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VII. Der Überfall auf die Station

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Kapitel 1

Der gellende Schrei hallte durch die dunklen Gänge, bevor er abrupt zum Verstummen gebracht wurde.

Noch immer von dem unwirklichen Gefühl erfüllt, in einen bodenlosen, finsteren Abgrund zu stürzen, erwachte ich aus dem Schlaf und riss die Augen auf. Erneut fand ich mich aufrecht in meinem Bett sitzend wieder, doch im fahlen Licht des sichelförmigen, zunehmenden Mondes, das durch das vergitterte Fenster in den Raum fiel, erkannte ich erleichtert, dass ich mich nicht in der kargen Zelle des Klosters aus meinem Traum, sondern in meinem Zimmer im Sanatorium befand.

Noch immer hatte ich wie eine düstere Resonanz die letzten Traumbilder so lebhaft und deutlich vor Augen, dass ich kaum glauben konnte, dass ich all das nur geträumt und nicht leibhaftig erlebt hatte. Alles war noch unglaublich präsent und wirkte gleichzeitig so lebensecht. Doch allmählich verblassten auch diese Bilder und verschwanden in den Tiefen meines verwirrten Verstandes, um dort abgelegt und bei Bedarf erneut in mein Bewusstsein zurückgeholt zu werden.

Denn was sollte es sonst gewesen sein, wenn nicht ein furchtbarer, nächtlicher Traum, enthielt er doch alle Zutaten, mit denen mein Gehirn in den letzten beiden Tagen gefüttert worden war: schreckliche Dämonenfratzen, der düstere Opferaltar inmitten des Drudenfußes und der Kerzen, mein Ebenbild auf dem Steinblock, das Messer in der Brust des Opfers. Und all das zweifellos als wesentliche Bestandteile eines finsteren Rituals. Das Kloster, die Nonnenkleidung meines Traum-Ichs und die ältere Nonne, die ich flüchtig im spiegelnden Glas des Fensters gesehen hatte, waren natürlich neue, mir bisher unbekannte Elemente, doch auch sie reichten meiner Meinung nach nicht aus, aus den Szenen mehr zu machen als einen bloßen Albtraum. Zum Beispiel eine versinnbildlichte Vorhersehung künftiger Ereignisse oder die Wahrnehmung tatsächlicher Geschehnisse durch die Augen einer anderen Person, um nur zwei der versponnenen Möglichkeiten zu nennen, die der weniger rationale Teil meines Verstandes mir anbot.

Ich schüttelte demonstrativ den Kopf über meine eigenen verdrehten Gedanken. Anscheinend hatten mich Direktor Engel und Karl Augstein mit ihrer Sicht der Welt bereits weitaus stärker infiziert, als ich wahrhaben wollte. Weshalb sollte ich sonst derartig unglaubwürdige Theorien überhaupt in Erwägung ziehen, wenn ich nicht durch all die Dinge, die ich in letzter Zeit erlebt und erfahren hatte, allmählich den Boden der Realität unter meinen Füßen verlor.

Immerhin hatte ich es geschafft, die Szenen meines Traumes erfolgreich aus meinem Verstand zu verbannen. Im Gegensatz zur letzten Nacht war ich dieses Mal auch nicht schweißgebadet erwacht. Ich hätte mich also einfach wieder hinlegen und – hoffentlich traumlos – weiterschlafen können.

Doch irgendetwas – ein winziges Detail, ein Gedanke vielleicht, eine Beobachtung, ein Geräusch oder was auch immer –, klopfte noch immer beharrlich an die Tür meines Verstandes und begehrte Einlass. Doch selbst dann, als ich mich darauf zu konzentrieren begann, konnte ich nicht deutlicher erkennen, was mich noch immer in leichte Unruhe versetzte.

War es tatsächlich nur das Ende meines Albtraumes gewesen, das zu meinem Erwachen geführt hatte, fragte ich mich plötzlich, oder war da nicht noch etwas anderes gewesen, das mich letztendlich geweckt hatte?

Wie als Reaktion auf meine eigenen Überlegungen hörte ich plötzlich einen gedämpften Schrei, der allerdings unverzüglich wieder erstickt wurde.

Da erinnerte ich mich endlich, dass ich beim Übergang vom Schlaf zum Wachzustand ebenfalls einen Schrei gehört hatte. Allerdings war ich in den ersten verwirrenden Augenblicken, nachdem ich vollends erwacht war, aber noch mit den Nachbildern meines Traumes zu kämpfen hatte, davon ausgegangen, dass ich selbst geschrien hatte, weil ich geglaubt hatte, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen. Doch nun war ich mir darüber gar nicht mehr so sicher.

Ich lauschte konzentriert, hörte jedoch vorerst nichts mehr.

Im Grunde war es ja auch nichts Ungewöhnliches, an diesem Ort nachts gelegentlich Laute wie Schreien, Stöhnen oder Jammern zu hören. Selbst wenn man für einen Moment außer Acht ließ, welche Art von Menschen hier untergebracht war – ich betrachtete mich selbst dabei natürlich als Ausnahme von der Regel –, brachte es jede derartige Ansammlung von Leuten auf so engen Raum von Haus aus mit sich, dass es selbst in der Nacht nie völlig still war. Und wenn man dann noch berücksichtigte, unter welchen psychischen Erkrankungen die Insassen dieser Abteilung teilweise zu leiden hatten, konnte man sich lebhaft vorstellen, dass der eine oder andere oft auch nachts von seinen eigenen inneren Dämonen geplagt wurde – die aber nichts mit den Dämonen der Herren Engel und Augstein gemein hatten – und solcherart gepeinigt laut schrie oder jammerte.

Obwohl ich noch nicht lange hier war, hatte ich mich überraschend schnell an diese nächtlichen Geräusche gewöhnt. Sie störten mich also kaum noch, wenn ich einschlafen wollte oder während ich schlief. Vielleicht war ich bislang aber auch nur jedes Mal zu erschöpft gewesen, als ich zu Bett gegangen war, sodass ich sogar eingeschlafen wäre, wenn direkt neben meinem Bett eine Blaskapelle den bayerischen Defiliermarsch gespielt hätte.

Doch gerade weil ich mich an die Schreie, die gelegentlich durch die Abteilung gellten, mittlerweile gewöhnt hatte und sie kaum noch bewusst zur Kenntnis nahm, beunruhigte mich dieser Schrei, den ich soeben gehört hatte, denn er unterschied sich in meiner Wahrnehmung deutlich von den gewöhnlichen Schreien.

Auch wenn ich während meines kurzen Aufenthalts an diesem Ort bereits deutlich mehr Leute hatte schreien hören als in einem drittklassigen Horrorfilm, hätte ich die verschiedenen Schreie dennoch nicht den jeweiligen Insassen zuordnen können. Ich wusste lediglich, dass die alte Dame im Zimmer neben mir im Schlaf ab und zu rief: »Mein Geld kriegst du nie!«, und fragte mich, ob sie damit wohl den jungen Mann meinte, der sie heute Abend besucht hatte. Aber abgesehen davon wusste ich in der Regel nicht, wer nun den gellenden Schrei, das laute Schluchzen oder das weinerliche Gejammer ausgestoßen hatte, wenn ich es hörte.

Obwohl ich also grundsätzlich weder die Urheber identifizieren noch die Laute individuellen Personen zuordnen konnte, beunruhigten mich diese jedoch meist nicht, da sie für mich unterbewusst vermutlich dennoch vertraut klangen. Doch bei dem Schrei, den ich soeben gehört hatte, war das absolute Gegenteil der Fall. Er klang nach meinem Empfinden nicht wie einer der üblichen Laute. Denn die Schreie, die sonst auf dieser Station in der Nacht zu hören waren, wurden weder gedämpft noch abgewürgt, sondern erfolgten in voller Lautstärke und Länge, weil diejenigen, die sie ausstießen, sich selbst aufgrund ihrer Erkrankungen keinerlei Beschränkungen auferlegten und ihren Gefühlen quasi freien Lauf ließen.

Eine innere Stimme sagte mir daher sehr deutlich und bestimmt, dass mit diesem Schrei etwas nicht stimmen konnte, und brachte mich so zu dem spontanen Entschluss, aufzustehen und der Sache auf den Grund zu gehen. Selbst wenn ich gewollt hätte, dann hätte ich mich spätestens ab diesem Moment nicht mehr einfach zurücklegen und weiterschlafen können. Zu unruhig und aufgewühlt war ich mittlerweile, sodass an Schlaf vorerst ohnehin nicht zu denken war. Ich konnte die Sache jetzt nicht einfach auf sich beruhen lassen und so tun, als wäre nichts gewesen, denn in den letzten beiden Tagen war bereits zu viel Ungewöhnliches in meiner unmittelbaren Umgebung geschehen. Manches, was zunächst wie ein zufälliges Ereignis erschienen war, hatte sich im Nachhinein als Mosaikstein einer erheblich größeren und bedeutenderen Wahrheit herausgestellt, von der ich bislang noch immer zu wenig Teile vorliegen hatte – die zudem nicht einmal richtig zusammenzupassen schienen –, als dass ich das ganze Bild zu diesem Zeitpunkt auch nur ansatzweise erkennen konnte.

Ich machte Licht und sah auf den Wecker auf dem Nachttisch, der ebenfalls zum sanatoriumeigenen Inventar gehörte. Es war ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht. Ich hatte also, grob gerechnet, gerade mal eine Stunde geschlafen, nachdem Direktor Engel mich nach der Besprechung in der geheimen Bibliothek auf mein Zimmer zurückgebracht hatte und ich zu Bett gegangen war. Ich fühlte mich zwar immer noch müde, aber wenigstens nicht mehr so erschöpft wie zuvor. Die Stunde Schlaf hatte mir trotz des Albtraums gutgetan. Auch meine diversen Wehwehchen, die mir vor dem Zu-Bett-Gehen noch zu schaffen gemacht hatten, schmerzten mittlerweile kaum noch. Die blauen Flecken und Schürfwunden an meinen Beinen sahen schon erheblich besser aus, stellte ich nach einer kurzen Sichtprüfung fest, und die Einschnürungen an meinen Handgelenken waren nahezu spurlos verschwunden. Anscheinend verfügte ich über gutes Heilfleisch. Zumindest ein tröstlicher Gedanke angesichts der vielfältigen, immer neuen Probleme, mit denen ich seit meinem Erwachen vorgestern beständig konfrontiert wurde.

Ich stieg aus dem Bett und streckte mich, um meine steifen Muskeln und Gelenke zu lockern. Es knackte und knirschte dabei zwar an allen möglichen Ecken und Enden, doch selbst meine durch die wilde Motorradfahrt stark beanspruchten Rückenwirbel hatten sich anscheinend ausreichend erholt und gaben Ruhe.

Ich zog das Nachthemd über den Kopf und legte es aufs Bett. Dann zog ich der Einfachheit halber die Sachen an, die ich schon bei der Besprechung getragen hatte. Ich hatte zwar nicht vor, weit zu gehen – lediglich hinaus auf den Flur und zum Schwesternzimmer –, es widerstrebte mir aber, nur mit einem Nachthemd bekleidet durch die Gegend zu marschieren. Und ein Morgenmantel, den ich mir rasch hätte überziehen können, stand mir leider nicht zur Verfügung. Ich verzichtete lediglich darauf, die Schnürsenkel meiner Turnschuhe zu binden, und steckte die offenen Enden in die Schuhe, damit ich nicht versehentlich darüber stolperte.

Die Tür zu meinem Zimmer ließ sich zum Glück auch von innen öffnen. Auf dieser Station waren schließlich nur die leichteren und harmloseren Fälle untergebracht, daher war es nicht notwendig und im Notfall eher hinderlich, die Türen nachts zu verschließen. Ich trat auf den Gang, der von den in regelmäßigen Abständen an den Wänden angebrachten Nachtlichtern nur schwach erhellt wurde. Die Beleuchtung war jedoch ausreichend genug, damit man ohne Schwierigkeiten alles erkennen und seinen Weg finden konnte.

Ich schloss die Tür zu meinem Zimmer leise hinter mir und ging über den Gang gemächlich zum Schwesternzimmer. Wie mir der Direktor erst gestern erzählt hatte, hielt sich dort nachts stets eine Schwester oder ein Pfleger auf und tat Dienst, um auf Notfälle oder andere plötzlich auftretende Schwierigkeiten reagieren zu können. Außerdem musste einigen Insassen auch in der Nacht in regelmäßigen zeitlichen Abständen Medizin, vor allem Beruhigungsmittel, verabreicht werden.

Bevor ich die große Glasscheibe erreichte, durch die man vom Gang ins Schwesternzimmer hineinsehen und bei der ein Schiebefenster geöffnet werden konnte, musste ich gähnen. Ich hielt es inzwischen für eine Schnapsidee, überhaupt aufgestanden zu sein, und bereute meinen Entschluss. Aber da ich jetzt schon einmal so weit gekommen war, wollte ich mich mit eigenen Augen überzeugen, dass alles in Ordnung war. Das Gähnen trieb mir Tränen in die Augen, die meine Sicht trübten. Ich erkannte verschwommen, dass das Schiebefenster geschlossen war, und ging weiter, um die diensthabende Schwester oder den diensthabenden Pfleger sehen zu können.

Doch als ich endlich in den Raum hineinsehen konnte und sich mein verschwommener Blick geklärt hatte, blieb ich augenblicklich stehen und riss vor Überraschung die Augen auf. Denn ich sah im Schwesternzimmer nicht nur eine einzelne Person, womit ich gerechnet hatte, sondern gleich drei Leute, was um diese Uhrzeit äußerst ungewöhnlich war.

Noch befremdlicher war allerdings, dass zwei der Anwesenden nicht nur wie für ein nächtliches Kommandounternehmen gekleidet, sondern auch bewaffnet waren und dass ich diese beiden Männer kannte, auch wenn ich sie in denkbar schlechter Erinnerung hatte.

Die beiden Männer, die sich vor zwei Tagen als Kriminalbeamten und mit den vermutlich falschen Namen Gehrmann und Klapp vorgestellt hatten, trugen eng anliegende und funktionelle schwarze Kleidung und dazu klobige Fallschirmspringerstiefel der gleichen Farbe. Ihre Gesichter waren von dunklen, rußig wirkenden Streifen überzogen, die zweifellos zur Tarnung oder Unkenntlichmachung ihrer Gesichtszüge dienen sollten. Dennoch hatte ich sie augenblicklich und ohne Probleme erkannt, denn ihre Gesichter – insbesondere das von Klapp – hatten sich förmlich in mein Gedächtnis eingebrannt. Jeder von ihnen hielt eine große Automatikpistole mit aufgeschraubtem Schalldämpfer in der Hand und bedrohte damit, als wäre für diesen Zweck nicht schon eine einzige der klobigen Schusswaffen ausreichend genug gewesen, die Nachtschwester.

Ich kannte die junge, ganz in Weiß gekleidete Frau nicht, die in dieser Nacht Dienst hatte. Allerdings war ich noch nicht lange genug im Sanatorium und einen Großteil dieser Zeit ohnehin unterwegs gewesen, um schon alle Angehörigen des Personals persönlich kennengelernt zu haben. Die Frau war hübsch, hatte langes schwarzes Haar, einen dunkleren Teint und schien ursprünglich von den Philippinen oder zumindest aus dieser Ecke der Welt zu stammen. Sie kauerte eingeschüchtert auf einem Bürostuhl und stand in diesem Augenblick ersichtlich Todesängste aus. Ihr ganzer Körper zitterte unkontrolliert. Auch ihre Gesichtsmuskeln zuckten ständig, während ihr der Schweiß in glänzenden Bahnen herunterlief. Aus unnatürlich geweiteten, dunkelbraunen Augen, und scheinbar ohne dabei ein einziges Mal zu blinzeln, schielte sie in die dunkle Mündung der schallgedämpften Waffe, die ihr Gehrmann in einem Abstand von weniger als zwei Zentimetern in Höhe ihrer Nasenwurzel vors Gesicht hielt.

Ich konnte sehr gut nachempfinden, wie sie sich in diesem Moment fühlen musste, hatte ich doch erst vorgestern exakt die gleiche Situation am eigenen Leib erfahren müssen.

Die junge Krankenschwester war unzweifelhaft die Urheberin der beiden Schreie gewesen, die mich zunächst geweckt und dann so tief beunruhigt hatten, dass ich mich auf den Weg hierher gemacht hatte. Nicht ohne Grund, wie ich nun zu meinem Bedauern feststellen musste. Gehrmann und Klapp mussten jeden der beiden Schreie rasch wieder erstickt haben, um niemanden auf der Station zu wecken. Allerdings hatte das in meinem Fall nicht funktioniert, weil ich möglicherweise wegen meines Albtraums ohnehin nicht sehr tief geschlafen hatte. Und ausgerechnet das Abwürgen des zweiten Aufschreis hatte mich am meisten beunruhigt.

