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I. Das Erwachen im Sanatorium
ОглавлениеKapitel 1
Mein Erwachen war beileibe keine leichte Angelegenheit, sondern im Gegenteil mühsam und langwierig, denn ich musste mich an die Oberfläche meines Verstandes kämpfen wie ein Taucher aus den dunklen, bodenlos erscheinenden Tiefen des Ozeans. Gleichzeitig spürte ich, wie bleischwere Gewichte an meinem Verstand zerrten, um ihn sofort wieder nach unten in die Finsternis zu ziehen, sollte ich in meinem Bemühen, das Bewusstsein wiederzuerlangen, auch nur einen einzigen Augenblick nachlassen.
Währenddessen wirbelte eine unüberschaubare Vielzahl von Bildern durch meinen Kopf wie ein Schwarm bunter Schmetterlinge. Entweder handelte es sich dabei um Erinnerungsfetzen oder wirre Sequenzen eines Traumes, die mich noch ein Stück des Weges aus dem Schlaf in den Wachzustand begleiteten. Die Bilder waren jedoch zu schnell und zu flüchtig für mein noch nicht vollständig erwachtes, zu träge reagierendes Bewusstsein, denn als ich sie zu fassen versuchte, vergingen sie und lösten sich einfach in nichts auf, bevor ich sie zu greifen bekam.
Ich stöhnte schwach und öffnete die Augen, doch alles, was ich von meiner Umgebung zu sehen bekam, war ein winziger, unendlich fern erscheinender Lichtpunkt, fast so, als würde ich alles nur durch eine lange, dünne Röhre wahrnehmen. Aber dann, mit jeder Sekunde, die ich mich weiter an die Oberfläche meines Verstandes kämpfte, wuchs der Lichtpunkt rasch an, als würde ich mit einer Geschwindigkeit von 200 Stundenkilometern im Führerhaus eines ICE durch einen Eisenbahntunnel rasen, bis er schließlich mein Gesichtsfeld vollständig ausfüllte und mir einen ersten, wenn auch noch völlig unscharfen Blick auf meine Umgebung erlaubte.
Noch ziemlich benommen, aber zumindest halbwegs wach, blinzelte ich einmal, dann in rascher Folge mehrmals hintereinander, um ein klareres, vor allem schärferes Bild zu bekommen. Und in diesem Augenblick wurde ich mir plötzlich – so als hätte ich erst durch die körperliche Tätigkeit des Blinzelns einen Körper erhalten und wäre vorher nur auf meinen Verstand reduziert gewesen – meines Körpers und seiner gegenwärtigen Bedürfnisse bewusst.
Auch wenn ich soeben erst erwacht war, fühlte ich mich müde und zerschlagen, als hätte ich in letzter Zeit zu wenig Schlaf bekommen, auch wenn ich aufgrund des mühsamen Erwachens eher vermutete, dass ich sehr lange und besonders tief geschlafen hatte. Ein Widerspruch, den ich im Augenblick nicht klären konnte. Mein Mund und meine Kehle fühlten sich staubtrocken und wund an, und ich litt unter schrecklichem Durst. Und in meinem Kopf fühlte ich ein leichtes, aber unangenehmes Pochen, das mir bereits jetzt in Aussicht stellte, im Laufe der nächsten Stunde zu hämmernden Kopfschmerzen heranzuwachsen. Ich wusste zwar nicht, welchem berauschenden Mittel ich diesen Kater zu verdanken hatte, hoffte aber, dass ich wenigstens meinen Spaß gehabt hatte, wenn ich jetzt auch die Folgen zu erdulden hatte.
Nach dieser kurzen, aber schmerzhaften Bestandsaufnahme meines körperlichen Befindens richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf meine Umgebung, die nur langsam klarere Konturen annahm, während mein Blick sich allmählich fokussierte. Allerdings gab es nur wenige Konturen, an denen meine Augen ihre wiedererwachte Sehschärfe trainieren konnten, denn der Raum, in dem ich zu mir gekommen war, war klein und in seiner Ausstattung karg und trostlos. Eierschalenfarbene Wände, eine ebenfalls eierschalenfarbene Decke und eine Tür, die nur unwesentlich heller war, umgaben mich. Möbel gab es, soweit ich sehen konnte, mit Ausnahme des Bettes, auf dem ich lag, keine. Dass es sich um ein Bett handeln musste, schloss ich allein aufgrund der weichen Oberfläche unter meinem ausgestreckt daliegenden Körper, denn als ich meinen Kopf zur Seite bewegen wollte, um mich zu vergewissern, schoss ein schmerzhaftes Ziehen von meiner Nackenmuskulatur bis in mein Gehirn und gesellte sich dort zu seinem entfernten Verwandten, dem heranwachsenden Kopfschmerz.
Wenigstens gelang es mir ohne größere Beschwerden, eine kleine rechteckige Scheibe in der oberen Hälfte der Tür zu entdecken, durch die man einen Blick in dieses Zimmer werfen konnte, ohne die Tür öffnen zu müssen. Allerdings war die Sicht durch das Fenster im Augenblick durch eine Klappe versperrt.
Mein umherwandernder Blick verharrte jedoch nicht, sondern huschte weiter durch den Raum. Er blieb schließlich am letzten Gegenstand hängen, der sich noch im Raum befand. An einem Gestell in einer Ecke des Raumes hing eine Kamera von der Decke. Und das schimmernde Objektiv war genau auf meine auf dem Bett liegende Gestalt gerichtet.
Ich riss schockiert die Augen auf und stöhnte erneut, dieses Mal etwas lauter. Zu differenzierteren verbalen Äußerungen war ich im Moment ohnehin noch nicht in der Lage.
Mein Verstand fühlte sich noch immer so an, als wäre er zuerst in eine dicke Schicht Watte gehüllt und dann in einen zu kleinen Karton gepackt worden, um demnächst per Luftfracht nach Kalkutta oder irgendeinen anderen weit entfernten Ort verschickt zu werden. Meine Gedanken rollten daher so langsam und schwerfällig wie tonnenschwere Bowlingkugeln durch meinen Verstand.
Wer beobachtet mich im Schlaf? Und was noch viel wichtiger war: Aus welchem Grund werde ich im Schlaf beobachtet?
Die dumpf klingenden Worte hörten sich an wie eine Tonbandaufnahme, die mit zu geringer Geschwindigkeit abgespielt wurde, und rollten zunächst ziellos und scheinbar auch sinnlos wie die durcheinanderkullernden Perlen einer zerrissenen Kette durch meinen Kopf, um sich dann doch noch zu vernünftigen Sätzen aneinanderzureihen. Erleichtert erkannte ich, dass es nur meine eigene innere Stimme war, die zu mir sprach.
Doch meine Erleichterung währte nur den Bruchteil eines Augenblicks, denn meine Empörung darüber, dass mich jemand mithilfe dieser Kamera mehr oder weniger heimlich beobachtete, steigerte sich mit jeder Sekunde. Direkt unter der Linse leuchtete eine kleine grüne Diode und bewies mir, dass die Kamera in diesem Augenblick in Betrieb war und die Aufnahmen an einen anderen Ort übertrug, wo sie entweder unmittelbar über einen Monitor angesehen oder zumindest aufgezeichnet wurden.
Zornig stemmte ich meinen Oberkörper empor und wollte mich im Bett aufrichten. Doch ich fiel sofort wieder auf die Matratze zurück, als ich mit dem Brustkorb auf Widerstand stieß und meine Brüste schmerzhaft zusammengequetscht wurden. Ich schluckte die wenig damenhafte Verwünschung, die mir auf der Zunge lag, hinunter – vorwiegend, weil ich meiner Stimme noch nicht traute – und stieß stattdessen erneut ein gequältes Stöhnen aus. Dann richtete ich meinen Blick nach unten, sah auf meinen Körper, und entdeckte einen breiten, brauen Ledergurt, der von einer Seite des Bettes zur anderen verlief und über meinen sich rasch hebenden und senkenden Brustkorb gespannt war. Ähnliche, wenngleich etwas schmalere und kürzere Gurte fesselten sowohl meine Hand- als auch meine Fußgelenke an den metallenen Rahmen des Bettes. Nur am Rande nahm ich außerdem wahr, dass ich einen hellblauen Pyjama trug und von den Schienbeinen bis zum Bauch von einer leichten weißen Decke verhüllt wurde.
Eine weitere, wesentlich schrecklichere Verwünschung bildete sich in dem Teil meines Verstandes, in dem die Niedertracht das Zepter schwingt und in dem derartige verbale Widerwärtigkeiten geboren werden. Ein Ort, der möglicherweise an einen stinkenden, sumpfigen Pfuhl erinnert, an dessen Oberfläche übel riechende Fluchblasen zerplatzen, prall gefüllt mit Obszönitäten und Gemeinheiten. Und dieses Mal, das wusste ich instinktiv, würde es mir nicht mehr gelingen, die Worte zu unterdrücken, ob meine Stimme nun mitmachte oder nicht. Dieses Mal musste ich meinem Ärger über die Behandlung, die mir hier widerfuhr – heimlich observiert und ans Bett gegurtet wie der übelste Schwerkriminelle –, Ausdruck verleihen.
Ich hatte bereits den Mund geöffnet, doch noch bevor ich den ersten Ton des üblen Wortschwalls über die Lippen bringen konnte, hörte ich ein schrilles, durch Mark und Bein gehendes Quietschen wie von einem nicht geölten Scharnier, das schätzungsweise die letzten 184 Jahre nicht in Gebrauch gewesen war, und unmittelbar darauf ein hölzernes Klappern.
Mein wüster Fluch blieb mir förmlich in der Kehle stecken. Ich sah erschrocken zur Tür, dem Ursprung der plötzlichen Geräusche, und bemerkte, dass die Klappe hinter der gläsernen Scheibe geöffnet worden war. Ein Paar leuchtend blauer Augen sah mich durch das nicht ganz saubere Glas aufmerksam an und verschwand wieder, ehe die Klappe kreischend und klappernd geschlossen wurde. Gedämpft hörte ich das Klirren von Schlüsseln, bis einer davon ins Schloss geschoben und rasselnd gedreht wurde, bevor sich die Tür schließlich leise knarrend öffnete.
Kapitel 2
An dem Mann, der durch die offene Tür trat, fiel mir zuallererst die Größe auf, denn er musste sich leicht bücken und den Kopf einziehen, um nicht am oberen Türrahmen anzustoßen. Ich schätzte seine Körpergröße daher auf eins fünfundneunzig, obwohl er mir in diesem Moment aus meiner Perspektive noch gigantischer, ja geradezu wie ein Riese erschien.
Die übrigen Proportionen seines komplett in Weiß gekleideten Körpers passten zu seiner imposanten Größe. Sein Brustkorb war eindrucksvoll, wirkte dabei aber keineswegs zu breit, und er machte auch sonst einen sehr kräftigen, durchtrainierten Eindruck, ohne dick oder aufgeschwemmt zu sein. Das leicht gelockte, blonde Haar war schulterlang und zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Seine Kleidung – kurzärmliges Hemd und Leinenhose – erinnerte mich unwillkürlich an einen Pfleger in einem Krankenhaus und gab mir damit, verbunden mit der Tatsache, dass ich mit Gurten ans Bett gefesselt war, eine erste, wenn auch nicht sehr angenehme Vorstellung von dem Ort, an dem ich mich gegenwärtig befand. Doch fürs Erste verdrängte ich die langsam und bedrohlich in mir heraufdämmernde Erkenntnis, um mich stattdessen voll und ganz auf meinen Besucher zu konzentrieren, der nun unmittelbar neben dem Bett stand, an das ich geschnallt war, und mit einem freundlichen Gesichtsausdruck und der Andeutung eines Lächelns auf den Lippen auf mich herabsah. Über dem linken Unterarm trug er, wie ich erst jetzt bemerkte, ein Bündel zusammengelegter Kleidungsstücke, das in seinen riesigen Armen geradezu winzig wirkte.
»Mein Name ist Gabriel. Wie geht es Ihnen?«
Seine Stimme klang tief und grollend, gleichzeitig aber auch sehr angenehm. Sie wirkte – ebenso wie seine ganze Erscheinung – beruhigend auf mich. Die Verärgerung über die Fesselung und die Kamera, die noch kurz zuvor in mir gekocht hatte, war seit seinem Erscheinen immer mehr in sich zusammengesunken wie eine aufblasbare Gummifigur, aus der zischend die Luft entwich, und verebbte nun nahezu vollkommen. Anstatt meiner Erregung also lautstark Luft zu machen, wie ich es vor seinem überraschenden Auftauchen eigentlich vorgehabt hatte, dachte ich stattdessen über seine Frage und insbesondere eine passende Antwort darauf nach.
Ich zuckte mit den Schultern, was mir trotz der Gurte möglich war, räusperte mich und sagte dann mit erstaunlich klarer, wenn auch schwacher Stimme: »Es geht so. Ich habe leichte Kopfschmerzen, aber die sind noch zu ertragen. Viel schlimmer ist der Durst. Könnte ich vielleicht etwas Wasser bekommen?« Sobald ich diesen Wunsch geäußert hatte, fiel mir ein, dass ich im Zimmer weder ein Waschbecken noch ein Wasserglas gesehen hatte. Wahrscheinlich musste ich mich also noch etwas gedulden, bevor ich meinen Durst stillen konnte.
Gabriel bestätigte meine Einschätzung auch sogleich. »Sie bekommen etwas zu trinken, sobald ich Sie zum Doktor gebracht habe.«
»Doktor?«, fragte ich, während das Wort in meinem Verstand widerhallte wie die Glocke einer Friedhofskapelle. Die düsteren Ahnungen über meinen Aufenthaltsort kehrten mit Macht zurück, und mir brach der Schweiß aus. Gleichzeitig blitzten in meinem Kopf in rasender Folge Fragen auf, schneller noch, als ich sie zu stellen vermochte. Während ich sprach, überschlug sich meine Stimme und wurde vor Verzweiflung immer schriller. »Von welchem Doktor sprechen Sie? Wo bin ich? Und warum bin ich überhaupt hier? Warum werde ich beobachtet? Wer hat das angeordnet? Und wieso wurde ich festgeschnallt? Wer ist für all das verantwortlich? Wo …?«
Ich verstummte abrupt, als Gabriel die rechte Hand hob, als wollte er damit wie mit einem Schutzschild die auf ihn einprasselnden Fragen abwehren, und mir Einhalt gebot. Doch anstatt auf meine Fragen zu antworten, stellte er selbst eine Frage an mich. »Erinnern Sie sich denn nicht?«
Die Frage klang auf den ersten Blick einfach, doch sie brachte mich dennoch aus dem Konzept. Natürlich erinnere ich mich!, dachte ich fast trotzig und begann, in meinem Gedächtnis nach den entsprechenden Erinnerungen zu suchen, da sie nicht sofort präsent waren. Doch sosehr ich mich auch bemühte, ich wurde nicht fündig. Dies erschien mir auch logisch, denn warum hätte ich ihm sonst all diese Fragen stellen sollen, wenn ich die Antworten darauf selbst gekannt hätte.
Gabriel hatte mich währenddessen aufmerksam beobachtet. Ich hatte das unangenehme Gefühl, er würde in diesem Moment bis tief in meine Seele blicken und dort erkennen, dass ich mich nicht erinnern konnte. Ohne meine Antwort abzuwarten, die mir unter Umständen ohnehin vom Gesicht abzulesen war, fuhr er fort: »Wissen Sie denn wenigstens, wie Sie heißen? Können Sie mir Ihren Namen nennen?«
Diese Fragen erschienen mir schon wesentlich einfacher. Ich öffnete den Mund, und eigentlich hätte die Antwort darauf, nämlich die Nennung meines Namens, wie aus der Pistole geschossen kommen müssen. Doch als nichts dergleichen geschah, und ich stattdessen stumm wie ein Fisch blieb und immer angestrengter nachdenken musste, wurde mir schlagartig und mit erschreckender Gewissheit bewusst, dass es gar keine einfachen Fragen waren. Zumindest nicht für mich und nicht in diesem Augenblick. Gleichzeitig wurde für mich deutlich, dass ich wohl ein wesentlich größeres Problem hatte, als ich zunächst angenommen hatte.
Dennoch ließ ich mich nicht so schnell entmutigen. Ich schloss die Augen, um jede Ablenkung durch die Außenwelt auf ein Minimum zu reduzieren, und forschte noch intensiver in den Tiefen meines bodenlos wirkenden Verstandes. Das gibt es doch nicht, dass ich mich nicht mehr an meinen eigenen Namen, nicht einmal mehr an mich selbst erinnern kann, dachte ich grimmig. Natürlich hatte ich von derartigen Fällen bereits gehört oder gelesen – Amnesie wurde dieser Zustand genannt –, aber das konnte doch nicht mir widerfahren sein. Mein Name ist … Ich bin … Doch an diesem Punkt kam ich einfach nicht weiter.
Meine Gedanken stießen immer tiefer in mein Gedächtnis wie bohrende, tastende, suchende Finger und forschten dort geradezu fieberhaft – und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn mir wurde schlagartig heiß und der Schweiß brach mir aus, obwohl ich diese körperlichen Empfindungen nur am Rande wahrnahm – nach jedem noch so winzigen Fetzen einer Information, die mir einen Anhaltspunkt für die Antworten auf Gabriels Fragen geben könnte. Plötzlich hatte ich das starke Empfinden, ganz nah dran zu sein, so als würde mir der Name gleich auf der Zunge liegen, sodass ich ihn nur noch aussprechen musste. Doch dann stießen meine Gedankenfinger unvermittelt ins Leere. Sie tasteten umher wie der Stock eines Blinden, trafen jedoch nirgends in ihrer unmittelbaren Umgebung auf den geringsten Widerstand. Ein ziemlich ausgedehnter Bereich aus absolutem Nichts schien sich an dieser Stelle meines Gedächtnisses zu befinden, an der eigentlich Tausende von Erinnerungen zu finden sein müssten. Wie eine ausgedehnte Fläche Ödland inmitten eines grünen, wuchernden Regenwaldes, auf der absolut nichts, nicht einmal ein winziger Grashalm wuchs.
Ich glaubte, einen schwachen Sog wahrzunehmen, der von dieser unheimlichen Leere in meinem Gedächtnis ausging, nach meinem tastenden Verstand griff und ihn in das unheimliche Nichts zerren wollte wie in ein schwarzes Loch. Ich zog meine Gedankenfinger daher so schnell wie möglich wieder etwas zurück, konnte es jedoch nicht lassen, weiterhin die Ränder dieses Leerraums prüfend abzutasten, so wie man mit der Zunge immer wieder ungewollt über eine wunde Stelle im Zahnfleisch streicht, obwohl man genau weiß, dass man das besser bleiben lassen sollte. Ich stellte dabei fest, dass es im Grunde keinen gleitenden Übergang gab, sondern der Bereich mit intakten Erinnerungen – die allerdings nur allgemeine und keine persönlichen Dinge betrafen – schlagartig endete, so als wäre mit einem scharfen Skalpell ein bestimmter Bereich meines Gehirns herausgeschnitten worden. Das war natürlich absoluter Blödsinn, wie selbst mir als Laie im Bereich der Gehirnchirurgie klar war.
Ich testete Erinnerungen und Fähigkeiten, die in den unbeschädigten Bereichen meines Verstandes gespeichert waren. Ich konnte mich an zahlreiche Personen der Zeitgeschichte, Orte, geschichtliche Ereignisse und eine Unmenge anderer Dinge erinnern. Ich war problemlos in der Lage, einfache und sogar kompliziertere Rechenaufgaben zu lösen und ganze, willkürlich gewählte Sätze ins Englische, ins Französische und teilweise sogar ins Lateinische zu übersetzen, obwohl ich bei Letzterem schon größere Schwierigkeiten hatte.
