Читать книгу Die Gilde der Seelenlosen - Eckhard Bausch - Страница 12

Kapitel 2 – Die Mitteilung des letzten Überlebenden

Оглавление

Jalbik Gisildawain sah sich gehetzt um.

„Fürs Erste sind wir den Häschern des Hafenmeisters entkommen“, beruhigte ihn Stilpin.

Die Kutsche stand nun abseits der ohnehin unbelebten Straße auf einer Lichtung in einem nur schwer zugänglichen Waldstück. Der Kutscher hatte all seine Fertigkeiten aufbieten müssen, um diese von Stilpin ausgekundschaftete Stelle zu erreichen.

Mittlerweile hatten sie auch längst die Hauptverkehrsader zwischen Dukhul und Zitaxon verlassen. Dort schien die Entdeckungsgefahr einfach zu groß. Ein weiterer Grund lag darin, dass Stilpin und der Freibeuter beschlossen hatten, nach Borthul zu fliehen. Zwar widerstrebte ihnen der Gedanke, dorthin zurückzukehren, wo sie erst unlängst hergekommen waren; andererseits bot sich aber voraussichtlich nur in Lodumon oder Flagant die Gelegenheit, mit Hilfe eines Schiffes die Ovaria an einen möglichst sicheren Ort zu bringen. Insgeheim schwebte Stilpin das Paradies der Küste in Oot als Zielort vor. Dort würde er sich endlich auch seinen eigenen Traum erfüllen können.

„Wir können uns nicht ewig hier verstecken“, nörgelte Jalbik Gisildawain.

„Das habe ich auch nicht vor“, entgegnete der Priester des Wissens. „Ich werde den weiteren Verlauf des Weges erkunden. Danach können wir aufbrechen.“

Ohne die Zustimmung seiner beiden Reisegefährten abzuwarten, ging Stilpin zu einem der ausgeschirrten Kutschpferde und legte ihm einen Sattel auf. Sodann schwang er sich auf den Rücken des Pferdes und verschwand zwischen den dicht stehenden Bäumen am Rande der Lichtung.

Jalbik Gisildawain und der Kutscher harrten unschlüssig neben der Kutsche aus und hingen ihren Gedanken nach. Mit einer schwebenden Leichtigkeit entfernten sich diese Gedanken von ihrer derzeit misslichen Lage. Immerhin waren die Beschützer des Raupenwesens in einem feindlichen Land gestrandet und einer gnadenlosen Verfolgung ausgesetzt. Die Ausstrahlung der Ovaria ließ sie diese bedrohliche Lage aber vorübergehend vergessen.

Zwei Stunden mussten seit dem Aufbruch Stilpins bereits vergangen sein. Zunehmend begann eine körperliche Unruhe, die heitere Stimmung der beiden Männer zu verdrängen. In Wahrheit näherte sich ein Schatten, der den Einfluss der Ovaria überlagerte. Zwischen den Bäumen standen unvermittelt zwei Gestalten.

Das ist doch nicht möglich!, dachte der Freibeuter und sprang entsetzt auf. Bei dem größeren der beiden Ankömmlinge handelte es sich augenscheinlich um den Fremden, den er im Privatkerker seines Landsitzes auf der Insel Borgoi gefangen gehalten und später gegen den Höchsten Priester ausgetauscht hatte. War er gekommen, um sich zu rächen? Die furchterregende, sensenartige Waffe in seiner Hand mutete wie eine aus Stahl geschmiedete Bestätigung dieser Befürchtung an.

Jalbik Gisildawain riss das Schwert aus seinem Gürtel. Der Kutscher, der während der ganzen Zeit das Verhalten des Freibeuters beobachtet hatte, tat es ihm gleich. Völlig unbeeindruckt näherten sich die beiden Ankömmlinge. Die Männer aus Borgoi und Obesien konnten nun deutlich die gelben Augen mit den schwarzen Sehschlitzen erkennen. Obwohl die äußere Erscheinung der beiden Fremden ansonsten kaum unterschiedlicher hätte sein können, hatten sie die gleichen Augen.

„Willst du mich töten, obgleich ich dir das Leben gerettet habe?“, fragte der Freibeuter den weitaus größeren der beiden Männer. Unverkennbar schwangen Angst und Unsicherheit in seiner Stimme mit. Dennoch übersah er nicht den kurzen, erstaunten Blick, den sich die beiden Fremden zuwarfen.

„Ich bin nicht der, den du wiederzuerkennen glaubst“, antwortete der Mann mit der sensenartigen Waffe. Jalbik Gisildawain wusste in seiner Verwirrtheit gar nicht, was er glauben sollte. Der hässliche, sägende Klang der Worte war ihm durchaus vertraut. Genau so hatte sich die Stimme des Unbekannten angehört, mit dem er stundenlange Gespräche geführt hatte, nachdem er ihn aus dem tosenden Meer vor der Tasche von Derkh gefischt und anschließend in seinem Kerker auf dem Hügel Karadastak gefangen gehalten hatte.

„Steckt die Waffen weg!“, verlangte nun der Kleinere der beiden Fremden, ein zierlicher Mann mit schneeweißer Haut und goldenen Locken. „Wir wollen euch nicht töten. Aber wenn es sein muss, werden wir es tun.“

Er bückte sich und hob einen schweren Felsbrocken wie eine Feder empor. Der Freibeuter aus Borgoi wäre nicht in der Lage gewesen, diesen Felsen auch nur um Haaresbreite zu bewegen. Der zierliche, weiße Mann brach den Stein jedoch wie ein morsches Stück Holz in der Mitte entzwei und ließ die beiden Stücke zu Boden fallen. Zögernd steckten Jalbik Gisildawain und der Obesier nach dieser Machtdemonstration ihre Schwerter wieder weg.

„Mein Name ist Dorothon“, erklärte der Weiße Mann. „Und das ist mein Sohn Quosimanga. Wir werden die Ovaria an einen sicheren Ort bringen.“

*

Der Eisgraf atmete auf. Offensichtlich kam er nicht zu spät. Die Blätter des Eisbaums leuchteten in ihrer herbstlichen Farbenpracht. Mit einer unglaublichen Kaskade von Rottönen verabschiedete sich der Baum von dem allmählich zu Ende gehenden Jahr. In Kürze würde in diesem Teil Gatyas der bitterkalte Winter des Nordens Einzug halten, und alles Leben würde vorübergehend unter einer dicken Schneedecke versinken. Septimor hatte das Gefühl, an der Wiege der Menschheit zu stehen. Hier in Bregunzides kündeten die ältesten Zeugen des Kontinents vom frühesten Zusammenleben in einer Ansiedlung: die dicken Mauern dieser Anlage waren lange Zeit vor dem Beginn geschichtlicher Überlieferungen entstanden. Ihre Errichtung wurde den Ur-Sterzen zugeschrieben, einem Volk, dessen Herkunft sich im Dunkel der Vorgeschichte verlor.

Die Schnurrbartenden des Eisgrafen wippten in einer leichten Brise, die von Gatas herüberwehte, der Hauptstadt des nordwestlichsten Landes. Das leise Rascheln der angetrockneten Blätter zeigte Septimor, dass sich der Lebenssaft des Baumes bereits auf dem Rückzug befand. Dies entsprach jedoch der regelmäßigen Entwicklung im Ablauf der Jahreszeiten. Sollte Grakinovs Sorge unbegründet gewesen sein? Septimor konnte nichts erkennen, was das ruhige und friedliche Bild an diesem ältesten Ort der Zivilisation zu trüben vermochte. Selbst der mäßige Wind war wieder vollständig abgeflaut. Der Eisgraf setzte sich auf eine der ungewöhnlich dicken Mauern, die den mutmaßlichen Hof der vorzeitlichen Festungsanlage begrenzten. Er wartete, ohne zu wissen worauf.

Wie den meisten Menschen bereitete das Warten auch dem Mann aus Kerdaris keine Freude. Zu ereignisreich war sein Leben verlaufen, als dass er am Müßiggang hätte Gefallen finden können. An einem Ort wie Bregunzides galten jedoch andere Gesetzmäßigkeiten.

In unmittelbarer Nähe von Eisbäumen wurden die Eisgrafen stets von einer ganz besonderen Stimmung ergriffen. Es fühlte sich an, als ob die Seele auf einer Woge in einem Meer unbeschwerter Empfindungen dahintreiben würde. Die Zeit wurde bedeutungslos bei diesem Bad in der Glückseligkeit.