Der Umstand, dass die junge Frau noch ein zweites Mal geschrien hatte, bewies mir zumindest, dass sie sich nicht so einfach geschlagen gegeben und mutig versucht hatte, andere auf die Bedrohung aufmerksam zu machen oder zu warnen. Allerdings gab es auf einer Station für psychisch Erkrankte mitten in der Nacht vermutlich nicht allzu viele Menschen, die ihr in einer derartigen Situation eine große Hilfe gewesen wären. Auch ich fühlte mich hilflos und außerstande, ihr zu helfen, schließlich hatten wir es mit zwei bewaffneten und sicherlich zu allem entschlossenen Männern zu tun. Was konnte ich, allein und unbewaffnet, schon dagegen ausrichten, außer auf der Stelle davonzurennen und zu versuchen, so schnell wie möglich jemanden zu benachrichtigen.

Die Zeit war seit dem Moment, als ich die gefährliche Lage im Schwesternzimmer erkannt hatte, in meiner subjektiven Wahrnehmung so zähflüssig und langsam verstrichen, als wäre sie in Bernstein gegossen worden. Nur dieser Umstand hatte es mir überhaupt erlaubt, all den in Sekundenbruchteilen in meinem Verstand aufblitzenden Gedankengängen nachzugehen. Nun hatte ich das irrationale Gefühl, aus einer anderen Zeitebene in den normalen Zeitablauf zurückzukehren, als ich plötzlich wieder die leisen Geräusche meiner nächtlichen Umgebung bewusst wahrnahm und in diesem Moment Gehrmanns gedämpfte Stimme hörte – wenn er denn tatsächlich so hieß.

»Ich frag dich jetzt zum letzten Mal: Wie lautet ihre Zimmernummer?«

Die kalte Stimme des Mannes weckte in mir unangenehme Erinnerungen an seinen hasserfüllten Blick, den ich nun, im Nachhinein, natürlich leichter zu deuten wusste.

Die Schwester bewies erneut mehr Mut, als ich ihrer zierlichen, zerbrechlich wirkenden Erscheinung zugetraut hätte, denn sie schüttelte trotz ihrer immensen Angst so heftig den Kopf, dass ihre langen schwarzen Haare herumgewirbelt wurden. Dabei ließ sie jedoch die Pistolenmündung vor ihrem Gesicht keine einzige Sekunde aus den Augen, als hätte sie Angst, den Moment zu verpassen, in dem das Projektil den Lauf verließ – als würde sie die Kugel tatsächlich sehen können, bevor diese ihren Schädel und ihr Gehirn durchschlug und ihre tödliche Wirkung entfaltete.

Die nur mühsam unterdrückte Wut war aus Gehrmanns nächsten Worten deutlich herauszuhören, auch wenn er sich noch immer beherrschen konnte und betont leise und deutlich sprach. Nur die Waffe in seiner Hand zitterte leicht und zeigte seine innere Erregtheit. »Ich verliere langsam die Geduld mit dir. Sag mir endlich, wo ich Sandra Dorn finde. Ich zähle bis drei, dann schieße ich ein Loch in deinen Kopf, so wahr mir Gott helfe. Ich tu es nicht gern, aber Ungehorsam gehört bestraft. Zwing mich also lieber nicht dazu. Aber ich werde es dennoch tun. Zur Not finden wir sie nämlich auch ohne deine Hilfe. … Eins!«

Hätte ich je auch nur den geringsten Zweifel daran gehabt, wen die beiden Männer an diesem Ort außerhalb der gewöhnlichen Besuchszeiten und ohne einen schönen Blumenstrauß, sondern stattdessen mit tödlichen Waffen in den Händen besuchen wollten, dann hätten Gehrmanns Worte dem spätestens in diesem Moment ein jähes Ende bereitet.

»Zwei!«

Die Krankenschwester schluchzte leise. Ihre Lippen bewegten sich, als würde sie stumm ein Gebet sprechen.

Auch ich konnte nur mühsam einen verräterischen Laut unterdrücken. Ich hob die Hand und presste sie gegen meinen Mund, um nicht laut schreien zu müssen, während ich fieberhaft überlegte, was ich tun konnte, um der tapferen jungen Frau zu helfen und das scheinbar Unabwendbare doch noch zu verhindern. Doch mein Gehirn, das ansonsten von allerlei nutzlosen Gedanken überquoll, war plötzlich wie leergefegt.

Die Schwester musste die Bewegung meines hochgerissenen Armes aus dem Augenwinkel wahrgenommen haben, denn noch bevor Gehrmann in der Lage war, die letzte Ziffer auszusprechen und seine Drohung in die Tat umzusetzen, wandte sie den Blick von der todbringenden Mündung der Pistole ab und sah zu mir.

Durch die dünne Glasscheibe, die uns trennte, blickten wir uns in die Augen. Es war ein merkwürdig intensiver und gleichzeitig intimer Augenblick, als jede von uns in den Augen der jeweils anderen zu versinken schien, während uns zugleich entsetzlich bewusst war, dass es der definitiv letzte Augenblick im Leben der jungen Krankenschwester sein konnte, bevor die von Gehrmann abgefeuerte Kugel ihr Ziel fand.

Doch es war nur ein kurzer Moment, denn Gehrmann musste die veränderte Blickrichtung der Augen bemerkt und daraus geschlussfolgert haben, dass die Aufmerksamkeit der jungen Frau durch etwas hinter seinem Rücken von der todbringenden Waffe in seiner Hand abgelenkt worden sein musste. Vielleicht hatte ihm aber auch ein zusätzlicher Sinn, der den Menschen nur selten und auch nur dann, wenn man ihn am dringendsten brauchte, zugänglich ist, eingeflüstert, dass jemand hinter ihm im Gang vor dem Schwesterzimmer stand und Zeuge seines schändlichen Treibens wurde.

Der Mann, der sich als Kriminalhauptkommissar Klaus Gehrmann ausgegeben hatte, wandte in einer blitzschnellen Bewegung den Kopf in meine Richtung und sah mich an. Ich musste meinen Blick erst mühsam von dem der Nachtschwester lösen, bevor ich ihn auf den wesentlich älteren Mann richten konnte. Wahrscheinlich konnte ich ihn wesentlich besser sehen als er mich, denn er stand im hellen Licht des Schwesternzimmers, während der Gang durch die Notbeleuchtung und das durch die Trennscheibe fallende Licht nur mäßig erhellt wurde. Dennoch erkannte er mich augenscheinlich sofort wieder. Seine Augen weiteten sich vor Verblüffung, sogar noch mehr, als das bei der Schwester der Fall gewesen war, obwohl diese immerhin Todesängste ausgestanden hatte.

Lauf!, brüllte die Stimme meines Selbsterhaltungstriebes in meinem Kopf in einer ungeahnten Lautstärke, die den Befehl durch sämtliche Korridore meines Verstandes hallen ließ. Noch bevor meine Reflexe einsetzen und die entsprechenden Befehle meines trägen Gehirns durch mein verzweigtes Nervensystem zu den jeweiligen Muskeln in den für eine erfolgreiche Flucht erforderlichen Körperteilen gelangen konnten, war ich gezwungen mitanzusehen, wie Gehrmanns Hand, in der er die Waffe hielt, vom Gesicht der Krankenschwester weg- und zu mir herumschwenkte. Doch ich hatte nicht vor, abzuwarten und tatenlos zu beobachten, wie die tödliche Waffe die bogenförmige Bewegung vollendete, bis die Mündung schließlich direkt auf mich gerichtet war.

Schon allein die Panik, die mich bei dem Gedanken erfasste, erneut in den Lauf einer Schusswaffe zu blicken, sorgte dafür, dass mein Körper zusätzliche Mengen des Stresshormons Adrenalin ausschüttete. Es sorgte unter anderem dafür, dass blitzschnell zusätzliche Energiereserven mobilisiert wurden und sich die Herzleistung verbesserte. Dies ermöglichte es mir, mich gerade noch rechtzeitig zur Seite wegzuducken, bevor der Pistolenlauf seine Drehung beenden und die Waffe ihr tödliches Projektil in meine Richtung spucken konnte.

Die Kugel traf zuerst die Trennscheibe, die sich daraufhin in einem klirrenden Regen aus glänzenden Scherben in den Gang ergoss. Dann sirrte sie, vom Zusammenprall mit dem Glas nur geringfügig abgelenkt, haarscharf an meiner Schulter vorbei, durchbohrte die Luft an der Stelle, an der sich Sekundenbruchteile zuvor mein Oberkörper befunden hatte, und schlug am Ende ihrer Flugbahn hinter mir in die Wand, wo sie zweifellos einen ansehnlichen Krater hinterließ. Allerdings hatte ich weder Zeit noch große Lust, mich davon zu überzeugen, denn ich rannte bereits geduckt los, bevor Gehrmann Gelegenheit fand, erneut auf mich anzulegen und dieses Mal unter Umständen besser zu zielen.

Aufgrund des Umstands, dass ich auf dem Herweg sofort stehen geblieben war, sobald es mir möglich gewesen war, in das Schwesternzimmer hineinzusehen und die drei Personen zu erkennen, erforderte es nun nur wenige Schritte, den unmittelbaren Gefahrenbereich wieder zu verlassen.

Das charakteristische Geräusch, das ich mittlerweile zu fürchten gelernt hatte und sich in meinen Ohren wie das keuchende Husten eines Lungenkranken anhörte, ertönte erneut, als Gehrmann ein weiteres Mal schoss. Doch auch diese Kugel jagte hinter mir harmlos durch den Flur und teilte das Schicksal ihrer Vorgängerin, indem es sich in den Verputz der Wand bohrte.

»Los, sofort hinterher!«, schrie Gehrmann, offensichtlich frustriert durch die beiden Fehlschüsse. Ich ging logischerweise davon aus, dass er den Befehl nicht der Nachtschwester erteilt hatte, die dem Tod im letzten Moment von der Schippe gesprungen sein dürfte, sondern seinem jüngeren Kumpan oder Untergebenen Klapp, der vermutlich trainierter und schneller als Gehrmann war.

Ich wusste, dass mir nicht viel Zeit blieb. Wenn Klapp erst einmal aus dem Schwesternzimmer heraus und im Gang war, konnte er seelenruhig auf mich anlegen und mich abschießen wie auf dem Schießstand, denn der Gang war leer und bot mir keinerlei Deckung. Ich durfte also nicht länger einfach nur den Flur hinunterrennen, sondern musste schnellstmöglich ein geeignetes Versteck finden.

Da mir nichts anderes übrig blieb, lief ich, ohne lange darüber nachzudenken, auf die nächstgelegene Tür auf der rechten Seite des Flurs zu. Noch während ich mich gegen das Türblatt warf und gleichzeitig die Klinke nach unten riss, flehte ich alle himmlischen Schutzheiligen an, gefälligst dafür Sorge zu tragen, dass die Tür unverschlossen war.

»Danke!«, hauchte ich kaum hörbar, als die Tür dem Druck nachgab, und schlüpfte rasch in das Zimmer, sobald der Spalt groß genug dafür war. Dann schloss ich die Tür behutsam und bedächtig so weit, bis nur noch ein schmaler Spalt blieb, durch den ich nach draußen auf den Gang sehen konnte.

Der Blickwinkel war so günstig, dass ich von meinem gegenwärtigen Standpunkt sogar die Tür zum Schwesternzimmer sehen konnte. Noch immer schwer atmend wegen des kurzen Spurts hierher, spähte ich durch den Türspalt und sah in diesem Moment auch schon, wie Klapp mit schussbereiter Waffe auf den Flur stürmte und sich in meine Richtung wandte. Er war sich wohl relativ sicher gewesen, dass ich noch immer völlig kopflos wie ein aufgescheuchtes Huhn den Gang hinunterrannte und er mir nur noch in den Rücken schießen musste, denn er hob sofort den Arm und zielte in die Richtung, in die ich noch immer laufen würde, hätte ich nicht in diesem Zimmer Schutz gesucht. Doch bevor er in die leere Luft feuerte, registrierte er, dass dort, wo er mich vermutet hatte, niemand war, verhielt in seinem Lauf und ließ den Arm unentschlossen sinken. Ratlos stand er im Flur, ließ den Blick hin und her schweifen und fragte sich vermutlich, wohin ich verschwunden sein könnte. Die naheliegendste Lösung, dass ich hinter einer der Türen Zuflucht gesucht hatte, schien ihm zunächst aber nicht einzufallen. Vielleicht dachte er in seinem Wahn auch, ich hätte magische Kräfte und mich in Luft aufgelöst.

Dann trat, wesentlich langsamer als zuvor, sein Kollege Gehrmann aus dem Schwesternzimmer in den Flur. Ich konnte mir leicht ausrechnen, dass er sich erst um die Nachtschwester gekümmert hatte. Allerdings hoffte ich, dass er sie nicht umgebracht, sondern nur gefesselt oder schlimmstenfalls bewusstlos geschlagen hatte. Immerhin hatte ich keinen weiteren Schuss gehört, was meine diesbezügliche Hoffnung in meinen Augen berechtigter erscheinen ließ.

Gehrmann war allem Anschein nach nicht umsonst der Anführer dieses ungleichen Duos, denn er schien wesentlich erfahrener und klüger als sein junger Begleiter zu sein. Bereits nach einem einzigen raschen Blick in die Runde musste ihm bewusst geworden sein, was es mit meinem spurlosen Verschwinden auf sich hatte. Ich hatte zwar im Stillen gehofft, die beiden würden die Aktion abblasen, nachdem ich nun gewarnt war und sie mich nicht so leicht erwischen würden, wie sie sich das unter Umständen insgeheim ausgerechnet hatten, doch erneut wurde ich enttäuscht.

»Sie muss in einem der Zimmer sein!«, sagte Gehrmann und wies zur Verdeutlichung seiner Worte mit der Pistole auf diverse Zimmertüren. »Du bewachst den Flur, während ich die Zimmer durchsuche. Hinter einer dieser Türen muss sie stecken. Und dort sitzt sie jetzt in der Falle und kann uns nicht mehr entkommen.«

Kapitel 2

Mein Herz klopfte rasend schnell und überlaut in meiner Brust. Seine Schläge dröhnten in meinen eigenen Ohren wie die einer riesigen Kirchturmglocke. Das war aber vermutlich nicht mehr die Folge des vorherigen Adrenalinschubs, denn das Stresshormon wurde sehr rasch wieder abgebaut, sondern hatte seinen Ursprung eher in meiner Angst aufgrund Gehrmanns Ankündigung, alle Zimmer zu durchsuchen, während Klapp im Flur ausharren sollte. Als ich Gehrmanns eiskalten, aber entschlossenen Gesichtsausdruck gesehen hatte, war mir sofort klargeworden, dass er nicht einfach aufgeben, sondern sämtliche Zimmer nach mir absuchen würde. Allerdings hatte ich gehofft, die beiden Männer würden sich diese Aufgabe teilen, damit sie schneller fertig wurden. Das hätte mir dann wiederum Gelegenheit gegeben, mein Versteck zu verlassen und den Gang hinunterzulaufen, bevor die Männer aus den Zimmern, die sie durchsuchten, wieder herauskamen. Doch wenn Klapp auf dem Gang stehen blieb, war mir diese Möglichkeit verwehrt. Ich musste in diesem Zimmer ausharren, ob ich wollte oder nicht. Daher war es nur eine Frage der Zeit, bis Gehrmann mich aufstöbern würde.

Ich beobachtete, wie Gehrmann aus meinem Blickfeld verschwand, und hörte unmittelbar darauf, dass eine der Türen zu den Patientenräumen leise geöffnet wurde. Gehrmann hatte also mit der Durchsuchung begonnen. Klapp bewachte währenddessen wie angewiesen den Flur. Er gähnte einmal unterdrückt und hielt dabei die Hand vor den Mund. Langsam drehte er sich, auf der Stelle tretend, im Kreis. Wahrscheinlich wollte er seine Aufgabe besonders sorgfältig erledigen und den ganzen Flur im Auge behalten, übersah dabei aber, dass ich in dem Teil des Gangs, auf den er gerade seine ganze Aufmerksamkeit richtete, gar nicht sein konnte. Na ja, schließlich war niemand von uns perfekt, auch wenn bei Klapp noch viel mehr im Argen zu liegen schien.

Obwohl mir Klapp in diesem Moment den Rücken zukehrte, ahnte ich, dass mir nicht genügend Zeit bleiben würde, auf den Gang hinauszuhuschen und ein anderes Versteck zu suchen, bevor er sich wieder in meine Richtung gedreht hatte. Ich nutzte die günstige Gelegenheit allerdings dazu, die Tür möglichst geräuschlos ganz zu schließen, da sonst die Gefahr bestand, dass einer der Männer früher oder später auf den schmalen Spalt aufmerksam und misstrauisch wurde. In dem Fall hätte ich genauso gut ein Schild an der Tür befestigen können, auf dem in großen Buchstaben »Hier bin ich!« stand.

