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Umgebung von Oberhofberg, Eisenbahntunnel

11. April 2013, 10:33 Uhr

Mit dem Fahrrad-Mantel auf dem Beifahrersitz fuhr Schäringer durch Oberhofberg. Er hatte sich alle Tatorte – die Tankstelle, den Weiher, den öffentlichen Park in der Ortsmitte, die Garage der Hartwigs und die Stelle des Selbstmords der jungen Frau vor dem Eisenbahntunnel auf einer Karte markiert. Sie bildeten zwar keine schnurgerade Linie, die eine Systematik erkennen ließ, lagen aber dennoch aufgereiht wie Perlen auf einer leicht gewundenen Schnur, die insgesamt von Nordwesten nach Südosten verlief.

Er folgte gerade dem letzten Teil dieser Linie und fuhr auf einem engen Kiesweg durch den Wald. Als er schon wieder zwischen den Bäumen heraus und ins Freie kam, lag linker Hand des Weges ein verlassener, heruntergekommener Bauernhof. Das Wohnhaus musste schon vor Jahren niedergebrannt sein. Die Scheune daneben stand völlig schief und machte den Eindruck, als könnte sie jeden Moment beim feinsten Windhauch einstürzen.

Er konzentrierte sich auf den schmalen Feldweg, der ihn zum Bahndamm führte und dann parallel dazu verlief. Er fuhr noch ein Stück neben der Böschung her, bis der Weg vor ihm erneut scharf nach links abknickte, weil geradeaus der Steilhang der vielbefahrenen, sechsspurigen Autobahn lag, die wie eine Messerklinge die Landschaft teilte. Die Schienen auf dem Bahndamm verschwanden in einem Tunnel, der unter der Autobahn hindurchführte. Genau vor dieser Tunnelöffnung hatte sich die junge Frau vor den ICE gestürzt.

Er ließ den Wagen stehen und stieg zum Bahndamm hinauf. Der Lärm der Autos auf den sechs Fahrspuren, drei in jede Richtung, war sehr laut. Anscheinend herrschte um diese Zeit besonders viel Verkehr. In der Nacht, als die Unbekannte überrollt worden war, musste jedoch weit weniger los und der Geräuschpegel nicht so hoch gewesen sein. Vielleicht sollte er noch einmal zum Zeitpunkt des Unfalls hierher zurückkehren, um die Lautstärke der Verkehrsgeräusche von der Autobahn zu überprüfen.

Er erreichte das obere Ende des Hangs, blieb allerdings in respektvollem Abstand zu den Gleisen stehen und sah sich um. Reste von Absperrbändern lagen herum und flatterten im leichten Wind, dazwischen weggeworfene Einweghandschuhe. Und wenn man die Schienen, die Holzbohlen und den Schotter des Gleisbetts ein wenig genauer ansah, konnte man hier und da noch immer Flecken und Tropfen aus getrocknetem Blut entdecken. Alles andere, einschließlich jeder Menge weggeworfenen Mülls, war fein säuberlich eingesammelt und eingetütet worden, um es im Labor kriminaltechnisch zu untersuchen. Schließlich wurde momentan nur vermutet, dass es sich um einen Suizid handelte, bis ein Fremdverschulden zweifelsfrei ausgeschlossen werden konnte.

Auch alle Bruchstücke eines Handys, die man gefunden hatte, waren eingesammelt worden. Allerdings waren Gerät und PIN-Karte dermaßen zerstört gewesen, dass man daraus vermutlich nichts mehr über den Anschluss und den Eigentümer herausfinden konnte. Außerdem hatte man einen Teil der Bruchstücke gar nicht mehr gefunden, weil sie entweder zu klein waren, um sie im Gras der Böschung beiderseits des Gleisbetts zu entdecken, oder aufgrund der Wucht des Aufpralls und der Geschwindigkeit des Zuges zu weit weggeschleudert worden waren.

Da die Tote auch keinerlei Papiere bei sich gehabt hatte, war bislang jeder Versuch gescheitert, sie zu identifizieren. Wenn es tatsächlich ein Selbstmord gewesen war, worauf zumindest der erste Anschein hindeutete, hätte die junge Dame es ihnen auch leichter machen können, denn sie hatte nicht einmal einen Abschiedsbrief hinterlassen. Und wie war sie überhaupt hierhergekommen? Vom Ortsrand bis hierher waren es viereinhalb Kilometer. Schäringer hatte das auf der Fahrt mit seinem Kilometerzähler überprüft. Zu Fuß ein ziemliches Stück. Wenn man allerdings mit dem Fahrrad unterwegs war, sah die Sache schon anders aus. Allerdings war kein Fahrrad in der Nähe gefunden worden. Wäre ja auch zu schön gewesen.

Schäringer rief sich die Karte ins Gedächtnis und suchte nach dem nächstbesten Ort, an dem man einen Wagen abstellen konnte, ohne dass es sofort jemandem auffiel. Er erinnerte sich, dass es ganz in der Nähe, ungefähr zwei bis drei Kilometer von hier, eine Autobahnraststätte gab. Allerdings lag sie auf der anderen Seite der Autobahn. Die kürzeste Art, von hier dorthin zu kommen, war der Weg durch den Tunnel.