Das Licht und vor allem die Wärme der herbstlichen Sonne büßten auf ihrem Weg zum Horizont rasch an Kraft ein. Septimors entrücktes Bewusstsein kehrte jäh in die raue Wirklichkeit zurück. Das lag jedoch weniger an der allmählich einsetzenden Kälte. Vielmehr zeichnete sich im Westen gegen den Abendhimmel ein Reiter ab, der genau auf die vorgeschichtliche Sterzenfestung zuhielt. Es handelte sich um einen Mann mit langen, glatten, schwarz glänzenden Haaren und schwarzer Kleidung auf einem pechschwarzen Rappen. Selbst der Älteste und Erfahrenste der Eisgrafen konnte sich eines Gefühls der Beklemmung nicht erwehren, als er die flammenden Augen des Reiters und seines Pferdes gewahrte. Das waren unverkennbar keine Wesen, die der Kontinent hervorgebracht hatte!

Mit einem Satz schwang sich der schwarz gekleidete Mann aus dem Sattel und landete federnd auf dem Boden. Wortlos setzte er sich in Richtung des Eisgrafen in Bewegung. Septimor spürte körperlich die Bedrohung, die von dem Fremden ausging. Unwillkürlich, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu werden, setzte er den „vernichtenden Blick“ ein. Die wabernde Blase erfasste den Fremden, erlosch aber sogleich wieder. Der schwarzhaarige Mann setzte seinen Weg unbeirrt fort.

Septimors Hand krampfte sich um den Schwertgriff an seiner Seite, obwohl er bereits ahnte, dass auch diese Waffe der unheimlichen Gestalt keinen Einhalt gebieten konnte. Dann lösten sich jedoch schlagartig die feurigen Augen vom Gesicht des Eisgrafen und schauten nun in eine andere Richtung. Der Fremde schritt unmittelbar an Septimor vorbei, durch eine eingefallene Bresche im Verteidigungswall des Innenhofs zu den Überresten eines dahinter gelegenen Gebäudes. Der Eisgraf folgte ihm mit seinen Blicken und erstarrte. Zwischen den breiten Pfosten einer ehemaligen Türöffnung stand eine riesenhafte Gestalt in einer goldenen Rüstung.

„Halt!“, dröhnte die Stimme des goldenen Ritters. „Keinen Schritt weiter!“

Der Fremde blieb abrupt stehen, als sei er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Der Ritter mit der goldenen Rüstung trat zwei Schritte zur Seite und öffnete seine zur Faust geballte Hand. Sie hatte einen kleinen Metallwürfel umschlossen, aus dem ein kurzer Stift herausragte. Nun legte er diesen Würfel auf den Sockel einer abgebrochenen Säule und ging anschließend mehrere Schritte rückwärts.

Das Feuer in den Augen des Schwarzhaarigen loderte beim Anblick des seltsamen Gegenstandes noch stärker auf. Wie von einem Zwang getrieben trat er an den Würfel heran und griff danach. Das war der Augenblick, in dem er den Mann mit der goldenen Rüstung nicht im Blick behalten konnte. Der Ritter riss mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung sein riesiges, reich verziertes Schwert aus der Scheide, holte blitzartig aus und ließ es auf den Fremden herabsausen. Noch bevor die Klinge den Schwarzgekleideten berührte, schien sie sich in eine Flammenzunge zu verwandeln. Als sie auftraf, wurde sie von einem Mantel hüpfender Funken eingehüllt.

„Jetzt, Septimor!“, donnerte die Stimme des Ritters mit der goldenen Rüstung.

Der Eisgraf hatte sofort begriffen, was von ihm erwartet wurde. Ein leichtes Prickeln breitete sich in seinem Genick aus, während er von seiner besonderen Gabe erneut Gebrauch machte. Eine wabernde Blase erstickte die tanzenden Funken schlagartig. Dieses Mal entfaltete der „vernichtende Blick“ tatsächlich seine vernichtende Wirkung. Als die Blase in sich zusammenfiel, verschwand auch der unheimliche Fremde. Ein wenig Staub rieselte vor dem Sockel der abgebrochenen Säule zu Boden. Der goldene Ritter schritt achtlos über den verwehenden Staub hinweg, ergriff den eigenartigen Metallwürfel und ließ ihn wieder in dem Panzerhandschuh verschwinden, der seine mächtige Faust umschloss.

Dann sagte er zu Septimor: „Du hast den letzten Eisbaum Gatyas gerettet, vorläufig. Das Wesen, das du getötet hast, gehörte zur Gilde der Seelenlosen. Es war jedoch noch unfertig. Der Seelenlose hingegen, der den Eisbaum von Orondinur vernichtet hat, kann nicht mehr besiegt werden. Dennoch müssen wir den Kampf fortsetzen, wenn wir uns nicht feige in unser Schicksal ergeben wollen. Gehe nach Rabenstein und sage Unitor, dass er sofort seinen Eisbaum in Drinh aufsuchen soll. Die Gilde der Seelenlosen wird versuchen, auch diesen Baum zu zerstören. Helfe Unitor, ihn zu verteidigen! Mit dem Schwert von Umbursk könnt ihr den Feind besiegen, solange er den Baum noch nicht erreicht hat.“

Septimor erkannte schon an der Stimme, die keinen Widerspruch duldete, dass es keines weiteren Wortes bedurfte. Obgleich ihn bohrende Fragen beschäftigten, hob er die Hand für einen kurzen Abschiedsgruß. Er ahnte, dass er den Mann mit der goldenen Rüstung wiedersehen würde. Und ebenso ahnte er, dass er ihm zuvor schon einmal begegnet war, wenngleich auch in anderer Gestalt.

Der Eisgraf wandte sich ab und ging zu seinem Pferd, das auf einer nahegelegenen Wiese friedlich graste. Er musste schnellstens Rabenstein erreichen, um den Tod eines weiteren Eisbaums zu verhindern. Während er in der Ferne verschwand, begab sich der Ritter mit der goldenen Rüstung zu dem geretteten Eisbaum.

„Das Geflecht der alten Wesenheiten muss sofort den Krieg gegen seine Beschützer und Verbündeten einstellen“, verlangte er. „Andernfalls wird die Gilde der Seelenlosen alles, was auf die Schöpfer hindeutet, vom Angesicht dieser Welt tilgen. Sorge dafür, dass diese Kunde alle erreicht, die hiervon betroffen sind. Es gibt bereits einen Seelenlosen, der zum Seelenträger geworden und im Kampf selbst mit meiner Hilfe nicht mehr zu besiegen ist.“

Anschließend lief er zu dem rabenschwarzen Pferd des Seelenlosen, das immer noch wie angewurzelt an der gleichen Stelle stand, wo sein getöteter Besitzer es abgestellt hatte. Er schwang sich auf den Rücken des Rappen. Ohne den geringsten Widerstand gehorchte das Pferd seinem neuen Besitzer. Dessen eigenes Pferd schloss sich ihnen wenig später an. Der goldene Ritter ritt einige Meilen in westlicher Richtung. Dann wendete er nach Süden ab und ließ ein paar Stunden später sein eigenes Pferd frei. So konnte er sicher sein, den Seelenträger, der ihn verfolgte, in die Irre zu führen. Er würde seine Spur verlieren und auch nicht nach Bregunzides reiten.

*

Sicherlich entsprang die Entscheidung, den „Elefantenbuckel“ zu erklimmen, einem Gefühl der Hilflosigkeit. Von dieser Anhöhe am nordöstlichen Zipfel der Ebene von Pleeth hatte man einen der am weitesten reichenden Panoramablicke auf dem gesamten Kontinent. Dennoch durfte die kleine Gruppe natürlich nicht die Hoffnung hegen, das fieberhaft gesuchte Gefährt zu sichten. Außer Chrinodilh wusste niemand, wie die Nachricht übermittelt worden war. Trotzdem zweifelte keine der vier anderen Personen ernsthaft daran, dass sie zutraf. Eine Flotte des Hafenmeisters von Dukhul hatte das Schiff des Freibeuters Jalbik Gisildawain auf seinem Weg durch die Straße von Ludoi zum Anlanden gezwungen. Danach verlor sich die Spur der Kutsche mit der Ovaria in Sindra.