Obwohl der schwache Lichtschein aus dem Flur, der durch den schmalen Spalt ins Zimmer gelangt war, nach dem Schließen der Tür fehlte, war es zum Glück dennoch nicht völlig dunkel. Die dicken Vorhänge waren zwar geschlossen, sodass kein Mondlicht durchs Fenster hereinfiel, aber ein mattes Leuchten, das von einem kleinen Nachtlicht auf der anderen Seite des Bettes direkt neben dem Notruf für die Schwestern stammte, ließ mich wenigstens vage Umrisse erkennen, als ich mich vorsichtig und langsam tiefer in das Zimmer hineinbewegte.

Erst jetzt, als würde sich mein Verstand aufgrund des dämmrigen Lichts verstärkt auf das Gehör und nicht mehr so sehr auf die Augen konzentrieren, bemerkte ich das nicht sehr laute, aber regelmäßige Schnarchen. Das Bett, aus dem die auf Dauer wahrscheinlich nervtötenden Geräusche kamen, befand sich nur wenige Schritte vor mir. Ich konnte darauf eine dunkle, langgezogene Erhebung ausmachen, bei der es sich um den Bewohner des Zimmers handeln musste, der unter der Decke lag und allem Anschein nach noch immer tief und fest schlief.

Als ich näher heranschlich, schälten sich weitere Umrisse aus dem Dunkel. Ich sah einen Nachttisch, einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen und einen Schrank auf der dem Bett gegenüberliegenden Seite des Raumes. Im Großen und Ganzen entsprach die Ausstattung somit der in meinem Zimmer. Was ich allerdings nicht entdecken konnte, war eine zweite Tür, die in eine kleine, angrenzende Toilette führte. Anscheinend waren nicht alle Zimmer mit einem eigenen WC ausgestattet, und manche Insassen mussten wohl auf die Gemeinschaftstoilette gehen, wenn sie ein dringendes Bedürfnis verspürten.

Ich hätte am liebsten laut geschimpft, um meiner Enttäuschung Luft zu machen, als meine Pläne erneut von widrigen Umständen durchkreuzt wurden. Denn eigentlich hatte ich vorgehabt, mich auf der Toilette hinter der Tür zu verstecken und Gehrmann, sollte er auch nur den Kopf hineinstrecken, mit einem geeigneten Gegenstand eins überzubraten. Das konnte ich mir jetzt natürlich abschminken. Nun hieß es, ein anderes geeignetes Versteck zu finden. Die Auswahl war allerdings nicht besonders groß, und die Chance, dass Gehrmann mich dennoch nicht entdeckte, eher gering. Andererseits wollte ich mich den Männern, die mich umbringen wollten, auch nicht wie auf dem Präsentierteller darbieten. Vielleicht nahm sich Gehrmann gar nicht so viel Zeit bei seiner Suche und konnte, um nicht alle Insassen aufzuwecken, auch nicht in jedem Winkel nachsehen, sodass er mich unter Umständen übersah. Und genau darauf setzte ich alle Hoffnungen, die ich noch hatte, denn etwas anderes blieb mir im Augenblick nicht übrig.

Da ich weder in den Schrank noch unter das Bett kriechen wollte und auch nicht das Bedürfnis hatte, mich neben den unbekannten Schläfer ins Bett zu legen, um meinen Verfolger auf diese Weise in die Irre zu führen, entschied ich mich für die einzige Möglichkeit, die übrigblieb. Ich beschloss, mich in den etwa zwanzig Zentimeter breiten Spalt zu zwängen, der sich zwischen der von der Tür abgewandten Seite des Schranks und der dahinterliegenden Wand befand, und zu hoffen, dass Gehrmann mich dort nicht entdeckte.

Doch vorher nahm ich mir noch die Zeit, auf Zehenspitzen lautlos um das Bett herumzugehen und das Nachtlicht aus der Steckdose zu ziehen. Sofort wurde es stockfinster im Zimmer. Ich konnte nichts mehr sehen. Nur noch das regelmäßige Schnarchen war zu hören und half mir zumindest, mich akustisch zu orientieren.

Ich wusste nicht, wer dieses Zimmer bewohnte und in dem Bett lag. Außer van Helsing kannte ich bislang ohnehin nur wenige der anderen Insassen, diese auch nur vom Sehen, und hatte nicht die geringste Ahnung, wer in welchem Raum der Station untergebracht war. Allerdings war das auch nicht von Belang. Solange die unbekannte Person weiterschlief und nicht plötzlich aufwachte und das Licht anmachte, war ich verhältnismäßig sicher.

Da ich mir, bevor ich das Nachtlicht entfernt hatte, meine Umgebung eingeprägt hatte, bereitete es mir nun keine Schwierigkeiten, mich bis zu dem von mir ins Auge gefassten Versteck vorzutasten. Ich hatte Glück und stieß auch nicht gegen irgendwelche Hindernisse, die mir aufgrund der unzulänglichen Beleuchtung verborgen geblieben waren.

Ich schob mich tief in die Lücke zwischen Schrank und Wand und wartete dann ab. Da sich meine Atmung wieder normalisiert hatte, bereitete es mir keine Mühe, flach und geräuschlos durch den geöffneten Mund zu atmen. Und falls ich doch versehentlich ein Geräusch verursachte, würde es vom Schnarchen des Schläfers übertönt werden.

Ich erschrak, als das schnarchende Geräusch plötzlich abbrach und die Person im Bett sich raschelnd bewegte. Doch anscheinend hatte sie im Schlaf nur eine andere Position eingenommen, denn unmittelbar danach lag der Schläfer wieder still und begann auch sogleich wieder damit, lautstark imaginäre Bäume umzusägen.

Allerdings blieb mir nicht viel Zeit, mich wieder zu beruhigen, denn nur wenige Augenblicke später begann mein Herz erneut schneller zu schlagen, als auf dem Gang vor der Tür Schritte ertönten, rasch lauter wurden und unmittelbar vor der Tür verstummten. Ich hielt den Atem an. Zunächst herrschte – bis auf die Geräusche des Schnarchers – wieder Stille, und ich dachte schon, ich hätte mich getäuscht und mir die Schritte nur eingebildet. Doch im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet.

Die Tür schwang nach innen, bis sie mit dem Türgriff beinahe gegen die Wand stieß, und ließ das matte Licht der Gangbeleuchtung hereinfallen, die ein verzerrtes, schiefes Viereck auf den Boden malte, das nicht ganz bis zum Bett reichte. Inmitten dieses hellen Rechtecks ragte tiefschwarz und bedrohlich der Schatten einer schlanken Gestalt in den Raum.

Ich hatte um die Ecke des Schranks gespäht und alles beobachtet. Doch nun beschloss ich, dass ich mehr als genug gesehen hatte, und zog den Kopf vorsichtig zurück, damit Gehrmann mich nicht sehen konnte. Vielleicht gab er sich mit einem Blick von der Tür ins Zimmer zufrieden und ging anschließend weiter. Doch da der Einsatz mein Leben war, verzichtete ich darauf, zu wetten, dass die Sache so leicht werden würde.

Ich konnte zwar nicht mehr zur Tür sehen, wo Gehrmann schweigend und bedrohlich in der hellen Öffnung stand, doch ich sah von meinem Versteck aus das Bett und seinen Schatten auf dem Boden. Sosehr ich mir auch wünschte, er möge sofort wieder verschwinden und die Tür hinter sich schließen, erfüllte sich dieser Wunsch jedoch nicht.

Gehrmann harrte mehrere Sekunden lang regungslos auf der Schwelle aus. Womöglich, um sich einen Überblick zu verschaffen, auf verdächtige Geräusche zu lauschen oder auch nur aus Vorsicht, damit er nicht aus der Dunkelheit heraus angefallen werden konnte. Dann betrat er das Zimmer. Beinahe lautlos kam er herein und ging geradewegs auf das Bett zu, aus dem unverändert die lauten Schnarchgeräusche kamen.

Als er das Bett erreichte, konnte ich deutlich die Umrisse der Pistole in seiner Hand erkennen. Er hielt sie allerdings so, dass die Mündung mit dem aufgesetzten Schalldämpfer nach oben zur Zimmerdecke zielte.

Mein Pulsschlag und das Geräusch meiner flachen Atmung dröhnten mir plötzlich wieder überlaut in den Ohren. Ich befürchtete, dass Gehrmann, der nur wenige Meter von mir entfernt stand, beides deutlich hören könnte. Am liebsten wäre ich mit der Wand in meinem Rücken verschmolzen, um mich dadurch vollständig unsichtbar zu machen. Ich presste mich unwillkürlich noch fester dagegen, doch das harte Material gab natürlich kein bisschen nach.

Doch Gehrmann konnte weder mein Herz, das in meiner Brust wummerte wie ein alter Dieselmotor, noch meine nahezu lautlosen Atemzüge hören. Und selbst wenn sie tatsächlich so laut gewesen wären, wie ich in meiner Panik befürchtete, wären sie aufgrund der Geräusche, die der Schläfer verursachte, dennoch nicht zu hören gewesen.

Aus der Dunkelheit meines Verstecks heraus beobachtete ich, wie Gehrmann sich über die schlafende Gestalt im Bett beugte, um deren Gesicht ansehen zu können, das von ihm abgewandt war. Möglicherweise dachte er, ich hätte mich einfach ins Bett gelegt, würde mich nun schlafend stellen und den dazu passenden Soundtrack produzieren. Aber was hätte ich in diesem Fall mit dem ursprünglichen Bewohner des Zimmers anstellen sollen. Hätte ich ihn einfach in meine Hosentasche stecken sollen?

Doch da fiel mir wieder ein, dass Gehrmann aufgrund des mutigen Widerstands der Nachtschwester gar nicht wusste, welches Zimmer ich bewohnte. Er musste daher bei jedem Zimmer, das er kontrollierte, davon ausgehen, dass es mir gehörte, und deshalb jede schlafende Person in jedem einzelnen Bett überprüfen. Eine derartige Vorgehensweise kostete natürlich jede Menge Zeit. Viele andere wären deshalb möglicherweise schneller und damit auch weniger sorgfältig vorgegangen. Allerdings gehörte Gehrmann nicht zu diesem Menschenschlag. Er war – diesen Eindruck hatte ich bereits bei der Besprechung mit ihm im Beisein von Dr. Jantzen und Gabriel gewonnen – penibel bis ins Mark und nahm alles peinlichst genau. Halbe Sachen gab es für ihn vermutlich nicht, und deshalb war es für seinen Kollegen Klapp wahrscheinlich auch nicht leicht, den älteren Mann halbwegs zufriedenzustellen, weshalb ich den Übereifer und die übertriebene Sorgfalt, die Klapp zeitweise an den Tag legte, nun ein wenig besser verstand.

Und weil Gehrmann eine Sache lieber zweimal kontrollierte und nicht zur Schlamperei neigte, überprüfte er auch in diesem Moment besonders gewissenhaft, ob es sich bei dem Schläfer im Bett nicht doch vielleicht um mich handelte. Dazu beugte er sich so weit nach vorn, dass ich schon befürchtete, er könnte das Gleichgewicht verlieren und vornüber aufs Bett kippen, und betrachtete aufmerksam das im Schatten liegende Gesicht der schlafenden Gestalt. Als er – möglicherweise aufgrund der Farbe oder Länge des Haars, der Form oder Farbe des Gesichts oder anderer leicht erkennbarer Merkmale – zu seiner Zufriedenheit festgestellt haben musste, dass der Schläfer nicht die Person war, die er suchte, begann er wieder damit, sich möglichst behutsam aufzurichten, ohne die Person im Bett dabei zu wecken.

Doch bevor er die Bewegung beenden und sich vollständig aufrichten konnte, ertönte urplötzlich ein ohrenbetäubender, gellender Schrei, der auch mich in meinem Versteck vor Schreck so stark zusammenzucken ließ, dass ich mit einem Knie und der Stirn gegen die Seitenwand des Schranks vor mir und mit einem Ellbogen und dem Hintern gegen die Wand hinter mir krachte. Die lauten Geräusche, die ich dadurch zwangsläufig verursachte, gingen aber in dem Krach unter, der im Bereich des Bettes laut wurde.

Ohne mich um die Schmerzen in den diversen angeschlagenen Körperteilen zu kümmern, verfolgte ich gebannt die dramatischen Ereignisse, die dem vollkommen überraschend erfolgten Aufschrei auf dem Fuße folgten und in denen Gehrmann eine tragende, gleichzeitig aber auch tragische Rolle zukommen sollte.

Den ohrenbetäubenden Schrei, der sowohl Gehrmann als auch mich überrascht und erschreckt hatte, hatte niemand anderes ausgestoßen als der dritte Anwesende im Zimmer, den Gehrmann und ich tief schlafend gewähnt hatten. Noch bevor der Schrei vollends verklungen war, schnellte der Oberkörper der bislang reglosen Gestalt, wie von einer straff gespannten Feder angetrieben, im Bett senkrecht nach oben. Gleichzeitig drehte sich die Person, die auf der Seite gelegen hatte, bis sie innerhalb eines halben Augenblicks aufrecht im Bett saß. Der rechte Arm des Unbekannten fuhr herum und beschrieb einen perfekten Halbkreis, dessen Endpunkt sich in Höhe von Gehrmanns linker Brustseite befand. Gehrmann stand wie erstarrt und noch immer nicht vollständig aufgerichtet neben dem Bett und starrte wahrscheinlich ebenso verblüfft wie ich auf die Gestalt im Bett, die wie ein rasender Kastenteufel so jäh zum Leben erwacht war.

Ich nahm an, der Schläfer wäre durch Gehrmann im Schlaf gestört worden und lediglich hochgeschreckt. Seine Reaktionen – der Schrei, das Aufrichten und die abrupte Armbewegung – hielt ich für einen panischen Reflex, mit dem der Sanatoriuminsasse auf die dunkle, bedrohliche Gestalt reagierte, die so überraschend mitten in der Nacht neben seinem Bett aufgetaucht war. Doch ich täuschte mich gewaltig. Erst als ich den Gegenstand, den die Person im Bett in der rechten Hand hielt und in Richtung von Gehrmanns Oberkörper schwang, deutlicher sehen konnte und erkannte, um was es sich dabei handelte, wurde mir mein Irrtum bewusst.

»Fahr zur Hölle, Kreatur der Verdammnis!«, schrie van Helsing und rammte Gehrmann den angespitzten Holzpfahl in die Brust, bevor dieser auch nur in der Lage war, den Angriff abzuwehren oder ihm zu entgehen.

Ich stellte mir unwillkürlich die Frage – auch wenn der Moment alles andere als passend für derartige Überlegungen war –, ob es sich um denselben Pflock handelte, an dem der selbst ernannte Vampirjäger vor wenigen Stunden in der geheimen Bibliothek so ausdauernd und kunstvoll herumgeschnitzt hatte.

Gehrmann ächzte vor Schmerz. Ein geisterhaft wirkender Laut, der wie ein leichter Windhauch aus seinem weit aufgerissenen Mund drang und kaum hörbar war. Er senkte die Hand mit der Schusswaffe, um eine Kugel auf seinen Peiniger abzufeuern. Doch van Helsing verstärkte den Druck auf den Pfahl, der im Brustkorb des anderen Mannes steckte, und stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Mit einem ekelerregenden, nassen Geräusch, das sich anhörte, als würde jemand seinen Fuß aus dickflüssigem, klebrigem Morast ziehen, drang die Spitze des Holzpflocks noch tiefer in Gehrmanns Körper.

Die Pfahlspitze musste schließlich das Herz des Mannes durchstoßen haben, denn jäh erzitterte Gehrmanns Körper von Kopf bis Fuß wie unter einem Stromstoß. Die Finger der rechten Hand öffneten sich, bevor er die Pistole abfeuern konnte, und die Waffe fiel zu Boden, wo sie mit einem lauten Poltern landete.

Erneut drang ein gespenstischer Laut aus dem Mund des tödlich getroffenen Mannes, der mich unwillkürlich an das nächtliche Stöhnen auf einem verlassenen Friedhof denken ließ und mir einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Ich war in diesem Augenblick fest davon überzeugt, dass mich dieser Laut noch jahrelang in meinen Träumen verfolgen würde.

Dann erstarb das Zittern so rasch, wie es entstanden war, als scheinbar von einer Sekunde zur nächsten alles Leben aus Gehrmanns Körper entfloh. Starr und in aufrechter Haltung kippte Gehrmann wie ein gefällter Baum nach hinten und landete hart auf dem Boden. Er blieb auf dem Rücken liegen und zuckte ein letztes Mal spasmisch.

Im schwachen Licht, das aus dem Gang ins Zimmer fiel, nur undeutlich erkennbar, sah ich, dass ein dünner Blutfaden aus seinem Mundwinkel lief und an seiner Wange nach unten rann. Seine Augen hatte er vor Entsetzen und Agonie weit aufgerissen, doch sie starrten nur blick- und ausdruckslos zur Decke.

