Ufer des Tiber zu richten. Doch dann trat erneut der entschlossene Ausdruck in seine Augen. Alle Bedenken wurden beiseite gewischt, und die gewohnte Kompromisslosigkeit und Härte im Kampf gegen das Böse kehrten zurück. Mit nun wieder ruhiger Hand richtete er die Mündung der Pistole auf das Herz der Hexe – denn trotz allem würde er es wohl nicht über sich bringen, ihr in den Kopf zu schießen und sie dadurch über den Tod hinaus zu verunstalten – und drückte ein einziges Mal ab.

Marcella schrie schmerzerfüllt, als die Kugel sie traf, und griff sich an die Brust. Karmesinrotes, sauerstoffreiches Arterienblut quoll zwischen ihren zitternden Fingern hervor, lief über ihren Handrücken und färbte den Stoff ihrer Bluse dunkel. Das Projektil hatte sie mit der Wucht eines Fausthiebes getroffen und ließ sie nach hinten taumeln. Sie balancierte am Rand des Ufers, und es sah aus, als könnte sie das Gleichgewicht halten. Doch da trat ein Fuß ins Leere. Ihr Schrei war verstummt. So stürzte sie lautlos, Mund und Augen vor Entsetzen und Qual weit aufgerissen, nach hinten und fiel rücklings in den Fluss, sodass das Wasser klatschend aufspritzte und anschließend über ihr zusammenschlug.

Der Inquisitor ließ die Pistole sinken, als könnte er ihr enormes Gewicht nicht länger halten. Er wirkte wie betäubt, als wäre er fassungslos über das, was er getan hatte, und als hätte er bis zuletzt selbst nicht daran geglaubt, dass er tatsächlich dazu fähig wäre.

Er stürzte nach vorn, zum Rand des Uferstreifens, und blickte nach unten ins Wasser. Es war sogar für den heimlichen Beobachter zu dunkel, um Einzelheiten erkennen zu können, doch für den Bruchteil eines Augenblicks war die leblose Gestalt der Hexe zu erkennen, die wie schwerelos im Wasser trieb und langsam tiefer in den dunklen Wogen versank. Ihre Arme waren wie bei einem schwebenden Engel ausgebreitet, ihr langes Haar bildete einen wogenden Kranz um ihren Kopf, und ihre Augen waren weit aufgerissen und starrten zu ihrem Mörder empor. Ein Versprechen schien in diesen Augen zu stehen, doch ehe es entschlüsselt werden konnte, rissen die Fluten des Tiber den Leichnam mit sich in die Finsternis. Es war vorbei! Marcella Perini war verschwunden, und nur noch das dunkle, rasch dahinströmende Wasser war zu sehen.

Der Inquisitor schloss die Augen. Seine Lippen bebten, als er ihren Namen flüsterte oder stumm ein kurzes Gebet sprach – wenn, dann nicht nur für die verdammte Seele der Hexe, sondern zweifellos auch, um für sich selbst und seine Tat um Vergebung zu bitten. Er fröstelte und zog die Schultern hoch, als ihm bewusst zu werden schien, dass er in dieser fremden Stadt mutterseelenallein war, jetzt sogar von dem letzten Menschen verlassen, von dem er geglaubt hatte, er könnte ihm vertrauen. Er zitterte leicht, als ein kühler Windstoß vom Fluss heranwehte und einen seufzenden Laut erzeugte, der sich anhörte wie das Stöhnen einer Toten. Erneut fröstelte er. Allein! Das Wort schien anklagend von den Wänden der Brücke widerzuhallen und ihn dadurch noch mehr zu quälen.

Doch stimmte das? War er tatsächlich allein?

Ein Knirschen auf der Treppe, die nach oben führte, ließ den Inquisitor herumwirbeln.

Mit einer Mischung aus Faszination und Fassungslosigkeit hatte Wolfgang mit angesehen, wie der Inquisitor die Hexe erschossen hatte und die Frau daraufhin ins Wasser gefallen und untergegangen war. Er hatte mehr als genug gesehen und wollte verschwinden, bevor der Inquisitor sich besann und wieder diesen Weg nach oben zur Straße nahm.

Er wandte sich um und eilte die Stufen nach oben, so rasch und lautlos, wie es die Umstände und die eingeschränkten Sichtverhältnisse zuließen. Seine Augen hatten genug Zeit gehabt, sich der Finsternis anzupassen, und die überlegene Nachtsichtigkeit der Bestie in seinem Inneren half ihm zusätzlich, sich zurechtzufinden, ohne zu straucheln. Doch nach wenigen Stufen übersah er in seiner Eile einen unscheinbaren, kieselsteingroßen Gegenstand, der unter seiner Sohle leise knirschte. Das Geräusch wäre tagsüber im Umgebungslärm untergegangen und nicht zu hören gewesen, doch in der Stille der Nacht, die nur vom stetigen, flüsternden Rauschen des Flusses im Hintergrund durchbrochen wurde, wurde das schabende Geräusch weit getragen und musste auch dem Inquisitor zu Ohren gekommen sein.

Entgegen seiner Gewohnheit fluchte Wolfgang jetzt doch lautlos und rannte los, ohne sich noch länger darum zu kümmern, wie viel Lärm er dabei verursachte. Zum zweiten Mal in dieser Nacht war Schnelligkeit entscheidender als Lautlosigkeit, da es darauf ankam, dass der Inquisitor seinen heimlichen Verfolger nicht entdeckte und Wolfgang rasch ein Versteck fand, in dem er sich vor Institoris verbergen konnte.

Erst als Wolfgang die obersten Stufen erreichte, die vom Licht der Straßenbeleuchtung erhellt wurden, wagte er es, einen Blick über die Schulter zu werfen und nach unten zu sehen. Doch vom Inquisitor war nichts zu sehen. Die Finsternis war wieder wie eine Wand, die er nicht mit Blicken durchdringen konnte und in der sich alles Mögliche verbergen konnte. Gut so!, dachte Wolfgang, zufrieden über seinen Vorsprung, und hetzte weiter. Nachdem er die Stufen hinter sich gelassen hatte, sah er sich fieberhaft um und suchte in unmittelbarer Nähe nach einem geeigneten Versteck. Doch in dieser Gegend gab es keine Büsche oder Bäume, hinter denen er sich verbergen konnte. Er rannte zur Straße, die über die Brücke führte, und überquerte sie, um auf die andere Seite der Brückenzufahrt zu gelangen, da ihm eingefallen war, dass sich auch dort ein Abstieg zum Fluss befinden musste. Als er die Böschung erreichte, sah er sich bestätigt, doch ehe er die Stufen nach unten stieg, blickte er noch einmal zurück.