Insgesamt betrachtet machte es mir also keine besondere Mühe, mich innerhalb kurzer Zeit an all diese eher allgemeinen Informationen zu erinnern. Doch sobald ich wieder in den Bereich vorstieß, in dem sich die persönlichen Erinnerungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens in seinem Gedächtnis abspeichert, hätten befinden müssen, fand ich nichts anderes als die schrecklich gähnende Leere. Alles, was mich persönlich betraf – mein Name, meine gesamte Vergangenheit, im Grunde mein komplettes bisheriges Leben –, war wie ausgelöscht. Beinahe kam es mir so vor, als hätte ich vor meinem Erwachen überhaupt nicht existiert.
Ein furchtbarer Gedanke, der mir Angst machte.
Kapitel 3
Schließlich gab ich auf, zog meine gedanklichen Finger aus den Tiefen meines Verstandes und öffnete die Augen.
Es waren scheinbar nur wenige Sekunden vergangen, obwohl es mir wie eine Ewigkeit vorgekommen war, denn Gabriels Gesichtsausdruck hatte sich nicht im Geringsten verändert. Immer noch sah er interessiert und freundlich auf mich herab und wartete auf eine Antwort, ohne zu ahnen, welches Drama sich soeben in meinem Verstand abgespielt hatte.
Ich spürte den Schweiß, der mir unter anderem in Form unzähliger kleiner Perlen auf der Stirn stand, und hatte plötzlich Mühe, ein Schluchzen und die Tränen zurückzuhalten, die meine Augen zu überschwemmen drohten. Zu groß war in diesem Moment die Enttäuschung über die niederschmetternde Erkenntnis, dass ich eine Frau ohne Namen und Vergangenheit war.
Da ich befürchtete, in lautes, unkontrollierbares Schluchzen auszubrechen, sollte ich versuchen, auch nur ein einziges Wort zu äußern, beschränkte ich mich darauf, den Kopf zu schütteln. Dabei lösten sich zahlreiche Schweißtropfen von meiner Stirn, liefen mir übers Gesicht und vermischten sich mit ein paar Tränen, die ich nicht zurückhalten konnte und die mir aus den Augenwinkeln rannen.
Gabriel verstand, was ich damit ausdrücken wollte. Er nickte, während sich ein mitfühlender Ausdruck auf seinem Gesicht ausbreitete. In diesem Moment glaubte ich zu erkennen, dass in der breiten Brust dieses im wahrsten Sinne des Wortes großen Mannes auch ein mindestens ebenso großes Herz schlagen musste.
»Das haben wir befürchtet!« Gabriel runzelte nachdenklich die Stirn, ließ aber offen, wen er mit wir meinte. »Aber wenigstens kann ich Ihnen in einer Sache weiterhelfen: Ihr Name ist Sandra Dorn.«
Sandra Dorn – Sandra Dorn – Sandra … Dorn – Sandra … Dorn – San…dra … Dorn – Sa…n…d…ra … D…or…n …
Der Name wirbelte durch meinen Kopf wie eine aufgeregte Fliege in einem verschlossenen Marmeladenglas, erzeugte immer wieder neue Echos, die von den Innenwänden meines Schädels abprallten wie verbale Querschläger, sich überlagerten und in ihre Einzelteile, ihre Silben, ja sogar ihre einzelnen Buchstaben zersplitterten, bis die beiden Worte jegliche Bedeutung verloren hatten, ohne während all dessen auch nur einmal ein Gefühl von Vertrautheit oder Wiedererkennen in mir auszulösen.
Zunächst hatte ich noch gehofft, die Nennung meines Namens würde, einer Initialzündung gleich, eine Flut weiterer Erinnerungen auslösen, die aus den Tiefen meines Unterbewusstseins hervorströmten und meinen Verstand überschwemmten, doch nichts dergleichen geschah. Es schienen nur zwei einfache Worte zu sein, die Bezeichnung einer Person zwar, aber ohne eine besondere Beziehung zu mir oder eine tiefere Bedeutung für mich persönlich.
Dennoch war dieser Name im Augenblick scheinbar alles, was mir von meinem bisherigen Leben geblieben war, sodass ich ihn trotz seiner anfänglichen Fremdheit dankbar annahm wie ein kostbares Geburtstagsgeschenk und sogleich in verschiedenen Variationen in Gedanken benutzte, um mich daran zu gewöhnen: Sandra Dorn. Mein Name ist Dorn, Sandra Dorn. Ich heiße Sandra Dorn. Hallo, ich bin Sandra. Vielleicht, so hoffte ich, würde er mir mit der Zeit und mit dem Grad seiner Anwendung vertrauter werden, so wie man neue Schuhe auch erst einlaufen muss, bevor sie hundertprozentig passen.
»Frau Dorn?«
Gabriel hatte mich wohl schon mehrmals mit meinem Namen angesprochen, bevor ich endlich darauf reagierte. Einerseits war ich tief in Gedanken versunken gewesen, zum anderen hatte ich noch Startschwierigkeiten, mich an den für mich in meiner gegenwärtigen Situation noch unvertraut klingenden Namen zu gewöhnen und dementsprechend zu reagieren, wenn ich ihn hörte.
»Hat Ihr Name weitere Erinnerungen in Ihnen ausgelöst?«, fragte Gabriel, als ich ihm wieder meine volle Aufmerksamkeit schenkte.
»Nein!« Es gelang mir, dieses eine Wort zu sagen, ohne in Tränen auszubrechen. Die Traurigkeit darüber, all meine wertvollsten Erinnerungen an mein früheres Leben und mein Ich verloren zu haben, war noch nicht vollständig abgeklungen, sondern für den Augenblick allenfalls an den Rand meines Bewusstseins verlagert worden. Ich hegte jedoch die Befürchtung, dass sie dort geduldig darauf wartete, um zu gegebener Zeit und aus gegebenem Anlass erneut über mich herzufallen. Es sei denn, es gelang mir vorher, meine Erinnerungen auf andere Art und Weise wiederherzustellen, so wie man nach dem versehentlichen Löschen der Festplatte eines Computers auf eine zuvor erstellte Sicherheitskopie zurückgreift. Ich besaß zwar kein solches Backup meiner Erinnerungen, möglicherweise konnte ich die Lücken aber durch Informationen füllen, die ich von anderen erhielt. Schon formte sich in meinem Kopf ein wahrer Katalog weiterer Fragen, die meine Aufmerksamkeit so vollständig gefangen nahmen, dass mir schon aus diesem Grund keine Zeit blieb, weiterhin Trübsal zu blasen.
Gabriel musste mir angesehen haben, dass ich mich wieder gefangen hatte und ihn jeden Moment mit einem weiteren Bombardement an Fragen eindecken würde. Bevor ich auch nur eine einzige davon stellen konnte, nahm er mir aber schon den Wind aus den Segeln, indem er sagte: »Ich bin im Augenblick leider nicht in der Lage, Ihnen weitere Fragen zu beantworten, Frau Dorn. Vielleicht kann Ihnen aber Dr. Jantzen dabei helfen, die eine oder andere Lücke in Ihrem Gedächtnis zu füllen. Sobald er erfahren hatte, dass Sie aufgewacht und allem Anschein nach wieder bei Sinnen sind, wies er mich an, Sie zu ihm zu bringen.«
»Wieder bei Sinnen …?«, wiederholte ich nachdenklich. Zumindest wurde mir nun ansatzweise bewusst, warum ich mit Ledergurten ans Bett gebunden worden war. Ich war wohl nicht bei Sinnen gewesen, was immer das im konkreten Fall bedeutete.
Erneut schien mir Gabriel anzusehen, was ich dachte. Vielleicht war ich auch nur sehr einfach zu durchschauen. Was wusste ich denn schon über mich? Gar nichts!
»Sie haben richtiggehend getobt«, konkretisierte der Pfleger seine vorherige Aussage. »Nachdem Sie eingeliefert worden waren, haben Sie jedes Mal, sobald Sie erwacht sind, fürchterlich geschrien, um sich geschlagen, getreten und sogar gebissen. Zu Ihrer eigenen und zur Sicherheit des Personals mussten wir Sie fixieren …« Bei diesen Worten wies er mit der rechten Hand nacheinander auf die diversen Ledergurte. »… und medikamentös ruhigstellen. Der Durst und die Kopfschmerzen kommen wahrscheinlich davon.«
Möglicherweise hatte er mir damit weitaus mehr erzählt, als er eigentlich vorgehabt hatte, und unweigerlich einen Rattenschwanz weiterer Fragen aufgeworfen. Doch bevor ich auch nur ein Wort äußern konnte, vollführte er mit der Hand wieder eine entschlossene Geste, die mir Schweigen gebot.
»Da Sie jetzt wach und nach meinem ersten Eindruck auch wieder endgültig bei Sinnen sind, gehe ich davon aus, dass die Fixierung durch die Gurte nicht länger erforderlich ist. Wenn Sie mir versprechen, keine Schwierigkeiten zu machen, kann ich auch davon absehen, Ihnen zur Sicherheit eine Zwangsjacke anzuziehen.«
Mir wurde bereits bei der bloßen Vorstellung ganz anders, in einer Zwangsjacke durch das Gebäude zu diesem Doktor Jantzen geführt zu werden. »Was immer vorher mit mir los war, jetzt bin ich wieder vollkommen klar im Kopf«, versicherte ich dem Pfleger daher rasch und ergänzte, wenn auch nur in Gedanken: Abgesehen von einer Gedächtnislücke so groß wie ein Fußballfeld. Laut fuhr ich fort: »Ich verspreche hoch und heilig, Ihnen keine Schwierigkeiten zu bereiten. Großes Indianerehrenwort. Ich werde ganz brav sein.« Meine Worte klangen zwar ziemlich kindisch, doch ich meinte sie ernst. Und wenn ich meine Hände hätte bewegen können, dann hätte ich meine Worte sogar durch die entsprechenden Gesten ergänzt, so eifrig war ich bemüht, Gabriel von meiner Ernsthaftigkeit zu überzeugen, denn eine Zwangsjacke war in meiner Vorstellung zu eng mit dem Begriff »Irrsinn« verknüpft. Möglicherweise befürchtete ich, neben dem offensichtlichen Problem mit meiner Erinnerung tatsächlich den Verstand zu verlieren, sobald man mich in eine Zwangsjacke stecken würde.
Meine ernsthaften Worte und vermutlich auch mein Gesichtsausdruck mussten überzeugend genug gewesen sein, denn Gabriel nickte schließlich. »Gut, dann will ich Ihnen mal glauben. Sobald ich die Gurte entfernt habe, können Sie diese Kleidungsstücke anziehen. Ich hoffe, sie passen halbwegs. Ich werde draußen im Flur warten, bis Sie sich angezogen haben. Danach bringe ich Sie zu Dr. Jantzen. Er wartet bestimmt schon ungeduldig auf uns.« Nach diesen Worten legte er das Kleiderbündel, das er die ganze Zeit über dem linken Unterarm getragen hatte, direkt neben meinem Kopf auf dem Bett ab und begann dann, nacheinander die Gurte zu lösen.
Kapitel 4
Dr. Jantzen machte überhaupt nicht den Eindruck, als hätte er ungeduldig auf mein Erscheinen gewartet. Ganz im Gegenteil: Er hatte mich weder begrüßt, als Gabriel mich in den Raum geführt hatte, noch hatte er bislang in sonst einer äußerlich erkennbaren Weise meine Gegenwart zur Kenntnis genommen. Er blätterte stattdessen in einem schmalen Hefter, dessen Inhalt seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Man musste kein Albert Einstein sein, um zu erraten, dass es sich bei der Mappe wohl um meine Krankenakte handelte. Sie war zum Glück nicht sehr umfangreich. Dies weckte in mir die berechtigte Hoffnung, dass ich kein Dauergast in dieser oder einer ähnlichen Einrichtung war, sondern nur aufgrund eines unglücklichen Umstands, möglicherweise eines Irrtums – wogegen aber mein von Gabriel erwähntes Toben in den letzten Tagen sprach –, für kurze Zeit hier gelandet war und bald wieder in mein Leben, wie immer dieses auch aussehen mochte, zurückkehren konnte.
Der Arzt und ich saßen uns in einer Art Besprechungszimmer gegenüber, jeder an der Schmalseite eines langen Tisches, der, wäre er auch nur um wenige Meter länger, es wohl erforderlich gemacht hätte, dass wir uns schreiend verständigen oder mit Walkie-Talkies ausgerüstet werden mussten. Allerdings war es weder von seiner noch von meiner Seite bislang zu einem Versuch der Verständigung gekommen. Vielleicht hatte der gute Doktor auch Angst, Schwachsinn könnte ansteckend sein, und versuchte daher, so viel Raum wie nur möglich zwischen sich und seine Patienten zu bringen.
Ich trug mittlerweile nicht mehr den blauen Schlafanzug, in dem ich erwacht war, sondern schlichte weiße Baumwollunterwäsche, eine hellblaue Jeans, ein schwarzes T-Shirt ohne Aufdruck, weiße Socken und ein Paar einfacher, weißer Leinenturnschuhe. Nicht alles davon passte wirklich hundertprozentig, weswegen ich davon ausging, dass es nicht meine eigenen Sachen waren. Was mit meiner Kleidung geschehen war und warum ich fremde Sachen anziehen musste, waren zwei weitere Rätsel, die sich in die lange Liste der Fragen einreihten, auf die ich mir von Dr. Jantzen im Laufe unseres bevorstehenden Gesprächs Antworten erhoffte.
Auch wenn mein erster Eindruck von Dr. Jantzen aufgrund seines distanzierten Verhaltens nicht der allerbeste war, war mir dennoch bewusst, dass mein weiterer Aufenthalt in dieser Einrichtung und die Umstände desselben wohl in erster Linie vom Urteil dieses Mannes abhängen würden. Ich hatte daher nicht vor, ihn schon bei unserer ersten Begegnung allein dadurch gegen mich aufzubringen, indem ich ihn beim Studium meiner Krankenakte störte. Aus diesem Grund übte ich mich vorerst in Geduld und trank gelegentlich von dem Wasser, das Gabriel mir unmittelbar nach unserer Ankunft in einem großen Glas zusammen mit einer Aspirin-Tablette gegen meine Kopfschmerzen gebracht hatte. Ich vermeinte bereits zu spüren, dass der pochende Schmerz in meinem Schädel von Minute zu Minute schwächer wurde, während Dr. Jantzen sich Seite um Seite durch die zum Glück nicht sehr umfangreiche Akte arbeitete und scheinbar jeden einzelnen Abschnitt sehr aufmerksam und teilweise sogar mit gerunzelter Stirn studierte. Immerhin verhalf mir diese Geduldsprobe zu einem weiteren kleinen Mosaiksteinchen in meinem verlorenen Selbstbildnis, indem sie mir zeigte, dass ich, wenn es darauf ankam, geduldig sein konnte.
Anfangs verkürzte ich mir die Wartezeit dadurch, dass ich aus dem Fenster sah, das sich schräg hinter Dr. Jantzen befand. Es war schließlich das erste Fenster, durch das ich seit meinem Erwachen nach draußen sehen konnte, denn weder der winzige Raum, in dem ich zu mir gekommen war, noch die Flure, durch die wir hierhergekommen waren, hatten Fenster gehabt. Allerdings wurde mir schnell langweilig, denn alles, was ich sehen konnte, waren das sattgrüne Laub zahlreicher Bäume und darüber ein Streifen des strahlend blauen Himmels. Wenn mich meine Erinnerung in dieser Hinsicht nicht ebenfalls im Stich ließ, dann musste es Mitte bis Ende Juni sein, an das genaue Datum konnte ich mich aber beim besten Willen nicht erinnern.
Gabriel stand währenddessen wie ein Wachtposten schräg hinter mir und lehnte mit dem Rücken an der Wand. Als ich mich kurz nach ihm umsah, schien er in Gedanken versunken zu sein. Wahrscheinlich war er die Eigenheiten von Dr. Jantzen gewöhnt und hatte, weil es im Augenblick für ihn nichts zu tun gab, geistig abgeschaltet. Vielleicht spielte er auch gerade im Kopf eine komplizierte Schachpartie gegen sich selbst oder dichtete Haikus. Beides hätte ich ihm durchaus zugetraut.
Um nicht ebenfalls mangels äußerer Anreize geistig auf Sparflamme zu schalten, spulte ich mein Leben im Kopf kurzerhand um ein paar Minuten zurück und ließ gedanklich erneut einen Teil der Eindrücke Revue passieren, die ich gewonnen hatte, als ich an Gabriels Seite durch die Flure dieses Gebäudeteils hierhermarschiert war.
Eigentlich hatte ich mir das Innere einer Irrenanstalt – denn um eine solche handelte es sich aller Voraussicht nach, so viel war mir inzwischen klar geworden – ein wenig anders vorgestellt. Falls ich bereits vor meinem jetzigen Aufenthalt Erfahrungen mit dem Innenleben einer Klapsmühle gemacht hatte, so waren diese zusammen mit den anderen persönlichen Erinnerungen über Bord gegangen und gehörten damit zu den wenigen, die von mir nicht sonderlich vermisst wurden. Mein diesbezügliches Wissen beschränkte sich daher, wie bei den meisten Menschen, eher auf allgemeine Eindrücke, Bilder und Sätze, die aus Filmen, Fernsehberichten, Illustrierten oder Büchern stammen mussten.
Nachdem ich mich umgezogen hatte, ließ mich Gabriel aus dem Zimmer, in dem ich zu mir gekommen war. Ich hatte insgeheim damit gerechnet, mich in einem düsteren Gang wiederzufinden, in dem sich auf beiden Seiten eine verriegelte Zellentür an die andere reihte. Zellentüren, hinter denen all die Verrückten in winzige Räume eingeschlossen waren wie Gefangene in einem mittelalterlichen Verlies. Die Realität sah natürlich ganz anders aus.
Der Raum, aus dem ich in den hell erleuchteten, in freundlichen Farben gestrichenen Flur trat, wurde Beruhigungsraum genannt und diente dazu, gewalttätige Patienten für eine Weile zu isolieren und ruhig zu stellen, bis sie sich wieder beruhigt hatten. Das erklärte mir Gabriel während unseres kurzen Spaziergangs zu meinem Blind Date mit Dr. Jantzen.
Ansonsten beherbergte diese Abteilung ohnehin nur leichtere Fälle, was mich schon einmal beruhigte, sah ich mich doch selbst keineswegs als Verrückte. Die Türen zu zahlreichen Patientenzimmern, die wie Zimmer in einem Wohnheim eingerichtet waren, und zu den großen Aufenthaltsräumen, in denen die Insassen an mehreren Tischen Brett- oder Kartenspiele spielen, lesen, stricken, sich unterhalten oder abends fernsehen konnten, standen offen, und es herrschte ein reges Kommen und Gehen auf den Fluren. Nur wenige Türen – vor allem Toiletten, Baderäume, Schwesternzimmer, Therapieräume etc. – waren geschlossen.
Auf den Fluren, durch die wir auf unserem Weg kamen, begegneten uns zahlreiche Personen. Andere hielten sich in einem der Aufenthaltsräume oder ihren Zimmern auf und gingen diversen Tätigkeiten nach. Das Personal – Schwestern, Pfleger, Ärzte – konnte man daran erkennen, dass sie in der Regel in Weiß gekleidet waren so wie Gabriel, der vielen grüßend zunickte oder sogar beim Namen nannte.
Die Patienten trugen hingegen überwiegend normale Straßenkleidung, so wie in meinem Fall, einige auch bequeme Jogging- oder Hausanzüge und manche lediglich Morgenmäntel über ihren Schlafanzügen oder Nachthemden, als wären sie gerade erst aufgestanden und auf dem Weg zum Frühstück, obwohl es dafür bereits viel zu spät war.
