Читать книгу Der verschwundene Brief - Eckart zur Nieden - Страница 5
ОглавлениеProlog
Kassel, März 1941
Daniel schreckt aus dem Schlaf.
Was ist los? Was hat ihn geweckt?
Da ist es wieder – lautes Poltern unten an der Haustür. Rufe, die Daniel aber nicht verstehen kann, weil sein Fenster nicht zur Straße, sondern hinten hinausgeht.
Aber es ist auch nicht nötig, dass er die Rufe versteht. Wenn jemand mitten in der Nacht so laut Einlass verlangt, dann kann es nur die Gestapo sein.
Daniel springt aus dem Bett und beginnt, sich in fliegender Eile anzuziehen.
Jetzt ist er also da, der Augenblick, den er längst erwartet hat. Seine Mutter wollte es ja nicht wahrhaben. Obwohl hinter vorgehaltener Hand oft genug davon gesprochen wurde. Und Joschi aus seiner Klasse, auch ein Jude, ist schon seit Wochen nicht mehr in die Schule gekommen. Niemand weiß, wo er ist.
Als Daniels Vater noch lebte, hat er gemeint, wenn sie der Kirche beiträten, könnte ihnen nichts passieren. Er hatte ihn auch oft zu dessen Freund Hans Droste geschickt, damit er da im evangelischen Pfarrhaus möglichst viel über das Christentum lernen konnte. Er meinte, das würde es glaubwürdiger machen, dass sie nun keine Juden mehr seien. Er wollte nicht begreifen, dass die Nazis nicht an der Religion interessiert waren. Denen ging es um die Abstammung.
„Frau Grüntal?“
Jetzt sind sie offenbar im Haus. Seine Mutter hat sie hereingelassen. Was sie jetzt antwortet, kann Daniel nicht verstehen. Ihre Stimme ist leise und ängstlich.
Hätte seine Mutter nur auf ihn gehört! Aber seit Vaters Tod ist sie so merkwürdig unentschlossen. Immerhin hatte sie zugestimmt, dass Daniel die Wertsachen versteckte, wenigstens die beweglichen, die kostbaren Bilder und den alten wertvollen Schmuck und Vaters Münzsammlung. Aber weiter wollte sie nicht gehen, fliehen wollte sie nicht.
„Ihr Sohn?“, hört Daniel die Männer fragen.
„Ich hole ihn“, sagt seine Mutter, nun etwas lauter. Vielleicht will sie so verhindern, dass die Polizisten selbst hinaufgehen.
Daniel ist mit allem fertig. Angezogen ist er, der Rucksack liegt bereit, und das Seil hat er um den mittleren Holm des Fensters geschlagen.
Er hat es seiner Mutter gesagt: Wenn wir nicht zusammen fliehen, dann fliehe ich alleine. Sie wollte ihm das ausreden. Als ob er noch ein Kind wäre! Aber er ist sechzehn, fast siebzehn!
Damals, als er bei Drostes im Pfarrhaus war und mit seinem Freund Hans romantische Pläne schmiedete, da war er dreizehn, dann vierzehn gewesen. Da wäre so eine Flucht wohl ziemlich aussichtslos gewesen. Spielerei. Aber jetzt …
Seine Mutter kommt herein.
Bleich, mit Tränen in den Augen, steht sie nur da und sagt nichts. Daniel umarmt sie wortlos.
„Sie sind da. Sie … du hattest recht …“, stottert sie.
„Ich weiß, Mutter. Ich bin vorbereitet.“ Er deutet auf das Fenster. „Willst du nicht doch noch schnell …“ Sie schüttelt den Kopf. „Ich soll dich holen.“
„Sag ihnen, ich sei nicht da. Vielleicht noch nicht vom Besuch bei Freunden zurück oder so. Natürlich nehmen sie das nicht einfach hin, sie werden selbst heraufkommen. Aber es verschafft mir etwas Zeit. Ich brauche nur zwei oder drei Minuten.“
Seine Mutter legt die Hand an seine Wange. „Gott mit dir, mein Sohn!“
Während er sich den Rucksack auf den Rücken wirft, sagt er: „Unser alter Gott oder unser neuer?“ Da merkt er, dass das ironisch klingt, aber so hat er es nicht gemeint, und er fügt hinzu: „Ich weiß, es ist wohl derselbe.“
„Gott behüte dich!“
„Und dich auch!“
Von unten ertönt lautes Rufen: „Na, wie denn? Kriegen Sie ihn nicht wach? Oder warum dauert das so lange?“
Daniel schiebt seine Mutter aus dem Zimmer und küsst sie noch einmal auf die Wange.
„Ich versuche sie noch etwas aufzuhalten“, sagt sie. Er schließt die Tür.
Daniel war nur sehr widerwillig zu den Treffen der Hitlerjungen gegangen, als sie dort noch nicht wussten, dass er Jude war. Immer nach dem Motto seines Vaters: Nur nicht auffallen!
Aber immerhin hatte er dort gelernt, wie man sich eine Wand hinunter abseilt.
Unten angekommen, lässt er das Seil hängen. Das offene Fenster würde ihn sowieso verraten.