Der Inquisitor war noch nicht auf der anderen Seite aufgetaucht, aber gewiss würde es nicht mehr lange dauern, bis er kam. Deshalb durfte Wolfgang nicht länger zögern, wollte er unentdeckt bleiben, und rannte die Treppe nach unten. Erst nach einem guten Dutzend Stufen kam er zum Stehen. Fast wäre er gestrauchelt, doch es gelang ihm, sich mit der linken Hand an der Wand neben sich festzuhalten. Schwer atmend blieb er stehen und schnappte nach Luft. Gleichzeitig bemühte er sich, zu lauschen, um gegebenenfalls die Schritte des anderen Mannes hören zu können. Doch er konnte nichts Derartiges wahrnehmen, da sein eigenes Schnaufen und das Pochen seines hämmernden Pulsschlags in den Ohren zu laut waren und jedes andere Geräusch übertönten.

Wolfgang ging davon aus, dass der Inquisitor mittlerweile ebenfalls das Niveau der Straße erreicht hatte. In seiner Fantasie malte er sich aus, wie Institoris sich in alle Richtungen umsah. Als er nichts Verdächtiges bemerkte, kam er unweigerlich zu dem Schluss, dass niemand in der Nähe gewesen sein konnte. Möglicherweise dachte der Inquisitor, dass das Knirschen einen anderen Grund haben musste und vielleicht von einem nachtaktiven Tier stammte. Vor Wolfgangs innerem Auge zuckte Institoris mit den Schultern und ging eilig davon, weg vom Tatort seines feigen Mordes, um seine Verabredung mit dem Gardisten an der Pforte der Vatikanstadt nicht zu versäumen.

Wolfgang konnte dem Inquisitor jetzt natürlich nicht länger auf den Fersen bleiben, aber das war ohnehin nicht notwendig, da er wusste, wohin der Mann unterwegs war. Er musste sich nur dort auf die Lauer legen und beobachten, wie Institoris in den Vatikan gelassen wurde. Alles andere ging ihn nichts mehr an, und folgen konnte er ihm dorthin eh nicht.

Mit jeder verstreichenden Sekunde beruhigten sich Wolfgangs Erregung, Atmung und Herzschlag immer mehr. Offensichtlich war er noch einmal davongekommen.

Nachdem die Aufregung sich gelegt und er eine Atempause gewonnen hatte, war es Zeit für einen weiteren nächtlichen Anruf bei Butcher, entschied Wolfgang. Der Rudelführer würde über die erneute Störung seiner Nachtruhe sicherlich ebenso wenig erfreut sein wie beim ersten Mal, aber über die neueste Entwicklung der Dinge wollte er andererseits sicherlich sofort informiert werden.

Wolfgang postierte sich so, dass er die nach oben führenden Stufen und den oberen Treppenabsatz weiterhin im Auge behalten konnte, und lehnte sich mit der Schulter gegen die kühlen Steine der Seitenwand. Er holte sein Handy aus der Hosentasche und gab Butchers Nummer ein. Schon nach dem ersten Rufzeichen wurde abgenommen. Anscheinend hatte Butcher nicht geschlafen. Entweder war er nach Wolfgangs erstem Anruf nicht wieder zu Bett gegangen, oder er war schon wieder wach, weil er in Kürze ebenfalls in Richtung Vatikanstadt aufbrechen wollte, um sich dort mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass alles nach Plan verlief. Butcher war eben ein Perfektionist. Wolfgang überraschte es daher nicht, dass er alles zusätzlich persönlich kontrollierte, obwohl er genügend Handlanger hatte, die derartige Dinge für ihn erledigten.

»Wolfgang? Du schon wieder? Was gibt es denn diesmal? Ich hoffe, du hast keine weiteren schlechten Nachrichten für mich.«

»Wie man’s nimmt«, erwiderte Wolfgang und verzichtete wohlweislich darauf, seinen Rudelführer auf die Folter zu spannen, sondern ließ die Katze sofort aus dem Sack: »Die Hexe ist tot!«

»Die Hexe ist …«, wiederholte Butcher wie ein grollendes Echo, vollendete den Satz aber nicht. »Du sprichst von Marcella? Bist du dir sicher?«

Wolfgang nickte heftig, auch wenn Butcher ihn nicht sehen konnte. »Ja. Kein Zweifel. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen.«

»Wie konnte das passieren? Haben die Inquisitoren die beiden verfolgen können und erwischt? Und was ist mit dem Hexenjäger, ist er wohlauf?«

»Ja, es …« Wolfgang verstummte und versteifte sich unwillkürlich, da er von oben ein Geräusch gehört hatte. Er lauschte angestrengt, ob es sich wiederholte.

»Wolfgang, was ist los? Bist du noch dran?«, drang Butchers knurrige Stimme aus dem winzigen Lautsprecher des Mobiltelefons.

»Einen Moment«, flüsterte Wolfgang und legte die Hand auf das Gerät, um jeden Laut zu dämpfen.

Er horchte mit höchster Konzentration und spähte aus zusammengekniffenen Augen nach oben. Da tauchte am oberen Ende der Treppe ein dunkler Umriss auf. Augen, die im Mondlicht glitzerten, starrten zu ihm herunter.

Wolfgangs Herzschlag setzte aus. Erwischt!, dachte er erschrocken, ehe er realisierte, dass es sich nicht um einen Menschen, sondern um einen Hund handelte, der dort oben stand und ihn ansah. Wolfgang erkannte, dass es ein Schäferhund war und sich das Nackenfell des Tiers aufgerichtet hatte. Als Gestaltwandler, der oft selbst in tierischer Erscheinung unterwegs war, wusste er die Signale eines bevorstehenden Angriffs zu deuten. Dennoch war er nicht beunruhigt, sondern froh, dass es nicht der Inquisitor war, der ihn entdeckt hatte. Ein Haustier machte ihm deutlich weniger Sorgen, und daher entspannte er sich wieder ein wenig.

Obwohl es da, wo sich Wolfgang gegen die kühle Mauer der Tiberbrücke presste, stockfinster war und ein Mensch ihn nicht ohne Weiteres entdeckt hätte, witterte ihn der Hund. Er knurrte aggressiv, zog die Lefzen zurück und entblößte seine spitzen Reißzähne.