Letztere machten in der Regel einen zutiefst verwirrten oder sogar komplett weggetretener Eindruck, starrten beispielsweise die weiße Wand oder den Boden zu ihren Füßen an, während sie teilweise unverständliche Laute von sich gaben, oder tanzten zu Melodien, die nur sie hören konnten. Diesem Personenkreis war noch am ehesten anzusehen, dass sie an diesem Ort genau richtig waren und wahrscheinlich nie mehr – schon zu ihrem eigenen Besten – von hier weggehen würden. Bei vielen anderen fiel es mir dagegen schon wesentlich schwerer oder war es sogar schlichtweg unmöglich, sie allein aufgrund ihres äußeren Eindrucks als Irre zu identifizieren. Wäre ich einigen von ihnen in der U-Bahn oder auf der Straße begegnet, hätte ich sie kaum eines zweiten Blickes gewürdigt, so normal wirkten sie auf mich. Trotzdem gab es vermutlich bei allen einen guten Grund, weswegen sie schlussendlich an diesem Ort gelandet waren.
Ich betrachtete all diese Menschen nicht als Leidensgenossen, da ich mich eben nicht wie eine Verrückte, also wie eine von ihnen fühlte. Schließlich litt ich nur unter einer Erinnerungslücke, auch wenn diese Lücke, um ehrlich zu sein, nicht gerade klein, sondern eher so breit wie eine dreispurige Autobahn zu sein schien. Aber nur wegen fehlender Erinnerungen war man doch noch lange nicht verrückt, oder? Na schön, ich sollte seit meiner Einlieferung wie die sprichwörtliche Wahnsinnige getobt und sogar andere gebissen haben, was Menschen, die als normal angesehen werden und alle Tassen im Schrank haben, in der Regel nicht tun. Aber das war vorbei. Seit meinem Erwachen war ich doch wieder vollkommen normal, oder? Zumindest fühlte ich mich, abgesehen von meinen fehlenden Erinnerungen, vergleichsweise normal und hoffte, dass Dr. Jantzen diese geistige Normalität alsbald bestätigen und mir zur Entlassung aus dieser Irrenanstalt zurück in die Freiheit verhelfen würde.
Doch diese Hoffnung war nicht völlig ungetrübt, denn meine fehlenden Erinnerungen hingen nach wie vor bedrohlich wie ein Damoklesschwert über mir. Schließlich wusste ich nicht einmal, wo ich nach meiner Entlassung hingehen sollte. Wo wohnte ich? Welche Personen kannte ich dort draußen? Wo war meine Familie? Wer waren meine Freunde? Ich hatte unzählige Fragen, auf die ich mir durch das Gespräch mit Dr. Jantzen Antworten erhoffte.
Doch bevor ich mir weitere Gedanken über meinen eigenen Geisteszustand im Vergleich zu dem der übrigen Insassen machen konnte, wurde ich abrupt in die Realität zurückgeholt, als Dr. Jantzen seine fesselnde Lektüre beendete und bereit war, sich endlich mit mir zu befassen.
Kapitel 5
»Guten Tag, Frau Dorn«, sprach mich Dr. Jantzen an und riss mich damit aus meinen Überlegungen. Dies erfolgte für mich so unerwartet, dass ich erschrocken zusammenzuckte und ihn erst einmal mit großen Augen anstarrte, als sähe ich ein Gespenst oder ein rosa Kaninchen vor mir und nicht den Arzt einer Heilanstalt. Am liebsten hätte ich mich daraufhin selbst geohrfeigt, denn wenn ich schon einen halbwegs normalen Eindruck und nicht den eines komplett durchgeknallten Menschen vermitteln wollte, dann hatte ich das möglicherweise schon durch meine erste Reaktion vergeigt.
»Guten Tag, Herr … äh, Dr. Jantzen«, beeilte ich mich daher zu erwidern. Ich freute mich, dass ich seinen Namen nicht vergessen hatte, und hoffte, die Scharte wieder ausgewetzt zu haben, indem ich ihn namentlich ansprach. Würde sich eine echte Wahnsinnige überhaupt die Mühe machen, sich den Namen zu merken und den Doktor korrekt anzusprechen? Wohl kaum!
Der Arzt hatte die Akte noch immer aufgeschlagen vor sich liegen und seine Ellbogen rechts und links davon auf die Tischplatte aufgestützt, sodass sich die Spitzen seiner Finger über den Unterlagen trafen und seine Handflächen ein Zelt bildeten. Auf dessen Spitze hatte er seine breite, fleischige Nase gelegt, als wäre sie ihm zu schwer geworden. Seine grünen Augen wurden durch die Gläser seiner rahmenlosen Brille vergrößert und musterten mich abschätzend, sodass ich mir für einen Moment vorkam, als wäre ich ein winziges Pantoffeltierchen und würde durch das Okular eines riesigen Mikroskops betrachtet werden. Dann räusperte sich Dr. Jantzen laut, als würde er sich auf einen längeren Vortrag vorbereiten, und brach damit den Bann. Er löste die Hände voneinander und griff, während er mit der linken durch seinen sandfarbenen, von grauen Strähnen durchzogenen Vollbart strich, mit der rechten Hand nach einem Kugelschreiber, um sich vermutlich während des Gesprächs Notizen zu machen.
»Frau Dorn. Ich bin Dr. Stefan Jantzen, Facharzt sowohl für Neurologie und Psychiatrie als auch für psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Gleichzeitig bin ich der Leiter dieser Abteilung des psychiatrischen Privatsanatoriums Dr. Straub.«
Ich war mir sicher, dass Dr. Jantzen diesen kleinen Vortrag über seine Qualifikationen jedem seiner Patienten hielt, dennoch leierte er die Worte nicht einfach herunter, sondern sprach ernst und eindringlich mit mir, als wären die beiden Sätze für mich von existenzieller Bedeutung. Und ich hörte ihm auch ebenso aufmerksam zu, denn in meiner gegenwärtigen Situation war ich für jeden Fetzen an Information dankbar, der mir dabei half, das gefräßige schwarze Loch in meinem Schädel wieder aufzufüllen. Was Dr. Jantzen mir bis jetzt gesagt hatte, waren zwar nur allgemeine Informationen über seine eigene Person, seine Funktion und meinen Aufenthaltsort, doch ich hoffte, dass im Laufe unserer Unterredung auch Informationen über mich folgen würden. Gegebenenfalls musste ich den Arzt gezielt danach fragen, doch ich hatte das Gefühl, dass der richtige Zeitpunkt dafür noch nicht gekommen war. Also hielt ich mich zurück und übte mich weiterhin in Geduld.
Dr. Jantzen blätterte kurz in der Akte, als würde er nach bestimmten Informationen suchen, und fuhr dann fort: »Sie wurden vor vier Tagen, am frühen Sonntagmorgen um 4:38 Uhr eingeliefert, nachdem man Sie in einem verwirrten und aggressiven Zustand aufgegriffen hatte. Auch nach der Aufnahme durch den diensthabenden Arzt verhielten Sie sich weiterhin äußerst aggressiv und griffen jeden an, der Ihnen zu nahe kam. Aus diesem Grund wurden Sie medikamentös ruhiggestellt und überwacht. Danach erfolgte die ärztliche Aufnahmeuntersuchung. Sie waren körperlich unversehrt, in Ihrem Blut wurde jedoch eine starke Konzentration verschiedener halluzinogen wirkender Substanzen festgestellt. Sie konnten weder Ihren Namen nennen, noch waren Sie in der Lage, auf einfachste Fragen zu antworten. Der diensthabende Arzt schrieb in den Aufnahmebogen, dass Sie sich wie ein wildes Tier gebärdeten. Sie knurrten und schrien unartikuliert, schlugen um sich, kratzten und bissen sogar zu. Ein Pfleger und eine Schwester mussten wegen Bissverletzungen, die Sie ihnen zugefügt haben, sogar ärztlich behandelt werden. In dieser Hinsicht kann ich Sie allerdings beruhigen, denn es handelte sich um keine schwerwiegenden Verletzungen.«
Dr. Jantzen machte eine Pause und sah mich durch die Gläser seiner Brille konzentriert an, als wollte er seine bisherigen, teilweise durchaus schockierenden Äußerungen auf mich einwirken lassen und vor allem meine Reaktion darauf sehen.
Meine Reaktion auf seine Worte war jedoch eher zwiespältig. Einerseits schockierte es mich natürlich, zu hören, dass ich mich wie ein Tier verhalten und zwei Menschen verletzt hatte. All das tat mir leid, und ich beschloss, mich bei den Betroffenen bei nächster Gelegenheit zu entschuldigen. Andererseits hatte ich aber keinerlei eigene Erinnerungen an diese Geschehnisse, sodass für mich eine unmittelbare Verbindung zwischen den geschilderten Ereignissen und mir fehlte. Es fühlte sich aus diesem Grund eher so an, als wäre all dies nicht mir, sondern einer anderen Person widerfahren. Statt Scham empfand ich daher eher ein starkes Gefühl der Depersonalisation.
»Während Ihres viertägigen Aufenthalts im Beruhigungsraum haben wir durch die richtige Dosierung des Beruhigungsmittels dafür gesorgt, dass Sie dreimal pro Tag zu sich kamen«, fuhr der Arzt fort. »Einerseits dienten diese Wachphasen dazu, Sie zu füttern und zur Toilette zu bringen, andererseits wollten wir natürlich überprüfen, ob sich Ihr Zustand verbessert hatte. Leider waren Sie aber bis heute kein einziges Mal ansprechbar. Ihr psychischer Zustand schien sich nach Ihrer Einlieferung nicht zum Besseren zu verändern. Wir waren daher gezwungen – zu Ihrem eigenen Schutz und dem unseres Personals –, Sie immer wieder in einen künstlichen Schlaf zu versetzen, und hofften, dass sich Ihr Zustand beim nächsten Erwachen wesentlich verbessert hatte. Dies war heute endlich der Fall. Nachdem Sie erwacht waren, stellte das Überwachungspersonal, das Sie mithilfe der Kamera im Beruhigungsraum ständig unter Beobachtung hielt, fest, dass Sie zum ersten Mal bewusst auf Ihre Umgebung reagierten. Ich wurde daher umgehend informiert und schickte Gabriel zu Ihnen, um Sie zu mir bringen zu lassen. Der Rest ist Ihnen bekannt.«
»Ja.«
»Wie geht es Ihnen jetzt? Haben Sie noch irgendwelche Beschwerden?«
Für den Moment drängte ich meine eigenen Fragen in den Hintergrund meines Bewusstseins, wo sie sich wahrscheinlich weiterhin fröhlich und ungebremst vermehrten, während ich nicht auf sie achtete, und konzentrierte mich stattdessen zunächst auf das, was der Arzt von mir wissen wollte.
»Ich hatte nach dem Aufwachen einen ausgetrockneten Mund und leichte Kopfschmerzen«, informierte ich ihn, wie ich es bereits Gabriel gegenüber getan hatte. »Gabriel brachte mir freundlicherweise dieses Glas Wasser und eine Kopfschmerztablette. Beides hat geholfen, meine Beschwerden zu lindern. Die Kopfschmerzen sind inzwischen kaum noch zu spüren. Aber …«
»Aber …«, bohrte Dr. Jantzen sofort nach, nachdem ich verstummt war. Wahrscheinlich gehörte es zu seinem Beruf, beim kleinsten Zögern sofort unnachgiebig nachzuhaken und alles ans Licht des Tages zu zerren, was seine Patienten ansonsten nur widerstrebend von sich gaben.
»Ich … kann mich an … an nichts … äh, erinnern«, sprach ich mein größtes Problem schließlich stotternd aus und sah Dr. Jantzen hilflos an, weil mir in diesem Augenblick die richtigen Worte fehlten, um das ganze Ausmaß meines inneren Zustands angemessen zu beschreiben.
Doch anstatt mir mit Worten eine Art akustischer Hilfestellung zu geben, wartete er einfach schweigend ab, was ich noch aus eigenem Antrieb von mir geben würde. Unter Umständen wollte er meine Aussagen nicht beeinflussen oder unbewusst in eine falsche Richtung lenken.
Ich schluckte, versuchte, mir in Gedanken die passenden Worte zurechtzulegen, und fuhr dann, immer noch stockend, fort: »Ich meine, … alles, was mich selbst betrifft, … meine Vergangenheit, mein Leben, ja, sogar mein Name …, das ist alles weg. Wie ausgelöscht, gewissermaßen wegradiert.« Wie zur Verdeutlichung meiner Erklärungen – irgendwie hatte ich wohl das Gefühl, es bedurfte einer solchen, da mir meine eigenen Worte absolut unzulänglich erschienen, um das Ausmaß der Leere in meinem Verstand auch nur annähernd anschaulich zu machen – klopfte ich mir mit den Handflächen mehrmals leicht von beiden Seiten gegen die Schläfen.
Dr. Jantzen nickte verständnisvoll, als könnte er nachempfinden, wie mir im Augenblick zumute war, was ich jedoch stark bezweifelte, und vollführte mit der linken Hand eine besänftigende Geste. »Beruhigen Sie sich bitte, Frau Dorn. Ich kann mir gut vorstellen, wie Sie sich im Moment fühlen, glauben Sie mir. Aber zunächst möchte ich Ihnen einige Fragen stellen, um das genaue Ausmaß Ihres Gedächtnisverlustes festzustellen. Sind Sie damit einverstanden?«
Ich nickte knapp. Im Grunde war ich mit allem einverstanden, wenn es mir dabei half, den Verlust meiner Erinnerungen wieder rückgängig zu machen.
»Gut. Dann lassen Sie uns anfangen.« Dr. Jantzen zog ein unbeschriebenes Blatt Papier aus der Akte und machte den Kugelschreiber schreibbereit, den er schon die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. »Umfasst Ihre Erinnerungslücke ausnahmslos Aspekte Ihrer persönlichen Lebensgeschichte?«
Ich nickte, ohne lange darüber nachdenken zu müssen. »Soweit ich das feststellen konnte, ist es so.«
Der Arzt schrieb ein paar selbst aus der Ferne krakelig erscheinende Worte auf das Blatt und stellte währenddessen schon die nächste Frage: »Sie können allgemeine Informationen, die Sie im Verlauf Ihres bisherigen Lebens gesammelt haben, also bei Bedarf problemlos abrufen und nutzen?«
»Ja. Genauso ist es! Ich habe es selbst schon überprüft. Fremdsprachen, mathematische Berechnungen, geschichtliche Personen und Ereignisse, an vieles aus diesen und anderen Bereichen kann ich mich problemlos erinnern. Allerdings kann ich mich nicht daran erinnern, woher ich bestimmte Kenntnisse habe. Ich kann also nicht sagen, was ich beispielsweise in der Schule gelernt habe oder auf andere Weise – aus Büchern oder dem Fernsehen – aufgeschnappt habe.«
Die Spitze der Kugelschreibermine verursachte ein kaum hörbares, schabendes Geräusch, als sie rasch über die Oberfläche des Papiers huschte und ihre wohl nur für Dr. Jantzen lesbaren Schriftzeichen hinterließ.
»Umfasst die Lücke in Ihren Erinnerungen, soweit Sie das zu diesem Zeitpunkt überhaupt beurteilen können, sämtliche autobiografischen Informationen Ihres ganzen bisherigen Lebens, oder beschränkt sie sich nur auf einen bestimmten, eingrenzbaren Zeitraum?«
»Ich denke, dass …« Ich stockte, überlegte kurz, wie ich es formulieren sollte, und setzte dann noch einmal neu an. »Nach meinem Gefühl ist … alles weg.«
»Wie steht es mit Ihrem Kurzzeitgedächtnis? Können Sie sich zum Beispiel lückenlos an alle Ereignisse seit Ihrem Erwachen erinnern?«
»Ja, sicher«, bestätigte ich, insgeheim froh, dass wir uns wieder auf vertrauterem und ungefährlicherem Terrain bewegten. »Damit habe ich überhaupt keine Probleme.«
»Können Sie mir dann sagen, wie ich heiße?«
Ich antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Sie sind Dr. Stefan Jantzen, Facharzt sowohl für Neurologie und Psychiatrie als auch für psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Außerdem sind Sie der Leiter dieser Abteilung des psychiatrischen Privatsanatoriums Dr. Straub«, wiederholte ich nahezu wortwörtlich seine eigenen einleitenden Sätze, mit denen er sich vorgestellt hatte. Es handelte sich zwar nur um einen kleinen Test, mit dem der Arzt mein Kurzzeitgedächtnis prüfen wollte, doch ich fühlte mich, als hätte ich soeben eine wichtige Prüfung erfolgreich gemeistert und konnte mir daher auch ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen.
Dr. Jantzen erwiderte mein Lächeln sogar für einen kurzen Moment und nickte anerkennend. »Ausgezeichnet, Frau Dorn. Ihr Kurzzeitgedächtnis funktioniert nicht nur tadellos, Sie haben außerdem auch ein ausgezeichnetes Erinnerungsvermögen.« Erneut huschte der Kugelschreiber in seiner Hand über das Papier und fügte dem bisher Niedergeschriebenen weitere Einzelheiten hinzu, die am Ende, wenn unterm Strich alles zusammengezählt wurde, zu einer hoffentlich nicht zu niederschmetternden Diagnose über meinen Zustand führen würden.
»Aber an die Zeit vor Ihrem heutigen Erwachen können Sie sich im Grunde überhaupt nicht erinnern?«
Ich dachte diesmal etwas länger nach, bevor ich antwortete. Noch einmal näherte ich mich mit meinen gedanklichen Fühlern dem Flecken umfassender Leere in meinem Verstand, fand dort jedoch weder einen Widerhall auf die Frage des Arztes noch sonst einen Erinnerungsfetzen. Wenn ich bewusst an mein Leben vor dem heutigen Tag dachte und versuchte, mir Bilder oder Ereignisse davon ins Gedächtnis zu rufen, erntete ich lediglich anhaltendes Schweigen und undurchdringliche Finsternis. Also zog ich meine blind umhertastenden Gedankenfühler rasch wieder zurück, als ich erneut den leichten Sog zu spüren glaubte, der mein Bewusstsein mit sich reißen wollte, und schüttelte den Kopf, einerseits aus Resignation, andererseits als Antwort auf die Frage des Doktors. »Ich kann nichts finden! Absolut gar nichts. Es ist fast so, als … als wäre ein bestimmter, abgegrenzter Bereich einer Festplatte gelöscht und neu formatiert worden.«
»Also fehlen auch sämtliche Erinnerungen an die Nacht, in der Sie bei uns eingeliefert wurden?«
Der Tonfall des Arztes hatte sich bei dieser Frage zwar nur unmerklich verändert, doch ich registrierte es wie ein hochempfindliches Thermometer, das sogar die kleinste Temperaturschwankung wahrnehmen kann. Diese Veränderung in der Tonlage teilte mir unterschwellig mit, dass Dr. Jantzen die Antwort auf diese Frage besonders wichtig zu sein schien, und zwar, wie ich meinte, nicht allein unter therapeutischen Gesichtspunkten, sondern auch aus einem anderen, mir im Augenblick allerdings noch unbekannten Grund. Dieses Mal musste ich nicht erst nachdenken, sondern wusste die Antwort darauf sofort: »Ich kann mich an absolut gar nichts erinnern, was in jener Nacht und davor passiert ist. Aber vielleicht können Sie mir mehr darüber sagen. Möglicherweise enthält meine Krankenakte nähere Informationen darüber.«
Ich glaubte fast zu sehen, wie Dr. Jantzen vor mir zurückwich. Zumindest gedanklich, denn körperlich bewegte er sich keinen einzigen Millimeter. Es war, als würde plötzlich eine dunkle Wolke über ihm schweben und einen Schatten auf sein Gesicht werfen. Aus irgendeinem Grund verschloss er sich meinem Versuch, von ihm Informationen über die Geschehnisse unmittelbar vor meiner Einlieferung in diese Anstalt zu erhalten, und ließ gewissermaßen die geistigen Jalousien herunter.