Trotz des Schocks, den mir das soeben Erlebte und vor allem die Rasanz und Unaufhaltsamkeit der Geschehnisse versetzt hatten, erholte ich mich erstaunlich schnell wieder. Wahrscheinlich hatte ich in letzter Zeit einfach zu viele schreckliche Dinge erlebt, sodass inzwischen ein Gewöhnungseffekt eingetreten war. Ich quetschte mich aus meinem Versteck und rannte am Bett vorbei, in dem van Helsing noch immer aufrecht saß und, mit sich und der Welt anscheinend vollkommen zufrieden und im Einklang, lächelnd auf sein blutiges Werk herabblickte.

Neben Gehrmanns gefälltem Körper ging ich in die Hocke. Ich brauchte mir gar nicht erst die Mühe zu machen, nach seiner Halsschlagader zu tasten und seinen Puls zu fühlen. Es reichte ein Blick in seine starren, vollkommen leblosen Augen, um sofort zu erkennen, dass der Mann tot war und nichts und niemand in der Lage sein würde, ihn zu retten. Wie der abgesägte Schaft einer monströsen Lanze ragte der hölzerne Pfahl aus seiner linken Brustseite. Van Helsings Hieb war so kraftvoll gewesen, dass fast die Hälfte des Holzpflocks in Gehrmanns Körper eingedrungen war. Im schwachen Lichtschein konnte ich große Mengen Blut sehen, die aus der Wunde geflossen waren, als sein Herz noch geschlagen hatte, und die schwarze Kleidung um die grässliche Wunde herum noch dunkler erscheinen ließ.

Ich erinnerte mich daran, dass die gefährliche Situation noch längst nicht ausgestanden war, denn im Gang stand ein weiterer Mann mit einer geladenen, schussbereiten Waffe. Und wenn er den Lärm aus diesem Zimmer gehört hatte – und davon musste ich ausgehen –, dann war er sicherlich schon längst hierher unterwegs, um nach seinem Kollegen zu sehen.

Ich durfte also nicht länger herumtrödeln und kostbare Zeit verlieren. Also riss ich mich von dem Anblick des toten Mannes los, dessen Ableben in meinen Augen ohnehin nicht völlig unverdient erfolgt war – wer Gewalt sät usw. –, auch wenn die Brutalität und Vehemenz, mit denen es eingetreten war, mich dennoch schockiert hatten. Rasch griff ich nach Gehrmanns Pistole, die neben dem Bett am Boden lag und matt glänzte.

»Bleib lieber, wo du bist, van Helsing!«, raunte ich und richtete mich gleichzeitig auf. »Draußen ist nämlich noch einer von denen.«

Kapitel 3

Während ich auf leisen Sohlen zur Tür huschte, konnte ich hören, dass auf der Station inzwischen auch andere Stimmen und Geräusche laut wurden. Der für diese Uhrzeit ungewohnte Lärm, angefangen bei den abgewürgten Schreien der Nachtschwester über das Splittern der zerschossenen Trennscheibe bis hin zu van Helsings gellendem Schrei, der dem Ganzen die Krone aufgesetzt und vermutlich auch den letzten Erwachenden davon überzeugt hatte, dass in der heutigen Nacht auf der Station etwas nicht in Ordnung war, war natürlich nicht ungehört geblieben. Zahlreiche Insassen in der unmittelbaren Umgebung mussten mittlerweile geweckt worden sein und rührten sich nun. Und allmählich, wie ein Waldbrand, breitete sich die Unruhe aus und zog weitere Kreise.

Die Bewohner des Sanatoriums, die psychisch ohnehin in den allerwenigsten Fällen ausreichend gefestigt und durch den ungewohnten nächtlichen Lärm nun auch noch aus dem Schlaf geschreckt worden waren, reagierten verständlicherweise panisch auf die Durchbrechung ihrer gewohnten Routine, die für viele von ihnen für eine erfolgreiche Behandlung ihrer Krankheiten von entscheidender Bedeutung war.

Stampfendes Getrampel war zu hören, als jemand panisch umherlief. Laute Schreie in unterschiedlichen Lautstärken und Tonhöhen erklangen aus allen Richtungen, teils langgezogen wie schrille Sirenen, teils abgehackt und in rhythmischer Folge. Außerdem wurden ringsum auch hysterische Rufe, Gejammer und fragende Stimmen lauter.

Als ich die Türöffnung erreichte, herrschte auf der ganzen Station bereits ein höherer Lärmpegel, als es tagsüber der Fall war. Wenn man die Augen schloss, konnte man das Gefühl haben, sich inmitten eines erwachenden Zoos oder im tropischen Regenwald zu befinden angesichts der Kakophonie und Vielfältigkeit der Geräusche, die oftmals eher an die Laute von Tieren als an von Menschen verursachte Töne erinnerten. Die Station war also mittlerweile akustisch im wahrsten Sinne des Wortes das reinste Tollhaus.

Ich musste mir nicht mehr besonders viel Mühe geben, mich lautlos oder zumindest möglichst leise zu verhalten, da jedes Geräusch, das ich verursachte, ohnehin in der sich weiterhin steigernden und um sich greifenden Unruhe unterging. Vor der Tür ging ich erneut in die Hocke und spähte um den Türstock herum nach draußen in den Flur.

Klapp war selbstverständlich auf den Lärm aus diesem Zimmer aufmerksam geworden. Vermutlich war er anfangs noch etwas irritiert gewesen, was der Schrei zu bedeuten hatte, und hatte erst noch eine kleine Weile abgewartet, ob sein Kollege wieder heraus in den Gang kam oder nach ihm rief. Als das allerdings nicht geschehen war, musste er selbstständig eine Entscheidung getroffen und sich in Marsch gesetzt haben, um nach dem Rechten zu sehen. Deshalb marschierte Klapp nun mit schussbereit vor sich gehaltener Waffe direkt auf diesen Eingang und damit auf mich zu. Allerdings hatte er mich noch nicht entdeckt, da ihn der lauter werdende Lärm um ihn herum erschreckte und seine weit aufgerissenen Augen hektisch in alle Richtungen zuckten, als hätte er Angst, jeden Moment von einer Meute Wahnsinniger hinterrücks angefallen zu werden.

Ich sah, dass sich bereits einige Türen geöffnet hatten und vereinzelt Patienten mehr oder weniger zögerlich auf den Flur traten, um nachzusehen, was los war. Dann zog ich jedoch lieber den Kopf zurück, bevor ich von Klapp gesehen werden konnte.

Ich überlegte fieberhaft, was ich tun sollte. Ich hielt zwar ebenfalls eine Schusswaffe in der Hand, was mich meinem Gegner zumindest hinsichtlich der Bewaffnung ebenbürtig machte. Ich war mir jedoch keineswegs sicher, ob ich auch dieselbe Kaltblütigkeit und Skrupellosigkeit wie er besaß, um im entscheidenden Moment abzudrücken, sollte die Situation es erfordern. Am liebsten wäre es mir natürlich, wenn ich erst gar nicht in die Lage geriet, eine derartige Entscheidung treffen zu müssen. Aber so, wie es momentan aussah, würde es mir wohl nicht erspart bleiben, denn Klapp würde, wenn kein Wunder geschah, nur allzu bald im Türrahmen auftauchen.

Da nahm ich völlig überrascht wahr, dass eine flinke Gestalt an mir vorbeihuschte. Ich blickte rasch auf und erkannte van Helsing. Barfüßig rannte er durch die Tür, sodass seine nackten Sohlen auf den Boden klatschten, und stieß dabei ein derart infernalisches Heulen aus, dass es sogar den allgemeinen Geräuschpegel übertönte. Er trug lediglich einen hellblauen Schlafanzug, der mit unzähligen Comic-Fledermäusen in verschiedenen Größen bedruckt war, und schwenkte in einer Hand einen Pflock und in der anderen ein großes hölzernes Kreuz. Da ich an dem Pfahl kein Blut entdecken konnte, ging ich davon aus, dass der Pflock, der Gehrmann getötet hatte, noch immer in dessen Körper steckte. Allem Anschein nach bewahrte van Helsing eine ganze Sammlung dieser Mordinstrumente in seinem Zimmer auf.

Ich hob noch die Hand, um ihn zurückzuhalten, doch er war zu überraschend und schnell an mir vorbeigehuscht, als dass ich wirklich eine Chance gehabt hätte, ihn zu erwischen. So blieb mir nur, tatenlos mitanzusehen, wie van Helsing mit erhobenen Armen auf Klapp zurannte, dabei mit der Linken das Kreuz vor sich hielt, um das Böse in Gestalt des bewaffneten jungen Mannes in Schach zu halten, und die Rechte mit dem Pflock stoßbereit erhoben hatte.

»Dein dunkler Meister hat durch meine Hand bereits sein untotes Leben ausgehaucht, elender Blutsauger. Und auch du entgehst deiner gerechten Strafe nicht!«, rief van Helsing gestelzt und theatralisch, nachdem er sein Heulen beendet hatte, und begann unmittelbar im Anschluss, laut das Vaterunser zu beten.

Klapp blieb abrupt stehen, als wäre er gegen ein unsichtbares Hindernis gerannt, und sah dem auf ihn zustürzenden Wahnsinnigen entgeistert entgegen. Er schien total verwirrt und von der Situation restlos überfordert zu sein. Wahrscheinlich war in ihren Planungen dieses nächtlichen Kommandounternehmens Widerstand durch die Bewohner des Sanatoriums nicht in Betracht gezogen worden. Er hatte daher auch keine Ahnung, wie er auf diese neue Entwicklung reagieren sollte.

Doch da erinnerte sich der junge Attentäter wieder an die Schusswaffe in seiner Hand, denn er richtete sie kurzerhand auf den heranstürmenden van Helsing. Er konnte nun jederzeit schießen und den Angreifer durch einen gezielten Schuss niederstrecken, bevor van Helsing auch nur in seine Nähe kam und ihm gefährlich werden konnte..

Ich hob die Pistole, die ich gewissermaßen von Gehrmann »geerbt« hatte, und zielte damit am Türstock vorbei auf Klapp. Ich wollte auf ihn schießen, bevor er seinerseits Gelegenheit hatte, auf van Helsing zu feuern.

Doch auch hier und jetzt zeigte Klapp, wie schon zu Beginn des missglückten Mordversuchs an mir, dass er im Grunde seines Herzens kein skrupelloser Mörder war. Im Gegensatz zu Gehrmann, dem ich jede Schandtat ohne Weiteres zugetraut hatte.

Klapp zögerte und war anscheinend nicht in der Lage abzudrücken, während die Waffe in seiner Hand unkontrolliert zu zittern anfing. Möglicherweise machte ihm der Umstand zu schaffen, dass es sich bei van Helsing nicht um die Zielperson dieser Nacht-und-Nebel-Aktion, sondern um einen Unbeteiligten handelte, der mit der ganzen Situation nichts zu schaffen hatte. Klapps Blick schien dabei jedoch weder auf den bedrohlichen Pflock in van Helsings Hand noch auf dessen entschlossene Miene gerichtet zu sein, sondern auf das Holzkreuz. Und dabei bewegte er die Lippen, als würde er im Einklang mit dem selbst ernannten Vampirjäger lautlos beten.

Die Lage wurde für Klapp allerdings mit jedem Augenblick kritischer und bedrohlicher. Denn ganz abgesehen von dem für seine Begriffe offensichtlich vollkommen Durchgeknallten, der mit einem Holzpfahl in der Hand auf ihn zustürmte und ihn damit pfählen wollte, kamen mittlerweile weitere Insassen dieser Station aus ihren Zimmern in den Flur, sahen sich verwirrt und ängstlich nach der Quelle des nächtlichen Lärms um und fragten sich teils verängstigt, teils hysterisch, was dieses ungewohnte nächtliche Spektakel zu bedeuten hatte.

Klapp brach der Angstschweiß aus. Ich konnte deutlich eine Vielzahl von Schweißperlen auf seiner Stirn glitzern sehen, während ich ihn über den Lauf der Schusswaffe in meiner Hand hinweg immer noch anvisierte. Er sah sich hektisch nach allen Seiten um und versuchte, die immer undurchschaubarer werdende Situation im Blick und auch ohne die Unterstützung seines älteren und erfahreneren Kollegen Gehrmann weiterhin unter Kontrolle zu behalten.

Erneut bewegte Klapp die Lippen, sodass ich wieder den Eindruck gewann, er würde leise beten. Doch dieses Mal sprach er wesentlich lauter, sodass ich ihn trotz des hohen Lärmpegels bruchstückhaft verstehen konnte.

»… dringend Verstärkung … spurlos verschwunden … Irren angegriffen … sofort … weiß nicht … irgendwo … dieser Station … verstanden!«

Schließlich entdeckte ich, als ich genauer hinsah, ein kleines unscheinbares Gerät, das mit einem Bügel an seinem Ohr befestigt war und von dem ein schmaleres Teilstück an seiner Wange in Richtung Mund ragte. Ich begriff, dass es sich dabei um das Headset eines Funkgerätes handelte, eine Kombination aus Kopfhörer und Mikrofon, mit dem Klapp in Kontakt zu einer weiteren Person stand.

Hätte ich in diesem Moment nicht mit hundertprozentiger Sicherheit gewusst, dass Gehrmann kein derartiges Gerät getragen hatte, als er gestorben war, wäre ich womöglich davon ausgegangen, Klapp versuchte in diesem Moment vergeblich, mit seinem inzwischen verstorbenen Kollegen Kontakt aufzunehmen. So aber stellte sich die entscheidende Frage, mit wem Klapp dann sprach. Und die niederschmetternde Antwort darauf konnte eigentlich nur lauten, dass Gehrmann und Klapp nicht allein gekommen waren, sondern weitere Männer ins Sanatorium eingedrungen waren, die möglicherweise damit beschäftigt gewesen waren, die anderen Stationen nach mir abzusuchen. Und nun befanden sich diese Männer, von ihrem panischen Kollegen Klapp alarmiert, vermutlich auf dem Weg hierher. Schließlich hatte Klapp ausdrücklich das Wort »Verstärkung« erwähnt. Und vielleicht hatte Klapp sie bereits beim ersten Anzeichen, dass hier etwas schiefzugehen drohte, informiert und jetzt nur noch einmal auf die Dringlichkeit hingewiesen, mit der er Unterstützung benötigte, sodass die Männer bereits näher waren, als mir lieb sein konnte. Ich wusste zwar nicht, mit wie vielen Gegnern ich es in diesem Fall zu tun bekommen würde, aber jeder weitere Angreifer wäre schon einer zu viel. Und wenn ich ehrlich bin, hatte ich auch nicht vor, es herauszufinden, da es mir bestimmt mehr als nur die Laune verderben würde. Aber was sollte ich tun?

Obwohl sich Klapp im Augenblick in arger Bedrängnis befand und gar keine Gelegenheit hatte, auf mich zu achten, war ich hier dennoch nicht mehr sicher. Denn möglicherweise saß ich, sollte ich zu lange zögern, in der Falle. Ich musste also schnellstens von hier verschwinden, bevor die Verstärkung der beiden Attentäter auftauchte und meine Überlebenschancen damit auf schätzungsweise null Komma null Prozent sank.

Während ich gedanklich blitzschnell die wenigen Möglichkeiten durchging, die mir blieben, und sie hinsichtlich ihrer Durchführbarkeit und Erfolgschancen abklopfte, richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Geschehnisse im Flur.

Van Helsing hatte Klapp mittlerweile erreicht und versuchte fuchtelnd, ihm den Pfahl in die Brust zu rammen, so wie er es bereits bei Gehrmann erfolgreich praktiziert hatte. Allerdings handelte es sich hier nicht um einen Überraschungsangriff, mit dem niemand gerechnet hatte. Klapp konnte die Vorstöße des selbst ernannten Vampirkillers im Augenblick noch mühelos mit der schweren Schusswaffe in seiner Hand abwehren, die er aufgrund innerer Hemmungen scheinbar noch immer nicht ihrem eigentlichen Verwendungszweck gemäß einsetzen wollte. Doch Klapp geriet auch von anderer Seite in Bedrängnis, als plötzlich weitere Sanatoriuminsassen in den Kampf eingriffen, um ihrem Mitpatienten van Helsing zu helfen. Im Nu war Klapp von einem halben Dutzend wütender und panischer Bewohner umzingelt, die von allen Seiten mit bloßen Händen oder geballten Fäusten auf ihn losgingen. Allerdings fehlte den größtenteils ungezielten Hieben oftmals die Kraft, um Schaden anzurichten. Deshalb konnte Klapp die Schläge problemlos einstecken und seine Abwehrmaßnahmen stattdessen auf den gefährlichsten Gegner konzentrieren, mit dem er es zu tun hatte, und der hieß van Helsing und schwang einen gefährlich spitzen Holzpflock in der Hand. Wahrscheinlich spielte Klapp auf Zeit und hoffte, dass die Kavallerie schnellstmöglich eintraf und ihn aus dieser brenzligen Situation befreite.