Tiere, speziell Hunde, reagierten sehr unterschiedlich auf Gestaltwandlers. Entweder nahmen sie Reißaus, weil sie die Bestie unter der menschlichen Schale und ihre eigene Unterlegenheit instinktiv erkannten, oder sie gingen zum Angriff über, als wollten sie sich mit einem Rivalen in ihrem Revier messen. Manch dämlicher Köter der zweiten Kategorie hatte zu spät erkannt, dass er sich mit einem Wesen anlegte, das ein paar Nummern zu groß für ihn war, und seinen Übermut mit dem Leben bezahlt.

Von der Brücke war die Stimme eines Mannes zu hören. Er rief ein paar Worte in italienischer Sprache, die Wolfgang nicht verstehen konnte. Er konnte aber den Rauch einer brennenden Zigarette riechen. Es war also nur jemand, der seinen Hund Gassi führte, weil dieser mitten in der Nacht ein dringendes Bedürfnis verspürt hatte, und die Gelegenheit nutzte, eine Zigarette zu rauchen.

Der Hund knurrte erneut, lauter und eindringlicher dieses Mal. Die Lefzen waren jetzt ganz hochgezogen, sodass eine Reihe spitzer Zähne sichtbar war. Der Schäferhund machte einen weiteren zögerlichen Schritt in Wolfgangs Richtung, ohne allerdings die Treppe zu betreten, und duckte sich zum Sprung.

Trotz dieser Anzeichen, dass der Köter ihn attackieren wollte, blieb Wolfgang ruhig und gelassen. Immerhin hatte er mit dem Auftauchen des Inquisitors gerechnet, der tatsächlich in der Lage gewesen wäre, ihn in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen. Institoris hatte mittlerweile Marcella als Hexe identifiziert und erledigt. Möglicherweise verdächtigte er jetzt auch Wolfgang, nicht der zu sein, der er zu sein vorgab, sondern ebenfalls zu den Luziferianern zu gehören. Vor allem, wenn er realisierte, dass Wolfgang ihm und der Hexe heimlich hierher gefolgt war.

Doch vor einem Hund – egal, welcher Größe oder Rasse – hatte er keine Angst. Er hätte dem Schäferhund in seiner tierischen Gestalt rasch und lautlos das Genick brechen oder den Kopf abreißen können, doch er wollte kein Aufsehen erregen. Wenn der Hundehalter anschließend nach seinem Köter suchte, musste er diesen auch noch erledigen. Und wer wusste schon, was danach noch alles kam? Besser, er wählte eine elegantere, aber ebenso effektive Methode, das Tier rasch loszuwerden. Also ließ er die Bestie in seinem Inneren ein wenig von der Leine – gerade so viel, dass die Fänge in seinem Mund wuchsen und sein Kehlkopf und die Stimmbänder sich veränderten. Anschließend stieß er ein leises Knurren aus, welches das des Tieres in puncto Aggressivität und Bösartigkeit weit in den Schatten stellte, aber nicht so laut war, dass es von dessen Herrchen gehört werden konnte. Der Mann auf der Brücke rief erneut nach seinem Hund, nun schon wesentlich lauter. Allmählich wurde er wohl ungeduldig.

Der Schäferhund jaulte auf, als er erkannte, mit was er es hier zu tun hatte und dass es besser war, sich nicht mit dieser Kreatur anzulegen. Er warf sich herum und rannte davon, den Schwanz zwischen die Hinterläufe geklemmt. Der Mann auf der Brücke sagte etwas und lachte, als der Hund an ihm vorbeijagte. Doch als das Tier nicht anhielt, sondern immer weiter und weiter rannte, wurde er ärgerlich und rief seinem Hund laut hinterher. Schließlich hörte Wolfgang die eiligen Schritte des Mannes auf dem Beton der Brücke, als er seinem Hund hinterherrannte.

Wolfgang lachte leise und kehlig über diese Episode, was aufgrund seiner körperlichen Veränderung wie ein tierisches Knurren klang, bevor er die Bestie wieder zurückdrängte. Doch sein tierisches Selbst sträubte sich. Es wollte losgelassen werden, auf vier anstatt auf zwei Beinen durch die Nacht rennen, im Mondlicht baden und fühlen, wie die frische Nachtluft durch sein dichtes Fell strich. Und vor allem wollte es Beute jagen, stellen und töten, anschließend das noch zuckende Fleisch zerreißen und das warme Blut kosten. Doch dies war weder die rechte Zeit noch der rechte Ort dafür. Deshalb blieb Wolfgangs menschliche, von seiner Vernunft gesteuerte Seite unerbittlich und schließlich erfolgreich. Das Tier knurrte noch einmal verärgert, kroch aber widerstrebend in seine menschliche Hülle zurück.

Erst als Wolfgang wieder vollständig Mensch war – zumindest äußerlich! –, hob er das Mobiltelefon ans Ohr. »Butcher, bist du noch dran?« Auch wenn der nächtliche Spaziergänger mitsamt seinem Hund weg war, flüsterte Wolfgang weiterhin. Das Mikrofon des Handys war empfindlich genug, seine Worte trotzdem aufzufangen und klar und deutlich an den Teilnehmer am anderen Ende der Leitung zu übermitteln.

»Natürlich«, kam postwendend die knurrige Antwort. »Was war denn los bei dir? Ich hörte ein Knurren. Gab’s Ärger?«

»Nicht wirklich. Nur ein neugieriger Köter, den ich davonjagen musste. Wo waren wir stehen geblieben?«

Das Tier in Wolfgangs Innerem empfand noch immer stillen Triumph darüber, den Hund, den es als minderwertig ansah, davongejagt zu haben. Und Wolfgang überlegte, dass die Begegnung auch einen positiven Nebeneffekt hatte, da er sich dadurch sicher sein konnte, dass der Inquisitor nicht mehr in der Nähe war. Andernfalls hätten Hund und Herrchen ihm dort oben begegnen und auf seine Anwesenheit reagieren müssen. Vermutlich hätte der Hund Institoris angebellt und wäre nicht auf Wolfgangs Versteck aufmerksam geworden.

»Ich wollte wissen, was mit der Hexe geschehen ist und wie es dem Hexenjäger geht«, rief Butcher seinem Untergebenen in Erinnerung.

»Richtig. Du wirst es nicht glauben, aber es war der Inquisitor, der die Hexe tötete. Er muss – vermutlich während der Flucht vor seinen Kollegen aus Neros Villa – herausgefunden haben, dass sie in Wirklichkeit zu uns gehört und ihn die ganze Zeit über getäuscht hat. Er brachte sie ans Ufer des Tiber und erschoss sie dort vor meinen Augen.«

Kurzzeitig herrschte am anderen Ende der Verbindung tiefes Schweigen, als hätte diese Nachricht Butcher tatsächlich überrascht und ihm die Sprache verschlagen. Falls dem so war, dann aber nur kurz. »Hat sie ihm vorher etwas von den Dingen verraten, die sie wusste?«, fragte Butcher und sprach gezielt den Punkt an, der für ihn und seine Pläne von entscheidender Bedeutung war. Das Schicksal der Hexe war demgegenüber nachrangig.