»Aus therapeutischen Gesichtspunkten ist es weder förderlich noch vollkommen ungefährlich, diese Thematik bereits in einem so frühen Stadium zu besprechen. Wir werden zu einem späteren Zeitpunkt darüber reden«, sagte der Arzt bestimmt und studierte – wie um jede weitere Diskussion über dieses anscheinend heikle Thema zu unterbinden – demonstrativ seine Gesprächsnotizen.
Mir wurde klar, dass Dr. Jantzen damit die Befragung abgeschlossen und vorerst alle wesentlichen Informationen für eine erste Diagnose gesammelt hatte. Ich ließ es daher vorerst bleiben, weiter auf dem Thema herumzureiten, das der Arzt partout nicht mit mir besprechen wollte. Stattdessen schwieg ich und wartete gespannt auf sein fachärztliches Urteil. Dabei interessierten mich weniger die medizinischen Details seiner Ausführungen, sondern vor allem die entscheidende Frage, ob und wie die Erinnerungslücke geschlossen oder die fehlenden Erinnerungen wiederhergestellt werden konnten.
Was immer Dr. Jantzen mir gleich mitteilen würde, würde den Verlauf meines gesamten weiteren Lebens bestimmen. Ich spürte, wie meine innere Anspannung kontinuierlich zunahm. Meine Kehle fühlte sich wieder staubtrocken und kratzig an. Rasch trank ich einen großen Schluck Wasser. Meine Hand zitterte dabei stark, sodass ich, nachdem ich das Glas wieder auf den Tisch gestellt hatte, schnell die Hände in meinem Schoß verbarg und ineinander verschränkte, um sie halbwegs ruhig zu halten.
Schließlich, als ich das Warten kaum noch ertragen konnte, weil meine Aufregung fast zu groß geworden war, um sie weiterhin unter Kontrolle zu halten, legte Dr. Jantzen seine Notizen zur Seite. Er sah mich mit ernstem Blick an und begann mit gerunzelter Stirn zu sprechen: »Frau Dorn, als vorläufige, erste Beurteilung kann ich Ihnen zum augenblicklichen Zeitpunkt Folgendes mitteilen: Bei dem von Ihnen geschilderten vorherrschenden Störungsbild handelt es sich meiner Meinung nach um eine dissoziative Amnesie. Das ist eine plötzlich auftretende Unfähigkeit, sich an Aspekte seiner persönlichen Lebensgeschichte zu erinnern, wobei dieses Unvermögen in Ihrem Fall Ihr gesamtes bisheriges Leben zu umfassen scheint. Die sogenannte dissoziative Amnesie geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz, also beispielsweise eine Droge oder ein Medikament, oder eines neurologischen oder anderen medizinischen Krankheitsfaktors, zum Beispiel aufgrund eines Schädel-Hirn-Traumas, zurück, sondern wird meist durch ein zurückliegendes traumatisches oder besonders belastendes Erlebnis ausgelöst. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von psychogener Amnesie, also eine Art von Verdrängung. Bei Ihrer Einlieferung wurden zwar große Mengen einer ganzen Reihe halluzinogener Substanzen in Ihrem Blut festgestellt, meiner Meinung nach wurde der Gedächtnisverlust allerdings nicht durch eine Substanzintoxikation, also einen sogenannten Blackout, hervorgerufen. Gegen diese Ursache spricht nämlich eindeutig, dass Ihr Kurzzeitgedächtnis nicht gleichermaßen gestört ist.«
»Ist diese … dissoziative Amnesie heilbar?«
»Eine dissoziative Amnesie ist für gewöhnlich reversibel. Da die Gedächtnisstörung in Ihrem Fall nicht auf eine organische Ursache, also eine tatsächliche Verletzung des Gehirns, zurückzuführen ist, besteht somit eine sehr große Chance auf eine komplette Wiederentdeckung oder Wiederherstellung der betroffenen Erinnerungen. Die Gedächtnisstörung kann dabei durchaus kurzlebig sein und spontan abklingen, insbesondere können die Erinnerungen in Situationen, die eine starke Ähnlichkeit mit den unterdrückten Erlebnissen haben, plötzlich wieder auftauchen, oft auch nur bruchstückhaft, was nicht selten zu Verwirrung und enormen Ängsten führt. Normalerweise ist eine dissoziative Amnesie aber – vor allem in einem schwerwiegenden Fall wie Ihrem – langwierig und erfordert eine mehrjährige intensive Therapie.«
»Und wie sieht diese Therapie aus?«
»Ohne schon jetzt allzu sehr ins Detail zu gehen, kann ich Ihnen zumindest die vorrangigen Ziele der stationären Psychotherapie nennen. Sie gliedert sich in einzelne Phasen aus Einzel- und Gruppentherapie. Die primären Ziele der Behandlung bestehen im Wesentlichen darin, dem dissoziativen Menschen beizubringen, mit der Belastung umzugehen, und die tieferliegenden Ursachen der Amnesie zu behandeln. Diese Ziele werden gleichzeitig behandelt. Oft wird dabei auch Hypnose benutzt, um bei der Erinnerung zu helfen und das durchlebte Trauma zu überwinden. Patienten mit dissoziativer Amnesie zeigen häufig eine hohe Hypnotisierbarkeit.«
»Sie sprachen von einem traumatischen Erlebnis als Auslöser«, kam ich zu einem wesentlichen Punkt seiner Ausführungen zurück, der mich besonders interessierte. »Was genau meinen Sie damit? Und welcher Auslöser ist für meine Amnesie verantwortlich?«
»Auch darüber werden wir im Rahmen der Therapie zu gegebener Zeit sprechen, Frau Dorn«, beschied er mich und bestätigte damit meine Vermutung, dass das traumatische Erlebnis und die Ereignisse der Nacht, in der ich eingeliefert worden war, eng zusammenhängen mussten.
»Muss ich neben dem Verlust meiner Erinnerungen unter Umständen noch mit anderen Folgen dieses Traumas rechnen?«, verlieh ich einer Befürchtung Ausdruck, die durch Dr. Jantzens Erläuterungen meines Zustandes plötzlich in mir Gestalt angenommen hatte. Gleichzeitig fragte ich mich aber auch, warum der Arzt das in meinen Augen wichtige Thema des Traumas so beharrlich ausklammerte. Denn gerade wenn ein wichtiges Ziel der Therapie die Behandlung der Ursache der Amnesie war, konnte es in meinen Augen doch nicht schaden, diesen Punkt so früh wie möglich zu erörtern. Warum bis zum offiziellen Beginn der Psychotherapie damit warten? Andererseits mochte der Arzt nachvollziehbare Gründe für sein Verhalten haben. Vielleicht war die Ursache für meinen Erinnerungsverlust so furchtbar, dass er mich behutsam darauf vorbereiten wollte. Bei diesem erschreckenden Gedanken, der mir plötzlich gekommen war, krampfte sich unwillkürlich mein Herz zusammen und schien sogar ein oder zwei Schläge auszusetzen. Mehrere Schreckensszenarien nahmen in meinem Kopf Gestalt an und quälten mich. Vielleicht, so dachte ich, war ich Mutter eines kleinen Kindes und hatte dieses durch eine schreckliche Gewalttat verloren? Oder war ich etwa die einzige Überlebende eines katastrophalen Unglücks, das Hunderte das Leben gekostet hatte?
Zum Glück vertrieb Dr. Jantzens beruhigende Stimme die Schreckensbilder aus meinem Bewusstsein, die sich auflösten wie Morgennebel unter den Strahlen der Sonne. Allerdings hatte ich in meiner Gedankenverlorenheit den Inhalt seiner Antwort nicht mitbekommen.
»Entschuldigen Sie, aber was sagten Sie?«
»Ich sprach gerade über weitere mögliche Symptome einer psychischen Traumatisierung. Aber Sie schienen mit Ihren Gedanken ganz woanders gewesen zu sein. Alles in Ordnung?«
»Ja, sicher. Mir geht es gut.«
Der Arzt schwieg und sah mich erwartungsvoll an, um mir Gelegenheit zu geben, ihm eine Erklärung für mein Verhalten zu liefern. Doch ich erzählte ihm vorerst noch nichts von den furchtbaren Schreckensvisionen, die meine lebhafte Fantasie aufgrund der Ungewissheit über das traumatische Erlebnis in mir hervorgerufen hatte. Wenn er Geheimnisse vor mir hatte, dann war es nur recht und billig, dass ich ebenfalls das eine oder andere für mich behielt.
»Könnten Sie die möglichen Symptome einer psychischen Traumatisierung, von denen Sie zuvor sprachen, bitte noch einmal wiederholen«, bat ich ihn schließlich, als er keine Anstalten machte, dies von sich aus zu tun.
Dr. Jantzen nickte zwar, aber eher widerwillig. Ich konnte ihm deutlich ansehen, dass er lieber erfahren hätte, was zuvor in meinem Kopf vorgegangen war und mich so beschäftigt hatte, dass ich den Inhalt seiner Worte nicht verstanden hatte. Schließlich war es ein wesentlicher Bestandteil seiner Arbeit, den Patienten durch therapeutische Gespräche gewissermaßen in die Köpfe zu blicken und dort das Unterste zuoberst zu wenden.
»Eine psychische Traumatisierung kann zu Gefühlen von Leid und Angst, aber auch zu schwerwiegenden psychischen Störungen führen. Zu einem Psychotrauma kommt es in der Regel, wenn ein Ereignis die psychischen Belastungsgrenzen eines Menschen übersteigt und nicht entsprechend verarbeitet werden kann, vor allem extreme Gewalt, Krieg, Folter, Vergewaltigung, sexueller Missbrauch, Unfälle, Katastrophen oder Krankheiten.«
Ich hörte äußerst aufmerksam zu. Dr. Jantzen gab meiner ohnehin schon munteren Fantasie durch seine Erläuterung reichlich neue Nahrung.
»Schon die bloße Gegenwart am Schauplatz eines Unfalls oder einer Gewalttat als Augenzeuge kann auf manche Menschen traumatisierend wirken. Ein von Menschen verursachtes Trauma wirkt sich dabei in der Regel schlimmer aus als ein Trauma, das eher zufällige, dem menschlichen Einfluss entzogene Ursachen hat, wie beispielsweise eine Naturkatastrophe oder ein Unfall. Folgen eines traumatischen Erlebnisses können – wie in Ihrem Fall der Erinnerungsverlust – dissoziative Zustände sein. Es kann aber auch zu unverhältnismäßig heftigen Reaktionen kommen wie zum Beispiel Panikattacken, Angst- oder Zwangserkrankungen, selbstverletzendes Verhalten oder immer wiederkehrende Albträume. Es kann auch passieren, dass die Patienten ganz plötzlich von Erinnerungen überfallen werden – man spricht dann von sogenannten Flashbacks –, die oft in Gestalt einzelner Bilder, Gefühle oder auch Gerüche ins Bewusstsein treten. Gefühle und Angstreaktionen können aber auch durch bestimmte innere oder äußere Einflüsse, in der Regel durch einen an das Trauma selbst erinnernden Faktor, einen sogenannten Trigger, ausgelöst werden.«
»Und warum erzählen Sie mir dann nichts über dieses Trauma, wenn es der Dreh- und Angelpunkt meines Zustands ist?« Ich konnte mich nun doch nicht länger bremsen und brachte Dr. Jantzens Reizthema erneut zur Sprache. Ich wollte endlich erfahren, was mit mir passiert war und mir nicht nur all meine persönlichen Erinnerungen, sondern gewissermaßen mein Leben gestohlen hatte. Ich hoffte, damit sowohl der quälenden Ungewissheit als auch den furchtbaren Schreckensbildern, die mein Verstand mir zeigte, ein Ende setzen zu können.
Der Arzt seufzte in einer Art und Weise, als hätte er mit einer derartigen Reaktion gerechnet und wunderte sich insgeheim, warum ich so lang dafür gebraucht hatte. Geistesabwesend kraulte er seinen Bart, während er nach den richtigen Worten suchte. Anscheinend griff er nicht einfach in seine große Kiste voller therapeutischer Standardantworten, die wohl jeder »Psychodoktor« parat hat, sondern bemühte sich um eine individuelle Erklärung.
»Frau Dorn«, begann er schließlich ernst und eindringlich und ließ endlich von seinen Barthaaren ab. »Die Traumatherapie gehört zu meinen speziellen Fachgebieten. Neben dem theoretischen Grundlagenwissen kann ich mittlerweile auch große praktische Erfahrung darin vorweisen. Sie können mir also durchaus Glauben schenken, wenn ich behaupte, dass eine Konfrontation mit dem traumatischen Ereignis, vor allem in einem so frühen Stadium, durch den bereits erwähnten Triggereffekt eine Retraumatisierung bewirken kann.«
Ich nickte. Wenn psychologische Gründe dafür sprachen, dieses Thema vorerst auszuklammern, dann musste ich mich eben damit abfinden. »Ich verstehe. Aber können Sie mir wenigstens etwas über meine Vergangenheit oder über mich erzählen? Ich weiß schließlich überhaupt nichts darüber. Bisher habe ich lediglich meinen Namen erfahren. Aber nicht einmal der erscheint mir auch nur ansatzweise vertraut und hat nichts, weder weitere Erinnerungen noch eine sogenannte Retraumatisierung ausgelöst. Hätte denn nicht bereits die Nennung meines Namens, der schließlich auch zu den persönlichen Erinnerungen gehörte, die mir unmittelbar nach meinem Erwachen fehlten, so ein Trigger sein können?«
Der Arzt nickte und musste dann einräumen: »Im Prinzip haben Sie natürlich recht. Unter Umständen hätte bereits die Erinnerung an Ihren Namen einen Triggereffekt auslösen können. Aber eine einzelne, aus dem Zusammenhang gelöste Erinnerung, auch wenn es sich um etwas so Grundlegendes wie Ihren eigenen Namen handelt, unterscheidet sich natürlich grundlegend von dem vollständigen traumatisierenden Erlebnis, das die Amnesie ausgelöst hat. Grundsätzlich war die Gefahr einer Retraumatisierung daher äußerst gering. Außerdem müssen wir Sie schließlich irgendwie ansprechen können. Und wie sollte das gehen, wenn wir Ihren richtigen Namen nicht nennen könnten?« Er überlegte einen Moment und schlug mir dann Folgendes vor: »Wenn Sie es wünschen, kann ich Ihnen zumindest ein paar Daten und Fakten zu Ihrer Vergangenheit nennen, die in Ihrer Akte enthalten sind. Es sind nicht sehr viele, wie ich vorausschicken muss, aber mehr ist uns leider auch nicht bekannt.«
»Ich wäre Ihnen für jede noch so kleine Information sehr dankbar.« Ich war erleichtert, wenigstens ein paar meiner verlorenen Erinnerungen wieder wie Puzzlestücke in die Lücken einfügen zu können, die sie in meinem Gedächtnis hinterlassen hatten. Und vielleicht würden Sie ja eine Lawine in meinem Verstand auslösen und die übrigen verschütteten Erinnerungen freilegen.
Dr. Jantzen blätterte durch die Seiten der Akte bis zum Anfang und überflog dann das erste Blatt, bei dem es sich – wenn die Patientenakte der Logik für derartige Schriftenbündel folgte – um ein Aufnahmeformular handeln musste, das vermutlich die wesentlichen Daten zu meiner Person enthielt.
»Ihr Name lautet – aber das wissen Sie ja bereits – Sandra Dorn«, begann der Arzt mit der einzigen Information, die ich bereits hatte, und fuhr dann langsam und methodisch fort, die spärlichen Daten vorzutragen. Bei jedem neuen Hinweis musterte er mich prüfend, ob dadurch in meinen Erinnerungen etwas ausgelöst wurde oder sogar die befürchtete Retraumatisierung eintrat. Möglicherweise hatte er Angst, ich könnte in den Zustand zurückversetzt werden, in dem ich mich bei meiner Einlieferung befunden hatte. »Geboren am 21. Juni 1996.« Dr. Jantzen runzelte für den Bruchteil eines Augenblicks die Stirn, als ob er angestrengt überlegte, dann blickte er auf und sah mich überrascht an. »Dann können Sie ja in drei Tagen Ihren neunzehnten Geburtstag feiern.«
Ich nickte bestätigend, war über diese Tatsache aber nicht ganz so aus dem Häuschen wie mein Gegenüber, denn nach ausgelassenem Feiern war mir im Augenblick weniger zumute. Die Tatsache meines demnächst bevorstehenden Geburtstags beinhaltete in meiner derzeitigen Gemütslage allenfalls zwei grundlegende Informationen, nämlich den Tag meiner Geburt und das heutige Datum. Sie waren mir aber derzeit nicht so wichtig, sondern stellten nur Mosaiksteinchen im Gesamtbild meiner Erinnerungen dar, von denen der größte Teil noch immer fehlte.
Dr. Jantzen stellte rasch fest, dass ich seine Begeisterung nicht teilte, räusperte sich verlegen und richtete den Blick wieder auf seine Unterlagen, um die übrigen Angaben vorzulesen: »Sie sind Studentin. Ihre Eltern heißen Martin und Elvira Dorn. Sie wohnen hier in München im Stadtteil Nymphenburg …«
Er nannte auch die genaue Anschrift, die mir jedoch nichts sagte. München kannte ich natürlich, ebenso den Stadtteil Nymphenburg, in dem sich meines Wissens ein bekanntes prunkvolles Schloss gleichen Namens, weitläufige Grünanlagen und zahlreiche Villen befanden. Ansonsten beschränkten sich meine Kenntnisse über diese Stadt jedoch auf allgemeine Informationen, die vermutlich auch viele Menschen wussten, die nicht hier lebten, und daher nicht unbedingt darauf schließen ließen, dass ich tatsächlich hier lebte und studierte. Selbst wenn all meine persönlichen Erinnerungen an meine Heimatstadt verschwunden waren, hätte ich eigentlich dennoch zahlreichere und konkretere Einzelheiten über sie wissen müssen. Auch die Namen meiner Eltern lösten weder Erinnerungen noch tiefere Empfindungen in mir aus. Ich hatte das Gefühl, dass es sich einfach nur um die Namen irgendwelcher Personen handelte, ohne dass ich eine besondere persönliche Beziehung zu ihnen feststellen konnte.
Dr. Jantzen registrierte meine Reaktionen oder, besser gesagt, das Fehlen jeglicher Reaktion auf seine Worte und fuhr fort: »Unter nahen Angehörigen ist hier noch eine weitere Person angegeben. Jemand namens Andras. Ich nehme an, das ist Ihr Bruder.«
Der Name klang für mich im ersten Augenblick ebenso fremd wie die meiner Eltern. Dennoch löste er, als der Arzt ihn aussprach, in den Tiefen meines Verstandes ein schwaches, kaum wahrnehmbares Echo aus. Es war wie der zaghafte Flügelschlag eines zarten Schmetterlings inmitten eines dichten Waldes, kaum zu bemerken und einen Sekundenbruchteil später auch schon wieder vorbei. Ich neigte daher zu der Annahme, ich hätte es mir nur eingebildet, weil ich so verzweifelt auf eine Reaktion auf eine dieser Informationen gehofft hatte. »Andras«, wiederholte ich daher noch einmal laut und deutlich, als wollte ich den Geschmack des Namens wie die Blume eines kostbaren Weins auf der Zunge spüren. Und da, kaum dass ich es tatsächlich zu hoffen gewagt hatte, bemerkte ich erneut die leichte Erschütterung innerhalb meines Gedächtnisses, die ebenso schnell wieder verging.