Schäringer runzelte unwillig die Stirn, beugte sich dann ein wenig nach vorn und sah in den dunklen Tunnel. Da er nur bis zur anderen Seite der Autobahn reichte, konnte er das andere Ende als hellen Rundbogen etwa 40 Meter entfernt sehen. Momentan war zwar weit und breit kein Zug zu sehen, er wollte jedoch auf keinen Fall mitten im Tunnel überrascht werden. Rechts und links der Gleise gab es zwar genug Platz, wenn man sich dort flach auf den Boden legte oder gegen die Tunnelwand presste, würde einen der vorbeirauschende Zug auch nicht erwischen. Allerdings befürchtete Schäringer, der Luftzug eines mit Hochgeschwindigkeit durch die enge Röhre fahrenden ICE könnte einen Menschen mitreißen und unter die Räder wirbeln.

Er lauschte angestrengt, würde wegen der Verkehrsgeräusche von der Autobahn aber vermutlich erst dann hören, dass ein Zug angebraust käme, wenn er bereits darunter läge. Er griff in die linke Innentasche seines Jacketts und holte den Fahrplan heraus, den er sich nach dem Besuch bei Frau Hartwig am Bahnhof geholt hatte. Er fuhr mit dem Zeigefinger über die Spalten und Zeilen, bis er fand, wonach er gesucht hatte. Der nächste planmäßige Zug würde aus dieser Richtung durch den Tunnel fahren und nach diesem Fahrplan erst in ungefähr 27 Minuten kommen. Ein ICE aus der anderen Richtung musste kurz vor seiner Ankunft vorbeigekommen sein. Hoffentlich hatte der heute nicht Verspätung.

Schäringer steckte den Fahrplan wieder ein und seufzte tief, bevor er nach einem letzten Blick auf seinen Wagen neben den Schienen in den Tunnel ging. Er hielt sich möglichst nah an der linken Tunnelwand, ohne sie allerdings zu berühren, und sah geradeaus zum Ende des Tunnels. Dort konnte er allerdings nur einen Rundbogen aus Tageslicht und nichts von der Landschaft sehen, die dahinter lag. Wenn ein Zug kommen sollte, würde er ihn vermutlich erst sehen, sobald er in den Tunnel fuhr und das Tageslicht blockierte. Und hören würde er ihn vermutlich noch später, denn die Fahrzeuggeräusche von der Autobahn erschienen ihm im Tunnel noch viel lauter. Außerhalb des Tunnels hatte er anscheinend nur die Geräusche von den näher gelegenen Fahrspuren gehört, und das war schon verhältnismäßig laut gewesen. Innerhalb des Tunnels fühlte er sich wie in einem Schalltrichter, der jeden zusätzlichen Laut verstärkte, denn er hörte jedes einzelne Fahrzeug, das darüber hinwegfuhr, in Form eines dumpfen Dröhnens, das ihm durch Mark und Bein ging und seine fest aufeinandergepressten Zähne vibrieren ließ.

Alle fünf Schritte sah er über die Schulter nach hinten, ob sich von dort ein Zug näherte. Das wäre zwar immer noch mehr als 20 Minuten zu früh und für die Deutsche Bahn eher untypisch, aber man wusste ja nie.

Im Tunnel war es viel wärmer als draußen, als staute sich hier die Luft, und ihm traten Schweißperlen auf die Stirn.

Warte nur ab, bis der nächste Zug wie ein Sturm hier hindurchfegt und mehr frische Luft mitbringt, als dir guttut.

Allerdings wollte er längst nicht mehr hier sein, wenn es dazu kam. Er beschleunigte seine Schritte unwillkürlich, als er seiner Schätzung nach die Hälfte der Strecke geschafft hatte. Über ihm musste nun der Mittelstreifen der Autobahn liegen, an dem in diesem Moment unzählige Fahrzeuge in beiden Richtungen vorbeirauschten, deren Reifen ein tiefes Dröhnen auf dem Asphalt erzeugten, das Schäringer allmählich Kopfschmerzen verursachte.

Schon mal was von Flüsterasphalt gehört?

Sein Kopf ruckte so abrupt herum, dass es in seinen Halswirbeln knackte und ein stechender Schmerz durch seine Wirbelsäule fuhr, als er plötzlich das Gefühl hatte, ein kühler Luftschwall hätte ihn von hinten getroffen. Im ersten Moment ging er davon aus, dass es sich um die verdichtete Luft handelte, die ein Zug vor sich herschob, der durch einen Tunnel fuhr. Er rechnete bereits damit, direkt ins Führerhaus eines Triebwagens zu blicken, und machte sich bereit, sich augenblicklich gegen die Wand zu pressen. Doch hinter ihm war nur der leere Tunnel.