»Nein, kein Wort. Sie beteuerte mehrere Male, dass sie ihn lieben würde. Deshalb wunderte es mich, dass sie ihm nicht alles brühwarm erzählte. Aber sie blieb standhaft bis zum Ende, faselte nur etwas davon, dass sie ihm nichts sagen könne, weil sie ihn liebt. Irgend so ein Scheiß eben, den Verliebte und andere Bekloppte normalerweise von sich geben. Keine Ahnung, was sie damit meinte.«

»Marcellas Tod ist nicht beklagenswert«, sagte Butcher. »Sie war eine Zeit lang sehr nützlich, weil sie Einfluss auf den Inquisitor nehmen und ihn in unserem Sinne lenken konnte, doch insgeheim hegte ich längst Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit. Ihre Beteuerungen – sogar im Angesicht des bevorstehenden Todes –, sie würde den Hexenjäger lieben, überzeugen mich jetzt zumindest davon, dass ich mit meinen Befürchtungen nicht ganz unrecht hatte. Sie wäre in Kürze ohnehin beseitigt worden. Nero wollte sie für sich haben und mit ihrem Leichnam die Schauspielerin ersetzen, die er vor Jahren zum Zombie machte, derer er aber mittlerweile überdrüssig war. Nachdem Nero den Angriff der Inquisition wohl nicht überlebte, hätten wir uns für Marcella sowieso eine andere Lösung einfallen lassen müssen. Das können wir uns jetzt sparen. Allerdings wäre es mir lieber gewesen, sie hätte vor ihrem Ableben noch dafür gesorgt, dass der Hexenjäger seine Verabredung an der Vatikanpforte tatsächlich einhält. Wo befindet sich ihre Leiche jetzt?«

»Sie stürzte in den Tiber und versank im Wasser. Wahrscheinlich wurde sie durch die Strömung schon ein ganzes Stück abgetrieben und wird in ein paar Tagen flussabwärts als aufgeschwemmte Wasserleiche aus den Fluten gefischt.«

»Okay. Und wenn sie dem Inquisitor nichts erzählt hat, ist wenigstens noch nicht alles verloren. Alle Einzelheiten kannte sie ohnehin nicht. Wo bist du jetzt?«

»Das weiß ich selbst nicht so genau. Ich folgte dem Taxi bis hierher, kenn mich in dieser Gegend aber nicht aus. Es ging auf jeden Fall nach Süden und ans Tiberufer. Direkt neben mir führt eine Brücke über den Fluss.«

»Und wo steckt Institoris?«

Wolfgang zuckte mit den Schultern. Das hätte er ebenfalls gern gewusst, schon allein aus Gründen der persönlichen Sicherheit. »Ich habe leider keine Ahnung«, räumte er widerwillig ein. »Vorhin war er noch hier, aber mittlerweile dürfte er auf dem Weg zum Vatikan sein. Zumindest sagte er der Hexe vor ihrem Tod, dass er die Verabredung dort einhalten wolle. Ich musste mich verstecken, sonst wäre er auf mich aufmerksam geworden. Deshalb konnte ich ihn nicht länger im Auge behalten. Aber wir wissen ja, wo wir ihn in Kürze finden können.«

»Das mag richtig sein. Dennoch wäre es mir lieber gewesen, jemand hätte ein Auge auf ihn gehabt und dafür gesorgt, dass er sein Rendezvous mit dem Schweizergardisten tatsächlich einhält.«

»Ich hätte ihn ohnehin nur beschatten können«, rechtfertigte sich Wolfgang, der spürte, dass sein Rudelführer mit dieser Entwicklung nicht zufrieden war. »Nachdem er herausfand, dass seine kleine Freundin eine Hexe war, sieht er mich jetzt vermutlich ebenfalls mit anderen Augen. Und dabei waren wir auch so schon nicht gerade die besten Freunde.«

»Dann können wir nur hoffen, dass Institoris noch immer exakt so handelt, wie es von uns geplant wurde. Hoffentlich haben ihn der überraschende Überfall auf Neros Villa und die Offenbarung, dass seine hübsche römische Geliebte in Wahrheit zu seinen Feinden gehörte, nicht dazu bewogen, seine Pläne komplett zu ändern.«

»Was bleibt ihm denn anderes übrig, als wie geplant vorzugehen«, fragte Wolfgang. »Bei der Inquisition steht er dank deines genialen Einfalls, ihm die Morde im Glaspalast in die Schuhe zu schieben, auf der Abschussliste. Die fackeln wahrscheinlich gar nicht lange, sobald sie ihn zu Gesicht bekommen, und knallen ihn ab wie einen räudigen Köter. Das haben sie doch bei dem Vorfall in der Tiefgarage und durch den Angriff heute Nacht bewiesen. Wenn er seine Warnungen rechtzeitig dem richtigen Adressaten zu Gehör bringen und gleichzeitig mit dem Leben davonkommen will, bleibt ihm nur noch die Möglichkeit, sich unmittelbar an die höchste kirchliche Instanz zu wenden.«

»Du hast vermutlich recht, Wolfgang«, stimmte Butcher zu. »Aber es ärgert mich dennoch maßlos, dass ich in diesem wichtigsten Stadium der Operation nicht die absolute Kontrolle über alle Ereignisse habe, sondern zum hilflosen Zuschauer degradiert wurde. Wenn Marcella noch am Leben und in der Nähe des Hexenjägers wäre, könnte ich mich wenigstens der Illusion hingeben, sie würde nach meinen Weisungen handeln und dafür sorgen, dass der Inquisitor exakt so agiert, wie wir es wollen. Aber jetzt müssen wir blind darauf vertrauen, dass wir die Weichen im Vorfeld korrekt gestellt haben und Institoris nicht doch noch aus der Reihe tanzt. Aber was soll’s. Lamentieren hilft uns in dieser Situation auch nicht weiter. In weniger als einer Stunde wissen wir, ob alles nach Plan verläuft. Jetzt muss ich unser Gespräch aber beenden, da ich habe noch etwas zu erledigen. Wir sprechen uns später wieder. Bis dann.«

»Wird schon schiefgehen. Bis später, Butcher.«

Wolfgang beendete das Gespräch und steckte das Handy weg. Das Telefonat mit Butcher hatte nahezu seine volle Konzentration erfordert, schließlich hatte er sich gegenüber seinem Rudelführer nicht um Kopf und Kragen reden wollen. Erst jetzt konnte er sich wieder ganz auf seine Umgebung konzentrieren und auf verdächtige Geräusche in seiner unmittelbaren Umgebung horchen. Er hörte zwar nichts, doch unvermittelt schlug sein empfindlicher Geruchssinn Alarm. Gleichzeitig warnten in seine Instinkte vor einer Gefahr, und seine Nackenhärchen stellten sich auf. Er wollte blitzschnell herumwirbeln, doch bevor er reagieren konnte, spürte er den Druck kühlen Metalls an seiner Schädelbasis.