Dr. Jantzen hatte mich schweigend und aufmerksam beobachtet. Seinem geschulten Therapeutenblick entging natürlich nicht, dass ich in irgendeiner Weise auf den Namen meines Bruders reagierte. »Hat der Name Ihres Bruders ein Gefühl oder eine Reaktion ausgelöst?«
Ich nickte. »Ein ganz schwaches … Echo, könnte man sagen«, antwortete ich, unfähig, meine Empfindungen in adäquate Worte zu kleiden. »Aber so schwach und flüchtig, dass ich mir noch nicht hundertprozentig sicher sein kann. Was können Sie mir sonst noch sagen?«
Dr. Jantzen hob in einer Geste des Bedauerns die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Es tut mir aufrichtig leid, Frau Dorn, aber das waren alle persönlichen Daten, die in Ihrer Akte enthalten sind. Aber ich bin mir sicher, dass wir …«
Weiter kam der Arzt nicht, denn in diesem Augenblick wurde von draußen zaghaft gegen die Tür geklopft. Dr. Jantzen gab Gabriel mit einem Kopfnicken zu verstehen, die Tür zu öffnen. Den Pfleger, der sich die ganze Zeit über unauffällig im Hintergrund gehalten hatte, hatte ich schon ganz vergessen gehabt, so fixiert war ich während unserer Unterredung auf den Arzt gewesen.
Ich drehte den Oberkörper, da ich mit dem Rücken zur Tür saß, und beobachtete, wie Gabriel die Tür öffnete. Auf dem Flur stand eine junge Schwester in einem weißen Kittel, lächelte angespannt und rieb sich nervös die Hände, als hätte sie kalte Finger. Als sie den Therapeuten sah, stieß sie hastig hervor: »Entschuldigen Sie, Dr. Jantzen, aber ein Herr von der Kriminalpolizei will unbedingt mit der … äh, der Patientin sprechen. Er lässt sich nicht abweisen und behauptet sogar, er hätte einen richterlichen Beschluss, der es ihm erlaubt …«
Sie verstummte abrupt mitten im Satz und riss die Augen auf, als sie nicht sehr rücksichtsvoll zur Seite gedrängt wurde. Ein wesentlich älterer Mann in dunklem Anzug nahm augenblicklich ihre Position ein und gab ihr energisch Befehle, als hätte er das Kommando übernommen: »Sie können jetzt gehen, Schwester. Ab hier übernehme ich!«
Die sichtlich überrumpelte Schwester warf einen um Rat ersuchenden Blick auf Dr. Jantzen. Sie zuckte mit den Schultern, um anzudeuten, dass sie nicht bemerkt hatte, wie der Mann ihr hierher gefolgt war, und sie nichts dafürkonnte. Dr. Jantzen nickte ihr beruhigend zu, worauf sie sich auf dem Absatz umdrehte und mit großen Schritten wegmarschierte.
Nun hielt nur noch Gabriels riesenhafte, kräftige Gestalt, die den Türrahmen locker ausfüllen konnte, wenn er sich direkt hineinstellte, den dunkel gekleideten Mann davon ab, den Raum zu betreten. Im Ernstfall wäre der Pfleger ein unüberwindliches Hindernis gewesen, da war ich mir sicher. Dieser Ansicht schien auch der Besucher zu sein, denn er erschien nun doch ein bisschen verunsichert und musterte den Hünen, der vor ihm aufragte, mit misstrauischer Miene.
»Gabriel, bitten Sie den Herrn von der Polizei herein«, wies Dr. Jantzen den Pfleger schließlich an und entschärfte damit schlagartig die spannungsgeladene Situation an der Tür.
Kapitel 6
Nachdem Gabriel – höchst widerstrebend, wie mir schien – zur Seite getreten war und den Durchgang freigegeben hatte, kam der Neuankömmling unverzüglich hereinmarschiert. Er schritt energisch, und ohne mich eines einzigen Blickes zu würdigen, an mir vorbei zur rechten Längsseite des langen Konferenztisches, um sich dort einen Platz zu suchen.
Dr. Jantzen hatte sich indessen von seinem Platz vor dem Fenster erhoben und kam dem Kriminalbeamten ebenso ernsthaft entgegen. Die beiden Männer wirkten auf mich in diesem Moment wie zwei Revolverhelden, die im Begriff waren, ein Duell darüber auszufechten, wer in diesem Raum das Sagen hatte. Dr. Jantzen machte keinen besonders freundlichen Eindruck, als er schließlich auf den anderen Mann traf, bevor dieser Platz nehmen konnte, sondern schien im Gegenteil in angriffslustiger Stimmung zu sein. Dies mochte weniger daran liegen, dass der Fremde einfach der Schwester gefolgt und dadurch hier hereingeplatzt war, ohne vorher die Zustimmung des Arztes einzuholen, sondern eher in der Art begründet sein, wie der Neuankömmling versucht hatte, das Kommando zu übernehmen. Wahrscheinlich sah der gute Doktor seine Autorität als Facharzt und Stationsleiter in Gefahr und wollte die Verhältnisse nun wieder gerade rücken, indem er den Mann in seine Schranken verwies.
»Ich hoffe, Sie sind tatsächlich in der Lage, mir den richterlichen Beschluss zu zeigen, von dem Schwester Hannah sprach«, fuhr der Arzt den älteren Mann an. »Wie Sie sich vermutlich denken können, bin ich über diesen Überraschungsbesuch alles andere als erfreut. Ich bin nämlich der Meinung, dass es für die Heilbehandlung meiner Patientin in dieser Phase nicht besonders förderlich ist, wenn sie sich auch noch mit den Ermittlungen der Polizeibehörden auseinandersetzen muss. Ich ging eigentlich davon aus, dass wir diesen Punkt dem Polizeipräsidium gegenüber klar und deutlich zum Ausdruck gebracht hätten.«
Sein Gegenüber hatte während Dr. Jantzens aufgebrachten Worten in aller Ruhe ein Schriftstück aus der Aktentasche geholt, die er in der linken Hand getragen und nun auf der Platte des Tisches abgestellt hatte, und dieses umständlich auseinandergefaltet. Nachdem die Tirade verstummt war, überreichte der Besucher dem Arzt das Papier, ohne seinen starren Gesichtsausdruck dabei im Geringsten zu verändern.
»Das ist der richterliche Beschluss, der es mir erlaubt, die Zeugin Dorn unverzüglich zu befragen. Und zwar sowohl ohne Ihre Einwilligung als auch gegebenenfalls – das heißt, sofern es mir erforderlich erscheinen sollte – ohne Ihre Anwesenheit, Dr. Jantzen! Wenn Sie also Wert darauf legen, während der Zeugenbefragung dabei zu sein, sollten Sie einen anderen, deutlich weniger aggressiven Ton anschlagen. Ich hoffe, wir haben uns verstanden, Herr Doktor!«
Der Arzt wollte Einwände erheben, doch der Polizist ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. »Sparen Sie sich Ihre Ausführungen für einen späteren Zeitpunkt, Dr. Jantzen. Lesen Sie lieber sorgfältig den Gerichtsbeschluss und akzeptieren Sie endlich, dass mein Vorgehen rechtmäßig ist. Denn falls ich noch ein weiteres Wort des Widerspruchs von Ihnen höre, werde ich Sie unverzüglich des Raumes verweisen!«
Der Arzt gehorchte widerwillig und las stattdessen, nachdem er dem Polizeibeamten einen zornigen Blick geschenkt hatte, konzentriert den Beschluss in seinen Händen. Ich konnte ihm ansehen, dass er zumindest in Gedanken mit den Zähnen knirschte, als er ihn schließlich zurückgab. Allem Anschein nach hatte alles seine Richtigkeit, zumindest vor dem Gesetz, und die Behauptungen des Kriminalbeamten entsprachen der Wahrheit. Dr. Jantzen musste das wohl oder übel akzeptieren, konnte es aber dennoch nicht bleiben lassen, seiner Meinung darüber Ausdruck zu verleihen. »Für den Moment scheinen Sie tatsächlich am längeren Hebel zu sitzen, aber ich kann Ihnen schon jetzt versprechen, dass ich mich diesbezüglich an Ihre Vorgesetzten wenden und dort Ihr unfreundliches Verhalten deutlich zur Sprache bringen werde. Ich kann es nämlich nicht zulassen, dass der Therapieverlauf durch weitere derartige Querschläge Ihrerseits in Gefahr gebracht wird. Das Wohl meiner Patienten steht für mich im Vordergrund, und Ihre Ermittlungen interessieren mich dabei nicht im Geringsten. Im Übrigen wäre es wohl angebracht, dass Sie sich zuallererst einmal vorstellen und legitimieren.«
»Selbstverständlich«, beeilte sich der Beamte zu versichern, den sein eigenes Versäumnis in Verlegenheit und aus dem Konzept gebracht zu haben schien. Und dem Doktor hatte es nach seiner ersten Niederlage in diesem Machtkampf wenigstens einen kleinen Punktgewinn beschert.
»Kriminalhauptkommissar Klaus Gehrmann«, stellte sich der Polizist vor und zeigte dem Arzt sowohl seinen Dienstausweis in einem Lederetui als auch seine glänzende, goldene Dienstmarke, die er hastig aus der Innentasche seiner Anzugjacke geholt hatte. Den Gerichtsbeschluss hatte er zuvor wieder in seine Aktentasche gesteckt.
Dr. Jantzen studierte alles besonders sorgfältig. Dann nickte er mit einem verdrießlichen Ausdruck auf dem Gesicht, da ihm nichts anderes übrig blieb, als die Legitimation seines Gegenübers zu akzeptieren. Einen letzten Versuch, die Befragung zu torpedieren, unternahm er dennoch: »Ist es denn nicht erforderlich, dass Frau Dorn während der Vernehmung ein Rechtsanwalt zur Seite steht?«
Kriminalhauptkommissar Gehrmann schüttelte den Kopf, während er Ausweis und Dienstmarke wieder verschwinden ließ. »Ich kann Ihnen versichern, dass die Hinzuziehung eines Verteidigers nicht erforderlich sein wird. Frau Dorn wird von mir lediglich als Zeugin angehört. Aus diesem Grund ist es auch nicht notwendig, sie über ihre Rechte zu belehren. Sie können gerne hierbleiben, sofern Sie sich entsprechend zu benehmen wissen, und sich davon überzeugen, dass ich nichts unternehmen werde, was Frau Dorn Schaden zufügen könnte.«
Dr. Jantzen sparte sich eine Antwort darauf, nickte stattdessen nur und warf mir einen nachdenklichen Blick zu. Womöglich ging ihm durch den Kopf, dass der Kriminalbeamte überhaupt nicht ermessen konnte, welchen Schaden er durch eine unbedachte Äußerung in meinem vorgeschädigten Verstand anrichten konnte. Allerdings fehlten ihm im Augenblick die Mittel, dem Polizisten wirksam Paroli bieten zu können.
Dr. Jantzens Blick in meine Richtung war die erste Aufmerksamkeit, die mir geschenkt wurde, seit der Polizeibeamte so überraschend aufgetaucht war. Während der verbalen Auseinandersetzung des Arztes und des Hauptkommissars war das Interesse aller Anwesenden nur auf die beiden Männer und ihr Kräftemessen gerichtet gewesen. Dr. Jantzen hatte dabei zwar für den Moment den Kürzeren gezogen, war aber bestimmt nicht bereit, kampflos das Feld zu räumen und mich mit dem anderen Mann allein zu lassen.
Er nahm das Heft, das er kurzzeitig verloren hatte, wieder dadurch in die Hand, dass er von seinem Recht als Stationsleiter und Hausherr Gebrauch machte und dem Kriminalbeamten einen Platz zuwies, der möglichst weit von mir entfernt war. Gehrmann akzeptierte dies auch ohne weitere Diskussion. Ihm musste ebenso wie uns allen klar sein, dass er den Machtkampf fürs Erste für sich entschieden hatte und nun hier die Spielregeln bestimmte. Aus diesem Grund konnte er dem Arzt diesen kleinen Triumph großmütig zugestehen.
Dr. Jantzen holte die Krankenakte und seine Notizen von seinem Platz und setzte sich näher zu mir, sodass er wie ein menschlicher Puffer zwischen mir und dem Polizisten dienen konnte.
Ich selbst war mir zunächst noch unsicher, was ich von diesem überraschenden Auftauchen des Beamten und der ganzen Situation halten sollte. Zunächst hatte mir sein Erscheinen einen Schreck versetzt, denn es hatte die Horrorszenarien, die meine Fantasie wie am Fließband produzierte, mit neuer, erschreckender Nahrung versorgt. Eine Zeitlang hatte ich sogar befürchtet, der Mann wäre gekommen, um mich zu verhaften und ins Gefängnis zu stecken. Dann hatte ich das Wortduell zwischen dem Arzt und dem Polizisten – bei dem es schließlich um mich ging – gespannt, aber auch mit zwiespältigen Gefühlen verfolgt. Denn einerseits erhoffte ich mir durch eine Befragung durch den Kriminalbeamten neue Informationen und Erkenntnisse, die mir Dr. Jantzen bisher nicht hatte sagen können oder wollen. Auf der anderen Seite fürchtete ich gleichzeitig aber auch das Gespräch mit dem Beamten, als könnten dabei Tatsachen oder Wahrheiten ans Tageslicht kommen, die mir letztendlich schaden würden. Lediglich die Zusicherung des Mannes, dass ich nur als Zeugin angehört werden sollte, überzeugte mich schlussendlich davon, dass mir durch den Polizisten im Moment nichts Schlimmes drohte und ich durch eine Unterhaltung mit ihm unter Umständen mehr gewinnen als verlieren konnte. Aus diesem Grund fieberte ich dem Beginn der Befragung sogar ein bisschen entgegen.
Dr. Jantzen schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, das ich so verstand, dass er aufpassen und mir im Notfall beistehen würde. Auch das trug wahrscheinlich zu meiner Beruhigung bei. Außerdem vermeinte ich, Gabriels beruhigende Präsenz schräg hinter mir beinahe körperlich spüren zu können, was mir zusätzlich Kraft schenkte. Und dann ging es auch schon los.
Kapitel 7
»Schönen guten Tag, Frau Dorn«, begrüßte mich Kriminalhauptkommissar Gehrmann, als wäre ich erst in diesem Moment zu ihnen gestoßen, und sah mir dabei zum ersten Mal überhaupt direkt ins Gesicht. Er lächelte jedoch nicht und zeigte mit Ausnahme seiner versöhnlichen Worte auch sonst keine Spur von Freundlichkeit, sondern behielt seinen bisherigen unbeteiligten, fast schon leblosen Gesichtsausdruck bei. Lediglich seine schiefergrauen Augen erwachten in diesem Moment zum Leben und funkelten mich, wie ich meinte, mit einem zornigen, ja geradezu hasserfüllten Aufblitzen an. Doch er wandte zu schnell den Blick wieder ab und richtete ihn stattdessen auf das dicke Aktenbündel, das er aus seiner Aktentasche geholt und vor sich auf die Tischplatte gelegt hatte, als dass ich mir sicher sein konnte, ob ich mir die Wut oder den Hass in seinem Blick nicht nur eingebildet hatte. Warum sollte er mir auch derartige negative Gefühle entgegenbringen? Schließlich kannten wir uns nicht – zumindest nahm ich das an. Außerdem war er nur ein Kriminalbeamter, der beruflich mit meinem Fall zu tun hatte und nicht selbst betroffen war. Andernfalls wäre ihm dieser Fall auch nicht zugeteilt worden. Wobei ich mir natürlich in erster Linie die Frage stellte, warum die Kripo überhaupt Ermittlungen anstellte. Aber das würde ich wohl alsbald erfahren.
Ich ersparte mir eine Erwiderung seines Grußes und wartete stumm ab, dass er fortfahren würde. Eine kleine, wenn auch kindische Solidaritätsgeste gegenüber Dr. Jantzen.
In meinen Augen wirkte der Kommissar beinahe schon zu alt für den aktiven Polizeidienst und stand möglicherweise kurz vor der Pensionierung. Er besaß einen extrem kurz geschnittenen, strahlend weißen Haarkranz, der wie die Tonsur eines Mönchs ein kreisrundes, glänzendes und mit zahlreichen Leberflecken gesprenkeltes Fleckchen Kopfhaut umrahmte. Darüber hinaus hatte er einen schmalen, sehr knochig wirkenden Körperbau und an die Krallen eines Raubvogels erinnernde faltige Hände mit langen, schmalen Fingern. Zu dem insgesamt bereits sehr vogelartigen Eindruck passte seine Nase, die wie der Schnabel eines Geiers hervorstand, sein Gesicht dominierte und ihm zusammen mit den kalt wirkenden grauen Augen das Aussehen eines grimmigen Scharfrichters oder Inquisitors verlieh.
Mein Mut, den ich zum größten Teil der tröstlichen Gegenwart von Gabriel und Dr. Jantzen verdankte, verließ mich bei dieser ungewollten Assoziation dann doch beinahe, und so senkte ich rasch den Blick und richtete ihn auf meine Hände, die ich wieder in meinen Schoß gelegt hatte und nervös aneinanderrieb, als wären sie eiskalt und müssten durch Reibungsenergie aufgewärmt werden. Doch eigentlich war das Gegenteil der Fall. Allmählich wurde es mir unangenehm warm, und ich spürte, dass mir erneut der Schweiß ausbrach. Gern hätte ich in diesem Moment etwas getrunken, doch das Glas vor mir war mittlerweile leer. Ich hätte natürlich Gabriel bitten können, mir noch etwas frisches Wasser zu bringen, doch es war mir lieber, seine beruhigende Gegenwart in meiner unmittelbaren Nähe zu wissen. Ich kannte den Pfleger zwar kaum und das auch erst seit kurzer Zeit, hatte aber schon begonnen, ihm mein Vertrauen zu schenken. Von allen Anwesenden in diesem Raum, so glaubte ich, hatte Gabriel noch am ehesten mein Wohl im Auge. Allerdings würde auch er nichts gegen einen richterlichen Beschluss oder ein anderes amtliches Schriftstück ausrichten können.
»Frau Dorn«, sprach mich der Kriminalbeamte nach einer kurzen Pause erneut an, worauf ich unwillkürlich den Blick hob. Gehrmann sah jedoch weiterhin in seine Akte, als hätte er dort die wesentlichen Stichpunkte seiner Ausführungen skizziert und benötigte diese als Gedächtnisstütze.
Vielleicht will er dadurch, dass er den Blick von mir abgewandt hält, aber auch vermeiden, dass ich in seinen Augen seine wahren Gefühle erkennen kann, durchzuckte mich ein überraschender Gedanke. Schließlich konnte ich schon einmal den Hass in seinen Augen sehen. Aber war ich mir da überhaupt sicher? Rasch verwarf ich diesen absurden Einfall wieder, bevor er in meinem Verstand Wurzeln schlagen und wachsen konnte, so unwahrscheinlich erschien er mir.