Dass selbst Larradana, von der die Mitteilung stammte, über den Aufenthaltsort der „Schlummernden“ nichts Näheres wusste, gab Chrinodilh zu denken. Noch bedenklicher erschien ihr aber die Tatsache, dass sich die Weiße Frau an der Suche nicht beteiligte, sondern stattdessen in Zitaxon ausharrte, um den Hochkönig zu beschützen. Es musste sich schon um äußerst gefährliche Bedrohungen handeln, wenn die Mutter der Pylax glaubte, in der Hauptstadt unentbehrlich zu sein.

Ilyris ging unruhig auf und ab und ließ dabei ihr Schwert kreisen. Sestor schliff die Schneide seines Dolches nach. Wie immer hingen dabei seine schwarzen Haare herab, sodass sein Gesicht nicht zu erkennen war. Ilkir schnitzte am Federkiel eines Pfeiles, und Chrinodilh stand am Kuppenrand des Elefantenbuckels. Sie wippte auf den Fußspitzen und versuchte anscheinend, über den Horizont hinauszusehen. Tergald lag lang ausgestreckt am Boden und hatte die Augen geschlossen.

„Es muss doch eine Möglichkeit geben, die Kutsche aufzuspüren“, sinnierte Ilyris.

„In vielen Teilen Sindras gibt es unwegsame Waldgebiete, wo man sich lange versteckt halten kann, ohne entdeckt zu werden“, meinte Sestor.

„Die Gilde der Seelenlosen ist bereits unterwegs.“ Die Stimme Chrinodilhs klang düster und überhaupt nicht kindlich. „Das Geflecht der alten Wesenheiten wurde aufgeschreckt. Ganz Sindra sucht nach der Ovaria. Sie wird gefunden werden. Leider aber nicht von einfachen Menschen.“

Stille trat ein. Dann öffnete Tergald die Augen und setzte sich auf.

„Im Buch der Vorzeit gibt es eine Geschichte, die von der Prophezeiung eines Mannes namens Brigaltio handelt“, berichtete er. „Brigaltio lebte zur Zeit der frühen Hochkönige. Mir ist eine Stelle seiner Prophezeiung wörtlich in Erinnerung geblieben. Sie lautet: „Durch die Unterdrückung der Menschen säen die Hochkönige den Hass. Der Widerstand wird sich an einer verborgenen Brutstätte des Zorns sammeln und gedeihen. Wenn das Verderben seinen Lauf nimmt, wird sich die Brut der Wut erheben und die Dynastie zerschmettern“. Das sind die einzigen Worte, die von Brigaltio im „Buch der Vorzeit“ überliefert sind. Sein Hauptwerk mit dem Titel „Die Proklamation des Umsturzes“ ist verschollen.“

Tergald legte eine kurze Pause ein, dann fuhr er fort: „Ich glaube nicht, dass Brigaltio wirklich ein Prophet war. Er muss ein Mensch gewesen sein, dem die Hochkönige großes Unrecht angetan haben. Niemand außer ihm hat im alten Sindra je gewagt, den Herrschenden derart offene Worte der Missbilligung entgegenzuschleudern. Entweder wurde er gevierteilt, oder es ist ihm gelungen, unterzutauchen und im Verborgenen weiterzuwirken. Wenn die Hochkönige ihn ergriffen und bestraft hätten, wäre das als Abschreckung gegen aufrührerische Bestrebungen gewiss überliefert worden. Keiner der alten Kriegerkönige hätte solche Worte geduldet. Folglich muss man davon ausgehen, dass stattdessen tatsächlich eine geheime Brutstätte des Zorns entstanden ist, eine Ansiedlung der Verfemten, die über die Zeiten darauf gewartet haben, die Dynastie in einem geeigneten Augenblick zu stürzen. Nach den Worten ihres Propheten ist dieser Augenblick gekommen, sobald „das Verderben seinen Lauf nimmt“. Jahrtausendelang wurde die „Brut der Wut“ nicht entdeckt. Jetzt aber, da sich die Gilde der Seelenlosen angeschickt hat, Tod und Verderben über den Kontinent zu bringen, liegt es nahe, dass die Verfemten ihr Versteck verlassen und sich gegen die alte Ordnung erheben.“

„Was hat das mit der Ovaria zu tun?“, stellte Sestor die naheliegende Frage.

„Wenn die Ovaria vom Geflecht der alten Wesenheiten aufgespürt wurde, werden ihre Beschützer sie an einen Ort bringen wollen, den möglichst niemand findet“, mutmaßte der Lokhriter. „Falls es die Brutstätte des Zorns tatsächlich geben sollte, wäre dies der am Besten getarnte Ort auf dem ganzen Kontinent. Denn obwohl er seit Jahrtausenden existieren würde, hat kein Außenstehender je von ihm gehört.“

„Wenn wir diesen Faden weiterspinnen, frage ich mich, was wir gewonnen haben“, maulte Sestor. „Statt einer gut versteckten Kutsche suchen wir einen noch besser versteckten Ort.“

Tergald sah zu Chrinodilh. Das Mädchen mit den goldenen Locken nickte ihm zu. Sie hatte verstanden.

„Es gibt sogar zwei Unterschiede“, belehrte sie den Eisgrafen. „Eine Ansiedlung ist viel größer als eine Kutsche, und sie befindet sich nicht in ständiger Bewegung. Deshalb ist sie trotz allem leichter zu finden.“

Ilyris hatte bemerkt, dass Tergald mit seinen Vermutungen noch nicht am Ende war. Sie liebte die scharfsinnigen Gedankengänge des Lokhriters.

„Wo – glaubst du – ist dieser Ort?“, fragte sie.

„Jedenfalls nicht in Sindra“, erwiderte er. „Im unmittelbaren Machtbereich der Hochkönige wäre ein solches Widerstandsnest längst entdeckt worden. Es gibt hierzulande zu viele Spione und Menschen, die den Hochkönigen wohlgesonnen sind, weil sie selbst von der Herrschaft über den gesamten Kontinent träumen. Andererseits will die „Brut der Wut“ sicherlich schnell zur Stelle sein, wenn sich das nahende Ende der Dynastie abzeichnet. Man wird also wohl annehmen müssen, dass sich der Ort in einem Nachbarland befindet. Lumburia scheidet aus, weil die Ureinwohner von jeher keine Fremden in ihrem Dschungel geduldet haben. Surdyrien lag schon immer im Machtbereich Obesiens. Die Obesier sehen die Sindrier als Feinde an, wobei es für sie gleichgültig ist, ob jemand der Dynastie wohlgesonnen ist oder nicht. Also bleibt nur Borthul übrig.“

„Müssten Wüteriche nicht befürchten, gerade dort am ehesten aufzufallen?“, wandte Sestor ein. „Borthul ist ein friedliches Land, das seine Nachbarn mit Nahrungsmitteln versorgt.“

„Deshalb ist es ja auch am besten als Unterschlupf für Menschen geeignet, die es von jeher verstanden haben, sich anzupassen“, erklärte Tergald. „Wir dürfen nicht nach einem außergewöhnlichen Ort suchen, wo sich offensichtlich gefährliche Menschen zusammengerottet haben.“

„Vielleicht wird es genau die Stadt sein, die am friedlichsten erscheint“, stimmte Chrinodilh zu.

„Das wäre aber auch auffällig“, meldete sich Ilkir zu Wort. Alle sahen ihn überrascht an. Sein Einwand zeugte von einer unabweisbaren Logik. Bisher hatte jeder den Mivv nur für einen blutrünstigen Jäger gehalten, der sich allein von seinen Sinnen leiten ließ.

„Wer sagt uns, dass es diese Siedlung wirklich gibt?“, zweifelte Sestor erneut.

„Gehen wir nach Borthul und finden es heraus!“, beendete Ilyris die Debatte. Sie steckte ihr Schwert weg und ging zu ihrem Schimmel. Damit war die Entscheidung gefallen.

*

Er hatte die Karte detailgetreu vor seinem inneren Auge. Deshalb kannte er die genaue Entfernung zur Senke, obwohl er sie noch nicht sehen konnte. Er entschloss sich, den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen. Seit er das kleine Eiland verlassen hatte, waren drei Wochen vergangen.