Er schluckte, holte tief Luft und wischte sich mit dem Handrücken die Schweißperlen von der Stirn, bevor sie ihm in die Augen laufen konnten. Dann sah er rasch wieder nach vorn. Er hatte das Gefühl, die Tunnelwände zögen sich um ihn herum immer enger zusammen, als wollten sie ihn zwischen sich zerquetschen. Er erhöhte seine Geschwindigkeit noch einmal, lief nun beinahe im Dauerlauftempo, geriet noch mehr ins Schwitzen und atmete keuchend.

Nie wieder!, sagte er sich im Rhythmus seiner Schritte, jede einzelne Silbe ein Schritt. Nie wieder! Nie wieder! Nie wieder!

Nie wieder würde er aus freien Stücken in einen Tunnel gehen, wenn auch nur die entfernteste Möglichkeit bestand, dass ein Zug kommen könnte! Er war definitiv zu alt für solche Abenteuer.

Die letzten Meter legte Schäringer im Spurt zurück. Kaum hatte er das Tunnelende erreicht und kam ins grelle Tageslicht, trat er rasch zur Seite und lehnte sich mit dem Rücken erschöpft gegen die Wand neben der Tunnelöffnung. Er schnappte nach Luft, während er mit zitternden Händen ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche fummelte und sein schweißüberströmtes Gesicht trocken wischte.

»Nie wieder!«, sagte er noch einmal laut, auch wenn niemand in der Nähe war, der ihn hören konnte. Da er nun aber auf dieser Seite des Tunnels war und sein Auto noch immer auf der anderen, stellte sich die Frage, wie er wieder zurück zu seinem fahrbaren Untersatz kam. Er beschloss, von der Autobahnraststätte entweder ein Taxi oder einen Streifenwagen zu rufen, der ihn zurückbrachte. Immerhin hatte er durch seine wahnwitzige Aktion bewiesen, dass man auf diesem Weg rasch auf die andere Seite der Autobahn gelangen konnte, wenn man nur wagemutig genug war. Allerdings bestand natürlich auch die Gefahr, dass man, wenn man nicht aufpasste, von einem Zug überrollt wurde. Und genau das war letzte Nacht einer jungen, bislang noch unbekannten Frau geschehen.

Nachdem Schäringer wieder halbwegs zu Atem gekommen war, sah er sich um. Um zur Autobahnraststätte zu kommen, musste er sich nach rechts wenden. Und dazu musste er zunächst das Gleis überqueren. Er trat wieder näher an die Schienen, bis er in den Tunnel sehen konnte. Dies war seiner Meinung nach der gefährlichste Moment, wenn man von der Seite vor den Tunnel trat und nicht wusste, ob gerade ein Zug hindurchfuhr. Hören konnte man ihn wegen der Geräusche von der Autobahn vermutlich ohnehin nicht. Und wenn man darüber hinaus in Gedanken versunken oder abgelenkt war, oder wenn man sich vielleicht aufgrund unvorhergesehener Ereignisse verspätet hatte und die berechneten Zeiten nicht mehr stimmten, dann konnte leicht ein Unglück passieren.

Er blickte in den Tunnel, der noch immer leer war. Kein bedrohlich schwarzer Umriss eines heranrasenden, brüllenden Ungetüms verdunkelte die Tunnelöffnung auf der anderen Seite, von der er gekommen war und die ihm nun gar nicht mehr so weit entfernt vorkam. Gerade eben im Tunnel war ihm der Weg viel länger erschienen. Er sah auf die Uhr. Bis der nächste Zug eintraf, dauerte es noch immer ungefähr 20 Minuten, sofern er pünktlich war.

In einer mondlosen Nacht würde man allerdings keine helle Tunnelöffnung am anderen Ende sehen können, sondern nur tiefschwarze Dunkelheit. Unter Umständen die Lichter des näher kommenden Zuges, aber vielleicht war es dann schon zu spät.

Schäringer sah noch einmal wie ein artiges Schulkind, das auf dem Nachhauseweg die Straße überqueren musste, in beide Richtungen, um ganz auf Nummer sicher zu gehen, dass tatsächlich kein Zug kam, ehe er rasch über die Schienen lief. Auf der anderen Seite ging es wieder eine steile Böschung nach unten, wo es einen weiteren Feldweg gab, der am Rand der Autobahn entlang aufwärts führte. An seinem Ende konnte er bereits die Raststätte sehen.

Während er vorsichtig die Böschung hinunterging, um nicht zu stürzen, suchte er den Boden nach Fußabdrücken und Reifenspuren von Fahrrädern ab. Er fand jedoch nur einen schmalen Pfad aus festgetretener, trockener Erde, auf dem keine Spuren zu finden waren. Es sah ganz so aus, als würde dieser Weg regelmäßig benutzt werden. Allerdings musste man Schäringers Meinung nach Nerven wie Drahtseile haben, um mehr als einmal durch den Tunnel zu gehen.

Als er das Ende der Böschung und den Feldweg erreichte, blieb er nicht stehen, um zu verschnaufen, sondern marschierte sofort zügig weiter.

VIER TODESFÄLLE UND EIN TANKSTELLENRAUB

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