»Mir ist natürlich vollauf bewusst«, fuhr Hauptkommissar Gehrmann fort, »dass Sie durch die zurückliegenden Ereignisse vermutlich noch immer unter Schock stehen. Und da Sie, wie man mir mitteilte, erst vor wenigen Stunden wieder zu Bewusstsein kamen, hatten Sie vermutlich auch noch keine Zeit, die Vorfälle gedanklich zu verarbeiten und die Zusammenhänge vollständig zu begreifen. Auch wenn mich Dr. Jantzen für gefühllos und diese Befragung für reine Schikane und eine Gefahr für den Therapieerfolg halten mag, so kann ich Ihnen versichern, dass sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt absolut notwendig ist. Ich versuche zwar, sie so behutsam und schonend wie möglich durchzuführen. Aber angesichts der unabänderlichen Tatsache, dass seit den Morden bereits annähernd fünf Tage verstrichen sind, ohne dass die ermittelnden Behörden in der Lage waren, die einzige bekannte Augenzeugin zu befragen, ist ein weiteres Zuwarten in meinen Augen und im Übrigen auch in denen der zuständigen Staatsanwältin, wie ich hinzufügen möchte, nicht länger zu verantworten.«
Er verstummte und blickte nun doch überrascht von seinen Papieren auf, da er die widersprüchlichen Reaktionen von Dr. Jantzen und mir auf seine Worte natürlich, wenn auch verzögert mitbekommen haben musste.
Dr. Jantzen hatte eine Verwünschung gemurmelt. Die Tatsache, dass der Facharzt für jegliches Psychozeug überhaupt in der Lage war, derartige Flüche auszustoßen, schockierte mich dabei nur unwesentlich weniger als der Umstand, dass es hier allem Anschein nach um eine Mordermittlung ging. Und zwar augenscheinlich nicht nur um einen einzelnen Mord, denn der Kriminalbeamte hatte die Mehrzahl verwendet. Ich hatte daher, während Dr. Jantzens Worte noch in der Luft hingen, überrascht nach Luft geschnappt wie ein Fisch, der sich plötzlich an Land wiederfindet, und die Hand vor den Mund geschlagen, um zu verhindern, dass sich ein Aufschrei des Entsetzens Bahn brach, denn mit einem Mal schienen meine furchtbarsten Schreckensvisionen, die ich kurz zuvor noch als unrealistisch betrachtet hatte, wahr geworden zu sein.
Mit geweiteten Augen, in denen sein Unverständnis deutlich zu lesen war, sah Hauptkommissar Gehrmann erst mich und dann den Arzt an. »Was hat das zu bedeuten, Dr. Jantzen?«
Bevor der Doktor ihm eine Antwort gab, sah er zunächst zu mir und fragte, ob mit mir alles in Ordnung sei. Ich gab ihm durch ein kurzes Nicken zu verstehen, dass es mir gut ging. Erst dann wandte sich Dr. Jantzen an den Polizisten und gab ihm eine Erklärung. »Frau Dorn hat durch die traumatischen Umstände, deren Zeugin sie wurde, eine dissoziative Amnesie erlitten.«
»Amnesie?«, wiederholte der Beamte in fragendem Tonfall den Begriff, der es von allen Fachausdrücken, die Dr. Jantzen benutzt hatte, noch am ehestens geschafft hatte, von Gehrmann verstanden worden zu sein. »Sie meinen, Frau Dorn kann sich an nichts erinnern?«
»Genau so ist es. Frau Dorn ist im Augenblick überhaupt nicht in der Lage, sich an die belastenden Ereignisse oder irgendein anderes autobiografisches Detail ihres Lebens zu erinnern. Der Versuch einer Befragung über Dinge aus ihrer Vergangenheit ist daher absolut unnütz. Das hätte ich Ihnen natürlich auch vorher sagen können, wenn Sie mir Gelegenheit dazu gegeben hätten. So haben wir nur kostbare Zeit vergeudet.«
Ich konnte sehen, dass der Polizist sich bemühte, diese neuen Informationen zu verdauen. »Und Sie können mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen, dass Frau Dorn diesen … diesen Gedächtnisverlust nicht nur simuliert?«, fragte er dann den Arzt, als wäre ich überhaupt nicht anwesend.
Ich schnaubte entrüstet angesichts dieses empörenden Vorwurfs, doch der Kriminalbeamte beachtete mich gar nicht. Lediglich Dr. Jantzen warf mir einen kurzen besänftigenden Blick zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf Hauptkommissar Gehrmann richtete. »Natürlich kann ich mir über so etwas nicht hundertprozentig sicher sein, schließlich kann ich ebenso wenig wie Sie in Frau Dorns Kopf hineinsehen. Es ist schlichtweg unmöglich, eine dissoziative Amnesie eindeutig von einem simulierten Gedächtnisverlust zu unterscheiden. Dazu liegen bisher weder Untersuchungsmethoden noch Vorgehensweisen vor. Zwar weisen Patienten mit dissoziativer Amnesie im Gegensatz zu Simulanten grundsätzlich eine deutlich höhere Hypnotisierbarkeit auf, allerdings stehen wir erst am Anfang der Heilbehandlung. Wenn Sie allerdings meine persönliche Meinung als behandelnder Facharzt dazu hören wollen, dann kann ich Ihnen sagen, dass ich im Augenblick davon ausgehe, dass Frau Dorn keineswegs simuliert, sondern tatsächlich große Erinnerungslücken hat. Was sie mir dazu geschildert hat, klingt für mich überzeugend genug, um einen Fall von dissoziativer Amnesie zu diagnostizieren und den Verlauf der bevorstehenden Psychotherapie auch auf diese Diagnose abzustimmen.«
Gehrmann wirkte zwar, seinem zweifelnden Blick nach zu urteilen, alles andere als überzeugt, ließ das Thema aber fürs Erste auf sich beruhen. »Sie kann sich also an überhaupt nichts erinnern?«, vergewisserte er sich stattdessen erneut.
Dr. Jantzen beschränkte sich auf ein einmaliges, entschiedenes Nicken als Antwort.
»Und was haben Sie ihr über diese ganze … äh, Angelegenheit erzählt?«
»Im Grunde überhaupt nichts. Ich habe Frau Dorn bisher lediglich ein paar autobiografische Daten genannt, die in ihrer Patientenakte stehen. Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass es verfrüht wäre, sie schon jetzt mit den Ereignissen zu konfrontieren, die die Beeinträchtigung ausgelöst haben. Es besteht nämlich die akute Gefahr einer Retraumatisierung.«
»Aber unter Umständen könnte das Wissen über das, was vorgefallen ist, in Frau Dorns Gedächtnis auch eine Wiedergewinnung der verschütteten Erinnerungen auslösen. Können Sie das bestätigen, Dr. Jantzen?«
Dr. Jantzen nickte zögerlich. Auch wenn er diese Information nur widerwillig an den Polizeibeamten weitergab, so war er doch nicht in der Lage oder willens, diesen zu belügen.
Der Polizist dachte nach. Ich war mir aufgrund des Bildes, das ich mir auf der Grundlage seines bisher gezeigten Verhaltens über seinen Charakter erstellt hatte, ziemlich sicher, dass die von Dr. Jantzen angesprochene Gefahr einer Retraumatisierung in Gehrmanns Überlegungen nur eine untergeordnete Rolle spielte, sofern er sie überhaupt in seine Gedankenspiele einbezog. Er würde eine derartige Gefährdung billigend in Kauf nehmen, wenn er dafür im Gegenzug neue Informationen in Erfahrung bringen konnte, die ihm bei seinen Ermittlungen halfen.
Womit der Kriminalbeamte und ich – wenn auch nur in diesem speziellen Punkt – übrigens einer Meinung waren. Auch ich war bereit, die theoretisch bestehende Gefahr, erneut traumatisiert zu werden, auf mich zu nehmen, wenn nur so die Möglichkeit bestand, das klaffende Loch in meinem Gedächtnis zu stopfen. Denn eigentlich konnte mein Zustand meiner Ansicht nach nur unwesentlich schlimmer werden als im Moment.
Also fasste ich, ohne länger darüber nachzugrübeln, meinen Wunsch in Worte und richtete diese direkt an Gehrmann. »Warum erzählen Sie mir nicht, was in der Nacht meiner Einlieferung geschehen ist, Herr Kriminalhauptkommissar. Was hat dazu geführt, dass ich sämtliche Erinnerungen an meine Vergangenheit verloren habe? Sie sprachen vorhin von Morden. Wer wurde ermordet? Und was habe ich damit zu tun?«
Sowohl der Polizist als auch der Arzt fuhren zu mir herum, als ich mich so überraschend und zum ersten Mal, seitdem der Kriminalbeamte auf der Bildfläche erschienen war, zu Wort meldete. Beide sahen mich mit großen Augen an und begannen dann, als sie ihre Überraschung überwunden hatten, gleichzeitig zu sprechen.
»Ich rate Ihnen, das nicht zu tun, Frau Dorn«, sagte Dr. Jantzen.
»Wir können uns unter Umständen gegenseitig helfen«, bot mir hingegen Hauptkommissar Gehrmann an.
Der Vergleich, der sich mir in diesem Augenblick förmlich aufdrängte, hätte mich trotz des Ernstes der Lage beinahe zum Lachen gebracht, denn die beiden Männer gebärdeten sich wie Engel und Teufel, die mich in ihrem jeweiligen Sinne zu beeinflussen versuchten. Der Doktor personifizierte in diesem Fall den himmlischen Boten, der mich davon abhalten wollte, eine – zumindest in seinen Augen – Dummheit zu begehen. Und der Polizist stellte Beelzebub dar, der mich im Gegensatz dazu zu irgendwelchen Untaten verführen wollte. Für einen kurzen Augenblick war ich hin- und hergerissen zwischen diesen beiden Polen, gewissermaßen zwischen Gut und Böse, doch schlussendlich siegte die Wissbegier über die Vorsicht. Wenn ich nichts wagte und mich aus Angst in einem Schneckenhaus der Unwissenheit verkroch, dann konnte ich auch schwerlich neue Erkenntnisse gewinnen und auf eine erfolgreiche und gegebenenfalls rasche Wiederherstellung meiner Erinnerungen hoffen.
Ich schenkte daher zunächst Dr. Jantzen ein um Verzeihung bittendes, etwas schief geratenes Lächeln, in dem darüber hinaus mein schlechtes Gewissen zu lesen sein musste. »Tut mir leid, Dr. Jantzen, aber ich muss das Risiko eingehen.«
Der Arzt zuckte die Schultern. »Es ist Ihre Entscheidung, Frau Dorn. Ich hoffe nur, dass Sie sie nicht bereuen.« Und wie um mir zu verdeutlichen, dass er es mir nicht übel nahm, zeigte er die Andeutung eines schmallippigen Lächelns und fügte hinzu: »Vielleicht hilft es Ihnen ja tatsächlich dabei, Ihre Erinnerungen wiederzuerlangen.«
Ich nickte dankbar und wandte mich dann an den Polizisten. »Also, Herr Kriminalhauptkommissar. Erzählen Sie mir bitte, was ich noch nicht weiß! Und das ist eine ganze Menge, das kann ich Ihnen versichern.«
Ein knappes Nicken seinerseits, und damit war die Abmachung zwischen uns besiegelt. Er würde mir alles sagen, was die Polizei über die Ereignisse jener Nacht wusste, in der ich hier in einem hochgradig verwirrten Zustand eingeliefert worden war. Und im Gegenzug würde ich ihm alles erzählen, woran ich mich erinnerte, vorausgesetzt natürlich, sein Bericht wirkte tatsächlich wie ein Trigger auf mein Gedächtnis und löste die Freisetzung weiterer, eigener Erinnerungen an diese Geschehnisse aus. Denn irgendwo mussten meine fehlenden Erinnerungen ja stecken. Sie konnten schließlich nicht vollkommen spurlos aus meinem Verstand gelöscht worden sein wie die Daten auf einer Diskette, auch wenn das saugende schwarze Loch, das ihre Stelle eingenommen hatte, etwas Derartiges vermuten ließ. In diesem Moment fiel mir ein, dass das englische Wort Trigger auf Deutsch auch Abzugshahn bedeutete. Hoffentlich war das kein böses Omen, und die nächsten Worte des Kriminalbeamten wirkten auf mein Bewusstsein nicht wie der Abzug einer Schusswaffe und richteten nicht ebenso verheerende Schäden an wie eine Pistolenkugel, die mir aus nächster Nähe in den Kopf geschossen wurde.
Hauptkommissar Gehrmann hatte seine eisgrauen Augen wieder auf den Inhalt seines Aktenordners gerichtet. Scheinbar war er noch immer nicht in der Lage, mir über einen längeren Zeitraum hinweg in die Augen zu sehen, denn er las nicht etwa aus der Akte, sondern erzählte mit eigenen Worten, was er mir über die Ereignisse jener verhängnisvollen Nacht mitteilen konnte.
Kapitel 8
»In den frühen Morgenstunden des 14. Juni, am letzten Sonntag also, um ca. 0:45 Uhr«, begann der Polizeibeamte in nüchternen Worten zu erzählen, »gingen bei der Polizeiinspektion 42 in Neuhausen, zuständig für den Stadtbezirk 9 ›Neuhausen-Nymphenburg‹, mehrere Notrufe aus dem benachbarten Stadtteil Nymphenburg ein. Es handelte sich um mehrere Anwohner eines exklusiven Villenviertels in Gern, die meldeten, dass aus einem der Häuser in ihrer Nachbarschaft schreckliche Schreie und lautes Gebrüll zu hören seien. Als nur wenige Minuten später zwei alarmierte Funkstreifenbesatzungen nahezu gleichzeitig am Einsatzort eintrafen, herrschte dort allerdings wieder nächtliche Ruhe. Das Haus, aus dem der Lärm gekommen sein sollte, wirkte verlassen. Einige Nachbarn gaben jedoch später zu Protokoll, dass unmittelbar vor dem Eintreffen der Einsatzkräfte mehrere Personen fluchtartig das Haus verlassen hätten und in dunklen Fahrzeugen, die vor dem Haus geparkt gewesen waren, mit überhöhter Geschwindigkeit davongefahren seien. An die Fahrzeugmarken oder Kennzeichen konnte sich aber leider niemand erinnern.
Da die Villa unverschlossen vorgefunden wurde und die Haustür weit offen stand, betraten die uniformierten Kollegen das Haus, um nach den Bewohnern, einem Ehepaar namens Dorn, zu sehen. Sie durchsuchten das ganze, nicht gerade kleine Gebäude vom Dach- bis zum Untergeschoss, konnten aber zunächst niemanden finden. Erst im Keller wurden sie schließlich fündig. In einem Raum, der aufgrund der vorgefundenen Situation und Ausstattung allem Anschein nach zur Durchführung eines Rituals, unter Umständen einer sogenannten schwarzen Messe, genutzt worden war, lagen zwei Leichname. Bei den Toten handelte es sich, wie sich später herausstellte, um die Bewohner des Hauses, Martin und Elvira Dorn. Sie trugen schwarze Gewänder, die an die Kutten von Mönchen erinnerten, was darauf schließen lässt, dass sie ebenfalls an dem Ritual in ihrem Haus teilgenommen hatten, und waren durch zahlreiche, äußerst brutale Messerstiche getötet worden.
Auf einem schwarzen Altarstein im Zentrum des Raumes wurde darüber hinaus eine erhebliche Menge Blut gefunden, das sich jedoch keinem der beiden Leichname zuordnen ließ. Da Sie selbst, Frau Dorn, körperlich unversehrt waren, kann es sich somit nur um das Blut einer vierten, bislang noch unbekannten Person handeln. Wir gehen daher davon aus, dass es von Ihrem Bruder Andras Dorn stammt, dessen Kleidung und Ausweispapiere in der Nähe des Tatorts gefunden wurden. Ein Vergleich mit einer Probe Ihres Blutes sowie ein DNA-Test, um diesen Punkt endgültig abzuklären, stehen noch aus und werden demnächst durchgeführt, sofern Sie Ihr Einverständnis zu einer Blutentnahme und einer Speichelprobe erklären.
Nachdem die Streifenbeamten vor Ort die Leichen gefunden hatten, informierten sie unverzüglich den Kriminaldauerdienst. Das ist der Bereitschaftsdienst der Kriminalpolizei, der als Bindeglied zwischen den Streifenbesatzungen vor Ort und den Fachkommissariaten dient. Da im Keller des Hauses Kleidung und Ausweise von Ihnen und Ihrem Bruder gefunden wurden, wurde sofort die nähere Umgebung der Villa abgesucht. Diese Maßnahme blieb aber vorerst ohne Erfolg.
Erst mehr als drei Stunden nach Eingang des Notrufs wurden Sie von einer Streife auf dem Westfriedhof aufgegriffen, nachdem ein vorbeikommender Autofahrer die Polizei benachrichtigt und hysterisch gemeldet hatte, der Geist einer nackten, blutüberströmten Frau würde zwischen den Gräbern des Friedhofs herumspuken. Wie sich herausstellte, waren Sie tatsächlich nackt und mit Blut bespritzt. Es handelte sich jedoch nicht um Ihr eigenes Blut, da Sie, wie bereits erwähnt, zumindest körperlich unversehrt waren, sondern war mit dem Blut auf dem Altarstein identisch. In Ihrer linken Hand hielten Sie zudem eine Art Ritualdolch mit schwarzem Griff und blutverschmierter Klinge.
Sie ließen sich von den Beamten widerstandslos das Messer abnehmen, eine Decke überstreifen und in den Streifenwagen bringen. Nachdem durch den zuständigen Ermittlungsrichter rasch entschieden wurde, dass Sie aufgrund Ihres bedenklichen psychischen Zustands in das Privatsanatorium Dr. Straub gebracht werden sollten, fuhren die Kollegen mit Ihnen an diesen Ort. Erst nach Ihrer Einlieferung begannen Sie damit, zu toben und ein höchst aggressives Verhalten an den Tag zu legen. Daraufhin wurden Sie mit Beruhigungsmitteln behandelt und waren während der letzten Tage leider nicht ansprechbar, was jegliche Möglichkeit einer Befragung ausschloss.
Das sind im Wesentlichen die Fakten, die in den Ermittlungsakten enthalten sind und die ich Ihnen daher nennen kann.«
Nachdem der Kriminalbeamte seinen Bericht abgeschlossen hatte, herrschte für mehrere Sekunden nahezu atemlose Stille im Raum. Alles, was ich hören konnte, waren mein eigener Herzschlag und das Rauschen des Blutes in meinen Adern.
Dr. Jantzen hatte mich die ganze Zeit über sehr aufmerksam beobachtet und sich gelegentlich Notizen gemacht. Der Hauptkommissar hatte hingegen nahezu ständig nach unten auf die Ermittlungsakte gestarrt und mir nur ab und zu einen kurzen Blick zugeworfen, als hätte er zwischendurch immer wieder überprüfen wollen, ob ich auf seine Worte in irgendeiner äußerlich erkennbaren Form reagierte.
Meine Reaktion auf die Schilderung des Polizisten enttäuschte mich selbst jedoch am allermeisten, denn es gab keine.
Im Grunde war ich auf nahezu alles, was meiner Ansicht nach geschehen konnte, gefasst gewesen. Dass möglicherweise eine Flut meiner wiedergewonnenen Erinnerungen mein Bewusstsein unter sich begraben würde. Dass nur einzelne, selektive Erinnerungen an die Geschehnisse dieser Nacht, ausgelöst durch die Worte des Kriminalbeamten, an der Oberfläche meines Verstandes auftauchen würden wie Gasblasen in einem Sumpf. Oder auch, dass das schwarze Loch in meinem Gedächtnis einfach verschwinden würde, als hätte es nie existiert, und all meine verlorenen Erinnerungen an seiner Stelle wieder auftauchen würden, jetzt und zukünftig jederzeit problemlos von mir abrufbar.