»Hallo, Wolfgang. So ein Zufall, dass wir uns ausgerechnet hier begegnen. Was hat Sie denn an diesen verlassenen Ort verschlagen, noch dazu mitten in der Nacht? Ich denke, wir beide sollten uns ein wenig unterhalten, finden Sie nicht auch?«

Es bedurfte keiner besonders scharfsinnigen Überlegungen, um Wolfgang sogleich erkennen zu lassen, dass er die Stimme des Inquisitors hörte und die todbringende Mündung einer Pistole von hinten schmerzhaft gegen seinen Schädel gepresst wurde.

Entsetzen erfüllte den Gestaltwandler, als er erkannte, wie sehr er sich getäuscht und irrtümlich in Sicherheit geglaubt hatte. Institoris war gar nicht verschwunden, sondern hatte Wolfgangs Abgelenktheit während des Telefonats mit Butcher eiskalt ausgenutzt, um sich auf dieser Seite der Brücke vom unteren Ende der Treppe langsam und geräuschlos anzuschleichen.

Und gleichzeitig wurde Wolfgang schlagartig bewusst, wie tief er wirklich in der Klemme saß, da der Inquisitor von ihm gewiss all das in Erfahrung bringen wollte, was die Hexe ihm vor ihrem Tod nicht verraten hatte. Und ebenso selbstverständlich war es, dass Wolfgang ihm ebenfalls nichts davon sagen durfte. Ein Dilemma, bei dem für Wolfgang wohl einzig die Aussicht auf einen sicheren und schmerzhaften Tod bestand. Und Institoris würde definitiv weniger Bedenken als zuvor bei der Hexe haben, ihm wehzutun oder ihn zu töten. Wolfgangs einziger Trost – wenn es denn tatsächlich einer war – bestand in der Tatsache, dass der Inquisitor nicht mehr viel Zeit zur Verfügung hatte, wenn er die Verabredung mit dem Schweizergardisten einhalten wollte. Eine langwierige Folter würde ihm also erspart bleiben. Dennoch sah seine Zukunft alles andere als rosig aus, doch was konnte er schon dagegen tun?

Einen einzigen kleinen Vorteil für ihn bot die Situation in Wolfgangs Augen zumindest: Er hatte nichts zu verlieren, da sein Feind ihn auf keinen Fall am Leben lassen würde. Diesen Umstand wollte er sich zunutze machen, und das war nur möglich, indem er eine Verzweiflungsaktion startete, und zwar genau dann, wenn der Inquisitor am wenigsten damit rechnete. Unter Umständen konnte er sein Leben retten, wenn es ihm gelang, seinen Widersacher zu überrumpeln. Wenn nicht, hatte er zumindest nichts verloren.

Allerdings war er in seiner menschlichen Gestalt den damit verbundenen Einschränkungen unterworfen, was Schnelligkeit, Gewandtheit, Reaktionsvermögen, Kraft und Ausdauer betraf. In dieser Form würde er es nie schaffen, einer Kugel auszuweichen, die aus kurzer Distanz abgefeuert wurde. Und dass die Waffe mit geweihtem Silber geladen war, das sein Leben unweigerlich beenden würde, konnte er spüren.

Wolfgang beschloss, sofort zu handeln.

Er seufzte laut und ließ die Schultern deutlich herabsinken, als würde er resignieren und sich seinem Widersacher ergeben. Gleichzeitig ließ er jedoch das Tier von der Leine, das sich in ihm verbarg und das er erst vor wenigen Minuten dorthin zurückgedrängt hatte. Die Bestie riss ungeduldig an den mentalen Ketten, die sie hielten, nachdem sie erst kurz zuvor den Duft der Freiheit gewittert hatte. Außerdem hatte sie natürlich ebenfalls die tödliche Bedrohung durch den Inquisitor wahrgenommen.

Wolfgang spürte, wie die Verwandlung einsetzte, und ließ es geschehen.

Der Inquisitor ging davon aus, dass Wolfgang die Aussichtslosigkeit jeglichen Widerstandes einsehen und sich ergeben würde, und bemerkte zunächst überhaupt nicht, wie sich der Körper des Mannes rasend schnell veränderte.

Nachdem er im Laufe der letzten Stunden erfahren hatte, dass das Kellergewölbe von Neros Villa eine Armee von Untoten beherbergte und Marcella eine Hexe war, war er bereits davon ausgegangen, dass auch Wolfgang zu den Luziferianern gehörte.

Dennoch überraschte ihn jetzt die Verwandlung des Chauffeurs.

Im Nu wuchs der zuvor absolut menschlichen Gestalt vor ihm ein dichtes, dunkles Fell, und der gesamte Körperbau, vor allem die Muskulatur und das Knochengerüst, veränderte sich radikal. Ein Vorgang, der trotz seiner Rasanz von einer Reihe ekelerregender Geräusche begleitet wurde. Das Wesen, das noch immer aufrecht auf seinen Hinterläufen stand, stieß ein dumpfes, tierisches Knurren aus. Und noch bevor die Verwandlung vollständig abgeschlossen war, in einem Hybridstadium auf halbem Wege zwischen Mensch und Bestie, und ehe Michael das Überraschungsmoment überwinden und die schussbereite Glock in seiner Hand abfeuern konnte, reagiert das Mischwesen bereits. Mit unmenschlicher Schnelligkeit wirbelte es herum und schlug mit seiner haarigen Pranke nach der Waffe in der Hand des Inquisitors.

Da es Michael im letzten Moment gelungen war, seine Schockstarre abzuschütteln und abzudrücken, löste sich zwar donnernd ein Schuss, ging jedoch daneben. Das Projektil traf die Mauer neben ihnen und jagte aufheulend als Querschläger in den dunklen Himmel.

Michaels Schusshand knallte mit voller Wucht und ausgesprochen schmerzhaft gegen die Steine der Mauer. Die Pistole wurde ihm aus der Hand geprellt. Sie fiel zu Boden, prallte von der Kante der Stufe ab und verschwand treppab in der Dunkelheit.