Während der Auseinandersetzung umkreisten sich die beiden Hauptkontrahenten langsam wie ein Paar auf dem Tanzparkett. Als Klapp mir den Rücken zuwandte, sah ich endlich meine Chance, unentdeckt durch den Flur zu rennen und zu versuchen, das Treppenhaus zu erreichen, bevor Klapps Kollegen mir den einzig möglichen Fluchtweg versperrten. Da Gehrmann und Klapp hier höchstwahrscheinlich gewaltsam eingedrungen waren, ging ich davon aus, dass der Weg nach draußen unversperrt war. Wieso sollten sie auch hinter sich abschließen, wenn sie doch wieder den gleichen Weg in entgegengesetzter Richtung für ihre anschließende Flucht benutzen mussten.

Ich richtete mich rasch auf und rannte in den Gang. Dort wandte ich mich in Richtung Ausgang, musste allerdings die ständig anwachsende Menschentraube mit dem verzweifelten Klapp in ihrer Mitte passieren. Ich hoffte, dass der junge Mann mich nicht bemerkte, weil er zu sehr damit beschäftigt war, sich seiner Haut zu erwehren. Und falls er mich doch beim Vorbeilaufen entdeckte, würde er dennoch nicht so leicht auf mich anlegen und schießen können, da er weiterhin vor dem Holzpflock auf der Hut sein musste und sich zudem ständig weitere Patienten als Deckung zwischen uns schoben.

Ich umrundete zuerst die Menschenansammlung und passierte anschließend das Schwesternzimmer, ohne einen lauten Ausruf von Klapp zu hören, der mir zeigte, dass er meinen Fluchtversuch registriert hatte. Beinahe wäre ich auf den zahllosen Glasscherben ausgerutscht, die von der gesplitterten Trennscheibe stammten und den Boden übersäten. Ich konnte meinen Körper gerade noch abfangen und ging anschließend vorsichtiger und langsamer über dieses Minenfeld aus glitzernden Scherben.

Ich wandte kurz die Augen vom Boden und warf einen raschen Blick ins Schwesternzimmer. Die Nachtschwester saß noch immer auf dem Drehstuhl. Allerdings war sie nun mit mehreren Mullbinden, die Gehrmann in einem der Schränke gefunden haben musste, gefesselt worden, damit sie nicht weglaufen und Hilfe holen konnte. Auch um den unteren Teil ihres Kopfes war eine Mullbinde geschlungen worden, die ihren Mund vollständig bedeckte und sie so daran hinderte, laut um Hilfe zu rufen. Die junge Frau verfolgte meinen Weg über den Scherbensee aus geweiteten Augen. Ich winkte ihr mit der freien Hand zu, froh darüber, dass sie unversehrt war und es ihr den Umständen entsprechend ganz gut ging. Doch mehr konnte ich im Moment nicht tun. Wollte ich sie befreien, würde mich das nur kostbare Zeit kosten, die ich wahrscheinlich gar nicht mehr zur Verfügung hatte. Und am Ende würden wir beide geschnappt werden, wodurch sich meine persönliche Situation im Verhältnis zur augenblicklichen Lage wesentlich verschlechtert hätte. Außerdem ging ich davon aus, dass ihr nichts passieren würde, da es die Männer allein auf mich abgesehen hatten. Ansonsten hätte Gehrmann sich gar nicht erst die Mühe gemacht, sie dermaßen zu verschnüren, sondern hätte sie gleich erschossen. Was die Männer mit mir anstellen würden, wenn sie mich in die Finger bekamen, stand hingegen auf einem ganz anderen Blatt und war mit Sicherheit um ein Vielfaches unangenehmer.

Ich konzentrierte mich wieder auf meinen Weg und lief schneller, nachdem ich den mit Glasscherben bedeckten Bereich unfallfrei hinter mich gebracht hatte. Während des restlichen Weges bis zur Tür ins Treppenhaus hoffte ich, dass nicht nur der Nachtschwester, sondern auch den Patienten, die Klapp attackierten – und unter diesen natürlich insbesondere mein spezieller Freund van Helsing – keine Gewalt angetan wurde, da die Männer schließlich nur hier waren, um mich zu töten. Alle anderen hatten mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun und waren mehr oder weniger zufällig hineingeraten.

Ich hatte die Tür, die aus der Station führte – sie bestand aus zwei nahezu undurchsichtigen, gewellten Milchglasscheiben in einem metallenen Rahmen und wurde sonst ständig verschlossen gehalten –, fast erreicht, als im Treppenhaus erregte Stimmen und das Poltern schwerer, rasch näher kommender Schritte laut wurden.

Verdammt! Beinahe hätte ich es noch rechtzeitig geschafft. Doch die Verstärkung, die Klapp zu seiner Unterstützung herbeigerufen hatte, stand schon fast vor der Tür und versperrte mir dadurch den einzigen Fluchtweg, der gegenwärtig aus der abgesperrten Station des Sanatoriums nach draußen führte.

Kapitel 4

Ich lehnte mit dem Rücken gegen die Tür, die aufgrund der schweren Stiefeltritte schwach vibrierte. Während ich in der Dunkelheit stand und auf die lauten Geräusche horchte, die von den Männern verursacht wurden, die draußen im Flur vorbeirannten, hielt ich unwillkürlich den Atem an, obwohl meine Lunge nach dem Spurt durch den Gang und die anschließende panische Suche nach einem geeigneten und nahen Versteck nach Sauerstoff gierte und schon leicht zu schmerzen anfing.

Die Tür zum Treppenhaus direkt vor Augen, die wegen der Rufe und des Polterns wuchtiger Schritte auf der Treppe jedoch keine Rettung, sondern im Gegenteil einen baldigen Tod versprochen hatte, war ich vor lauter Frustration kurz davor gestanden, einfach aufzugeben und diesen Wahnsinn nicht länger mitzumachen. Denn ständig geriet ich in neue, schier ausweglose Situationen, vom Regen in die Traufe gewissermaßen. Und wenn ich endlich glaubte, einen Ausweg aus dem momentanen Dilemma gefunden zu haben, reckte schon das nächste Problem den Kopf und rief mir wie der schlaue Igel dem dämlichen Hasen zu: »Ich bin schon da!« Wieso, fragte ich mich, musste ausgerechnet mir immer wieder so etwas passieren? Womit hatte ich das alles auch nur ansatzweise verdient? Da mir mein bisheriges Leben noch immer weitgehend unbekannt war, konnte ich natürlich nicht sagen, ob ich unter Umständen genau das erntete, was ich irgendwann einmal gesät hatte. Aber da ich ein glühender Anhänger der Unschuldsvermutung war, hielt ich mich solang für schuldlos an allem, was mir widerfuhr, bis mir jemand verdammt noch eins das Gegenteil bewies.

Doch trotz all dieser negativen Gedanken gab ich dann doch nicht auf. Etwas tief in mir – mein starker Selbsterhaltungstrieb oder auch nur ein masochistisch veranlagter Teil meiner Persönlichkeit, der möglicherweise Gefallen daran fand, dass ich jedes Mal noch tiefer in der Scheiße landete – wollte sich nicht ergeben und in sein Schicksal fügen, sondern beschloss, dass längst noch nicht alles vorbei war.

Also bremste ich nur wenige Meter von der Tür entfernt, die mir einerseits die Flucht ermöglichen, andererseits aber auch jeden Moment noch mehr meiner potentiellen Mörder auf die Station strömen lassen würde, abrupt und aus vollem Lauf ab. Allenfalls für den Bruchteil eines Augenblicks blieb ich unentschlossen mitten im Gang stehen, während in meinem Innersten die Entscheidungsschlacht darüber ausgetragen wurde, was ich tun sollte. Aufgeben oder nach einem anderen Ausweg suchen. Der Wille, auch diese Episode mit heiler Haut zu überstehen, obsiegte in einem kurzen, erbittert geführten Gefecht und ließ meinen Blick anschließend hektisch umherfliegen auf der Suche nach einer Möglichkeit, mich vor meinen rasch näher kommenden Häschern zu verstecken.

Die Stimmen und Schritte hörten sich mittlerweile schon so lärmend und nah an, dass ich jeden Moment damit rechnete, die Tür könnte aufschwingen und mir die Männer, wie viele es auch sein mochten, wie eine wilde Horde angreifender Indianer entgegenspeien.

Ich spürte bereits, dass ich mit jeder ergebnislos verstreichenden Sekunde panischer wurde, während meine Augen immer schneller und hektischer mal hierhin, mal dahin zuckten und sich mein Verstand gleichzeitig bemühte, die immer rascher in meinem Kopf aufblitzenden Bilder zu analysieren und nach Versteckmöglichkeiten zu durchforsten.

Da fiel mein Blick endlich auf eine unscheinbare Tür, die lediglich angelehnt war und einen winzigen Spaltbreit offen stand. Putzraum stand auf einem Schild neben der Tür. Meine rastlos suchenden Augen waren bereits zum nächsten Objekt weitergehuscht und hatten sich auf diesen Bereich fokussiert, bevor mein wesentlich bedächtiger funktionierendes Gehirn die Informationen verarbeitet und die richtigen Schlüsse daraus gezogen hatte. Anscheinend wurden hinter der unscheinbaren Tür in einer kleinen Kammer die Arbeitsutensilien und Putzmittel der Reinigungskräfte aufbewahrt. Ich hätte eigentlich damit gerechnet, dass diese Tür ständig verschlossen war, damit keiner der Insassen an die giftigen oder ätzenden Reinigungsmittel gelangte und sie versehentlich oder absichtlich zu sich nahm. Wahrscheinlich hatte eine der Putzfrauen vergessen, sie nach der Arbeit wieder abzusperren. Was mein Glück war, denn ansonsten befand sich in unmittelbarer Nähe keine andere Möglichkeit, mich ebenso rasch und gut verstecken zu können.

Noch während ich die wenigen Schritte zur spaltbreit offenen Tür hastete, warf ich einen kurzen Blick in die Richtung, aus der ich zuvor gekommen war und wo der Tumult und das Geschrei immer lauter und vehementer wurden. Ich erkannte, dass die menschliche Traube, die sich um den Attentäter geschart hatte, noch größer geworden war und sich mittlerweile zahlreiche weitere Personen an dem Gerangel beteiligten. Entweder reagierten sie panisch und gewalttätig auf den ungewohnten Stress, oder sie wollten ihre Leidensgenossen gegen den Fremden in ihrer Mitte unterstützen.

Klapp drohte nun schon allein aufgrund der immensen Übermacht der Körper, die gegen ihn drängten, diesen Kampf zu verlieren. Anscheinend wusste er sich nicht mehr anders zu helfen, als nun doch seine Pistole einzusetzen, denn über die Köpfe der Leute hinweg konnte ich sehen, dass er seine Waffe gegen die Decke richtete und mehrmals rasch hintereinander abdrückte. Die gedämpften Geräusche, zu denen der aufgesetzte Schalldämpfer die Schüsse reduzierte, erzielten zwar nicht dieselbe Wirkung wie ungedämpfte Schussgeräusche, dennoch gelang es ihm damit, einige seiner Angreifer in Panik zu versetzen und in die Flucht zu schlagen. Sie pressten sich die Fäuste gegen die Ohren oder verbargen ihre Gesichter in den Händen und rannten kreischend oder jammernd davon, um sich in irgendeiner ruhigen Ecke der Station zu verkriechen. Andere hingegen ließen sich durch die Knallerei nicht im Geringsten beeindrucken und bedrängten den Eindringling weiterhin. Unter ihnen auch van Helsing, der immer noch an vorderster Front kämpfte.

Mehr konnte ich in diesem kurzen Augenblick nicht erkennen, da ich endlich die offene Tür des Putzraums erreichte. Allerdings machte ich mir nun, nachdem Klapp sich gezwungen gesehen hatte, von seiner Schusswaffe Gebrauch zu machen, noch größere Sorgen um van Helsing und die anderen Patienten. Allerdings konnte ich nichts tun, um ihnen zu Hilfe zu kommen. Das Beste, was ich für sie tun konnte, bestand darin, von hier zu verschwinden, denn dann hatten die bewaffneten Eindringlinge keinen Grund mehr, noch länger an diesem Ort zu verweilen und den anderen Insassen etwas anzutun.

Ich schob die angelehnte Tür rasch so weit auf, dass ich mich hindurch und in den winzigen, mit allerlei Dingen vollgestellten Raum zwängen konnte. Es roch intensiv nach ätzenden Putzmitteln und Bohnerwachs. Ich schloss die Tür und versuchte, mich anschließend nicht mehr zu bewegen, um nicht versehentlich einen Eimer oder einen Schrubber umzustoßen und mich durch den dadurch verursachten Lärm zu verraten.

Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen und meinen Rücken dagegen gepresst, hörte ich auch schon, wie die trampelnden Schritte vor der Tür zum Treppenhaus kurz innehielten. Dann wurde sie vehement aufgestoßen und knallte mit einem so lauten Krachen gegen die Wand, dass wahrscheinlich nicht mehr viel gefehlt hätte, um die Milchglasscheiben zu zerschmettern. Anschließend setzte das Trampeln wieder ein und dröhnte draußen im Gang direkt an meinem Versteck vorbei.

Ich versuchte, aus den hämmernden Geräuschen die Anzahl der Personen herauszulesen, die es verursachten, gab es aber rasch wieder auf, weil es mir aussichtslos erschien. Ich schätzte allerdings, dass es sich mindestens um vier bis fünf Leute handeln musste, die Klapp in diesem Moment zu Hilfe eilten. Einerseits versetzte es mir zwar einen Schock, dass meine Feinde – um wen es sich dabei letztendlich auch handelte – so viel Personal einsetzten, um eine einzelne unbewaffnete und im Grunde wehrlose Person zu töten. Andererseits beruhigte es mich aber auch, denn wegen ihrer großen Zahl würden die Eindringlinge nicht gezwungen sein, ihre Schusswaffen einzusetzen, um sich der Insassen zu erwehren und Klapp aus ihrer Mitte zu befreien.

Erst als sich das Getrampel ein gutes Stück entfernt hatte, wagte ich es endlich, die angehaltene Luft auszustoßen und meine schmerzenden Lungenflügel mit frischem, dringend benötigtem Sauerstoff zu füllen. Ich musste mich förmlich dazu zwingen, noch ein paar Sekunden länger geduldig an Ort und Stelle auszuharren, und nutzte die Wartezeit, um mehrmals tief und gleichmäßig durchzuatmen, bis meine Lunge nicht mehr wehtat. Erst als sich meine Atmung wieder einigermaßen normalisiert hatte, öffnete ich vorsichtig die Tür und spähte um den Türrahmen herum den Gang hinunter.

Der Lärm hatte sich scheinbar proportional zur Größe der aufeinandertreffenden »Armeen« verstärkt. Mehrere Insassen, allen voran der unermüdliche van Helsing, der mittlerweile zwar seinen Pfahl verloren hatte, dafür aber das massive hölzerne Kreuz schwang, bedrängten Klapp immer noch von allen Seiten, wurden aber nun von dessen hinzukommender Verstärkung, die tatsächlich aus fünf groß gewachsenen und kräftigen Männern bestand, beiseite gedrängt. Keiner der Kombattanten schien bislang ernsthafte Verletzungen davongetragen zu haben, und niemand lag, soweit ich das sehen konnte, verletzt oder sogar tot am Boden. Nach den Warnschüssen in die Luft hatte ich auch keine weiteren gedämpften Schüsse gehört. Nun sah ich auch den Grund dafür, denn Klapp war mittlerweile entwaffnet worden und erwehrte sich der Attacken gegen seine Person nur noch mit den bloßen Händen. Die Schusswaffe musste ihm aus der Hand geprellt worden sein und lag nun wahrscheinlich inmitten der hin und her wogenden Körper am Boden. Hoffentlich bekam keiner der Insassen die Pistole in die Finger und schoss damit unkontrolliert und ungezielt um sich.

Die fünf Männer, die gekommen waren, um Klapp zu helfen, waren ebenfalls wie für ein geheimes Kommandounternehmen einer Elitearmee ganz in Schwarz gekleidet. Sie stürzten sich, glücklicherweise ohne nach ihren Waffen zu greifen, in das Gewühl, um ihren Kollegen aus der Umklammerung der Menschentraube zu befreien, und räumten die Patienten, die ihnen dabei im Weg standen, kurzerhand rechts und links zur Seite.