Für all diese erhofften Alternativen und sogar noch einige mehr, die ich mir gar nicht so genau ausgemalt hatte, war ich innerlich gewappnet gewesen. Mein ganzer Körper hatte sich zu Beginn des Berichts verkrampft, sodass es wehgetan hatte, und sämtliche Muskeln hatten sich vor Anspannung gestrafft, bis sogar die Hände in meinem Schoß nahezu unlösbar ineinander verkrallt gewesen waren. Doch allmählich, mit jedem weiteren Satz des Hauptkommissars, hatte ich mich wieder entspannt. Und die Verkrampfung war allmählich aus meiner Muskulatur gewichen, als jegliche psychische Reaktion auf seine Worte ausgeblieben und mir immer bewusster geworden war, dass auch keine solche erfolgen würde. Stattdessen hatte sich nach und nach in meinem Innern eine entsetzliche Leere ausgebreitet, verursacht durch die maßlose Enttäuschung über diesen erneuten Misserfolg.
Das lag nicht nur daran, dass die Worte des Kriminalbeamten keine eigenen Erinnerungen in meinem Bewusstsein zutage gefördert hatten, wie ich insgeheim natürlich gehofft hatte, sondern auch daran, dass sie mich nicht einmal sonderlich berührt hatten. Es kam mir die ganze Zeit eher so vor, als würde der Polizist über das Leben mir vollkommen fremder Menschen sprechen, gewissermaßen eine Märchenerzählung mit fiktionalen Charakteren. Weder die Erwähnung der Leichen meiner Eltern noch die Tatsache, dass mein Bruder ebenfalls viel Blut am Tatort verloren haben musste, schienen mir viel zu bedeuten oder auch nur nahezugehen. Ich kam mir deshalb vor wie ein Monster oder Psychopath, der überhaupt nicht in der Lage ist, Gefühle für die Menschen um ihn herum zu entwickeln, selbst wenn es seine eigenen Angehörigen waren. Doch das, versuchte ich mich zu trösten, konnte auch daran liegen, dass ich keinerlei eigene Erinnerungen an diese Menschen hatte. Die spärlichen Informationen, die ich über sie besaß, stammten nicht aus meinem Innern, sondern allesamt aus dem Munde Dritter. Es war daher auch nur logisch, dass ohne jeglichen inneren Bezug keine emotionale Bindung zu ihnen entstehen konnte, die in mir Trauer, Wut, Entsetzen oder ähnliche tiefgehende Gefühle über ihre Schicksale auslösen konnten.
Meine grenzenlose Enttäuschung musste auch auf meinem Gesicht deutlich abzulesen sein, denn Dr. Jantzen sagte: »Es tut mir wirklich leid, dass es nicht die von Ihnen erhoffte Wirkung hatte, Frau Dorn.«
Ich blickte ihn an, um zu sehen, ob er insgeheim vielleicht sogar erleichtert über diesen Misserfolg oder ebenfalls enttäuscht war, doch seiner Miene war nicht das Geringste über seine wahren Gefühle abzulesen. Allenfalls eine Spur von Anteilnahme konnte ich darin sehen.
»Wenn meine Worte nicht ausgereicht haben«, meldete sich in diesem Moment Hauptkommissar Gehrmann zu Wort, »dann können Sie sich gerne ein paar Lichtbilder ansehen, Frau Dorn. Vielleicht hilft es Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge, wenn Sie den Tatort mit eigenen Augen sehen.«
Für einen Augenblick stockte mir der Atem bei dieser unerwarteten Entwicklung. Ich schöpfte sogleich neuen Mut und stieß die angehaltene Luft aus. »Sie haben Fotos dabei?«
Der Kriminalbeamte nickte, ohne mich anzusehen, und blätterte in seiner Akte bis zum Ende. »Es gibt auch eine Videoaufnahme vom Tatort, aber die habe ich natürlich nicht bei mir.« Er nahm einen braunen Umschlag mit dem Aufdruck Lichtbilder aus dem Hefter, öffnete die Klappe und schüttelte einen schmalen Stapel Fotografien heraus.
Als sich Gehrmann von seinem Stuhl erheben wollte, um mir die Fotos zu bringen, sie mir eventuell sogar einzeln vorzulegen und jedes auch noch zu kommentieren, kam ihm Dr. Jantzen zuvor. Er nahm dem Polizisten den Stapel ab und kam damit zu mir. Der Beamte zuckte mit den Schultern und beobachtete dann aufmerksam den Arzt, als dieser sich auf einen Stuhl in meiner unmittelbaren Nähe setzte.
Dr. Jantzen schien seinen Widerstand gegen eine Konfrontation mit dem Tatort und damit auch mit den das Trauma auslösenden Ereignissen komplett aufgegeben zu haben und sich zwischenzeitlich sogar mir einem weiteren Versuch angefreundet zu haben, meine Erinnerungen mithilfe der Lichtbilder aufzufrischen. Vielleicht hatten ihm die bisherigen Misserfolge aber auch deutlich gemacht, dass die Gefahr einer Retraumatisierung nicht so groß war, wie er anfangs befürchtet hatte.
Bevor Dr. Jantzen die Fotografien Stück für Stück an mich weiterreichte, sah er sich selbst jede einzelne Aufnahme an. Bereits beim ersten Foto verzog er angeekelt das Gesicht, was mir einen Eindruck davon vermittelte, was mir bevorstand, bevor ich die Fotografie überhaupt in Händen hielt. Nachdem er mir allerdings das erste Bild übergeben hatte, achtete ich nicht weiter auf seine Reaktionen, da ich ab diesem Zeitpunkt viel zu sehr mit meinen eigenen Gefühlen und Gedanken beim Anblick der Aufnahmen beschäftigt war.
Kapitel 9
Das erste Lichtbild war ein Überblick über die vorgefundene Gesamtsituation am Tatort, denn es zeigte einen Raum – höchstwahrscheinlich den Kellerraum, von dem Hauptkommissar Gehrmann gesprochen hatte – in der Totale. Sämtliche sichtbaren Wände waren von schwarzen Laken oder Vorhängen verhüllt, was der ganzen Szenerie einen düsteren Eindruck verlieh. Auf den blanken Steinboden waren Linien aus schwarzer Farbe gezeichnet worden, die – darin war ich mir sicher, obwohl der Bildausschnitt nicht jedes Detail wiedergab – einen fünfzackigen Stern darstellten. In die Zacken waren unentzifferbare Zeichen und Symbole gemalt worden, und ein großer, gleichmäßiger Kreis, ebenfalls aus schwarzer Farbe, verband die Sternspitzen miteinander. An den vier Spitzen, die auf dem Bildausschnitt sichtbar waren, konnte ich schwarze Kerzen erkennen, zwei davon waren umgekippt und lagen am Boden. Genau in der Mitte des Pentagramms, also im inneren Fünfeck, stand ein massiver, tiefschwarzer Steinblock, der mir – auch wenn ich nicht unmittelbar, sondern nur anhand einer Fotografie mit ihm konfrontiert wurde – allein durch das Betrachten unwillkürlich Unbehagen bereitete. Ich konnte nicht sagen, aus welchem Material er bestand, doch das Gestein reflektierte den Schein des Blitzlichtes nicht, das der Fotograf benutzt haben musste, sondern schien es im Gegenteil zu absorbieren und an seiner Stelle Finsternis zurückzustrahlen.
Nur mühsam gelang es mir, meinen Blick von dem unheilvoll wirkenden Altarblock zu lösen, als ich das vollkommen verrückte Gefühl hatte, der schwarze Felsblock könnte mich ebenso in sich saugen und verschlingen wie das Licht. Stattdessen konzentrierte ich mich auf andere Details, die mir zunächst entgangen waren, weil der Altar meine Aufmerksamkeit gefangen genommen hatte, und mied mit den Augen das düstere Zentrum des Bildes.
Mit weißer Farbe waren Linien auf den Boden gesprüht worden, die teilweise über den schwarzen Strichen, aus denen der Drudenfuß und die Symbole bestanden, verliefen und einen auffallenden Kontrast zu diesen bildeten. Sie formten die Umrisse von zwei am Boden liegenden Personen nach, die Arme und Beine teilweise in so unnatürlicher Art und Weise abgewinkelt, wie es grundsätzlich nur den Toten möglich war. Die Leichen selbst mussten bereits vor der Aufnahme weggebracht worden sein, aber natürlich wusste ich aufgrund der Schilderung Gehrmanns, dass es sich dabei um Martin und Elvira Dorn, meine Eltern, gehandelt hatte. Doch auch in diesem Moment, als ich den Tatort vor Augen hatte, löste dieses Wissen noch immer keine Gefühle in mir aus. Große dunkle Flecken hatten sich innerhalb der menschlichen Umrisse auf dem Beton ausgebreitet. Lachen getrockneten Blutes, das auf der Aufnahme fast pechschwarz aussah. Mehrere kleine, aufrecht stehende gelbe Schilder aus Pappe oder dünnem Kunststoff, auf die schwarze Zahlen gedruckt waren, wiesen auf weitere gefundene Beweise oder Auffälligkeiten am Tatort hin. Eines der Schilder, bezeichnenderweise mit der Zahl 13, stand auf dem düsteren Altarblock. Ich wusste aber nicht, ob damit der Altar selbst, der auch ohne Markierung nur schwerlich zu übersehen war, das Blut, das man dort gefunden hatte und das wohl von meinem Bruder Andras stammte, oder ein anderes Beweisstück markiert worden war.
Als ich der Ansicht war, alle wesentlichen Einzelheiten der Fotografie erfasst zu haben, legte ich die Aufnahme vor mir auf die Tischplatte und griff zur nächsten, die mir Dr. Jantzen bereits hingelegt hatte. Obwohl es mir erheblich länger vorkam, hatte ich das erste Foto tatsächlich nur wenige Augenblicke in der Hand gehalten und angesehen.
Das zweite Bild war eine Nahaufnahme des unheimlichen Altarsteins. Er war von schräg oben fotografiert worden. Auch hier war nicht die Spur einer Reflexion des Blitzlichts auf dem tiefschwarzen Material zu entdecken. Man konnte aber deutlich erkennen, dass die Oberfläche des Steins nicht vollkommen glatt war, wie ich aufgrund der ersten Aufnahme vermutet hatte, sondern dass zahllose Einkerbungen in schlangenartigen Linien den Felsblock überzogen.
Erneut nahm mich der Anblick gefangen, als wollte der Altarblock meinen Verstand in seine geheimnisvollen Tiefen saugen, und stieß mich gleichzeitig aber auch ab, indem es neben einem überwältigenden Gefühl des Ekels den Wunsch in mir erzeugte, mir die Hände am Stoff meiner geliehenen Jeans abzuwischen, obwohl ich nicht einmal den Altar selbst, sondern nur eine Fotografie von ihm berührte. Mir schwindelte, als ich einer der verschlungenen Linien mit den Augen zu folgen versuchte. Anfangs war kein Muster zu erkennen, sondern nur ein wirres Durcheinander wie das geistesabwesende Gekritzel eines Wahnsinnigen während eines längeren Telefonats, doch ganz allmählich formten sich Figuren und Muster aus dem Chaos, die man zuerst nicht wahrgenommen hatte, fast so, als wären sie soeben erst entstanden. Das konnte allerdings nicht sein, da der Inhalt der Fotografie bereits seit dem Zeitpunkt ihrer Aufnahme feststand und sich nicht verändern konnte. Dennoch sah ich plötzlich furchterregende Dämonenfratzen auf der schwarzen Oberfläche des Steins, die sich verzerrten und mich anzuknurren schienen, auch wenn ich natürlich keinen Laut hörte. Schreckliche Monster, wie ich sie noch nie gesehen hatte, eine Mischung aus Reptilien, Vögeln, menschlichen Körpern und Fabelwesen, krochen mir aus dem Inneren des Altarblocks entgegen, wurden größer und größer und rissen ihre abscheulichen, vor Zahnreihen starrenden Mäuler auf.
Ich schrie laut und gellend, als mich die Ungeheuer zu verschlingen drohten.
Kapitel 10
Plötzlich und unerwartet spürte ich eine Hand auf meiner Schulter, wodurch der Bann, unter dem ich scheinbar gestanden hatte, gebrochen wurde. Ich blinzelte irritiert, als hätte ich tief und fest geschlafen und nun große Schwierigkeiten, richtig wach zu werden. Dann blickte ich mich suchend um, um zu sehen, wer mich angefasst hatte. Es war natürlich Dr. Jantzen gewesen, der mich noch immer mit besorgter Miene ansah.
»Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Frau Dorn?«
Ich nickte. »Ja, wieso? Was ist passiert?«
»Sie haben geschrien. Erinnern Sie sich nicht?«
»Nein … Doch, ich glaube, jetzt erinnere ich mich …«
»Möchten Sie aufhören oder zumindest eine Pause machen?«
Ohne lange zu überlegen, schüttelte ich den Kopf. »Nein, es geht schon wieder.«
»Haben die Fotografien denn etwas bewirkt? Haben Sie deshalb geschrien, weil die Fotos es geschafft haben, eigene Erinnerungen in Ihnen zu wecken?« Es war natürlich Hauptkommissar Gehrmann, der diese Fragen stellte. Ich hatte ihn für den Moment ganz vergessen gehabt und erinnerte mich erst jetzt wieder an seine Gegenwart.
»Nein. Es war nur …« Ich stockte, wusste nicht, wie ich es erklären sollte, ohne wie eine komplett Durchgeknallte zu erscheinen, was ich nach dem soeben Erlebten vielleicht sogar war. »Ich glaubte, auf dem Foto etwas … etwas Schreckliches gesehen zu haben.«
Der Arzt und der Kriminalbeamte sahen mich verständnislos an. Wahrscheinlich warteten sie auf weitere Erklärungen, die ich ihnen aber weder geben konnte, noch wollte.
»Es war aber eigentlich gar nichts«, beeilte ich mich daher hinzuzufügen. »Nur ein Trugbild … eine optische Sinnestäuschung.« Das klang nicht einmal in meinen eigenen Ohren besonders überzeugend, aber ich hatte im Augenblick einfach nicht den Nerv, mir eine bessere Erklärung einfallen zu lassen. Die beiden Männer sollten sich entweder damit zufriedengeben oder es einfach bleiben lassen, basta!
Hauptkommissar Gehrmann verzog keine Miene und senkte den Blick rasch wieder, hin zu der aufgeschlagenen Akte vor ihm. Dr. Jantzen nickte nur, als akzeptierte er meine Erklärung, aber ich sah ihm an, dass er keineswegs davon überzeugt war, dass mit mir wirklich alles in Ordnung war, und er sich trotz allem Sorgen um mich machte.
Ich wandte rasch und schuldbewusst den Blick ab, um ihn wieder auf das Foto in meinen Händen zu richten, und stellte überrascht fest, dass ich es fallen gelassen hatte, ohne es bemerkt zu haben. Es war verkehrt herum auf der Tischplatte gelandet. Ich nahm es wieder zur Hand und drehte es um. Es zeigte natürlich noch immer dasselbe Motiv wie zuvor, doch als ich es nun betrachtete, hatte ich nicht mehr das Gefühl, in das Bild hineingezogen zu werden. Die verschlungenen Vertiefungen auf der Oberfläche des Altars waren noch vorhanden, doch sie blieben ein wirres Durcheinander von Linien und formten sich nicht länger zu Schreckensbildern. Stattdessen bemerkte ich nun zahlreiche dunkle Flecken, die mir zuvor entgangen waren und sich nur dadurch von der Schwärze des Altars abhoben, weil sie im Gegensatz zu diesem glänzten und das Licht zurückwarfen. Dabei musste es sich um die Blutspuren handeln, von denen der Kriminalbeamte gesprochen hatte und die von meinem Bruder Andras stammen sollten.
Andras.
Der Klang, den allein der Gedanke an diesen Namen in mir erzeugte, hallte erneut wie ein dumpfer Glockenschlag in meinem Verstand nach und überzeugte mich davon, dass mir dieser Name nicht gänzlich unbekannt war. Das war aber auch nicht verwunderlich, schließlich war es der Name meines leiblichen Bruders. Ansonsten löste er jedoch nichts aus, vor allem keine Erinnerungen an mein vergangenes Leben. Ich betrachtete ein letztes Mal die vielen Blutflecken und dachte, dass es sich in der Tat um eine große Menge Blut handeln musste, die auf diesem Altar vergossen worden war. War Andras überhaupt noch am Leben? Aber warum war dann seine Leiche nicht ebenfalls am Tatort gefunden worden, so wie die Körper meiner Eltern? Bedeutete nicht schon dieser Umstand, das Fehlen seines Leichnams, dass er noch am Leben war, wenn auch unter Umständen schwer verletzt? In einer Geste der Rat- und Hilflosigkeit zuckte ich mit den Schultern. Immer wieder tauchten neue verwirrende Fragen auf, bevor ich auch nur die geringste Chance hatte, Antworten auf ein paar alte Fragen zu bekommen. Da ich das erdrückende Gefühl hatte, all die neuen unbeantwortbaren Fragen würden meinen Verstand verstopfen und mich am Nachdenken hindern, steckte ich sie kurzerhand in die überquellende Schublade zu den anderen Problemen und konzentrierte mich stattdessen wieder auf die Fotografie in meiner Hand.
Da ich keine neuen Details darauf erkennen konnte, legte ich die Aufnahme auf die erste und griff nach der nächsten. Ich spürte, dass Dr. Jantzen mich während alldem aufmerksam musterte, sah jedoch nicht auf, sondern hielt den Blick krampfhaft auf das zehn mal fünfzehn Zentimeter große Bild in meinen Händen gerichtet.
Ich schluckte schwer, als ich das Motiv erkannte. Es handelte sich um die Aufnahme eines auf dem Boden liegenden Menschen, dessen Umrisse auf dem Beton mit weißer Farbe nachgezeichnet waren. Der Fotograf musste sich weit über den Körper gebeugt haben, um diese Aufnahme zustande zu bringen, denn die Kamera schien direkt über der ausgestreckten Gestalt zu schweben.
Mit war natürlich sofort klar, dass ich die Fotografie einer der beiden Leichen vor mir hatte, die bei der Totalansicht des Kellerraums gnädigerweise gefehlt hatten. Aber nun kam ich nicht mehr darum herum, mich mit ihrem Anblick zu konfrontieren. Natürlich hätte ich das Foto auch einfach zu den anderen legen können, ohne es mir genauer anzusehen. Aber mir war sofort bewusst, dass ich das nicht tun konnte. Denn im Nachhinein hätte ich mich nur immer und immer wieder gefragt, ob es meinem Gedächtnis vielleicht auf die Sprünge geholfen hätte, wenn ich mir die Bilder der Leichname nur länger und vor allem genauer angesehen hätte.
Ich schloss die Augen, zählte in Gedanken bis zehn und versuchte in dieser Zeit, meine Gefühle zu analysieren, ohne dabei vom Anblick der Leiche irritiert zu werden. Ich stellte fest, dass das Wissen, dass die dargestellte Person auf dem Foto nicht nur tot, sondern sogar ermordet worden war, mir erhebliches Unbehagen bereitete. Aber das war im Grunde auch schon alles, was ich empfand.
Ich öffnete die Augen wieder und betrachtete nun genauer, was auf dem Lichtbild zu sehen war. Im ersten Augenblick wirkte es beinahe so, als wäre mit der abgebildeten Frau alles in Ordnung. Es hatte ganz den Anschein, als hätte sie sich freiwillig für den Fotografen auf den Boden gelegt, um dort kurz den Atem anzuhalten und für eine gelungene Aufnahme, beispielsweise für ein Modemagazin, zu posieren – auch wenn es sich in diesem Fall um spezielle Abendgarderobe für den modebewussten Satanisten handelte. Aber nach und nach, als fielen Stück für Stück die Teile eines Puzzles an ihren angestammten Platz, fügten sich die übrigen erschreckenden Einzelheiten ins Bild und veranschaulichten die ganze grausame Wahrheit hinter der Aufnahme.