Die Verwandlung der Bestie war währenddessen weitergegangen und jetzt weitestgehend abgeschlossen. Zwei Stufen über dem Inquisitor erhob sich ein dunkelbrauner Wolf, noch immer wie ein Mensch auf zwei Beinen stehend. Das T-Shirt hing ihm zerfetzt vom Oberkörper. Die Hose war von dem in tierischer Erscheinung schlankeren Hinterleib gerutscht und bildete zusammen mit den Socken und den Schuhen einen unordentlichen Haufen, aus dem die dünnen Hinterläufe des Untiers ragten.

Der Wolf jaulte ohrenbetäubend laut und schlug gleichzeitig ansatzlos mit der Pranke nach dem Inquisitor.

Michael wurde an der Brust getroffen und nach hinten geschleudert.

Mehrere Hunde in der Umgebung – Wachhunde in den Industrieanlagen ebenso wie Haushunde in den nächstgelegenen Häuserblocks – erwiderten das Heulen des Wolfs, was inmitten der Großstadt eine unwirkliche und unheimliche Geräuschkulisse ergab.

Doch der Inquisitor hatte keine Gelegenheit, sich über derartige Dinge den Kopf zu zerbrechen. Er flog mehrere Meter die Treppe hinunter und landete schmerzhaft mit dem Rücken und dem Hintern auf den Kanten der steinernen Stufen. Mehrere Rippen wurden angeknackst oder sogar gebrochen – eine schmerzintensive Erfahrung, die Michael noch gut in Erinnerung hatte und an die er sich dennoch nicht wirklich gewöhnen konnte. In Zukunft würde er daher gern darauf verzichten, sich ständig irgendwelche Knochen zu brechen – vorausgesetzt natürlich, er überlebte die Begegnung mit dem Gestaltwandler vor ihm. Und danach sah es gegenwärtig nicht unbedingt aus.

Wolfgang – nomen est omen, durchzuckte es irrwitzigerweise Michaels Verstand – riss sich mit den Pranken die letzten Fetzen des T-Shirts vom Körper. Er machte einen Satz nach vorn und landete gewandt auf allen vier Pfoten. Der Wolf knurrte aggressiv und zog die Lefzen zurück, wodurch er sein gewaltiges Raubtiergebiss enthüllte. Genießerisch langsam schlich die Bestie die Stufen herab und näherte sich bedächtig seinem hilflosen Opfer.

Michael hob schwerfällig den Oberkörper und stöhnte laut. Schon bei dieser kleinen Bewegung schoss eine Schmerzwelle durch seinen ganzen Körper und verdunkelte sich seine Sicht. Doch er durfte nicht aufgeben, sonst war er rettungslos verloren. Er musste sich so schnell wie möglich aufrichten, da er ausgesprochen unvorteilhaft mit dem Kopf nach unten auf den Stufen lag.

Der Wolf schien sich seines Opfers hingegen sicher zu sein. Möglicherweise konnte er mit seiner bedeutend besseren Nachtsichtigkeit ja auch erkennen, wo die Pistole des Inquisitors gelandet war und dass sie für ihn unerreichbar war. Er wollte seinen Triumph allem Anschein nach auskosten und ließ sich Zeit, seinem Feind den Rest zu geben.

Michael überlegte fieberhaft. Er hatte vorgehabt, Wolfgang mit vorgehaltener Waffe zu zwingen, ihm ein paar seiner drängendsten Fragen zu beantworten. Doch das war gewesen, bevor sich die Lage um hundertachtzig Grad gedreht und entschieden zu seinem Nachtteil entwickelt hatte. Dabei war es noch nicht lange her, dass er unter der Brücke das Knirschen gehört und auf die Anwesenheit einer weiteren Person aufmerksam geworden war.

Als das knirschende Geräusch auf der Treppe ihm die Gegenwart einer weiteren Person verriet, wirbelte der Inquisitor herum, verfolgte den heimlichen Lauscher allerdings nicht. Stattdessen wandte er eine List an und hoffte, dass seine Instinkte ihn auch dieses Mal nicht im Stich ließen.

Er stellte den Schwertkoffer ab und schlich zum gegenüberliegenden Treppenaufgang. Dort spähte er um die Ecke nach oben und wartete. Seine Umsicht und seine Geduld wurden kurz darauf belohnt, als am oberen Ende der Treppe, das vom Mondlicht und dem Schein der Straßenbeleuchtung erhellt wurde, eine dunkle Gestalt auftauchte, ein paar Stufen nach unten lief und sich dort im Schatten verbarg.

Michael rechnete damit, dass die Aufmerksamkeit der anderen Person – die er noch nicht deutlich genug gesehen hatte, von der er aber schon ahnte, um wen es sich handelte – eher nach oben in Richtung Straße gerichtet war, und begann daher, die Stufen langsam und vorsichtig nach oben zu steigen und sich an den anderen anzuschleichen. Da er in der Finsternis kaum erkennen konnte, wohin er seine Füße setzte und was in seinem Weg lag, ging er höchst umsichtig vor und kam nur langsamer voran.

Unvermittelt tauchte ein Hund am oberen Treppenabsatz auf und jagte nicht nur dem anderen Mann, sondern auch dem Inquisitor einen gehörigen Schrecken ein. Er rechnete schon damit, dass der andere ihn nun entdecken würde, doch die Situation ging glimpflich aus, als der Hund davonlief. Vermutlich gehorchte das Tier endlich seinem Herrchen, dessen Rufe Michael zuvor von der Brücke gehört hatte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte der Inquisitor ungefähr die Hälfte der Stufen zurückgelegt und war dem Lauscher damit ein gutes Stück näher gekommen.

Als er sich vorsichtig weiter heranpirschte und der Gestalt näherte, hörte er die flüsternde Stimme und bemerkte, dass der andere telefonierte. Dies erleichterte es ihm, sich unbemerkt näher zu schleichen, da sein Gegner sich mehr auf das Gespräch und weniger auf seine unmittelbare Umgebung konzentrierte. Darüber hinaus übertönte die Unterhaltung alle Laute – unterdrückte Atemgeräusche, sein aufgeregt pochendes Herz, ein leises Schaben –, die der Inquisitor bei seinem Vordringen unweigerlich erzeugte. Und schließlich erlaubte es ihm die Stimme des Mannes jetzt auch, ihn eindeutig zu identifizieren, auch wenn es keine Überraschung mehr war. Allerdings sprach Wolfgang so leise, dass Michael kaum ein Wort verstehen konnte.