Zahlreiche weitere Insassen standen unentschlossen im Gang herum. Einige davon starrten gebannt auf das Handgemenge, als würde der Anblick eine ungewohnte Faszination auf sie ausüben. Manch einer unter ihnen grinste oder lachte sogar und hüpfte aufgeregt auf und ab angesichts dieses Spektakels, das jedes Fernsehprogramm bei Weitem in den Schatten stellte. Aber es gab auch andere, für die das Geschehen wesentlich beängstigender sein musste. Zwei oder drei kauerten am Boden, den Rücken gegen die Wand gepresst, hatten ihre Gesichter in den Händen vergraben und schaukelten auf den Fußsohlen vor und zurück. Andere wiederum hielten sich die Ohren zu und schrien selbst laut und gellend in dem von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuch, den Kampflärm zu übertönen, der sie so beunruhigte. Natürlich trugen sie so erst recht wesentlich dazu bei, die bereits herrschende Kakophonie noch zu verstärken. Einige Patienten verhielten sich aber auch, als wäre alles ganz normal. Sie erschienen absolut teilnahmslos, lebten in ihrer eigenen Welt, zu der kein anderer Zugang hatte, und marschierten durch den Gang, als würden in ihrer unmittelbaren Nähe momentan nicht die Fetzen fliegen, sondern als nähme ihre Umwelt seinen normalen und geregelten Lauf.

Ich war der Meinung, nun mehr als genug gesehen zu haben, und riss meinen Blick von den vielfältigen und für einen Psychologen oder Verhaltensforscher wahrscheinlich faszinierenden Aspekten des Geschehens los. Im Augenblick waren alle übrigen auf der Station anwesenden Personen mit anderen Dingen beschäftigt, und niemand achtete auf mich. Daher schien nun der günstigste Zeitpunkt gekommen zu sein, mein Versteck im Putzraum zu verlassen und zum Ausgang zu rennen. Das Kampfgeschehen drohte sich nun rasch zugunsten der wesentlich kampferprobteren Eindringlinge und zuungunsten der Patienten zu entwickeln. Nur allzu bald würden die Leute, die gekommen waren, um mich zu töten, wieder Gelegenheit haben, durchzuschnaufen und verstärkt auf ihre Umgebung zu achten. Wenn ich dann noch immer hier war, hatte ich im wahrsten Sinne des Wortes meinen Einsatz verpennt.

Also rannte ich auf den Flur und zur Treppenhaustür. Ich öffnete sie weit genug und trat hindurch, hielt sie dann jedoch mit meinem Körper weiterhin offen. Jetzt musste ich eigentlich nur noch loslaufen, während die Tür hinter mir zufiel, und die Stufen nach unten rennen. Aber zuvor hatte ich noch etwas Wichtiges zu erledigen.

Ich sah zurück zu van Helsing, Klapp und all den anderen, deren Namen ich nicht kannte. Mit Daumen und Zeigefinger meiner linken Hand formte ich einen Ring und steckte ihn in den Mund. Der Pfiff, den ich ausstieß, war so laut und schrill, dass er die infernalische Geräuschkulisse mühelos übertönte. Ich hatte vorher gar nicht gewusst, ob ich dazu überhaupt in der Lage war, bis ich es einfach ausprobiert hatte.

Urplötzlich, als wäre mein Pfiff ein allgemein anerkanntes Mittel zur Eindämmung von Kampfhandlungen, kam jede Bewegung im Gang zum Erliegen und verstummte sogar das leiseste Geräusch. In der anschließenden, unnatürlich wirkenden Stille richteten sich die Augen nahezu aller Anwesenden – natürlich mit Ausnahme derjenigen, die in ihrem eigenen kleinen Sonnensystem lebten – auf den Ursprungsort des schrillen Geräusches und damit zwangsläufig, wie ich es geplant hatte, auf mich.

Die meisten Patienten starrten nur verständnislos oder mit einem absolut leeren Ausdruck zu mir herüber, da sie nicht begriffen, worum es ging. Aber es gab mindestens sechs Augenpaare, in denen von diesem Moment an langsam und zunehmend das Begreifen dämmerte.

»Hört mal her, ihr Idioten!«, rief ich und meinte damit nicht die Insassen des Sanatoriums. »Wenn ihr mich haben wollt, dann müsst ihr mich erst mal kriegen.« Anschließend lachte ich laut und selbst in meinen Ohren ziemlich unecht, um die Eindringlinge noch ein bisschen mehr zu reizen.

Insgeheim betete ich währenddessen, dass mein Plan auch tatsächlich so funktionierte, wie ich es mir ausgerechnet hatte. Der Sinn dieser schwachsinnigen Aktion war nämlich keineswegs reiner Übermut oder Dummheit, wie manch einer beim Lesen dieser Zeilen annehmen könnte. Vielmehr wollte ich damit in erster Linie erreichen, dass die Attentäter mir nachsetzten und die Patienten in Ruhe ließen, sobald sie erst einmal realisierten, dass es mir gelungen war, aus der Station zu entkommen. Deswegen konnte ich mich nicht einfach still und heimlich davonstehlen, sondern musste meinen Abhang effektvoller und publikumswirksamer inszenieren. Ich hoffte allerdings, dass tatsächlich alle Eindringlinge auf Klapps Hilferuf reagiert hatten und auf meinem Weg nach draußen nicht noch weitere Männer lauerten, die im nächsten Moment von dem noch reichlich konsterniert aus der Wäsche guckenden Klapp und seinen ebenso überrumpelten Kumpanen alarmiert werden würden.

Während sich der Lärm im nächsten Augenblick wie frisch entfesselt erhob, als wollte er das nach meinem schrillen Pfiff entstandene akustische Vakuum wieder so schnell wie möglich füllen, huschte ich bereits ins Treppenhaus und ließ die Tür los, die sich aufreizend langsam hinter mir schloss. Eilig lief ich die Stufen nach unten. Ich durfte keine einzige weitere Sekunde verlieren, denn die ersten Angreifer hatten sich bestimmt schon von ihrer Überraschung erholt und waren mir sicherlich bereits auf den Fersen.

Kapitel 5

Ich hatte Glück, denn mir stellte sich kein weiterer Eindringling in den Weg, als ich die Treppenstufen nach unten rannte. Als ich die ebenfalls unverschlossene Tür vom Treppenhaus zur Lobby passierte, konnte ich hören, dass die ersten Verfolger oben ins Treppenhaus stürmten.

So schnell wie möglich eilte ich durch den Empfangsbereich, in dem wie auch auf der Station und im Treppenhaus nur eine Notbeleuchtung brannte. Ich hatte keine Ahnung, was mit der Pflegekraft passiert war, die nachts die Lobby besetzt hielt, hoffte aber, dass sie wie die Nachtschwester unserer Station allenfalls gefesselt und geknebelt worden und ihr nichts Schlimmes widerfahren war. Ich hatte aber nicht die Zeit, einen raschen Blick hinter den Empfangstresen zu werfen und nachzusehen, denn die Verfolger waren mir bereits dichter auf den Fersen, als mir aufgrund ihrer weitreichenden Schusswaffen lieb sein konnte.

Ich stieß einen Flügel der gläsernen Eingangstür auf und rannte nach draußen in die Nacht, die von der schmalen Sichel des Mondes nur mäßig erhellt wurde. Am Ende der Zufahrt, die durch den parkähnlichen Erholungsbereich führte, konnte ich im Licht der Straßenbeleuchtung die Umgrenzungsmauer, die Schranke und das hohe, schmiedeeiserne Tor erkennen. Ein Flügel stand ein Stück offen und zeigte mir, wie und wo die Männer auf das Gelände gelangt waren.

Zum Glück erwartete mich auch im Freien niemand. Anscheinend hatten alle Eindringlinge auf den Hilferuf ihres jungen Kollegen reagiert und waren nach oben gerannt, um ihm zu helfen. Wenigstens ein Aspekt, der in dieser Nacht zu meinen Gunsten ausging, denn als ich die Eingangstür durchschritten hatte, hatte ich insgeheim damit gerechnet, wieder mitten in eine neue, noch ausweglosere Gefahrensituation zu schlittern.

Ich nahm mir aber nicht die Zeit, mir ob des Erfolgs des ersten Teils meiner Flucht auf die Schulter zu klopfen und die schöne Aussicht zu genießen, sondern rannte sofort los, weil ich bereits den sprichwörtlichen Atem meiner Verfolger im Nacken zu spüren glaubte. Ich lief über den Kies, der nur wenige Meter vom Haupteingang des Sanatoriums entfernt eine kreisförmige Fläche bildete, und dann den Weg entlang, der ohne Umwege zum Tor führte.

Kurz bevor ich den offen stehenden Torflügel erreichte, warf ich über die Schulter einen Blick zum Sanatoriumgebäude. In exakt diesem Moment öffnete sich die Eingangstür, und mehrere dunkle Silhouetten ergossen sich ins Freie. Sie orientierten sich rasch und rannten dann, nachdem sie mich entdeckt hatten – eine der Gestalten deutete mit der erhobenen Hand in meine Richtung und rief etwas Unverständliches –, hinter mir her.

Ich machte mir nicht die Mühe, die genaue Zahl meiner Verfolger festzustellen, sondern rannte durchs Tor auf die Straße. Unmittelbar neben dem Tor parkten am Straßenrand zwei dunkle Mercedes-Limousinen. Beide Fahrzeuge waren jedoch zu meiner Erleichterung verlassen.

Ich entschied mich aufs Geratewohl für die linke Seite und lief neben der Mauer entlang, die mich nicht nur vor den Blicken, sondern auch vor den Schusswaffen meiner Feinde abschirmte. Ich erreichte das Ende der Mauer an der Stelle, an der das Sanatoriumgrundstück aufhörte, und bog kurz darauf an der ersten Querstraße erneut nach links ab.

Während ich durch die nächtlichen Straßen rannte, fiel mir auf, dass ich noch immer die Pistole in der Hand hielt. Ich umklammerte den Griff der Waffe so fest, dass die Knöchel meiner verkrampften Finger ganz weiß waren. Gut, dass mir bisher niemand begegnet war, denn er hätte wohl den Schreck seines Lebens bekommen. Da keine unmittelbare Gefahr bestand und ich die Schusswaffe auch nicht einfach ins nächste Gebüsch oder in einen Mülleimer werfen wollte, sorgte ich dafür, dass die Pistole gesichert war, und steckte sie dann in den Bund meiner Jeans, wo sich das Metall kalt gegen meine Haut presste. Das T-Shirt ließ ich darüber fallen, sodass es die Waffe vor neugierigen Blicken verdeckte, solange ich mich nicht allzu sehr streckte.

Als ich im Sanatorium erwacht war, war der neue Tag erst eine halbe Stunde alt gewesen. Ich wusste allerdings nicht, wie spät es jetzt war, da ich aufgrund der dramatischen Ereignisse jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Auf den schmalen Nebenstraßen, denen ich eher intuitiv als planmäßig folgte, herrschte so gut wie kein Verkehr, und ich war bislang auch keinem einzigen Fußgänger begegnet. Die meisten Häuser waren dunkel, weil die Bewohner schon schliefen. Nur vereinzelt war ein Fenster erleuchtet, weil jemand las, Fernsehen schaute oder möglicherweise auch nur bei Licht eingeschlafen war.

Jeden Moment, so fürchtete ich, konnte eines der beiden dunklen Fahrzeuge, die ich vor dem Sanatoriumgelände gesehen hatte, hinter mir auftauchen. Ich sah mich ständig nervös um, doch ich konnte keinen meiner Verfolger entdecken. An jeder Kreuzung oder Einmündung bog ich vollkommen willkürlich nach rechts oder links ab, sodass ich zuletzt selbst nicht mehr den Weg zurück gefunden hätte.

Durch die ständigen Richtungswechsel wollte ich die Zahl meiner möglichen Fluchtwege dermaßen erhöhen, dass sie die Zahl meiner Verfolger deutlich überstieg. Dadurch wären sie gar nicht in der Lage, jede einzelne Route zu überprüfen. So hoffte ich, ihnen letztendlich entkommen zu können. Und wenn sie unter Umständen genauso orientierungslos waren wie ich, dann würde mir das unter Umständen sogar gelingen.

Als ich mich schließlich wieder etwas sicherer zu fühlen begann, weil ich sowohl eine ausreichend große Distanz zwischen mich und das Sanatorium gebracht hatte, als auch genügend Zeit verstrichen war, ohne dass mich die Attentäter erwischt hatten, verlangsamte ich meine Geschwindigkeit deutlich und marschierte in normalem Schritttempo weiter. Dabei sah ich mich aber immer noch ständig um, ob nicht doch noch ein dunkles Fahrzeug oder ein schwarz gekleideter Fußgänger aus der Dunkelheit hinter mir auftauchte.

Nachdem es allmählich ganz so aussah, als wäre ich den Männern tatsächlich entkommen, machte ich mir Gedanken darüber, was ich jetzt tun sollte. Ich hatte kein Geld bei mir und kannte mich hier nicht aus. Aber selbst wenn ich den Weg gewusst hätte, hätte ich mich keineswegs schon jetzt zurück ins Sanatorium getraut. Zu groß war meine Angst, dort oder auf dem Weg dorthin den Männern zu begegnen, die mich aus einem mir unerfindlichen Grund unbedingt tot sehen wollten. Ich wusste auch nicht, wo Direktor Engel wohnte oder wie ich ihn erreichen konnte. Die Telefonnummer, die Gabriel auf seinem Mobiltelefon gespeichert hatte, hatte ich mir nämlich nicht gemerkt. Es hatte also ganz den Anschein, als wäre ich für den Augenblick zwar mit dem Leben davongekommen, nun aber allein und auf mich gestellt.

Da erinnerte ich mich an den Zettel mit Michaels Telefonnummer, der noch immer in der Gesäßtasche meiner Jeans steckte. Zum Glück hatte ich mich angezogen, bevor ich mich vor einer gefühlten halben Ewigkeit auf den Weg gemacht hatte, um nachzusehen, was der abgewürgte Schrei zu bedeuten hatte. Und das nicht nur, weil ich deswegen Michaels Nummer bei mir hatte, denn andernfalls müsste ich jetzt zu allem Verdruss auch noch im Nachthemd durch die Gegend marschieren.

Ich holte den Papierfetzen aus der Tasche. Dann entfaltete und glättete ich ihn sorgfältig mit den Fingern, bevor ich im Licht einer Straßenlaterne versuchte, die Nummer zu lesen. Anschließend drehte ich mich einmal um die eigene Achse und sah mich dabei aufmerksam in meiner augenblicklichen Umgebung um. Eine Telefonzelle, von denen es ohnehin nur noch wenige gab, war nirgendwo in Sicht. Allerdings hatte ich auch nicht das dafür nötige Kleingeld oder eine Telefonkarte einstecken. Ich erinnerte mich an die Möglichkeit eines R-Gesprächs, bei dem der Angerufene die Kosten des Gesprächs übernehmen konnte, wusste allerdings die entsprechenden Nummern nicht, die man dafür wählen musste. Aber selbst wenn ich die Nummer gekannt hätte, würde mir das nur etwas nützen, wenn ich einen öffentlichen Fernsprecher fand, der natürlich – Murphys Gesetz folgend – genau dann nicht in der Nähe war, wenn man ihn am dringendsten benötigte.

Ich ging weiter und beschloss, auf das Anbrechen des neuen Tages zu warten, am besten auf einer Bank oder etwas Ähnlichem, wo sich mir die Möglichkeit bot, meine müden Beine auszustrecken und ihnen eine dringend benötigte Pause zu gönnen. Sobald es hell geworden war, musste es wieder gefahrlos möglich sein, ins Sanatorium zurückzukehren, da die Eindringlinge spätestens dann sicherlich das Weite gesucht hatten, wenn sie nicht schon längst weg waren, weil sich ihr Zielobjekt auch nicht mehr dort befand. Zu einer zivilisierteren Uhrzeit dürften auch mehr Menschen auf den Straßen unterwegs sein, die ich dann nach dem Weg fragen konnte.

Plötzlich kam direkt vor mir eine dunkle Gestalt um die nächste Hausecke. Ich blieb abrupt stehen und wich erschrocken zwei Schritte zurück, befürchtete ich doch im ersten Moment, es könnte sich um einen meiner Verfolger handeln, dem es gelungen war, mich aufzuspüren. Doch der junge Mann, dem ich mich gegenübersah, war keiner der nächtlichen Angreifer. Er schien über mein unvermutetes Erscheinen mindestens ebenso erschrocken zu sein wie ich, denn allem Anschein nach hatte er um diese Uhrzeit nicht mit einem weiteren nächtlichen Spaziergänger gerechnet. Er trug auch keine schwarzen Geheimkommando-Klamotten, sondern eine ausgewaschene und schlabberige hellblaue Jeans und ein rotes T-Shirt mit einem Aufdruck, den ich nicht genau erkennen konnte.

Der Mann hob beide Hände, sodass ich seine leeren Handflächen sehen konnte, und zeigte mir damit, dass er nichts Böses im Sinn hatte. In einem möglichst beruhigend klingenden Tonfall sagte er: »Keine Angst, ich will Ihnen nichts tun. Ich bin auch nur auf dem Weg nach Hause.«

Ich nickte zum Zeichen, dass ich verstanden hatte und ebenfalls nicht vorhatte, ihm etwas anzutun. Schon wollte ich meinen Weg fortsetzen und an ihm vorbeigehen, als mich die Gegenwart des Mannes auf eine Idee brachte.