Einen „Deltong“ nannten ihn die auf dem Gatyschen Kap beheimateten Menschen. So lautete auch der Name der Insel, auf der er seit unvordenklichen Zeiten gewartet hatte, ohne zu wissen, ob seine Dienste jemals benötigt würden. Gewiss, er hätte die Zeitspanne des Wartens auf die Sekunde genau angeben können. Aber solche Dinge besaßen für ihn keinerlei Bedeutung. Einheiten der Zeit erschienen erst in einem Kampf wichtig. Ein solcher hatte nun jedoch begonnen. Der seit dem Verlassen der Insel verstrichenen Zeitspanne maß er deshalb eine Bedeutung bei, weil er daraus Rückschlüsse auf den Informationsstand seiner Gegner ziehen konnte. Sie als Opfer zu bezeichnen, wäre vielleicht zutreffender gewesen. Aber die eiskalte Logik des Deltong sagte ihm auch, dass sie erst mit ihrer Vernichtung zu Opfern wurden. Bis dahin waren sie seine Gegner. Und diese Gegner wussten inzwischen wahrscheinlich über den Beginn der Säuberungsarbeiten Bescheid.

Seine Schöpfer hatten die genaue Vorgehensweise festgelegt und in seinen biologischen Schaltkreisen verankert. Zuerst musste er sich den Seelenstein an der Wurzel eines Riesenbaumes beschaffen. Dieser Stein würde ihn unbesiegbar machen. Danach musste er alle Gegenstände und alte Wesenheiten auslöschen, die Rückschlüsse auf die einstige Anwesenheit der Schöpfer zuließen. Zuletzt, nach der Erledigung all dieser Aufgaben, durfte er sich selbst zerstören.

Das Signal, das die Deltongs veranlassen sollte, ihr winziges Eiland zu verlassen, war ausgelöst worden. Dies bedeutete, dass es keinen Schöpfer mehr auf der großen Insel gab, die die Menschen als „Kontinent“ bezeichneten.

In seinen schwarzen Stiefeln näherte sich der Deltong der Senke von Tarrda, der Heimstatt des Eisbaums von Kerdaris. Bald konnte er die schwarzen Ränder des weitläufigen Lochs erkennen. Die Schöpfer hatten den Deltong mit allen Kenntnissen ausgestattet, die im Zusammenhang mit seiner Aufgabe von Belang sein konnten. Daher wusste er, dass vor Millionen von Jahren ein großer Gesteinsbrocken vom Himmel herabgefallen und an dieser Stelle aufgetroffen war. Die Schöpfer bezeichneten ihn als einen „Meteoriten“. Seine glühende Hülle hatte den Boden derart verbrannt und verglast, dass mit Ausnahme des Eisbaums seither keine Pflanze mehr in der Senke wuchs.

Der Seelenlose verließ sich nicht ausschließlich auf seine eigenen Sinne, die man durchaus mit denen der Menschen vergleichen konnte. Er zog ein kleines Gerät aus einer Tasche seiner weiten, schwarzen Hose. Es gehörte zu der Ausstattung, mit der ihn die Schöpfer versehen hatten. Dieses Gerät verfügte über eine Reihe kleiner Knöpfe, mit deren Hilfe es sich in unterschiedliche Gegenstände verwandeln konnte. Die Schöpfer hatten sie als „Realprojektionen“ bezeichnet. Der Kern des Geräts, den sie „Energieprojektor“ nannten, blieb dabei stets unverändert erhalten.

Der Deltong betätigte einen der Knöpfe. Das Gerät veränderte sich nicht, zeigte dem schwarzgekleideten Mann aber an, was er mit seinen eigenen Sinnen bereits wahrgenommen hatte: weit und breit gab es kein lebendes Wesen, das von seiner Gestalt her als möglicher Gegner in Betracht gekommen wäre. Der Deltong empfand bei dieser Erkenntnis keine Erleichterung oder Befriedigung. Zu Gefühlen war er nicht fähig, noch nicht. Er steckte das Gerät wieder weg und bewegte sich weiter auf den Rand der Senke zu. Der Auftrag konnte nun zügig erledigt werden.

Das Instrument der Schöpfer eignete sich nicht nur dazu, das Vorhandensein lebender Wesen in einem bestimmten Umkreis festzustellen. Der Benutzer konnte sich damit auch noch ganz andere Dinge anzeigen lassen. Dafür bestand jedoch nach der berechnenden Logik des Deltong keine Veranlassung. Die auf dem Kontinent lebenden Menschen lagen in ihrer Entwicklung unendlich weit hinter den Schöpfern zurück. Und die Schöpfer selbst hatten den Kontinent verlassen. Folglich konnte es nichts geben, das den schwarzhaarigen Mann in irgendeiner Weise hätte gefährden können.

Sein Gang zur Senke von Tarrda endete abrupt und völlig unvorhergesehen. Für den Deltong fühlte es sich an, als sei er gegen ein engmaschiges Netz aus glühenden Fasern gelaufen. Blitze zuckten knisternd im gesamten Bereich seines Körpers auf. Funken sprühten nach allen Seiten. Winzige, rote Quadrate bedeckten seine Kleidung und fraßen sich in seinen Körper. Mit zunehmender Tiefe verdichteten sie sich und versengten seine inneren Organe.

Seine unbestechliche Logik wurde dem Deltong zum Verhängnis. Er war von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Den Fehler in dieser Rechnung hatten aber nicht einmal die Schöpfer selbst vorausahnen können.

Hätte der Seelenlose die Wurzel des Eisbaums erreicht, wäre er nicht mehr aufzuhalten gewesen. Stattdessen tappte er unmittelbar vor seinem Ziel in eine Falle. Seine letzten Gedankengänge wurden erneut von einer unumstößlichen Folgerichtigkeit geprägt: Offenbar musste jemand auf dem Kontinent mit der Denkweise der Schöpfer und ihrer Geschöpfe bestens vertraut sein. Oder stammte die Falle noch aus einer längst vergangenen Zeit und galt jemand anderem? Aber wem? Für die Menschen war sie offensichtlich unschädlich, denn sie reagierte auf eine Ausstattung, die kein Mensch besaß.

*

„Dies ist eine Begegnungsstätte, die zu einer friedlichen Verständigung der Völker beitragen soll“, erklärte Telimur eindringlich. „Selbst wenn wir Sie unterstützen wollten, hätten wir nicht die dafür notwendigen Mittel.“

Damit gaben sich die beiden Besucher jedoch nicht zufrieden.

„Wir sind von sehr weit hergekommen, um Ihre Hilfe zu erbitten“, appellierte der Kapitän aus Lokhrit. „Mir ist durchaus bewusst, dass Sie uns keine Armee zur Verfügung stellen können. Darum geht es aber auch nicht. Immerhin haben Sie mächtige Freunde.“ Er deutete mit einer vielsagenden Geste zur Tür, durch die gerade Ardenastra und Unitor eintraten.

„Worum geht es?“, wollte die Herzogin wissen.

In kurzen Worten schilderte der lokhritische Seefahrer, der sich in Begleitung eines Shondo befand, seine Geschichte zum zweiten Mal: „Ich habe zusammen mit vier anderen Schiffen der lokhritischen Flotte eine Sklaven-Galeere aufgebracht, die für den Schnorst von Oot Shondo nach Surdyrien transportieren sollte. Mein Begleiter hier war einer dieser Gefangenen. Er hat mir berichtet, dass Baradia und Uggx gemeinsam mit einem Schiffsbesitzer aus Lumbur-Seyth einen Seehafen oberhalb des Paradieses der Küste bauen, der vorwiegend diesem Sklavenhandel dienen soll. Baradia hat ihr Monasterium zu einer riesigen Befestigungsanlage umbauen lassen. Uggx hat ein Heer aus Shondo aufgestellt, mit dessen Hilfe er den Hafen und das Monasterium schützt, um weiterhin ungestört seinen Sklavenhandel betreiben zu können. Die Sklaverei verstößt gegen die Grundsätze der Menschlichkeit. Außerdem vertritt der Hafenmeister von Lohidan die Meinung, dass das Heer der Shondo eine Bedrohung für Lokhrit darstellt.“

„Ich kenne Uggx“, erklärte Unitor und dachte an die Zeit zurück, in der er an der Seite des Shondo gegen die Obesier gekämpft hatte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er eine Bedrohung für Ihr Land darstellt.“

„Seit Berion nicht mehr lebt, hat sich der Schnorst von Oot verändert“, warf der Begleiter des Lokhriters ein. „Meine Leute behaupten, dass er schon immer hauptsächlich seine eigenen Ziele verfolgt hat. Das muss damit zusammenhängen, dass er und Baradia nicht altern. Es gibt anscheinend einen Pakt zwischen dem Schnorst von Oot und der „Gütigen Frau“. Nicht nur mein eigenes Volk, sondern auch die Steppenmenschen werden von den beiden verraten und unterjocht. Wir müssen sie aufhalten, bevor es in Oot zu einem schrecklichen Krieg kommt.“

„Es tut mir leid“, wiederholte Telimur. „Wir können euch nicht helfen.“

„Vielleicht können wir das doch“, meinte Unitor. „Wir haben zwar keine Armee, aber möglicherweise können wir euch bei dem Versuch unterstützen, eure Schwierigkeiten selbst zu lösen. Einem meiner Vorfahren, Gundur zu Drinh, ist es gelungen, allein mit der Macht des Wortes die drei Nordlande zu vereinen. Es gibt Novizen in Rabenstein, die ich aufgrund ihrer Lebenserfahrung und ihrer Belesenheit für fähig genug halte, in Oot etwas zu bewirken.“

„Du denkst an Yruk und Drak“, erriet Telimur.