Anstatt darüber zu rätseln, mit wem der Chauffeur sprach, nachdem Nero tot war, bemühte sich der Inquisitor, die letzten Meter, die sie noch trennte, ebenfalls unentdeckt zu überwinden, solange der Mann abgelenkt war. Dies gelang ihm besser, als er zu hoffen gewagt hatte, sodass er unmittelbar hinter Wolfgang stand, als dieser das Gespräch beendete.

»Wird schon schiefgehen. Bis später, Butcher«, verabschiedete sich Wolfgang und steckte das Mobiltelefon weg.

Immerhin war damit die Identität des Gesprächspartners geklärt. Dennoch gab es noch eine Vielzahl anderer Fragen, auf die Michael Antworten haben wollte. Auch wenn Wolfgang möglicherweise nur eine kleine Nummer bei den Luziferianern war, musste er das eine oder andere über deren Pläne erfahren haben. Schließlich hatte er Michael und Marcella sicherlich nicht grundlos bis zu diesem Ort verfolgt. Und das soeben beendete Telefonat mit Butcher belegte, dass er in dessen Auftrag tätig war und dessen Weisungen befolgte. Vermutlich wusste Wolfgang daher Details über Butchers Operation, die dem Inquisitor unbekannt waren und brennend interessierten.

Aus diesem Grund hob Michael seine Pistole, die er bereits eine ganze Weile vorher gezogen hatte, richtete sie von hinten gegen den Schädelansatz des Mannes zwei Stufen über ihm und sprach ihn an.

Die Verwandlung, die daraufhin einsetzte, überraschte den Inquisitor nicht nur, sondern machte es darüber hinaus zwingend erforderlich, dass er seine Pläne mit dem Mann radikal ändern musste.

Diese Begegnung zu überleben war für Michael natürlich wichtiger als alle Antworten auf seine Fragen, vor allem weil Ersteres mittlerweile ernsthaft in Gefahr war. Außerdem hatte er ohnehin kaum noch Zeit für eine langwierige Befragung, da es bis zu seiner Verabredung mit dem Schweizergardisten an der Pforte der Vatikanstadt nicht mehr allzu lange dauerte und er erst noch dorthin kommen musste. Denn trotz allem, was zwischenzeitlich geschehen war, hatte er weiterhin vor, sich diese einmalige Gelegenheit, ungehindert auf das Gebiet des Vatikans und in die unmittelbare Nähe des Heiligen Vaters zu gelangen, nicht entgehen zu lassen. Ihm blieb daher inzwischen nichts anderes übrig, als die Auseinandersetzung mit dem Gestaltwandler möglichst rasch zu beenden.

In seiner aufreizenden und überheblichen Art hatte der Wolf mittlerweile die Distanz zwischen ihnen überwunden und beinahe die Füße des Inquisitors erreicht. Er richtete die Schnauze himmelwärts und heulte lang anhaltend und ohrenbetäubend laut, als wollte er seinen Triumph allen mitteilen, die in Hörweite waren und sein Wolfsgeheul zu deuten wussten. Anschließend richtete er den Blick seiner grünen Augen wieder auf sein Opfer und knurrte leise und bedrohlich. Er fletschte seine großen und scharfen Zähne und sprang nach vorn, um dem hilflos vor ihm liegenden Mann die Kehle herauszureißen.

In seiner tierischen Gestalt bestimmten einzig Wolfsinstinkte sein Handeln. Alles andere, was für den Menschen namens Wolfgang soeben noch wichtig gewesen war, war bedeutungslos geworden. Für die Bestie zählten allein ihre Beute und die Befriedigung ihrer Gier nach Menschenfleisch. Das hilflose Opfer sprach die Triebe des Tiers unmittelbar an und war ein unwiderstehlicher Reiz. Der Wolf konnte gar nicht anders handeln, als sich auf den wehrlosen Mann zu stürzen, ihn mit einem einzigen gezielten Biss seiner kraftvollen Kiefer zu töten und das noch dampfende, blutige Fleisch hinunterzuschlingen.

Doch so hilflos, wie die Bestie annahm, war der Inquisitor nicht.

Michael stützte sich trotz seiner Schmerzen mit der rechten Hand auf den Stufen ab, um den Oberkörper in eine waagerechte Position zu bringen, und zog mit der anderen Hand die zweite Glock aus dem Holster unter seiner rechten Schulter.

Von der zweiten Pistole hatte Wolfgang offenbar nichts gewusst. Und da der Inquisitor einen großen Teil seiner konventionellen Munition für Neros Zombies verbraucht hatte, waren mittlerweile beide Pistolen mit Silberkugeln geladen. Doch um jetzt noch auszuweichen oder die Flucht zu ergreifen, war es für den Wolf zu spät. Die Waffe in Michaels Hand donnerte dreimal ohrenbetäubend laut. Die Mündungsfeuer erblühten wie feuerrote Blitzlichter, rissen Löcher in die Finsternis und erhellten die nähere Umgebung.

Der Inquisitor war auch mit seiner schwächeren linken Hand ein sicherer Schütze, sodass alle drei Kugeln den heranfliegenden Körper des Wolfs trafen. Das erste Silberprojektil traf ihn in den Hals, das zweite bohrte sich in die breite, behaarte Brust, und das dritte drang in die Stirn und stanzte knapp über der Nasenwurzel ein Loch in den Schädelknochen.

Die Bestie jaulte kurz und kläglich, verstummte aber wie abgeschnitten, als die letzte Kugel ihr irdisches Dasein beendete. Wie ein flugunfähiger Riesenvogel stürzte der massige Leib zu Boden.

Michael rollte sich reaktionsschnell in Richtung Wand, um nicht unter dem schweren Körper begraben zu werden. Der Schmerz, der dabei durch seinen Brustkorb schoss, war mörderisch, doch wenn der tote Gestaltwandler auf ihn gefallen wäre, hätte das seinen malträtierten, schon wieder heilenden Rippenknochen vermutlich noch mehr Schaden zugefügt und ihm noch größere Qualen beschert.

Mit dem Geräusch eines zerplatzenden Kürbisses prallte der leblose Leib auf die Stufen und blieb mit abgespreizten Gliedmaßen und in unnatürlich verrenkter Körperhaltung liegen. Bereits mit dem Tod und noch während des Falles hatte die Rückverwandlung eingesetzt, die beinahe ebenso rasch voranschritt wie zuvor die Verwandlung in einen Wolf. Die widernatürliche Kraft, die den Gestaltwandler beseelt und ihn in die Lage versetzt hatte, seine Erscheinungsform zu wechseln, war mit seinem Tod erloschen. Die Haare des dichten, dunkelbraunen Wolfspelzes fielen überall büschelweise aus, schwebten zu Boden oder wurden von der leichten Brise vom Fluss her davongetragen. Die Knochen verformten sich knirschend und knackend, und die Muskulatur und die inneren Organe passten sich wieder der ursprünglichen Gestalt an.

