Читать книгу Vier Todesfälle und ein Tankstellenraub & Der tote Kapitän im Wald - Eberhard Weidner - Страница 5
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ОглавлениеOberhofberg, Tankstelle in der Fürstenfeldbrucker Straße
10. April 2013, 21:51 Uhr
Das Unheil begann in dieser mondlosen Nacht mit der Ankunft des Fahrradfahrers an der Tankstelle, aber das ahnte Fabian Becker zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Und er wusste auch nicht, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hatte, sonst hätte er sich in den letzten Minuten seines Lebens vermutlich ganz anders verhalten.
Fabian arbeitete gern in der Tankstelle. Vor allem in einer Nacht wie dieser. In exakt neun Minuten würde er die Tür verschließen und die Kunden nur noch über den Nachtschalter bedienen. Allerdings war momentan ohnehin nichts los. Fabian überlegte, ob er schon jetzt abschließen sollte, dann könnte er sich noch besser auf die zweite Halbzeit des Champions-League-Viertelfinales zwischen Juventus Turin und Bayern München konzentrieren, die vor zwei Minuten angepfiffen worden war. Wenn allerdings vor 22 Uhr doch noch ein Kunde kommen sollte und sich bei Fabians Chef beschwerte, würde es nur wieder Ärger geben. Darauf konnte Fabian aber gut und gerne verzichten, deshalb beschloss er, alles korrekt nach Vorschrift zu machen und die paar Minuten auch noch abzuwarten.
Wenigstens hatte er den Fernseher, um das Spiel nebenbei verfolgen zu können. Es handelte sich um ein kleines, tragbares Röhrengerät, das bestimmt schon mehr als fünfzehn Jahre alt war, damit gewissermaßen aus der Steinzeit des Fernsehzeitalters stammte und auf zwei aufeinandergestapelten, leeren Bierkästen hinter dem Verkaufstresen stand. Der Bildschirm war im Vergleich zu dem Flachbildgerät, das er zu Hause hatte, geradezu winzig, aber er funktionierte und erfüllte somit seinen wichtigsten Zweck. So konnte Fabian das wichtige Spiel seines Lieblingsvereins gegen Juve verfolgen, während er gleichzeitig arbeitete und Geld verdiente. Und falls tatsächlich ein Kunde kam, konnte er den Fernseher mit der Fernbedienung unter der Theke einfach stumm schalten.
Soeben, es war die 49. Minute des Spiels, schoss der Turiner Spieler Fabio Quagliarella aus 17 Metern aufs Tor der Bayern. Fabian, der rein zufällig die deutsche Version desselben Vornamens trug, beobachtete atemlos und mit offenem Mund, wie der Ball gegen den Außenpfosten knallte, und vergaß dabei ganz, den Bissen seines Salami-Baguettes weiter zu kauen, den er gerade im Mund hatte.
Puh, gerade noch mal gut gegangen. Er atmete erleichtert durch, kaute weiter und schluckte dann.
Aus den Augenwinkeln registrierte er eine Bewegung vor der Tankstelle. Obwohl er den Blick nur ungern vom Bildschirm abwandte, aus Angst, er könnte die nächste spannende Torszene oder unter Umständen sogar das erste Tor verpassen, hob er automatisch den Kopf und sah nach draußen.
Er hatte mit einem Auto gerechnet, das an eine der vier Zapfsäulen gefahren war, doch es war nur ein Fahrradfahrer. Was wollte der denn hier? Allem Anschein nach war er kein Fußballfan, sonst säße er jetzt gemütlich zu Hause oder in seiner Stammkneipe vor der Glotze. So wie unzählige andere, die noch bis kurz vor dem Anpfiff hier gewesen waren, getankt hatten oder auf den letzten Drücker Getränke und Knabberzeug für einen spannenden Fernsehabend besorgt hatten. Zu der Zeit bis ungefähr fünf Minuten vor Spielbeginn war an der Tankstelle noch richtig viel los gewesen, beinahe schon Hochbetrieb, und Fabian war kaum mit dem Kassieren nachgekommen und gehörig ins Schwitzen geraten. Danach war aber kaum jemand gekommen, lediglich ein halbes Dutzend Kunden in der Halbzeitpause, sodass Fabian ganz ohne Störung die erste Halbzeit hatte verfolgen können.
Jetzt war es allerdings mit der Ruhe vorbei, denn der Radfahrer hatte mittlerweile sein Rad neben der Eingangstür abgestellt, marschierte zur Eingangstür und öffnete sie, sodass die Glocke läutete, die darüber angebracht war.
Fabian seufzte leise, als der Fahrradfahrer die Tankstelle betrat, und biss ein weiteres Stück von seinem Baguette ab. Er behielt den Kunden noch ein paar Sekunden im Auge, bis dieser, nachdem er sich kurz umgesehen und offenbar orientiert hatte, zum Zeitschriftenregal ging.