Den weiteren Fluchtweg hatte er gründlich ausgekundschaftet. Über den Hof auf die Parallelstraße, schnell hundert Meter nach rechts und dann in eine der kleinen dunklen Gassen.
Natürlich würde er gern aus der Ferne beobachten, was sie mit seiner Mutter machen. Aber das würde ihn unnötig in Gefahr bringen. Er hastet weiter und bleibt erst stehen, als mindestens ein Kilometer Luftlinie zwischen ihm und dem Haus liegt. Dann setzt er sich auf den steinernen Pfosten eines niedrigen Gartenzauns.
Eigentlich hat er vorgehabt, zunächst bei seinem Freund Hans Droste Zuflucht zu suchen. Aber jetzt überlegt er – das geht nicht! Die Gestapo weiß ja so ziemlich alles, sie wird auch wissen, dass er oft und lange im Pfarrhaus in Niedernrode war. Dort werden sie nach ihm suchen. Nicht auszudenken, was das auch für Drostes bedeutet, wenn sie ihn dort finden sollten!
Aber wohin dann?
Sein Plan B fällt ihm ein. Eigentlich eher ein Plan Z oder so, nicht besonders gut. Aber er weiß sonst keinen.
Eine halbe Stunde später steht er vor der Haustür von Frau Schultheiß, seiner Lehrerin für Latein und Geschichte. Sie ist so ein freundlicher Mensch, dass Daniel sich nicht vorstellen kann, von ihr abgewiesen zu werden. Sie hat ihn immer genauso behandelt wie die anderen, die in der letzten Zeit mehr und mehr von ihm abgerückt sind. Vielleicht sogar noch freundlicher, um die Unfreundlichkeit der Mitschüler auszugleichen. Außerdem hat Frau Schultheiß den Vorteil, dass sie allein lebt.
Als er geklingelt hat, muss er warten. Natürlich, sie schläft sicher um diese Zeit. Aber er klingelt nicht gleich ein zweites Mal. Er will sie ja nicht ärgerlich machen.
Nach einer Zeit, die ihm wie eine Viertelstunde vorkommt, aber wohl nur zwei oder drei Minuten dauerte, öffnet Frau Schultheiß im ersten Stock ein Fenster und schaut heraus.
„Frau Schultheiß, entschuldigen Sie …“, flüstert er. Sie schneidet ihm mit einer Handbewegung das Wort ab und antwortet nur: „Moment!“
Kurz darauf öffnet sich die Haustür. Seine Lehrerin steht da im Morgenrock. Daniel fällt zum ersten Mal auf, dass sie ziemlich gut genährt aussieht. Was einem alles durch den Kopf geht, wo es doch jetzt viel Wichtigeres gibt!
Frau Schultheiß nickt ihm zu. „Komm rein, Daniel!“ Anscheinend hat sie sofort begriffen, worum es geht.
„Nicht lange, Frau Schultheiß, nur für den Rest der Nacht und morgen. In der nächsten Nacht will ich weiter …“
„Mach einen großen Schritt über die dritte Stufe! Die knarrt so laut.“
Als sie in ihrer Wohnung sind, gehen sie vom Flüstern wieder zu normaler Lautstärke über. „Sie wollten uns holen“, erklärt er. „Ich bin geflohen. Aber sie haben meine Mutter …“
„Es tut mir leid, Daniel. Aber erzähle mir nichts weiter. Besser, ich weiß möglichst wenig. Möchtest du dich noch etwas zum Schlafen aufs Sofa legen?“
„Ich kann jetzt doch nicht schlafen. Aber ich würde gern – hätten Sie bitte ein Blatt Papier und einen Stift für mich?“
„Selbstverständlich.“ Sie holt beides aus einem anderen Raum, nimmt die Zierdecke vom Wohnzimmertisch und legt das Papier darauf. „Da kannst du schreiben.“
„Und würden Sie auch noch … Ich weiß, es ist unverschämt, ich dringe mitten in der Nacht hier ein und …“
„Lass mal! Ich helfe gern. Ich soll den Brief, den du schreibst, abschicken?“
„Ja, bitte. An Hans Droste. Die Adresse haben Sie ja von der Schule. Ich schreibe sie noch mal auf.“
„Das mache ich. Ich gehe jetzt wieder ins Bett. Du kannst dich nachher aufs Sofa legen. Solltest du morgen noch schlafen, wenn ich in die Schule muss – da ist Brot und was du sonst noch brauchst für ein Frühstück.“
„Ganz herzlichen Dank!“
„Schon gut! Ich wünsche dir … ja, was? Alles Gute? Der Wunsch ist vielleicht zu hoch gegriffen. Gutes Gelingen für deine Pläne wünsche ich dir. Und dass deine Mutter … na, gute Nacht, Daniel!“
Sie tritt auf den Flur hinaus, um ins Schlafzimmer zu gehen, so schnell, dass Daniel sein „gute Nacht“ nur noch zu der verschlossenen Wohnzimmertür sagen kann.
Dann legt er den Rucksack auf den Boden, setzt sich an den Tisch und nimmt den Stift zur Hand.