»Haben Sie zufällig ein Handy dabei?«

Er hatte bereits den ersten Schritt in meine Richtung gemacht, um seinen Heimweg fortzusetzen, doch nachdem ich ihn so unerwartet angesprochen hatte, blieb er jäh wieder stehen und nickte zögerlich. »Ja, natürlich. Warum fragen Sie?« Er konnte das plötzlich in ihm erwachte Misstrauen nicht ganz verbergen, als er mich mit schief gelegtem Kopf und leicht zusammengekniffenen Augen ansah.

»Dürfte ich mit Ihrem Handy einen kurzen Anruf machen? Ich verspreche Ihnen auch, dass es nicht lange dauern wird und wirklich nur ein Ortsgespräch ist. Ich möchte einen Bekannten anrufen, damit er mich abholt. Ich bin nämlich fremd hier und kenne mich überhaupt nicht aus.«

Er benötigte nur einen Moment, um über meine Bitte nachzudenken. Meine Erklärung schien ihn von der Harmlosigkeit meiner Bitte überzeugt zu haben, denn in der kurzen Zeitspanne wurde die misstrauische Miene durch einen verständnisvolleren Gesichtsausdruck ersetzt. Schließlich nickte er erneut zum Zeichen seines Einverständnisses. »Na gut.« Er holte ein Smartphone aus der linken Hosentasche seiner weiten Jeans. »Ich wähle für Sie. Wie ist denn die Nummer?«

Vielleicht traute er mir doch nicht so ganz, was meine Behauptung anging, dass ich nur ein Ortsgespräch führen wollte, und wollte sich auf diese Weise davon überzeugen, dass ich die Wahrheit gesagt hatte. Ich nahm es ihm unter den gegebenen Umständen allerdings nicht übel. Außerdem war es mir egal, wer von uns die Nummer wählte, solange ich nur mit Michael sprechen konnte.

Ich hob den Zettel, den Michael mir gegeben hatte und den ich noch immer in der Hand hielt, und las ihm die Nummer vor. Die Zahlen waren an diesem Ort zwar nur schlecht zu erkennen, da wir nicht in unmittelbarer Nähe einer Straßenlaterne standen, aber ich kannte die Nummer ja schon, weil ich sie erst vor wenigen Augenblicken gelesen hatte, was mir nun das Entziffern erleichterte.

Der junge Mann wählte mit einem hoch konzentrierten Ausdruck auf dem Gesicht und reichte mir anschließend das Gerät.

Ich hob es ans Ohr und hörte es am anderen Ende der Leitung mehrmals klingeln. Ich stellte mir vor, dass Michael in diesem Moment aus tiefstem Schlaf geweckt wurde, aus dem Bett kroch und laut fluchend zu seinem Handy stolperte, das vermutlich unter einem Stapel Klamotten lag, die er gestern getragen und vor dem Zubettgehen achtlos auf den Fußboden geworfen hatte. Schlief er möglicherweise sogar nackt und lief nun so, wie Gott ihn erschaffen hatte, durch sein Schlafzimmer?

Der junge Mann, dem das Handy gehörte, hatte sich zwei, drei Schritte zurückgezogen, um mir für das Gespräch ein wenig Privatsphäre zu gönnen, war aber noch immer nah genug, um mich rasch ergreifen zu können, falls ich doch keine harmlose nächtliche Spaziergängerin war, sondern mich in Wahrheit als gemeingefährliche Handyräuberin entpuppen sollte. Ich hätte gern sein Gesicht gesehen, wenn er erfahren hätte, dass ich wie ein fünftklassiger amerikanischer Kinogangster eine geladene Pistole mit Schalldämpfer im Hosenbund stecken hatte. Doch da ich meinen Helfer in der Not nicht erschrecken wollte und außerdem gerade der denkbar schlechteste Moment für derartigen Blödsinn war, ließ ich die Waffe an Ort und Stelle stecken.

Ich warf dem jungen Mann einen entschuldigenden Blick zu und drehte mich weg, sodass ich seinen ungeduldigen Blick nicht länger erwidern musste und mich ungestörter fühlte.

Woher willst du überhaupt wissen, dass Michael tatsächlich allein in seinem Bett schläft, dachte ich und führte damit unwillkürlich meinen zuvor begonnenen Gedankengang über seine Schlafgewohnheiten fort. Dabei handelt es sich doch nur um reines Wunschdenken! Missmutig musste ich meiner besserwisserischen inneren Stimme recht geben. Eigentlich wusste ich so gut wie nichts über Michaels Privatleben. Allerdings war ich wegen der Art und Gefährlichkeit seiner Arbeit stillschweigend davon ausgegangen, dass er keine Frau hatte, die zu Hause auf ihn wartete, während er unter falschem Namen Satanistengruppen infiltrierte. Aber vielleicht war er unter seiner wahren Identität glücklich verheiratet und hatte zwölf Kinder.

Bevor ich diesen ernüchternden Gedanken in selbstquälerischer Weise weiterverfolgen konnte, ging am anderen Ende der Leitung endlich jemand an den Apparat, sodass die Verbindung doch noch zustande kam.

Michaels Stimme war für mich sogar über die Telefonverbindung unverkennbar, klang aber relativ verschlafen und undeutlich. Er gähnte laut, nachdem er sich durch die Nennung seines Nachnamens zu erkennen gegeben hatte.

»Hallo, Michael. Ich bin’s, Sandra … Sandra Dorn.« Ich glaubte zwar nicht, dass es allzu viele Sandras gab, die er kannte und die ihn mitten in der Nacht anrufen würden, hatte mich aber nach kurzem Zögern dazu entschlossen, meinen vollen Namen anzugeben, um Missverständnisse oder Nachfragen à la »Sandra wer?« zu vermeiden. »Können Sie kommen und mich abholen?«

Ich ersparte es mir, ihn ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass er mir freiwillig seine Nummer gegeben und gesagt hatte, ich sollte ihn anrufen, wenn ich wieder mal seine Hilfe benötigte. Wer so etwas tat, musste schließlich damit rechnen, dass der andere davon Gebrauch machte, auch wenn Michael dabei unter Umständen an eine etwas angenehmere Uhrzeit gedacht hatte. Aber was konnte ich dafür, dass ich mitten in der Nacht seine Hilfe benötigte?

Trotz der Tatsache, dass ich ihn soeben aufgeweckt hatte, war Michael so freundlich, nicht auf die Tageszeit hinzuweisen, sondern kam erfreulicherweise sofort zur Sache: »Was ist passiert?«

»Das lässt sich nicht in zwei Sätzen erklären. Ich sag’s Ihnen, sobald Sie mich abgeholt haben.«

»Gut! Wo sind Sie? Im Sanatorium?«

»Nein, nicht im Sanatorium. Einen Augenblick, bitte.«

Da ich selbst keinen blassen Schimmer hatte, wo ich mich befand, fragte ich meinen freundlichen Helfer, der mittlerweile von einem Fuß auf den anderen trat, als müsste er dringend auf die Toilette. Wahrscheinlich bereute er seine Freundlichkeit schon längst und wartete ungeduldig darauf, dass ich das Gespräch wie versprochen kurz hielt und rasch beendete, damit er endlich gehen konnte. Dennoch gab er mir ohne Umschweife die benötigten Auskünfte, die ich wortwörtlich an Michael weiterleitete. Was sich der junge Mann allerdings dabei dachte, dass ich, auch wenn ich hier fremd war, absolut keine Ahnung hatte, wo ich mich befand, wusste ich nicht. Seine hochgezogenen Augenbrauen und sein verwirrter Gesichtsausdruck ließen zumindest darauf schließen, dass er sich Gedanken darüber machte, auch wenn diese allem Anschein nach in keine bestimmte Richtung führten.

»Wer befindet sich bei Ihnen?«, fragte Michael, und der Tonfall seiner Stimme klang nicht länger verschlafen, sondern ausgesprochen aufgeweckt und vor allem misstrauisch.

»Ein freundlicher Mensch, der mir sein Handy geliehen hat. Alles Weitere erzähle ich Ihnen später.« Bevor er noch andere in meinen Augen überflüssige Fragen stellen konnte, trennte ich die Verbindung kurzerhand durch einen entschlossenen Knopfdruck. Dann gab ich dem jungen Mann das Mobiltelefon zurück, damit er endlich nach Hause und aufs Klo gehen konnte.

»Danke. Möglicherweise haben Sie mir damit das Leben gerettet!«

Wahrscheinlich hielt er meine Worte für einen Scherz oder eine bloße Redewendung, denn er winkte ab und lächelte nun wieder, allem Anschein nach erleichtert, dass er endlich gehen konnte. »Keine Ursache, jederzeit wieder.« Er steckte das Handy in die Tasche, hob lässig die Hand zum Abschied und marschierte dann an mir vorbei und zielstrebig davon.

Ich konnte ihm nicht verdenken, dass er meine Äußerung nicht ernst genommen hatte. Mir wäre es an seiner Stelle vermutlich nicht anders ergangen. Mir war jedoch klar, dass es sich dabei durchaus um die Wahrheit handeln konnte. Unter Umständen waren Klapp und seine Kollegen nämlich noch immer auf den Straßen unterwegs und auf der Suche nach mir, auch wenn ich dafür bislang zum Glück keine Anzeichen entdeckt hatte. Aber sobald ich sie zu Gesicht bekäme, wäre es vermutlich ohnehin zu spät. Und falls die Entfernung zu dem Attentäter, der mich entdeckt hatte, groß genug wäre, würde ich ihn möglicherweise nicht einmal sehen oder auch nur das Geräusch der schallgedämpften Waffe hören, bevor die Kugel mich traf und meinem Leben ein rasches Ende bereitete.

Um mein Glück nicht über Gebühr herauszufordern, und weil ich mich, als ich hier mitten auf dem Bürgersteig stand, wie auf dem Präsentierteller und allem, das zufälligerweise um die nächste Ecke biegen mochte, schutzlos und hilflos ausgeliefert fühlte, suchte ich nach einem Versteck, in dem ich die Zeit bis zu Michaels Ankunft wesentlich geschützter hinter mich bringen konnte. Nicht weit von mir, nur wenige Schritte entfernt, befand sich eine größere Wohnanlage. Vor der Anlage stand ein selbst im schwachen Mondlicht extrem hässlicher Holzverschlag, in dem die Mülltonnen der Hausbewohner gelagert wurden. In einer finsteren Ecke unmittelbar hinter diesem Verschlag wollte ich mich verborgen halten. Dort konnte ich von der Straße aus nicht entdeckt werden und in Ruhe und relativer Sicherheit auf Michael warten.

Dennoch galt weiterhin die Devise: Je früher er hier auftauchte und mich abholte, desto eher konnte ich mich auch wieder wirklich sicher fühlen.

Kapitel 6

Es dauerte eine Dreiviertelstunde, bis ich dieses Ziel erreichte und das erste Mal, seit der Schrei der Nachtschwester mich aus meinem Albtraum geweckt hatte, wieder das Gefühl hatte, in Sicherheit zu sein. Und das lag bestimmt nicht nur daran, dass ich in einem die ganze Nacht geöffneten Café in ausreichender Entfernung zum Sanatorium saß, einen riesigen Cappuccino vor mir stehen hatte, der bereits zur Hälfte geleert war, und ein cremiger Bart aus aufgeschäumter Milch meine Oberlippe zierte.

Ich leckte den Milchschaum genüsslich mit der Zunge ab und gab mich dem seltenen Luxus hin, die Augen zu schließen und den Geschmack, der meinen Mund ausfüllte, noch einen Moment länger zu genießen. Zumindest für diese wenigen kostbaren Sekunden wurden all meine Probleme und sämtliche Feinde und Gegner in den Hintergrund meines Denkens verdrängt, die außerhalb dieser Räumlichkeiten weiterhin darauf lauerten, sofort wieder über mich herzufallen, sollten sie mich auch nur zu Gesicht bekommen. Dabei handelte es sich um wesentlich mehr Probleme, Feinde und Gegner, als eine Frau in meinem Alter haben sollte. Frauen meines Alters sollten prinzipiell keine Feinde haben, deren größtes Bestreben es war, sie zu opfern oder möglichst rasch um die Ecke zu bringen. Und sie sollten sich auch keine Gedanken darüber machen müssen, wie sie ihren Zwillingsbruder aus den Händen finsterer Dämonenanbeter befreien konnten. Frauen in meinem Alter sollten sich stattdessen allenfalls den Kopf darüber zerbrechen, was sie zu ihrem nächsten Date anziehen und wie sie den gut aussehenden Kerl, auf den sie ein Auge geworfen hatten, an Land ziehen konnten, bevor eine andere ihnen zuvorkam.

Apropos gut aussehender Kerl! Ich öffnete die Augen wieder und sah Michael an, der mir an unserem Tisch unmittelbar gegenübersaß, ebenfalls in Gedanken versunken zu sein schien und gelegentlich an seinem Milchkaffee nippte.

Ich entließ die tröstende Leere, mit der ich meinen Verstand in dem verzweifelten Bemühen gefüllt hatte, alle bedrückenden Gedanken über meine gegenwärtige verzweifelte Situation für den Augenblick zu verdrängen, schluckte den mittlerweile geschmacklos gewordenen Rest des Milchschaums hinunter und richtete meine ganze Konzentration wieder auf das Hier und Heute, statt mich irgendwelchen albernen Träumereien vom sogenannten »normalen Leben« hinzugeben, das vermutlich ohnehin nur eine Illusion war. Schließlich wurden meine Probleme nicht dadurch gelöst, dass ich krampfhaft versuchte, die Realität zu verleugnen. Sie ließen sich auch nicht durch Wunschträume vertreiben oder zum Besseren verändern, sondern lauerten selbst dann noch hartnäckig hinter der nächsten Ecke auf mich.

Michaels gedankenverlorener Blick war in die Kaffeetasse gerichtet, die er zwischen seinen Händen hielt, als wollte er sich daran aufwärmen, doch ich bezweifelte, dass er deren Inhalt tatsächlich wahrnahm. Seine ganze Aufmerksamkeit war viel eher auf die Gedanken und Bilder fixiert, die gerade in seinem Kopf abliefen. So hatte ich zumindest die Gelegenheit, ihn ein paar Augenblicke ungeniert zu beobachten.

Er machte noch immer einen ebenso übermüdeten Eindruck wie in dem Moment, als ich zu ihm ins Auto gestiegen war. Ich hatte etwa fünfundzwanzig Minuten warten müssen, bis ein Wagen aufgetaucht war und zielsicher an der Stelle gehalten hatte, die ich Michael zuvor mit der Hilfe des jungen Mannes am Telefon beschrieben hatte. Allerdings war ich zu vorsichtig und vor allem zu verängstigt, um sofort aus meinem Versteck zu kommen. Erst als Michael ausstieg, sich neben das leise im Leerlauf brummende Fahrzeug stellte und suchend umsah, fiel mir eine riesige Last von den Schultern und gleichzeitig ein Teil der Anspannung von mir ab. Ich lief zu seinem Wagen, einem unauffälligen, silbermetallicfarbenen Golf 7, in den wir nach einer knappen Begrüßung rasch einstiegen.

Doch bevor wir losfuhren, zog ich Gehrmanns Pistole aus dem Hosenbund, da sie sich im Sitzen in meinen Unterleib bohrte, und das war alles andere als bequem. Michael beäugte die Waffe sichtlich überrascht, sagte jedoch nichts, sondern nahm sie mit spitzen Fingern entgegen. Anschließend wischte er sie mit einem Lappen, den er aus einem Fach der Fahrertür geholt hatte, und raschen, geübt erscheinenden Bewegungen sorgfältig ab. Vermutlich wollte er dadurch unsere Fingerabdrücke entfernen. Anschließend ließ er die Pistole im Handschuhfach verschwinden. Erst nachdem er all das erledigt hatte, fuhr er zu meiner Erleichterung los.

Bis auf den knappen Gruß hatten wir bis zu diesem Zeitpunkt kein Wort gewechselt. Erst dann, während der Fahrt durch die nächtlichen Straßen, erzählte ich ihm in geraffter Form, aber gleichzeitig möglichst detailliert, was die wesentlichen Merkmale der Geschehnisse anging, alles, was ich in den letzten teilweise hochdramatischen Stunden erlebt hatte. Zu meiner eigenen Überraschung konnte ich mich auf Michaels entsprechende Frage nach kurzem Nachdenken sogar an das Kennzeichen des vorderen der beiden Fahrzeuge vor dem Sanatorium erinnern. Michael rief daraufhin mit seinem Handy jemanden an, für den die unchristliche Tageszeit anscheinend keine Rolle spielte. Möglicherweise handelte es sich um einen Kollegen beim LKA, der in dieser Nacht Bereitschaftsdienst hatte. Michael meldete sich mit seinem Namen und seiner Dienstnummer, gab das Kennzeichen durch, das ich ihm genannt hatte, und bat um Überprüfung und Feststellung des Fahrzeughalters.