„Ja. Als Abkömmlinge von Eingeborenen wären sie die erste Wahl“, bestätigte Unitor. „Es entspricht doch der Tradition dieser Schule, dass die Novizen eine Aufgabe erledigen müssen, um zu vollwertigen Mitgliedern der Gemeinschaft von Rabenstein aufzusteigen. Yruk und Drak brennen schon lange darauf, sich zu bewähren. Schicke sie nach Oot!“

Telimur griff den Gedanken seines Freundes sofort auf. Auch er traute den beiden Shondo zu, in Oot eine Wendung zum Besseren bewirken zu können. Wenn es ihnen gelänge, die sittlichen Maßstäbe dort wieder ins Lot zu bringen, würden sie dadurch wahrscheinlich einen Krieg verhindern.

Zur gleichen Zeit befand sich jedoch ein weiterer Mann auf dem Weg nach Oot. Seine Haut war nicht schwarz wie die der Shondo, wohl aber seine Haare und seine Kleidung. Er strebte auch keine Veränderung der sittlichen Maßstäbe an. Er hatte nicht einmal eine Vorstellung davon, worum es sich bei sittlichen Werten überhaupt handelte. Dafür hatte er umso genauere Vorstellungen davon, was dort zerstört werden musste.

*

Ein kurzer Ruck verriet Eftian, dass ein Fisch angebissen hatte. Da er einen Gefleckten Pilgrim als Köderfisch benutzte, handelte es sich bei dem Fang mit Sicherheit um einen der großen, schmackhaften Flusskarpfen. Es kostete den Fischer einen erheblichen Kraftaufwand, die Angel festzuhalten. Die mehr als fingerdicke Rute aus einem Stämmchen des Sorkar-Strauchs bog sich bereits gefährlich durch.

Der hagere Mann stellte sich auf einen langwierigen Zweikampf mit dem armlangen Karpfen ein, der gewiss mehr als ein Drittel von Eftians eigenem Gewicht wog. Die dünne Tegkhra-Leine würde zweifellos halten. Aber galt das auch für die Sorkar-Rute, deren Krümmung nochmals verdächtig zugelegt hatte?

Aus den Augenwinkeln erfasste der Fischer die zierliche Gestalt, die neben ihm mit zwei schnellen Schritten in das seichte Wasser des Uferbereichs trat und die Angelleine ergriff. Der schwere Fisch sprang zappelnd aus dem träge dahinfließenden Gewässer, während der Fremde zurück zur Uferböschung lief und die Leine hinter sich her zog. Das geschah so entspannt, als würde kein riesiger Karpfen am Haken verbissen um sein Leben kämpfen. Bewegungslos und bass erstaunt sah Eftian zu, wie der weißhäutige Mann mit den goldenen Locken den Fisch scheinbar ohne Kraftaufwand unbeirrt aus dem Wasser zog. Mit einem eleganten Schwung warf er ihn dem Angler vor die Füße.

Ein kurzer Blick bestätigte Eftian, dass es sich um ein kapitales Exemplar handelte. Dann nahm er sich die Zeit, den Fremden genauer anzuschauen. Obgleich der Fischer angesichts der gelben Augen mit den schwarzen Sehschlitzen so etwas wie einen inneren Schlag verspürte, blieb er äußerlich völlig gelassen.

Eftians ausgebleichte, abgewetzte Kleidung war an etlichen Stellen nur notdürftig zusammengeflickt. Er ging barfuß, und das leicht angerostete Fischmesser, mit dem er seinen Fang tötete und ausnahm, schien sein einziger nennenswerter Besitz zu sein. In seinen dunklen Augen lag jedoch ein wacher und aufmerksamer Ausdruck.

„Bist du Eftian, der die Versammlungen der Flussfischer leitet?“, fragte der Weiße Mann.

„Ja, das bin ich“, antwortete der Fischer. „Und wer bist du?“

„Mein Name ist Dorothon“, entgegnete der Fremde mit den goldenen Locken. „Ich habe eine Bitte.“

Eftian lächelte und sah an sich herab: „Ich wüsste nicht, was ich dir geben könnte.“

„Ich befinde mich zusammen mit drei Gefährten auf der Flucht“, erklärte der Weiße Mann. „Wir mussten Sindra verlassen und sind nun hier in einem fremden Land, das uns völlig unbekannt ist. Meine Begleiter stammen aus Sindra, Borgoi und Obesien. Wir suchen nach einem Ort, an dem wir uns vorübergehend verstecken können.“

„Fische und Gastfreundschaft sind die einzigen Güter, die wir Fremden anbieten können“, erwiderte Eftian. „Die meisten von uns besitzen nichts weiter als das eigene Leben. Ist es in Gefahr, wenn wir euch verstecken?“

Dorothon sah ihn nachdenklich an.

„Ich glaube, du hast dir diese Frage schon selbst beantwortet“, orakelte er. „Wir sind auf der Flucht vor mächtigen Feinden. Falls ihr uns versteckt, und sie uns finden, ist auch euer Leben bedroht. Aber wir suchen nur für kurze Zeit einen Unterschlupf. Wir wollen herausfinden, wo der Ort liegt, der in den alten Schriften die „Brutstätte des Zorns“ genannt wird. Dort wollen wir Zuflucht und Schutz suchen. Kannst du uns helfen?“

Eftian runzelte die Stirn.

„Die armen Menschen, die die Flussniederungen besiedeln, sind keine Schriftgelehrten“, stellte er klar. „Von dem Ort, den du genannt hast, habe ich noch nie gehört. Aber ich kann mit den anderen Flussfischern besprechen, ob sie bereit sind, euch vorübergehend Gastfreundschaft zu gewähren.“

Dorothon atmete auf.

Er hatte gehört, dass Eftians Stimme großes Gewicht bei den bettelarmen Bewohnern der Niederungen hatte, die sich selbst die „freien Menschen der Flüsse“ nannten. Wenn es ihm gelang, seine Schicksalsgenossen zu überzeugen, sollte er mit seinen Begleitern und ihrer außergewöhnlichen Fracht wenigstens vorübergehend in Sicherheit sein. Die „freien Menschen der Flüsse“ lebten tief im Wald an allen fischreichen Nebenflüssen westlich des Tephral. Trotz der erheblichen Ausdehnung ihres Siedlungsgebiets hatten sie wegen ihrer Armut und der landwirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit der sumpfigen, unwegsamen Waldgebiete kaum Kontakte zur restlichen Bevölkerung Borthuls. Zumindest für eine gewisse Zeitspanne erschienen Dorothon daher die Flussniederungen westlich des Tephral ein gutes Versteck zu sein. Dennoch war er enttäuscht, dass sich seine Hoffnung, mit Eftians Hilfe die „Brutstätte des Zorns“ zu finden, zerschlagen hatte.

Der Weiße Mann führte den Flussfischer zu einem dicht bewachsenen Hügel, wo die Kutsche mit der Ovaria stand. Jalbik Gisildawain und der obesische Kutscher hatten sie zusätzlich mit Zweigen und Rankgewächsen abgedeckt.

Beim Anblick Quosimangas fuhr Eftian zusammen. Dorothon führte das darauf zurück, dass seine Söhne allein schon durch ihre ungewöhnliche Erscheinung die Menschen in Angst versetzten.