Michael steckte die Waffe weg und erhob sich schwerfällig, wobei er sich an der Wand abstützte. Sein Brustkorb schmerzte noch, aber er konnte spüren, wie die Schmerzen nachließen und die Heilung voranschritt. Scheinbar erfolgte sie mit jeder neuen Verletzung, die er davontrug, rascher und effektiver als zuvor, so als perfektionierte sein Körper die erstaunliche Gabe der Selbstheilung fortwährend mit jeder neuen Gelegenheit.

Als der Inquisitor auf den Leichnam zu seinen Füßen hinabsah, war die Rückverwandlung abgeschlossen. Wolfgang lag in seiner menschlichen Erscheinungsform vor ihm, vollkommen nackt und mausetot. Michael hielt sich jedoch nicht lange mit dem Toten auf, da er in der Dunkelheit ohnehin keine Einzelheiten ausmachen konnte, bevor er sich abwandte und auf die Suche nach seiner Pistole machte.

Er rechnete nicht damit, dass er die zweite Waffe bei seinem Besuch im Vatikan unbedingt benötigte, aber er wollte die Pistole mit seinen Fingerabdrücken nicht neben der Leiche zurücklassen. Als Inquisitor hatte er zwar die berühmte Lizenz zum Töten, allerdings beschränkte sich die auf Luziferianer. Und da er vom Dienst suspendiert war und sich in einem fremden Land aufhielt, hatte er hier keine Befugnisse und wollte keine unnötigen Spuren zurücklassen, die wie mit leuchtender Schrift auf ihn zeigten. Wie schnell man allein durch gefälschte Beweise in Teufels Küche kommen konnte, hatte er leidvoll erfahren müssen. Außerdem bestand die Möglichkeit, dass Zivilpersonen – schlimmstenfalls sogar Kinder – die Waffe fanden, bevor die Polizei sie sicherstellen konnte, und damit Unfug trieben, bei dem Unbeteiligte zu Schaden kamen. All diese möglichen Konsequenzen eines nachlässigen Zurücklassens der Waffe wollte Michael vermeiden und nahm sich daher die Zeit, nach der Pistole zu suchen. Er konnte Richtung und Weite der Flugbahn, die die Glock vollzogen hatte, noch gut nachvollziehen und tastete die Stufen am wahrscheinlichen Aufschlagpunkt sorgfältig ab. Nach kurzer Suche wurde er fündig. Er wischte die Waffe oberflächlich ab, um den gröbsten Schmutz zu entfernen, und verstaute sie im Holster. Anschließend rieb er sich die Hände an seiner Hose sauber, folgte den Stufen nach unten und holte den Schwertkoffer, den er dort zurückgelassen hatte.

Er verschwendete kaum noch einen Gedanken an den Toten, da er mental bereits mit dem bevorstehenden Treffen mit dem Schweizergardisten beschäftigt war. Gewissensbisse darüber, dass er den Gestaltwandler getötet hatte, plagten ihn ebenfalls nicht. Ganz abgesehen davon, dass Wolfgang zu einer der brutalsten Luziferianerarten gehört hatte, die in ihrer tierischen Gestalt regelmäßig Jagd auf Menschen machte und sie zerfleischte, hatte er bereitwillig Butchers Operation und menschenfeindliche Ziele unterstützt. Schon das rechtfertigte seinen Tod allemal. Darüber hinaus hatte er Michael angegriffen und hätte ihn getötet, wenn der Inquisitor ihm nicht zuvorgekommen wäre. Er hatte also auch hier – wie in der Mehrzahl seiner Kämpfe gegen die Luziferianer – in Notwehr gehandelt. Als er daher beim Aufstieg erneut am Leichnam des Mannes vorbeikam, würdigte er ihn keines weiteren Blickes. Lediglich die Hose des Toten, die gemeinsam mit den Schuhen und Socken ein paar Stufen weiter oben noch immer einen unförmigen, dunklen Haufen bildete, interessierte ihn. Er durchsuchte die Taschen und fand neben dem Handy, das Wolfgang unmittelbar vor seiner Verwandlung benutzt hatte, die Schlüssel des Wagens, den der Fahrer vermutlich nicht weit entfernt geparkt hatte.

Er steckte das Mobiltelefon, für das er möglicherweise noch Verwendung hatte, in die Innentasche seiner Jacke und eilte die restlichen Stufen nach oben. Dank Wolfgangs unfreiwilliger Unterstützung war er jetzt motorisiert und musste sich kein Taxi rufen, auf dessen Eintreffen er anschließend hätte warten müssen, denn bei einer längeren Wartezeit wäre die verbliebene Zeit bis zu seinem Rendezvous an der Vatikanpforte doch ein wenig knapp geworden. Vielen Dank, Wolfgang, dachte Michael sarkastisch, auch wenn dir das nicht mehr hilft und du trotzdem in der Hölle schmoren wirst.

Als er das Ende der Treppe erreichte, überzeugte er sich davon, dass die Umgebung noch verlassen war. Um diese Uhrzeit und in dieser Gegend war das kein Wunder. Der Spaziergänger, der mit seinem Hund hier vorbeigekommen war, schien der Einzige zu sein, der sich nachts hierher verirrte. Dennoch war der Inquisitor erleichtert, da es gleichzeitig bedeutete, dass die Schüsse von niemandem gehört worden waren und niemand die Polizei gerufen hatte. Wenn er von den Carabinieri festgenommen worden wäre und sich für die Tötung des Gestaltwandlers hätte rechtfertigen müssen, hätte das mindestens den Rest der Nacht gedauert. Seine bevorstehende Verabredung hätte er dann vergessen können. Und ob und wann er noch einmal diese einmalige Gelegenheit erhalten hätte, war fraglich. Außerdem hätte die örtliche Polizei ohnehin die Inquisition verständigt und ihn an seine Kollegen ausgeliefert.

Michael sah aufmerksam in alle Richtungen und hielt nach dem Jaguar Ausschau, den er von seinem Ausflug zu Rospos Laden kannte. Nachdem er ihn entdeckt hatte, lief er im Laufschritt hin, um es rechtzeitig zum Treffpunkt zu schaffen, den Marcella ihm genannt hatte und wo ihn in Kürze der Schweizergardist erwartete, um ihm Zugang zur Vatikanstadt zu gewähren.

INQUISITOR MICHAEL INSTITORIS 1 - Teil Vier

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