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Auch eine Frage geschuldeter Solidarität

Die Replik von Andreas Lob-Hüdepohl auf Ottmar Fuchs

Zu Recht macht Ottmar Fuchs auf den sehr erheblichen Umstand aufmerksam, dass ‚unerschöpfliche‘ und darin letztlich ‚grenzenlose‘ Inklusion auch unter theologischer Rücksicht immer differenzsensibel ist und bleibt: Die moralische Grenze zwischen dem Täter sozialer Exklusion und seinem Opfer, das sein gleichberechtigtes Lebensrecht und damit Inklusion begehrt, wird nicht einfach eingeebnet. Sie ersatzlos preiszugeben wäre für jedes Opfer von Ausgrenzung nachgerade zynisch und obszön. Vollends könnte der Täter über sein Opfer triumphieren. Ungeniert könnte er von den lebensverneinenden Ausgrenzungen anderer profitieren, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Die Grenze zwischen Täter und Opfer verliert freilich ihren rechtfertigungstheologischen Schrecken: Dem Täter als Sünder droht ob seiner ausgrenzenden und darin lebensverneinenden Taten nicht ewige Verdammnis. Er muss sich seine Rechtfertigung vor Gott nicht mit einer moralischen Makellosigkeit verdienen, die ihn kategorisch überfordern würde. Denn auch für ihn gilt die unbedingte Zusage Gottes: Unerschöpflich gehalten und also einbezogen (‚inkludiert‘) zu sein in Seiner Liebe – vor aller Leistung und trotz aller Schuld. Dem Täter ‚droht‘ durch die unerschöpfliche Inklusion von Seiten Gottes – neben der Zumutung des Nicht-mehr-weiter-so – nur die Erfahrung eigener Schwäche; und vielleicht sogar ein Rest von Beschämung.

Unter dem Rubikon ‚Glaube als Inklusionsenergie‘ konfrontiert uns Ottmar Fuchs allerdings mit einer ernüchternden Einsicht: „Menschen können in dem Maß solidarisch sein, als sie selbst Solidarität bekommen. Sie können nicht mehr an Ängsten und Unsicherheiten aushalten bzw. bewältigen, als ihnen Vertrauen geschenkt wird und sie Vertrauen schenken können.“ Diese Einsicht muss verstören. Denn so lebensnah und plausibel sie zunächst erscheint, entpuppt sie sich bei näherem Hinsehen als – mindestens im sozialen Sinne – lebensbedrohlich: Sie geht von einem Nullsummenspiel solidarischer Praxis aus. Sie unterstellt, dass Solidarität – wie auch Vertrauen – nur dann gewährt wird, wo Menschen Reziprozität erfahren oder wenigstens in absehbarer Zukunft erwarten können.

Fuchs‘ ernüchternde Einsicht dementiert in letzter Konsequenz sogar die Möglichkeit dessen, was wir gerade als Christ/innen mit Vergebung meinen – übrigens immer noch die Voraussetzung dessen, was an Versöhnung zwischen Tätern und Opfern Realität werden kann. Vergebung bezeichnet gerade eine Wirklichkeit, in der das Opfer dem Täter schon dann verzeiht, ohne vorher die Tat, die ihn zum Opfer machte, gesühnt oder gar aufgehoben zu wissen; eine Tat, in der sich gerade die Verweigerung von Solidarität manifestiert und – als lebensverneinende Ausgrenzung auf Dauer gestellt – auf Seiten des Opfers Angst und Misstrauen auslösen müsste. Und doch geschieht nicht selten Vergebung – ohne dass der Vergebende vorher vom anderen oder überhaupt irgendwelche Solidarität oder Vertrauen erfahren hat oder zukünftig erwarten könnte.

In solcher Vergebung erfährt der Täter gerade durch die Vergebungsbereitschaft dessen, an dem er zum Sünder geworden ist, Gottes Gnade. Mehr noch: Ihre Eigenart und Größe gipfelt darin, dass sich ausgerechnet das Opfer als Vergebender solidarisch mit dem Täter als dem Sünder erweist. Denn das Opfer zeigt sich in seiner Schwäche als erstaunlich stark; es spielt durch seine Vergebung dem Täter Chancen des Neuanfangs zu und befreit ihn so von der Barriere, die jener in seiner ängstlich verbissenen Selbstsorge durch seine Ausgrenzungen errichtet hat.