„Er wird dir nichts tun“, versprach der Replica. „Er ist mein Sohn.“

Der einfache Fischer verstand auf Anhieb die Gefühle des Vaters. „Es tut mir leid“, murmelte er. „Vielleicht liegt es daran, dass wehrlose Menschen besonders schreckhaft sind. Nicht der Anblick deines Sohnes hat diese Furcht in mir ausgelöst, sondern der Anblick seiner entsetzlichen Waffe.“

Dorothon sah Eftian forschend an. „Ich habe keine Waffe“, stellte er fest.

Der Fischer sah betreten zu Boden. Dorothon hatte offenbar seinen Gemütszustand genauestens ergründet. Vor dem Weißen Mann fürchtete sich Eftian noch weit mehr als vor dem Bewacher der Gruft, was jedoch durch Äußerlichkeiten und Waffen nicht erklärbar war. Das gab Dorothon zu denken.

*

Scharfe Windböen pfiffen in kurzen Abständen über die Hügel von Groch. Auf dem höchsten Punkt einer dieser Erhebungen hatte der Deltong sein Pferd angehalten. Die schwarzen, langen Haare flatterten um den bleichen Kopf des Mannes mit der schwarzen Kleidung. Sein Blick richtete sich hinab zur Surdyrischen Tiefebene.

Er hatte das Gefühl, dass die Durchführung seiner Aufgaben nicht leichter geworden war. Eigentlich wunderte er sich schon darüber, dass er überhaupt etwas fühlte. Genau genommen handelte es sich aber nicht um ein Gefühl, sondern um Empfindungen etlicher Völker, die er mit dem Dunstein in sich aufgenommen hatte.

Die Verfolgung des Ritters mit der goldenen Rüstung hatte er aufgeben müssen. Nach langen Irrwegen hatte er endlich dessen Pferd aufgestöbert; der Reiter blieb jedoch verschwunden. Jetzt galt es zu entscheiden, ob ihn sein nächster Weg nach Modonos oder nach Zitaxon führen sollte. Am Fuß des Hügels gabelte sich die Straße. Bis dahin musste die Entscheidung gefallen sein.

Nun sah der Deltong auch den kleinen Punkt neben der Weggabelung: ein Mensch, der sich nicht von der Stelle rührte. Seine kalten Berechnungen verrieten dem Schwarzgekleideten, dass er erwartet wurde. Von einem Opfer. Jetzt gab es für ihn keine Gegner mehr. Er lenkte sein Pferd zum Fuß des Hügels. An der Straßengabelung stand ein Mann mit weißer Haut und goldenen Locken und sah ihm ruhig entgegen.

„Du bist zu mir gekommen, obgleich du weißt, dass ich dich beseitigen muss?“, wunderte sich der Deltong. Es waren seine allerersten Worte.

„Nachdem die Schöpfer gegangen sind, hat das Eherne Gesetz seine Bedeutung verloren“, entgegnete Tholulh. „Ich bin hier, um den letzten Befehl der Schöpfer auszuführen.“

„Was ist der letzte Befehl?“, fragte der Deltong.

Mit unbewegtem Gesicht erklärte Tholulh: „Er lautet folgendermaßen; Falls der Tag kommen sollte, an dem die Gilde der Seelenlosen den Kontinent von all unseren Hinterlassenschaften reinigen muss, haben auch die Replicas ihr Leben verwirkt. Sie müssen jedoch den Seelenlosen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben helfen, wenn es Schwierigkeiten irgendwelcher Art geben sollte. Alle Unregelmäßigkeiten müssen gemeldet werden, so lautete der letzte Befehl der Schöpfer an die Weißen Menschen. Das Geflecht der alten Wesenheiten hat mir berichtet, dass die Quelle von Tirk Modon verschwunden ist. Ich bin hier, um dir dies mitzuteilen, weil keiner der Seelenlosen diese Quelle finden kann. Du bist bisher der einzige Seelenträger. Nur du kannst sie finden.“

Der Deltong bewertete den Wahrheitsgehalt dieser Aussage und befand, dass sie zutreffend sein musste. Der ehemalige Bewahrer des Ehernen Gesetzes war unfähig, zu lügen. Er opferte sich nun sogar freiwillig, wie ihm dies die Schöpfer aufgetragen hatten.

Nicht einmal mit seiner überragenden Logik erkannte der Seelenträger die wahre Absicht des Weißen Mannes. Tholulh wollte ihn davon abhalten, bereits jetzt nach Sindra zu gehen. Damit gewann das Geflecht der alten Wesenheiten allerdings nur ein wenig Zeit. Es schien ein geringer Preis für das Leben eines Weißen Menschen. Tholulh sah dies jedoch anders. Es ging ihm nicht um sein eigenes Leben, sondern um das Überleben vieler anderer. Ein kleiner Zeitgewinn vermochte sie zwar nicht zu retten, vor allem nicht vor einem Seelenträger. Den einstigen Bewahrer des Ehernen Gesetzes hatten jedoch zwischenzeitlich einige verstörende Berichte erreicht. Darunter befanden sich Nachrichten, die selbst ihm unheimlich vorkamen. Er hatte den Eindruck gewonnen, dass auf dem Kontinent im Verborgenen eine ihm völlig unbekannte Lebensform in die Geschehnisse eingegriffen hatte. Der Weiße Mann klammerte sich an diesen winzigen Hoffnungsfunken. Vielleicht gab es wirklich eine dem Geflecht der alten Wesenheiten nicht feindlich gesonnene Macht.

Tholulh hatte nicht gelogen. Der „letzte Befehl“ der Schöpfer war ihm tatsächlich erteilt worden. Den Sinn und Zweck ihres Vernichtungswerks hatte er aber nicht verstehen können. Deshalb hatte er den „letzten Befehl“ auch nicht an die anderen Replicas weitergegeben.

Auch das Verschwinden der Quelle von Tirk Modon entsprach der Wahrheit. Diese Tatsache hatte er dem Seelenträger nur ungern verraten. Er hatte jedoch keine andere Möglichkeit gefunden, um den Deltong von seinem Weg nach Sindra abzubringen.

In der Hand des Seelenträgers lag nun eine stabförmige Waffe, gleichsam die Herausforderung zu einem Zweikampf. Tholulh zog jedoch keine Sekunde in Erwägung, sich zu verteidigen. Er wusste, dass er dem Tod ohnehin nicht entgehen konnte. Gegenwehr hätte nur seine Aussagen unglaubwürdig erscheinen lassen. Daher verharrte er reglos an Ort und Stelle. Der gleißende Strahl zuckte auf und durchbohrte seine Brust. Als der Weiße Mann auf dem Boden auftraf, war er bereits tot. Der Seelenträger nahm eine andere Einstellung an der Waffe vor und betätigte sie erneut. Ein aufgefächertes Lichtfeld ergoss sich über die Leiche und löste sie vollständig auf. Von dem einstigen Bewahrer des Ehernen Gesetzes blieb nichts übrig.

Der Seelenträger wählte den Weg nach Modonos. Tholulhs letzter Plan war aufgegangen.

*

Für den an Luxus gewöhnten Freibeuter stellte es ein Rätsel dar, wie Menschen unter derartigen Umgebungsbedingungen leben konnten. Ein ständiger Geruch nach Fäulnis hing in der Luft, und der feuchte Schlamm schien allgegenwärtig. Angeekelt versuchte Jalbik Gisildawain, sich diesem Umfeld anzupassen. Er hatte seine Hose über den Knien abgeschnitten und verzichtete auf jede Art von Fußbekleidung. Er empfand es als Erleichterung, wenn der Mon’ghal seinen Geist ausfüllte und alle widrigen Umstände ausblendete. Aber zuletzt waren diese Zeitspannen immer kürzer geworden. Trotz der nahen Ovaria versiegte offenbar zusehends die Kraft des kleinen Raupenwesens.

Der Freibeuter wunderte sich nun auch nicht mehr darüber, dass die restliche Bevölkerung von Borthul keinerlei Interesse am westlichen Landesteil und den „freien Menschen der Flüsse“ hatte.