Der Radfahrer trug einen grünen Overall, wie ihn sonst nur Bundeswehrpiloten anhatten, allerdings ohne Rangabzeichen, und schwarze Stiefel. Er wirkte merkwürdig unförmig, so als trüge er unter dem Overall noch einen Pullover und ein zweites Paar Hosen, aber das war bei den derzeitigen niedrigen Temperaturen und der Tatsache, dass er nachts mit dem Fahrrad unterwegs war, nicht weiter verwunderlich. Darüber hinaus hatte er eine dunkelblaue Baseballkappe auf dem Kopf, deren langer Schirm die obere Hälfte seines Gesichts und seine Augen beschattete, und einen sehr dichten, schwarzen Vollbart.
Irgendetwas an der Art, wie sich der Typ bewegte und umsah, kam Fabian merkwürdig vor. Er kam jedoch nicht darauf, was ihn daran störte. Außerdem war das momentan auch nicht so wichtig. Wichtiger war das Fußballspiel, dem er nun schon zu lange keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
Fabian biss vom Baguette ab, kaute mechanisch und richtete den Blick wieder auf den Bildschirm. Es war die 52. Spielminute und stand zum Glück immer noch null zu null. Thomas Müller dribbelte in den gegnerischen Strafraum. Fabians Pulsfrequenz stieg, während er auf das erste Tor für die Münchener hoffte. Doch daraus wurde nichts, denn der Bayern-Spieler wurde abgeblockt.
Fabian sah rasch auf die Uhr. Es war bereits 21:55 Uhr, in 5 Minuten würde er die Eingangstür abschließen.
In diesem Moment fuhr draußen ein Auto an die Zapfsäule Nummer 2. Fabian bemerkte es erneut aus dem Augenwinkel und richtete den Blick nach draußen. Ein Mann, vermutlich ein paar Jahre älter als Fabian, stieg aus dem Wagen, umrundete den BMW und öffnete den Tankdeckel. Dann nahm er den Zapfhahn und steckte ihn in die Tanköffnung. Während das Benzin in den Tank floss, sah er sich aufmerksam um.
Fabian warf ganz automatisch einen Blick auf den Monitor der Überwachungskameras seitlich unter der Theke, doch der Bildschirm war dunkel. Erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass die Anlage defekt war und erst am folgenden Vormittag repariert werden sollte.
Er sah stattdessen wieder zum Fahrradfahrer am Zeitschriftenregal, der die Ankunft des Autofahrers ebenfalls bemerkt hatte und in diesem Moment über die Schulter nach draußen blickte. Das Auftauchen eines weiteren Kunden schien ihn zu größerer Eile anzutreiben, denn er kam mit einer Zeitschrift in der Hand und zügigen Schritten durch den linken der beiden Gänge, die zwischen den Warenregalen entlangführten, auf die Kasse zumarschiert.
Fabian nahm noch einen Bissen von seinem verspäteten Abendessen, bevor er es in die Ablage unter dem Verkaufstresen legte. Dann griff er nach der Fernbedienung für den Fernseher, die direkt daneben lag, und stellte das Gerät mit einem Knopfdruck stumm. Er warf einen letzten Blick auf den Bildschirm, aber es schien sich zwischenzeitlich nichts Dramatisches ereignet zu haben, denn die Partie war noch immer torlos.
Nachdem Fabian die Fernbedienung neben das Baguette gelegt und den Blick gehoben hatte, sah er, dass draußen ein Motorrad gehalten hatte. Allerdings stand es nicht an einer der Zapfsäulen, sondern zehn Meter vom Eingang entfernt bei den Münzstaubsaugern.
Verdammter Mist!, dachte Fabian verärgert. Da er erst den Radfahrer abkassieren musste und zwischenzeitlich vermutlich auch noch der Auto- und der Motorradfahrer in die Tankstelle kamen, würde er es wohl heute nicht schaffen, die Eingangstür pünktlich zu verriegeln.
Der Radfahrer war kurz stehengeblieben und hatte über die Schulter hinweg ebenfalls die Ankunft des Motorradfahrers verfolgt. Nun ging er rasch weiter.
Fabian hatte noch immer einen vollen Mund, als der Fahrradfahrer auch schon den Kassentresen erreichte, auf den er mit einer lässigen Bewegung aus dem Handgelenk die Zeitschrift warf, bevor er in den Overall griff, der vorne bis zur Höhe des Bauchnabels offen stand, und einen Gegenstand hervorholte, dessen glänzende Oberfläche das Licht der Leuchtstoffröhren unter der Decke reflektierte.
»Das ist ein Überfall!«, sagte der Fahrradfahrer mit tiefer, offenkundig verstellter Stimme. »Lass dir bloß keine Dummheiten einfallen, Freundchen …!«
Es war 21:57 Uhr, und Fabian hatte nur noch wenige Minuten zu leben.