Die unerschöpfliche Inklusion von Seiten Gottes nimmt in der unerfindlichen und vor allem ungeschuldeten Inklusionsbereitschaft von Seiten der Ausgegrenzten immer neu Gestalt an. Sie geht in einseitige ‚Vorleistung‘ und beginnt, die Barrieren zwischen Opfern und Tätern niederzureißen. Man könnte von der befreienden Kraft radikal innovatorischen Handelns sprechen, die in solcher Vergebungsbereitschaft offenbar wird und in der die Gnade Gottes unter Menschen (weiter-)lebt. So wird „Heil von Gott für Menschen“ (Edward Schillebeeckx), wird Erlösung gegenwärtig: „Dass Menschen sie darstellen dürfen, ohne sie erschöpfen zu müssen – das ist“ für Thomas Pröpper „das Wesen christlicher Freiheit und der Grund ihrer Hoffnung: die geschichtliche Realität der Erlösung.“ Dass die befreiende Kraft radikal innovatorischen Handelns keinesfalls nur ein Wunschdenken spiegelt, belegen vielfältige Alltagserfahrungen. Es gehört zu den befreienden Paradoxien, dass ausgerechnet von Opfern sozialer Ausgrenzungen, von Menschen mit Behinderungen also oder auch von Stigmatisierten, von Geflüchteten, von rassisch oder sexuell Diskriminierten oder auch von Frauen in oftmals subtil (weiter) wirkenden hierarchisch-abwertenden Geschlechterverhältnissen die ersten und darin auch entscheidenden Impulse für inklusive Prozesse in unserer Gesellschaft ausgehen; entscheidend deshalb, weil sie nicht zuerst auf die rächende Sühne oder wenigstens die ausgleichende Wiedergutmachung von denen bestehen, deren unrechtmäßige Ausgrenzung sie bislang getroffen und in ihren Lebensmöglichkeiten schwer beschädigt hat.

Damit kein Missverständnis entsteht: Weder stellt sich solche innovative Kraft von Seiten der Opfer sozialer Ausgrenzung selbstverständlich oder gar automatisch ein; noch kann sie von ihnen erwartet oder gar gefordert werden. Wir können sie maximal erhoffen und dankbar feststellen, dass es sie gibt und in Geschichte wie Gegenwart heilsam wirkt. (Ich habe diesen Gedanken verschiedentlich ausführlicher entfaltet, etwa in Lob-Hüdepohl, Andreas, Inklusion als theologisch-ethische Grundnorm – auch für die Armutsbekämpfung?, in: Eurich, Johannes u. a. (Hg.) Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Theologische Grundlagen und praktische Ansätze für Diakonie und Gemeinde, Stuttgart 2011, 158-174).

Anderes muss dagegen als moralische Forderung verbürgt sein: etwa das Recht von Opfern auf solidarischen Schutz vor sozialer Exklusion. Zugegeben: Es mag ja sein, dass – wie Ottmar Fuchs anmerkt – „Solidarität […] eher auf eine Weise [gelingt], wie sie Freundschafts- und Liebesbeziehungen charakterisiert. Wenn diese einander zugetan sind und zueinander sagen: ‚Für dich bin ich da, ohne Wenn und Aber!‘, wenn sie also füreinander Verantwortung übernehmen, nicht weil es von außen gefordert wäre, sondern weil diese Verantwortung unmittelbar aus einer Beziehung heraus wächst, die als Geschenk, die als Gnade erlebt wird“. Aber ebenso gilt: Das Recht von Opfern auf Schutz vor sozialer Exklusion darf keinesfalls allein dem Zufall einer solchen – im besten Sinne des Wortes! – gutmütigen Solidarität überlassen sein. Beistandssolidarität ist in Fällen schwerer Missachtung von Zugehörigkeitsrechten aus theologisch guten Gründen eine moralische Pflicht und darin Forderung. Es ist richtig: Ihr nachzukommen oder aber sich ihrer zu verweigern, das ändert nichts daran, selbst in der unerschöpflichen Liebe Gottes bedingungslos angenommen zu sein.

Ebenso richtig ist aber auch, dass die Antwort auf die rhetorische Frage Kains „Bin ich der Hüter meines Bruders?“ tatsächlich lauten müsste: „Ja, ich bin es wirklich“. Und ebenso richtig ist auch, dass die menschheitsgeschichtliche Etablierung von Moral und Recht etwa mit ihren diesbezüglichen Forderungen nach menschenrechtsbasierten Solidarverbindlichkeiten mindestens aus Gründen eines verlässlichen Opferschutzes Teil von Gottes guter Schöpfung sind – auch wenn wir wissen, dass mit moralischen Forderungen in Kirche und Gesellschaft Missbrauch getrieben wurde und nach wie vor getrieben werden kann.

Im Kontext von Inklusion auf Moral und ihren Forderungen zu verzichten hieße, die Opfer sozialer Exklusionen ein weiteres und vielleicht endgültiges Mal auf Abstand zu halten und auszugrenzen – nur weil man sich in seiner bürgerlichen Situiertheit aus den Beschädigungen billiger Schuldeinreden, die etwa von Seiten des kirchlichen Lehramtes tatsächlich immer wieder erfolg(t)en, nicht befreien muss, um selbst gut leben zu können.

Lebendige Seelsorge 1/2018

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