Nachdem ich ihm alles berichtet hatte, was in meinen Augen relevant erschien, schlug er vor, dieses Café aufzusuchen, von dem er wusste, dass es die ganze Nacht offen war. Außerdem lag es beruhigend weit vom Sanatorium entfernt. Wir wollten uns nämlich erst einmal möglichst weit vom Sanatorium und damit auch von den Eindringlingen, die vielleicht noch immer nach mir suchten, entfernen und ein paar Stunden verstreichen lassen, bevor Michael mich wieder ins Sanatorium zurückbrachte. Er war ebenfalls der Ansicht, dass die Angreifer längst die Flucht ergriffen hatten, nachdem ich ihnen entkommen war, da sie damit rechnen mussten, dass ich die Polizei alarmierte. Wir kamen dennoch überein, vorerst lieber auf Nummer sicher zu gehen. Und bei der einen oder anderen Tasse Kaffee und vielleicht auch einem Happen zu essen würde uns die Zeit vermutlich nicht allzu lang werden. Immerhin gab es das eine oder andere wichtige Thema, über das wir uns unterhalten konnten. Dass ich mich in Michaels Gegenwart ausgesprochen wohl und sicher aufgehoben fühlte, spielte bei meinen Überlegungen bestimmt auch eine Rolle, aber beileibe nicht die entscheidende.

Nachdem wir unser weiteres Vorgehen abgesprochen hatten, erzählte mir Michael, wie er die Stunden vor meinem Anruf verbracht hatte, während er den Wagen durch die nächtlichen Straßen Münchens zu unserem Ziel lenkte. Er hatte den Rest des gestrigen Tages bis spät in die Nacht damit zugebracht, für seine Vorgesetzten beim Landeskriminalamt einen möglichst detaillierten Bericht über seine letzten Undercover-Tätigkeiten, die Umstände und Gründe meiner Befreiung und die daran anschließende Flucht und Verfolgungsjagd durch den Wald verfassen müssen. Sein unmittelbarer Vorgesetzter im Dezernat Operative Spezialeinheiten, Bereich Verdeckte Ermittlungen, hatte ihn wegen des Auffliegens seiner Tarnung zwar nicht unbedingt die Hölle heiß gemacht, aber so richtig glücklich war beim LKA auch niemand darüber gewesen. Vor allem die Tatsache, dass die Satanisten im Anschluss untergetaucht und seitdem spurlos verschwunden waren, ließ die Ermittler nicht gerade gut aussehen und beunruhigte sie auch ein wenig. Dennoch war Michael glimpflich und vor allem ohne disziplinarische Strafmaßnahmen davongekommen. Allerdings war er, bis er den umfassenden Bericht schließlich fertiggestellt hatte, erst spät ins Bett gekommen und nur kurze Zeit später von mir wieder aufgeweckt worden. Insofern war es verständlich, dass er aufgrund des Schlafdefizits noch immer müde war und dementsprechend erschöpft und verdrossen aus der Wäsche guckte. Allerdings war es mir auch nicht viel besser ergangen, und ich hatte darüber hinaus wieder einmal um mein Leben rennen müssen, sodass sich mein Mitleid mit ihm in Grenzen hielt.

»Haben Sie keinen Hunger?«

Die Worte rissen mich aus meinen Überlegungen. Ich konzentrierte mich wieder auf das Gesicht meines Gegenübers und sah, dass Michael seine eigenen Gedankengänge abgeschlossen hatte und mich mit fragendem Gesichtsausdruck ansah. Auf der Fahrt hierher hatte ich noch einen äußerst heftigen Anfall von Heißhunger verspürt und das Gefühl gehabt, ich könnte mehrere Gänge eines Menüs gleichzeitig verputzen. Allerdings war diese Anwandlung ebenso rasch wieder verschwunden. Insgeheim führte ich das kurzzeitige und überwältigende Hungergefühl darauf zurück, dass ich erneut nur knapp einer gefährlichen Situation entgangen und gerade noch mit dem Leben davongekommen war. Als Folge überreagierten die Systeme meines Körpers nun wohl ein bisschen und lieferten fehlerhafte Informationen an die Schaltzentrale in meinem Gehirn.

»Der Cappuccino genügt mir vollkommen!«, gab ich Michael zur Antwort, weil ich auch jetzt keinen Hunger verspürte. Ich leerte die Tasse, bevor der Inhalt noch mehr abkühlte. Danach löffelte ich den Schaum heraus und aß ihn. Während ich damit beschäftigt war, hatte ich plötzlich einen anderen Einfall. Der mit aufgeschäumter Milch gefüllte Kaffeelöffel erstarrte auf dem Weg von der Tasse zu meinem Mund, während ich meinen Blick abrupt wieder auf Michael richtete, der mich die ganze Zeit über schweigend beobachtet haben musste. »Wissen Sie eigentlich, wo Dr. Schwarzer seine Kanzleiräume hat?«

Michael nickte langsam. Dass ich die Sprache ohne einen für ihn nachvollziehbaren Grund so plötzlich auf Dr. Schwarzers Büro gebracht hatte, überraschte ihn ersichtlich. Er sah mich misstrauisch an. Seine Augen, die er aufgrund der Müdigkeit ohnehin kaum richtig aufbekam, verengten sich noch mehr. »Dr. Schwarzers Kanzlei befindet sich zufälligerweise nicht weit vom Hauptgebäude des LKA entfernt, das in der Maillingerstraße im Stadtteil Maxvorstadt liegt. Aber aus welchem Grund wollen Sie das wissen, wenn ich fragen darf?«

Ich überlegte erst ein paar Sekunden, bevor ich ihm antwortete. Mir war nämlich schon im Voraus bewusst, dass ihn die Bitte, die ich an ihn richten wollte, vermutlich zunächst abschrecken würde. Dennoch war ich verzweifelt genug, das Wagnis einzugehen und zu versuchen, ihn davon zu überzeugen, dass es momentan der einzig gangbare und beste Weg war, um an Informationen zu gelangen. Ich bemühte mich allerdings, meine Worte möglichst sorgfältig und behutsam zu formulieren, weil ich die Befürchtung hegte, er würde mich ansonsten gar nicht ausreden lassen, sondern schon gleich am Anfang abwinken und mich gar nicht zu Ende anhören.

»Wie Sie sicherlich wissen, war Dr. Schwarzer der Anwalt meiner Adoptiveltern«, begann ich und klärte ihn dann über ein paar Einzelheiten auf, die ich selbst erst wenige Stunden zuvor in der geheimen Bibliothek von Direktor Engel und Karl Augstein erfahren hatte. Ich erzählte ihm, dass ich gar nicht die leibliche Tochter der Dorns, sondern von diesen zusammen mit meinem Zwillingsbruder vor der Beschwörungszeremonie adoptiert worden war, und dass sämtliche Unterlagen über die Adoption bei einem rätselhaften Brand vernichtet worden waren. »Als Hausanwalt der Familie war Dr. Schwarzer mit ziemlicher Sicherheit über die Einzelheiten der Adoption informiert. Vermutlich war er sogar als rechtlicher Vertreter der Dorns persönlich an dem Verfahren beteiligt und bewahrt daher in seinen Kanzleiräumen möglicherweise Unterlagen darüber auf. Dokumente also, die ansonsten, wenn überhaupt, nur unter immensen Schwierigkeiten aufzutreiben sein dürften, für mich, meine unbekannte Vergangenheit und mein weiteres Leben aber von enormer Bedeutung sind. Diese Papiere können mir unter Umständen Auskunft darüber erteilen, wer ich in Wahrheit bin und woher – aus welchem Ort und aus welcher Familie – ich ursprünglich stamme. Sofern sie existieren, muss ich diese Unterlagen unbedingt haben, Michael! Und zu diesem Zweck muss ich irgendwie in Dr. Schwarzers Kanzlei kommen!«

Während der letzten Sätze war meine Stimme, ohne dass ich es gewollt hatte oder es mir überhaupt bewusst geworden war, beständig lauter geworden und hatte gleichzeitig einen immer verzweifelteren Unterton angenommen. Im Café herrschte um diese Zeit nur wenig Betrieb. Im Hintergrund war leise Musik zu hören. Es war also so ruhig, dass eine der beiden Servicekräfte hinter der Theke durch meine erhobene Stimme aus uns aufmerksam wurde und alarmiert zu uns herübersah. Sie musterte mich misstrauisch, als befürchtete sie, ich wäre betrunken und könnte ihr Arbeit und Ärger verursachen. Ich schenkte ihr ein betont übertriebenes Lächeln, um ihr zu demonstrieren, dass alles in Ordnung war und sie sich gefälligst um ihren eigenen Kram kümmern sollte. Ob mein Blick sie eher beruhigte oder einschüchterte, wusste ich nicht. Allerdings sah sie rasch weg und widmete sich wieder ihrer augenblicklichen Tätigkeit, worin auch immer diese bestand.

Ich bemühte mich daraufhin, meine Stimme zu dämpfen und einen wesentlich ruhigeren Tonfall anzuschlagen, als ich rasch weitersprach. Ich ahnte, dass ich Michael noch nicht davon überzeugt hatte, dass mein Vorhaben sowohl gut als auch richtig war, und wollte ihm keine Zeit lassen, in Ruhe darüber nachzudenken und möglicherweise die unzähligen Haare in der Suppe zu finden. »Vielleicht entdecken wir in der Kanzlei auch Unterlagen über den Ort, an dem mein Zwillingsbruder sich momentan aufhält. Dr. Schwarzer und seine Gruppe müssen ihn irgendwo gefangen halten. Er ist möglicherweise schwer verletzt und braucht dringend ärztliche Hilfe. Unter Umständen können wir also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und auf diese Weise auch seinen Aufenthaltsort herausfinden. Denn wir müssen ihn unbedingt aus den Klauen dieser sogenannten Satanisten befreien, da diese Leute nicht zögern werden, ihn bedenkenlos für ihre wahnwitzigen Zwecke zu opfern.«

Anstatt erneut beständig lauter zu werden, war meine Stimme am Ende meines Vortrags zu einem Flüstern geworden, bevor sie schließlich ganz verstummte. Ich forschte in Michaels Gesicht nach einem Anhaltspunkt dafür, was in diesem Augenblick in seinem Kopf vorging. Doch er sah mich noch immer völlig ausdruckslos an, und seiner Miene war nicht zu entnehmen, was er von meinem Ansinnen hielt. Hätten wir Poker gespielt, hätte ich gegen ihn wohl im wahrsten Sinne des Wortes schlechte Karten gehabt.

Verzweifelt suchte ich in meinem Verstand nach weiteren Argumenten, mit denen ich ihn überzeugen konnte, doch ich hatte bereits alle angeführt, die mir in meiner augenblicklichen Erregung eingefallen waren. Würde ich jetzt fortfahren, so würde ich mich nur wiederholen und womöglich sogar zu stottern anfangen. Das wollte ich nach Möglichkeit vermeiden, weshalb ich es für ratsam hielt, vorerst lieber die Klappe zu halten und gar nichts zu sagen, auch wenn es mir schwerfiel.

Auch Michael schwieg, ließ sich meine Worte augenscheinlich noch einmal gründlich durch den Kopf gehen und sah mich solang mit einem Gesichtsausdruck an, aus dem nicht das Geringste zu lesen war, dass ich beinahe die Geduld verlor und trotz meines Vorsatzes, ruhig und abgeklärt zu wirken, aus der Haut fahren wollte. Mir wäre es sogar egal gewesen, was die Bedienung hinter der Theke von mir gehalten hätte, wenn ich erneut laut geworden wäre. Doch bevor das geschehen konnte, erkannte ich, dass die Ausdruckslosigkeit in seinen Augen nicht bedeutete, dass ihn meine Worte nicht erreicht hatten, sondern nur den Kampf verbergen sollte, der sich in diesen Sekunden in seinem Innersten abspielte.

Ich wusste nicht, ob es schon immer Michaels Charakter entsprochen hatte, seine Gefühle so geschickt zu verstecken, oder ob dies eine Folge seiner Tätigkeit als Undercover-Ermittler des LKA war. Auf jeden Fall hätte er mit dieser Fähigkeit genauso gut Profi-Pokerspieler und rasch sehr reich werden können.

Als Michael endlich das Wort ergriff und meiner ungeduldigen Warterei damit ein Ende bereitete, machte er äußerlich weiterhin einen vollkommen gelassenen Eindruck: »Sie wissen schon, dass Sie mich gerade dazu anstiften wollen, eine ganze Reihe von Straftaten zu begehen, Sandra?«

Ich nickte nur und schluckte beklommen, denn dieser Ansatz klang nicht sehr vielversprechend.

»Und dann auch noch ausgerechnet ein Einbruch in eine Anwaltskanzlei«, fuhr Michael ebenso ruhig fort und schüttelte über die schiere Ungeheuerlichkeit meiner Bitte den Kopf. »Sie wissen natürlich schon noch, dass ich Polizeibeamter bin?« Es war natürlich nur eine rhetorische Frage, und so ersparte ich mir jede Antwort darauf. »Ich kann nicht einfach irgendwo einbrechen, wenn mir danach ist. Wahrscheinlich haben Sie zu viele schlechte Filme gesehen, in denen Polizisten ständig in fremde Häuser und Wohnungen einbrechen. Aber in der Realität gelten die Gesetze auch für uns. Sogar und gerade für Beamte, die verdeckt ermitteln. Noch dazu wären alle Beweise, die wir dort finden – falls es sie überhaupt gibt –, vor Gericht überhaupt nicht verwertbar, weil sie auf illegale Weise beschafft …«

»Es geht hier doch nicht um Beweise für ein Gerichtsverfahren«, unterbrach ich ihn wesentlich erregter und lauter, als ich geplant hatte. Ich warf einen raschen Blick auf die Servicekraft, die erneut hinter einer monströsen Kaffeemaschine hervorlugte. Als sie meinen Blick auf sich gerichtet sah, zog sie aber so schnell und gekonnt wie eine Schildkröte den Kopf wieder ein. Ein weiteres Mal bemühte ich mich, meine Stimme zu dämpfen, als ich einen letzten Versuch unternahm, doch noch zu retten, was scheinbar gar nicht mehr zu retten war. »Es geht nicht um irgendwelche Beweise«, wiederholte ich leise, »es geht hier um mich.« Beim letzten Wort legte ich beide Handflächen auf meine Brust, auch wenn es vermutlich etwas melodramatisch aussah, und sah meinen Gesprächspartner eindringlich und bittend zugleich an. »Verstehen Sie denn nicht, Michael? Wenn es in Dr. Schwarzers Büro irgendwelche Unterlagen über mich gibt, dann muss ich sie haben. Es zerreißt mich nämlich jedes Mal innerlich, wenn mir wieder einmal bewusst wird, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, wer ich bin und woher ich komme. Die Dorns und Dr. Schwarzer mit seinem verfluchten Satanisten-Verein haben mir meine Vergangenheit gestohlen. Und ich will sie – verdammt noch mal – endlich wiederhaben, damit diese schreckliche Leere in mir wieder mit Erinnerungen an mein Leben gefüllt werden kann …«

Ich verstummte, weil mir die Stimme versagte. Tränen liefen mir warm und feucht über das Gesicht. Ich vergrub es in beiden Händen und schluchzte unterdrückt.

Als Nächstes spürte ich seine Hand, die in einer eher unbeholfenen als tröstenden Geste, aber dennoch sehr zärtlich über mein Haar strich.

»Nun hören Sie schon auf zu weinen, Sandra«, sagte Michael und zog die Hand so rasch wieder weg, als hätte er sich verbrannt. »Sie haben ja schon gewonnen!«

Ich nahm die Hände vom Gesicht, mit denen ich die Tränen, diese verräterischen Beweise meiner Schwäche und Verletzlichkeit, vor ihm hatte verbergen wollen, und sah ihn mit skeptischer Miene an. Ich konnte kaum glauben, dass ich seine Worte gerade richtig verstanden hatte, und wartete insgeheim auf eine Bestätigung.

Er reichte mir eine Papierserviette, damit ich mir die Tränen abwischen konnte. »Sie haben schon richtig gehört. Ich setze meinen unkündbaren Beamtenstatus und meine Pension aufs Spiel, um für eine verzweifelte junge Frau in die Kanzleiräume eines erfolgreichen und bekannten Rechtsanwalts einzubrechen. Es klingt sogar noch wesentlich verrückter, wenn man es laut ausspricht, als nur darüber nachzudenken. Aber was soll’s? Lassen Sie uns also lieber sofort aufbrechen, bevor ich wieder zu Verstand komme und es mir doch wieder anders überlege!«

DAS BUCH ANDRAS II

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