Die Zuflucht in der ärmlichen Ansiedlung erschien ihm wegen der damit verbundenen Widrigkeiten sicherer als jedes andere Versteck. Daher konnte er nicht begreifen, warum Dorothon und Quosimanga unbedingt die „Brutstätte des Zorns“ finden wollten. Allerdings versuchte er auch nicht, ihnen dies auszureden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendein Ort auf der Welt schlimmer sein könnte als ihr derzeitiger Aufenthaltsort mit den armseligen, halb vermoderten Hütten in den diesigen Schlammniederungen der Nebenflüsse des Tephral. So hoffte er auch weiterhin, dass der Weiße Mann und sein Sohn möglichst bald Anhaltspunkte entdecken würden, die sie zu ihrem eigentlichen Ziel führen konnten.

Selbst Dorothon und Quosimanga litten unter dem Schmutz und dem ewig feuchten, ungesunden Klima, obgleich sie gegen Krankheiten jedweder Art gefeit waren. Der ehemalige Bewacher der Gruft benahm sich ungeduldiger als sein Vater und drängte darauf, notfalls auf eigene Faust weiterzuziehen und die „Brutstätte des Zorns“ auf gut Glück zu suchen. Dorothon lehnte dagegen grundsätzlich jedwede aus Verzweiflung geborene Entschlüsse ab und hoffte weiterhin, durch Eftian oder einen der anderen Flussfischer den entscheidenden Hinweis auf den gesuchten Zielort zu erlangen. Sein Standpunkt wurde jedoch immer schwerer zu verteidigen, nachdem auch Jalbik Gisildawain und der obesische Kutscher nachdrücklich für Quosimanga Partei ergriffen, wenngleich ihnen dieser Mann alles andere als sympathisch war.

Dann erkrankte der Kutscher. Sein an die Trockenheit Süd-Obesiens gewöhnter Körper vertrug die dampfende Schwüle der schlammigen Flussniederungen am wenigsten von allen. Ein heftiges Fieber ergriff ihn. Trotz der warmen Temperaturen zitterte er vor Kälte. Dorothon und Eftian betteten ihn auf die hölzerne Liege der kargen Behausung, die ihm die Fischer zur Verfügung gestellt hatten. Nachdem der Weiße Mann den Obesier mit seiner Jacke zugedeckt hatte, verließ er die Hütte, um mit Quosimanga das weitere Vorgehen zu beratschlagen. Eftian blieb bei dem Kutscher zurück, denn er wusste, dass dieser den Tag voraussichtlich nicht überleben würde. Das gefürchtete Tephral-Fieber raffte die Erkrankten, die es befallen hatte, in kürzester Zeit dahin. Da die „freien Menschen der Flüsse“ von Natur aus, eine hohe Widerstandsfähigkeit gegen das tödliche Fieber besaßen, hatten sie es bisher nicht für nötig befunden, nach einem Mittel zur Bekämpfung der Krankheit zu forschen. Eftian betrachtete es als seine Aufgabe, seinen Gast mit Wasser zu versorgen und ihm die letzten Stunden zu erleichtern, so gut es eben unter diesen Umständen ging.

In seinen Fieberträumen wälzte sich der in Schweiß gebadete Obesier stöhnend auf seiner Liegestatt hin und her. Dorothons Jacke fiel dabei zu Boden. Der Fischer hob sie wieder auf und legte sie erneut behutsam auf den Kutscher, der nun langsam zur Ruhe kam und nur noch leise wimmerte.

Eftian stutzte. Auf dem Boden lagen zwei kleine, graue Kieselsteine, die sich zuvor dort nicht befunden hatten. Sie mussten aus Dorothons Jacke herausgefallen sein. Erstaunt hob er einen der Steine hoch. Weshalb trug der Weiße Mann zwei unscheinbare Kiesel mit sich herum? Eftian hielt den Stein gegen die Sonnenstrahlen, die durch das kleine Fenster ins Innere der Hütte fielen. Auf den ersten Blick konnte er nichts Besonderes feststellen. Erst als er den etwas kleineren Kiesel genauer betrachtete, fiel ihm das Blinken eines einzelnen, winzigen Lichtpunktes auf. Mit bloßem Auge konnte man ihn fast kaum erkennen.

„Ich habe den Wächter des Großen Sumpfbaums gefunden“, erklang es in Eftians Kopf.

Vor Schreck hätte der Fischer den Stein beinahe fallen lassen. Dann gewann er aber schnell seine Fassung zurück. Stimmen in seinem Kopf waren für ihn keine neue Erfahrung.

„Wer bist du, und warum hast du nach mir gesucht?“, fragte er leise.

„Ich bin eine verlorene Seele“, erscholl die Stimme erneut in Eftians Kopf. „Als ich noch einen Körper besaß, trug ich den Namen Lodrigur. Bald werde ich endgültig sterben. Seit einer geraumen Weile suche ich nach einem geeigneten Menschen, dem ich vor meinem Tod die Geschichte der Seelensteine erzählen kann.“

Stumm konzentrierte sich der Flussfischer auf die unhörbaren Worte.

„Ich wohnte auf einer Welt, die unvorstellbar weit von hier entfernt ist. Eines Tages wurde diese Welt von einem riesigen schwarzen Wirbel angesaugt und auf die Größe des Steins zusammengedrückt, den du nun in deiner Hand hältst. Dabei wurden alle Körper der Lebewesen dieser Welt zerstört. Ihre Seelen wurden jedoch in diesem Stein eingeschlossen. Vielleicht wären auch sie nur noch für die kurze Zeit erhalten geblieben, die ihrer restlichen Lebensspanne entsprochen hätte. Nachdem aber der schwarze Wirbel den Stein auf seiner entgegengesetzten Seite ausgespuckt hatte, wurde er von einem fremden Volk entdeckt, das mit Sternenfähren die unendlichen Weiten zwischen den Himmelskörpern bereist. Dieses Volk, das von seinen Geschöpfen auf dieser Welt „die Schöpfer“ genannt wird, hat unsere Seelen erhalten. Das geschah mit Hilfe von Kräften, die als „Lebensenergie“ bezeichnet werden. Ich weiß, dass du dir darunter nichts vorstellen kannst. Einige der Welten, die das gleiche Schicksal ereilte wie die meine, wurden ebenfalls in ihrer zusammengepressten Form hierhergebracht und im Wurzelbereich alter Bäume vergraben. Auf diese Weise haben die Schöpfer den alten Bäumen ermöglicht, den Seelen jener Welten eine Heimstatt zu geben. Die alten Bäume haben die Zeiten überdauert, weil sie die in kleinen Würfeln gespeicherte Lebensenergie empfangen konnten. Solange die Seelensteine bei ihren Bäumen geblieben sind, lebten sie mit den Seelen dieser Welt in Einklang. Sobald sie jedoch entfernt wurden, trat eine Störung des Gleichgewichts auf. Die Seelen in den Steinen haben dann versucht, die Körper ganzer Völker zu zerstören, um sich auf einer höheren Ebene an deren Seelen zu klammern und auf diese Weise die zu ihrem Fortbestand notwendige Energie zu erlangen. Das alles mag dir unverständlich erscheinen. Wichtig ist jedoch, dass nun für diese Welt eine Entscheidung getroffen werden muss: Wollt ihr weiterhin versuchen, die für euch fremden Seelen zu beherbergen und mit ihnen in Einklang zu leben, was für eure Entwicklung vorteilhaft, aber auch höchst gefährlich wäre? Oder soll nun alles zerstört werden, wie die Schöpfer dies vorgesehen haben? Das Werk der Vernichtung wurde bereits begonnen. Du kannst dich ihm entgegenstellen oder es geschehen lassen.“

Eftian war erschüttert. Verzweiflung lag in seiner Stimme, als er flüsterte: „Ich bin doch nur ein völlig unbedeutender Fischer. Wie soll ich eine solche Entscheidung treffen?“

Lodrigurs Antwort erfolgte jedoch sofort und unerbittlich: „Du bist ein Spiritant, und du bist keineswegs unbedeutend. In dir leben Generationen von Menschen, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, die Verhältnisse in dieser Welt zu verändern. Jeder Einzelne von ihnen ist an den widrigen Umständen seiner Zeit gescheitert und musste die hochfliegenden Pläne seiner Vorfahren begraben. Du bist nun der Erste, dem es tatsächlich vergönnt ist, eine Veränderung herbeiführen zu können, wie immer diese auch aussehen mag. Wer also könnte geeigneter sein als du, um die Entscheidung zu treffen, die getroffen werden muss?“

„Der Blick meiner Vorfahren richtete sich allein auf Sindra“, wandte Eftian zögerlich ein.