Da war zum Beispiel die höchst unnatürliche Haltung, in der die Gliedmaßen vom Körper abgewinkelt waren. Außerdem die Risse in der schwarzen, samten glänzenden Kutte, durch die teilweise bleiche Haut und dunkles Blut sichtbar waren. Ferner die gespenstisch anmutende Fahlheit der Gesichtshaut und die Leblosigkeit und Starre in den weit aufgerissenen Augen. Und schließlich die klaffende Wunde, die sich wie eine Kette aus dunkelrot glitzernden Perlen um ihren Hals gelegt hatte, und die Lache getrockneten Blutes, die sich wie ein dunkler See unter der Frau auf dem Steinboden ausgebreitet hatte.
All diese Mosaiksteinchen sprachen für sich und in ihrer erschreckenden Gesamtheit eine mehr als deutliche Sprache. Die Frau auf dem Bild war mausetot, und nichts und niemand auf dieser Welt würde daran etwas ändern können.
Nachdem ich all diese Anzeichen eines gewaltsamen, furchtbaren Todes registriert hatte, blendete ich sie nach und nach wieder aus, denn sie waren für mich, sobald ich sie wahrgenommen hatte, nicht mehr wichtig. Viel bedeutsamer waren für mich das Gesicht und die Identität der Toten, bei der es sich schließlich um meine Mutter handelte, an die ich keinerlei bewusste Erinnerung als lebende und atmende Person besaß.
Beinahe zärtlich ließ ich meine Augen über ihr langes, wie bei einem Fächer auf dem Beton ausgebreitetes Haar gleiten, dessen weizenblonde Färbung zu unnatürlich wirkte, um echt zu sein, und das an der Kopfhaut bereits dunkelbraun nachwuchs. Aufmerksam ließ ich meinen Blick über jeden einzelnen Quadratzentimeter ihres gleichmäßig geformten, schmalen Gesichts wandern, über die hochstehenden Wangenknochen und das spitze, zierlich wirkende Kinn, als wollte ich mir alles ganz genau einprägen. Gleichzeitig stellte ich mir Lebendigkeit und Wärme in ihren braunen Augen vor, was mir jedoch nicht gelang. Ich versuchte, die im Tode erstarrten Züge der Frau vor meinem inneren Auge mit Leben zu erfüllen, und bemühte mich, die sprachlosen Lippen zu einem Lächeln zu zwingen. Durch all dies wollte ich etwas Vertrautes in ihrem Gesicht entdecken und gleichzeitig auch etwas in mir selbst finden, und sei es auch noch so tief in meinem Innersten vergraben, das mir bewies, dass ich diese Frau gekannt hatte und mich an sie erinnerte. Schließlich war sie diejenige, die mich jahrelang zu Bett gebracht, mir unter Umständen Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen, mich in meinem Kummer getröstet und vor Freude mit mir gelacht hatte. Doch all meine Bemühungen halfen mir nicht im Geringsten, eine zarte Erinnerung an oder auch nur den Anflug eines Gefühls für diese Person hervorzurufen. Alles, was ich empfinden konnte, war lediglich Bedauern über die Tatsache und die schreckliche Art ihres Todes, so wie für jeden anderen auch. Ansonsten blieb die Tote auf der Fotografie nicht nur tot, sondern eine absolut Fremde für mich.
Ich seufzte und öffnete die Finger, sodass das Foto mir aus den Händen glitt und auf die Tischplatte fiel, wo es bei den übrigen landete.
»Es hat keinen Sinn«, sagte ich laut und an niemanden im Speziellen gerichtet. »Die Fotos bringen auch nichts. Wenn ich nicht einmal etwas Vertrautes im Gesicht meiner eigenen Mutter erkenne, was soll mir dann überhaupt noch helfen?«
Ich zog eine düstere Miene und sah auf, um die Reaktionen der beiden am Tisch sitzenden Männer auf meine resignierenden Worte zu beobachten. Dr. Jantzen nickte zustimmend, als hätte er die ganze Zeit gewusst, dass es so kommen würde. Doch Hauptkommissar Gehrmann war anscheinend noch nicht bereit, so schnell aufzugeben. Er wirkte in diesem Moment auf mich wie ein Bluthund, der die Fährte schon aufgenommen hatte und nun nicht mehr lockerlassen würde, bis er sein Jagdziel erreicht und die Beute erlegt hatte.
»Warum sehen Sie sich nicht erst noch die übrigen Fotos an, bevor Sie die Flinte ins Korn werfen?«, versuchte er an mein Gewissen oder mein Pflichtbewusstsein – vielleicht auch an beides – zu appellieren. »Sie haben doch erst drei Fotos gesehen. Ich habe insgesamt ungefähr zwei Dutzend Aufnahmen mitgebracht.«
»Haben Sie auch ein Foto meines Bruders?« Da die Nennung seines Namens immerhin ein fernes Echo in mir ausgelöst hatte, hoffte ich, dass ein Bild von ihm einen ähnlichen, wenn nicht sogar erheblich stärkeren Effekt haben könnte.
»Wir haben seinen Ausweis sichergestellt«, sagte Gehrmann. »Darin befindet sich natürlich auch ein Passbild Ihres Bruders. Diese Aufnahme habe ich allerdings nicht bei mir, denn die Pässe befinden sich in der Asservatenkammer. Warum sehen Sie sich also fürs Erste nicht alle Bilder durch, die ich mitgebracht habe?«
Ich seufzte erneut, dieses Mal über die Hartnäckigkeit des Beamten, und sagte dann: »Weil ich mir mittlerweile sicher bin, dass wir auf diesem Weg keinen Schritt weiterkommen. Wenn irgendwo da drin …« Dabei klopfte ich mit den Fingerknöcheln meiner rechten Hand gegen meine Schläfe, als würde ich bei einer Tür Einlass begehren. »… noch immer meine verlorenen Erinnerungen stecken, dann lassen sie sich auf diese Weise ganz bestimmt nicht hervorholen. Das können Sie mir ruhig glauben, Herr Kriminalhauptkommissar!« Ich lehnte mich demonstrativ in meinem Stuhl nach hinten und verschränkte die Arme vor der Brust.
Dieser Wink mit dem Zaunpfahl, dass ich zu keinen weiteren Diskussionen über dieses Thema bereit war, schien bei Gehrmann sogar angekommen zu sein. Er nickte, strich sich mit der Hand über das Gesicht, als wäre er erschöpft, und schürzte dann die Lippen, während er kurz überlegte. »Und was schlagen Sie stattdessen vor?«
In diesem Augenblick kam es mir so vor, als wäre die ganze Besprechung nur auf diesen Punkt hinausgelaufen. Als hätte alles, was zuvor in diesem Raum getan und gesagt worden war, nur dem Zweck gedient, diesen kritischen Moment vorzubereiten. Mir kam sogar ganz kurz der Gedanke, der Kriminalbeamte hätte die ganze Zeit nur auf diesen Abschluss des Gesprächs gehofft und darauf hingearbeitet und würde sich nun heimlich ins Fäustchen lachen, weil sein genialer Plan ganz hervorragend aufgegangen war. Und ich lieferte ihm auch noch die Vorlage dazu. Doch mir wurde gleichzeitig bewusst, wie irrational und unwahrscheinlich diese Vermutung war.
Ich wischte daher diese irrwitzigen Überlegungen beiseite und gab die einzige Antwort, die mir in diesem Augenblick möglich und folgerichtig erschien: »Bringen Sie mich in mein Elternhaus betreten und lassen Sie mich alles mit eigenen Augen sehen!«
Kapitel 11
Wie ich es nicht anders erwartet hatte, protestierte Dr. Jantzen sofort heftig gegen mein Ansinnen, während Hauptkommissar Gehrmanns ansonsten stoische Miene zum allerersten Mal überhaupt leichte Risse bekam und er – zumindest kam es mir so vor – nur mit Mühe einen siegessicheren oder zumindest selbstzufriedenen Gesichtsausdruck unterdrücken konnte.
Erneut kam mir der Gedanke, dass er die Befragung geschickt bis zu diesem Punkt gelenkt haben und alles, was zuvor geschehen war, nur ein Vorgeplänkel gewesen sein könnte, um mich dazu zu bewegen, mir die Villa meiner Eltern persönlich anzusehen. Aber vielleicht überschätzte ich in diesem Punkt sowohl die Motive als auch die Fähigkeiten des Kriminalbeamten.
Aber trotz der sehr zweifelhaften Ahnung, dass all dies von dem Polizisten inszeniert worden war, und trotz der Proteste des Arztes, die meiner Meinung nach ohnehin von Beginn an nur halbherzig vorgetragen und außerdem von Minute zu Minute schwächer wurden, beharrte ich auf meinem Wunsch. Hauptkommissar Gehrmann unterstützte mich natürlich darin und drohte Dr. Jantzen sogar damit, einen weiteren richterlichen Beschluss zu erwirken, der die Sanatoriumleitung dazu verpflichtete, mich mit ihm und einem seiner Mitarbeiter, aber unter Ausschluss des Arztes und anderer Sanatoriummitarbeiter zum Tatort fahren zu lassen. Es musste die Befürchtung gewesen sein, mich allein und ohne fachkundige Begleitung durch einen Arzt oder Pfleger der Obhut der ermittelnden Kriminalpolizisten zu überlassen, die Dr. Jantzen schließlich dazu bewog, seine Zustimmung zu unserem Ausflug zu erteilen. Allerdings nur unter der Bedingung, dass der Direktor des Sanatoriums, der die Hauptverantwortung trug, ebenfalls damit einverstanden war.
Nachdem das geklärt war, verabschiedete sich der Kriminalbeamte und vereinbarte mit dem Arzt, uns am Nachmittag um vier Uhr vor der Villa zu treffen, vorausgesetzt, der Direktor gab seine Einwilligung. In der Zwischenzeit wollte er einige Vorbereitungen für den beabsichtigten Ortstermin treffen. Und da Dr. Jantzen mit dem Direktor sprechen musste, ging er ebenfalls und ließ mich mit Gabriel allein.
Ich beschloss, die Zeit, die mir bis zur Abfahrt blieb, sinnvoll zu nutzen, denn ich sehnte mich nach einer heißen Dusche. Ausgelöst durch Gehrmanns Worte, hatte ich noch immer das deutliche und abschreckende Bild vor Augen, wie ich nackt, und von Kopf bis Fuß mit dem Blut meines Bruders besudelt, mitten in der Nacht zwischen den Gräbern des Friedhofs herumspazierte. Ich bezweifelte zudem, dass ich seit meiner Einlieferung gründlich gewaschen worden war. Wahrscheinlich war das wegen meines Zustands und vor allem meiner Aggressivität überhaupt nicht möglich gewesen. Aus diesem Grund fühlte ich mich plötzlich total schmutzig und wie besudelt. Als ich mit den Fingern wie mit einem groben Kamm durch mein kurzes Haar strich, konnte ich spüren, dass es teilweise verklebt war und sich fettig anfühlte. Was auch kein Wunder war, wenn meine Haare tatsächlich seit fünf bis sechs Tagen nicht mehr gründlich gewaschen worden war. Als ich mir anschließend meine Hände ansah, konnte ich zahlreiche kleine, dunkle Partikel erkennen, die wie blutige Schuppen an meinen Fingern hafteten. Dabei konnte es sich durchaus um Flocken getrockneten Blutes handeln. Spätestens zu diesem Zeitpunkt stand für mich fest, dass ich mir zuallererst eine ausgedehnte und gründliche Dusche gönnen würde.
Nachdem ich Gabriel meinen Wunsch mitgeteilt hatte, nickte er nur knapp – anscheinend hielt auch er es für eine gute Idee, und möglicherweise roch ich bereits etwas unangenehm – und führte mich zum Gemeinschaftsduschraum der Abteilung, der um diese Uhrzeit leer war. Dort überreichte er mir – wahrscheinlich erneut aus dem reichhaltigen Fundus des Sanatoriums – Duschgel, Shampoo, mehrere Handtücher und frische Unterwäsche. Es sah ganz danach aus, als hätte man schon damit gerechnet, dass ich heute duschte, und die Sachen bereitgelegt. Dann ließ mich der Pfleger allein und bezog zweifellos vor der Tür Aufstellung, während ich mich rasch auszog und unter einen der Duschköpfe stellte.
Ich genoss das herrliche Gefühl des heißen Wassers auf meiner Haut und ließ es zunächst nur minutenlang über meinen Körper fließen. Anschließend wusch ich mich mehrmals äußerst gründlich von Kopf bis Fuß. Allein mein Haar schäumte ich dreimal ein und spülte es danach wieder aus, bis ich endlich das Gefühl hatte, wieder richtig sauber zu sein und zumindest alle körperlichen Spuren der nächtlichen Ereignisse, die zu meiner Einlieferung geführt hatte, beseitigt zu haben.
Hinterher fühlte ich mich – eigentlich erstmals seit meinem Erwachen – relativ wohl in meiner Haut, obwohl ich am Rand meines Bewusstseins bereits spüren konnte, dass erneut dunkle Wolken aufzogen. Schließlich war meinen wirklichen Problemen – und davon hatte ich im Moment mehr als genug – durch eine simple Dusche nicht beizukommen. Sie schienen nur darauf zu lauern, erneut über mich herfallen und mir das Leben schwer machen zu können. Doch für diesen kostbaren Augenblick des Wohlbefindens schob ich all diesen Ballast an den Rand meines Verstandes und genoss den kleinen Luxus wie jede andere normale Frau.
Erst als ich vor dem Spiegel stand und die beschlagene Fläche frei gerieben hatte, um darin mein Abbild sehen zu können, nahm ich zum ersten Mal an diesem Tag mein Äußeres wahr und blickte mir selbst erst einmal für mehrere Minuten absolut sprach- und regungslos entgegen.
Was mir bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht bewusst gewesen war – aus dem einfachen Grund, weil es bisher keinen stichhaltigen Grund dafür gegeben hatte –, wurde mir nun mit aller Deutlichkeit klar und traf mich beinahe wie der Hieb mit einem Vorschlaghammer. Neben allen persönlichen Erinnerungen, denen ich bereits ausgiebig nachgetrauert hatte, ohne sie im Einzelnen zu kennen, und allen biografischen Details zu meiner Person war natürlich auch die Erinnerung an mein eigenes Aussehen aus meinem Gedächtnis getilgt gewesen. Ich hatte also sogar vergessen, wie ich aussah, und nun das Gefühl, zum ersten Mal diesem Menschen gegenüberzustehen, der mir mit großen, staunenden Augen aus dem Spiegel entgegenblickte.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, das ich gar nicht richtig einordnen konnte. Manche Leute machen Witze darüber, dass sie nach einer feuchtfröhlichen Nacht am nächsten Morgen ein Fremder aus dem Spiegel anzusehen scheint, doch mir war in diesem Moment nicht nach Scherzen zumute. Versonnen und teilweise auch kritisch musterte ich mein neu entdecktes Äußeres. Zuerst den Kopf und dann, indem ich das große flauschige Handtuch, das ich nach dem Duschen um meinen nassen, tropfenden Körper gewickelt hatte, wieder öffnete, auch den Rest von mir.
Im Großen und Ganzen war ich mit meinem Aussehen zufrieden. Meine Haare hatten, im Gegensatz zum gefärbten Haar meiner verstorbenen Mutter, von Natur aus eine weizenblonde Farbe und waren relativ kurz geschnitten. Die leuchtend hellgrünen Augen meines Ebenbilds blickten mir freundlich, aber auch eine Spur misstrauisch und zweifelnd entgegen, so als würden sie der Person, die sie sahen, noch nicht so recht über den Weg trauen. Mein Körper war schlank, zwischen eins siebenundsiebzig und eins achtzig groß und machte insgesamt einen sportlichen und trainierten Eindruck. Sogar meine Brüste gefielen mir auf Anhieb, denn sie hatten genau die Größe, die ich mir auch gewünscht hätte, wenn das Leben ein Wunschkonzert wäre. Und mein Hintern war zum Glück nur eine Spur zu breit.
Alles in allem konnte ich mit meiner äußeren Erscheinung also durchaus zufrieden sein, auch wenn ich mich im Augenblick – mit mir selbst vor Augen – noch etwas fremd im eigenen Körper fühlte. Doch ich gewöhnte mich erstaunlich schnell an meinen eigenen Anblick und begann, nachdem sich die größte Verwunderung gelegt hatte, mich abzutrocknen. Mithilfe eines bereitliegenden Föhns trocknete ich mein Haar und bürstete es dabei, was aufgrund seiner geringen Länge nicht viel Zeit in Anspruch nahm. Danach zog ich mir frische Unterwäsche, dazu die Jeans von vorhin, ein neues, diesmal hellblaues T-Shirt und noch original verpackte Socken an, die ebenfalls in dem Stapel enthalten gewesen waren, den Gabriel mir gegeben hatte.
»Haben Sie Hunger«, fragte mich der Pfleger, nachdem ich den Sanitärbereich verlassen und ihm das Bündel, bestehend aus feuchten Handtüchern und meiner getragenen Wäsche, überreicht hatte. Er warf die Sachen in einen fahrbaren Wäschesack, der neben der Tür zu den Duschen im Flur stand, und musterte mich dann von oben bis unten. Anscheinend war er zufrieden mit dem, was er zu sehen bekam, denn er nickte anerkennend und sagte: »Sie sehen schon viel besser aus.«
Ich nahm das Kompliment schweigend, aber dennoch dankbar zur Kenntnis. Mir wurde bewusst, dass ich tatsächlich Hunger hatte. Wie auf ein geheimes Kommando meldete sich mein Magen zu Wort und knurrte laut. Nachdem ich mir bislang – und das aus gutem Grund – eher um meinen geistigen Zustand Sorgen gemacht und mich um die Lücken in meinem Gedächtnis gekümmert hatte, war es nun an der Zeit, auch all meine körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen.
»Ich könnte tatsächlich etwas zu essen vertragen. Haben wir denn noch Zeit dafür?«
»Machen Sie sich darüber mal keine Sorgen. Fürs Essen haben wir allemal genügend Zeit. Im Grunde ist es bei Ihnen wie mit einem Piloten. Ohne den startet das Flugzeug schließlich auch nicht. Und da Sie die Hauptperson unseres bevorstehenden Ausflugs sind, werden die anderen auch schwerlich ohne Sie beginnen können.«
Ich lachte herzhaft. Wann, wenn überhaupt, hatte ich das zum letzten Mal getan? »Da haben Sie natürlich recht.« Am liebsten hätte ich Gabriel in diesem Moment, in dem wir zusammen Spaß hatten, gefragt, was er persönlich von meinem Wunsch hielt, mein Elternhaus aufzusuchen, doch ich verkniff mir die Frage dann doch. Erstens befürchtete ich, dass er mir gar nicht antworten, sondern ausweichend reagieren würde. Und zweitens hatte ich das Gefühl, dass ich damit trotz der scheinbaren augenblicklichen Vertrautheit zwischen uns eine unsichtbare Grenzlinie überschreiten und verletzen und unser Verhältnis für die Zukunft über Gebühr strapazieren würde.
Also fragte ich nicht, und Gabriel führte mich in den Speiseraum, in dem um diese Zeit ebenfalls nicht mehr viel los war, denn die meisten hatten bereits vor Stunden zu Mittag gegessen. Aber anscheinend hatte der vorausschauende Pfleger in der Zeit, die ich unter der Dusche verbracht hatte, eine Mahlzeit für mich organisiert, die bereits auf mich wartete. Als ich am Tisch, auf dem das Tablett mit meinem Essen stand, Platz genommen hatte und mir der Duft der verschiedenen Speisen in die Nase stieg, merkte ich erst, wie ausgehungert ich war. Ich langte daher kräftig zu und hörte erst auf zu essen, als ich pappsatt war.