„Dann wirst du eben deinen Blick erweitern müssen“, entgegnete Lodrigur. „Auch ich musste das tun. Nachdem der Würfel ausgefallen war, der meinen Baum mit Lebensenergie versorgte, überlebte meine Seele bis jetzt durch eine eigene Energiequelle, die ich bei der Katastrophe zufällig an meinem Körper trug. Nun erlischt auch sie. Aber sie hat es mir ermöglicht, dich noch rechtzeitig zu finden. Sollte das alles umsonst gewesen sein?“

Die Stimme erstarb. Als Eftian den kleinen Stein erneut gegen das Licht hielt, konnte er den winzigen, blinkenden Punkt nicht mehr erkennen. Traurig schob er die beiden zusammengepressten Welten, aus denen nun endgültig alles Leben gewichen war, wieder in Dorothons Jacke zurück. In der kleinen, armseligen Hütte wurde es ganz still. Ein kurzer Blick genügte Eftian für die Feststellung, dass der Kutscher aus Obesien nicht mehr atmete. Der Glanz in seinen Augen war erloschen. Eftian schloss ihm die Lider.

Danach machte sich ein bettelarmer Flussfischer aus den Niederungen des Tephral auf den Weg, der ihm soeben bestimmt worden war. Schwer lastete die Bürde auf seinen Schultern, die ihm ein Mensch aus einer anderen Welt und aus einer längst vergessenen Zeit auferlegt hatte.

*

Aus Respekt vor dem Toten hatten sich seine engsten Mitstreiter um seine Urne versammelt. Das Treffen fand in dem Zimmer des Verstorbenen in einem abgelegenen Bereich des Inneren Zirkels statt. Genaugenommen handelte es sich um ein doppeltes Zimmer, von dem Roxolay einen Teil jahrzehntelang vor der Außenwelt abgeschirmt hatte.

Mitglieder des Inneren Zirkels wurden üblicherweise in der Akademie von Modonos beigesetzt. In einem an den unterirdischen Teil der Bibliothek angrenzenden Saal türmten sich kleine Steinladen, in denen die sterblichen Überreste der eingeäscherten Priester aufbewahrt wurden. Außer einer Inschrift mit dem Namen und der Stellung des Verstorbenen gab es keinerlei Zierrat.

Roxolay hatte sich in den letzten Jahren seines Lebens vom Orden weitgehend losgesagt. Er betrachtete stattdessen Rabenstein als sein Lebenswerk. Daher hatte er in einem Schreiben an Datiban, seinen engsten Vertrauten, verfügt, dass die Urne mit seiner Asche in Rabenstein bestattet werden sollte. Orhalura und Teralura, die Zwillinge aus Bogogrant, hatten sich bereiterklärt, den letzten Wunsch des entschlafenen Meisters der Todeszeremonie zu erfüllen und die Urne nach Rabenstein zu bringen. Sie waren gerade erst aus Bogogrant zurückgekehrt, wo sie den Anweisungen des unbekannten Briefeschreibers entsprechend die seltsamen schwarzen Gegenstände mit den bunten Punkten nahe der riesigen Zwillingsweide vergraben hatten. Dem fürchterlichen Wesen, vor dem der Verfasser des Briefes gewarnt hatte, waren sie dabei glücklicherweise nicht begegnet.

Jobork und Datiban fassten den Entschluss, in Modonos zu bleiben. Der Höchste Priester hatte vor wenigen Stunden erfahren, dass Tornantha in Begleitung eines Bewachers der Gruft von Kostondio in die Hauptstadt Obesiens zurückkehrte. Sein Vetter Atarco galt als verschollen. Für Jobork stand damit fest, dass er die „Riege der Freiheit“ im Auge behalten musste. Datiban erschien ihm genau der richtige Mann zu sein, um ihn dabei zu unterstützen. Der Rektor von Albiros seinerseits fand dagegen noch wichtiger, dass sich jemand um die Überwachung des geheimen Raumes in der Ruinenstadt Derfat Timbris kümmerte.

Allein Zyrkols Entscheidung war noch nicht gefallen. Eigentlich erschien seine Anwesenheit in Dunculbur dringend erforderlich, obgleich er mit seinem Freund und Vertrauten Lerd einen stellvertretenden Rektor bestimmt hatte, dem er die reibungslose Führung des Monasteriums durchaus zutraute. Allerdings zeichnete sich im Ostteil Obesiens mittlerweile immer deutlicher eine Besorgnis erregende Zunahme von Schmuggler- und Räuberbanden ab. Die Ducarions von Dunculbur und Bogogrant beäugten sich eifersüchtig, weil jeder von ihnen befürchtete, der jeweils andere könne das derzeitige Machtvakuum zu seinem Vorteil ausnutzen und die alleinige Herrschaft über diesen Landesteil an sich reißen. Damit lähmten sie sich gegenseitig bei der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung.

Aus persönlichen Gründen neigte Zyrkol dennoch eher dazu, sich den Zwillingen aus Bogogrant anzuschließen und sie auf ihrer Reise nach Rabenstein zu begleiten. Ihn faszinierten dabei nicht nur die beiden ausnehmend hübschen Damen, sondern auch die Überlegungen, die hinter dem Umbau der ehemaligen Festung Charak Dun zu einer Begegnungsstätte und Schule standen. Insgeheim hatte er bereits mit dem Gedanken gespielt, sein Monasterium in Dunculbur nach dem Vorbild Rabensteins zu verändern.

Vorläufig zur Unterstützung Joborks und Datibans in Modonos zu bleiben, zog der Rektor von Dunculbur nicht in Betracht. Seine Aufgabe in der Akademie konnte als erledigt angesehen werden. Das echte Buch der Vorzeit war unter mysteriösen Umständen wiederaufgetaucht. Es schien nun auch klar, dass der geheimnisvolle Fremde, der sich hinter der äußeren Erscheinung Mulmoks verborgen hatte, für die Fälschungen verantwortlich war. Nur er hatte über die für Menschen des Kontinents nicht vorstellbaren Mittel verfügt, derartige Manipulationen zu bewerkstelligen. Inzwischen unterlag es keinem Zweifel mehr, dass er dies getan hatte, um Nachforschungen zu behindern. Begebenheiten, die tief in der Vergangenheit verborgen lagen, sollten dort begraben bleiben. Auch Zyrkol begann zu glauben, dass der rätselhafte Fremde dadurch die Menschheit beschützen wollte.

Letztlich besann sich der Rektor von Dunculbur auf seine Wurzeln. Er war ein Priester des Wissens, kein Feldherr. Im Grunde seines Herzens strebte er nicht nach weltlicher Macht, sondern nach Glück und Weisheit. Dies gab den Ausschlag zugunsten der Zwillinge und der Schule von Rabenstein. Dunculbur konnte warten, und der Osten würde sein Schicksal selbst in die Hand nehmen müssen.

Zum letzten Mal reichten sich die fünf Priester des Wissens die Hände und bildeten einen Kreis um die Urne Roxolays. Die Zwillinge aus Bogogrant verständigten sich mit einem Blick. Teralura ergriff die Urne und verabschiedete sich mit einem leichten Kopfnicken stumm von Jobork und Datiban. Orhalura und Zyrkol folgten ihr.

„Brauchst du meine Hilfe in Modonos, Bruder Jobork?“, erkundigte sich Datiban.

„Ich weiß, dass du in Derfat Timbris nach dem Rechten sehen willst“, erwiderte der Höchste Priester. „Aber vielleicht kannst du noch bis morgen damit warten. Ich habe für die zweite Stunde nach Mittag ein Treffen mit Tornantha und dem Mann aus Sindra vereinbart. Ich wäre sehr froh, wenn du mich zu diesem Treffen begleiten würdest. Der Mann aus Sindra, der zu den geheimnisvollen Bewachern der Gruft von Kostondio gehört, gilt als sehr gefährlich, und scheint etwas im Schilde zu führen. Bis vor kurzem hat noch nie einer dieser unheimlichen Männer Zitaxon verlassen. Nun scheinen sie sich sogar plötzlich in die Angelegenheiten fremder Länder einzumischen. Wenn wir den Orden vor Schaden bewahren wollen, müssen wir herausfinden, welches Vorhaben ihn nach Modonos geführt hat.“

Die Gilde der Seelenlosen

Подняться наверх