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1.

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Merkwürdig war er gewesen, wohl auch erregend und auf jeden Fall unheimlich, der Traum, aus dem er gerade eben erwacht war. Patrick Troy lag mit geschlossenen Augen im Bett und versuchte, die geschauten Bilder festzuhalten, sich zu erinnern. Doch es wollte ihm nicht gelingen. Da war für einen Augenblick noch eine Frauengestalt, aber im gleichen Moment, wo er sie ins Gedächtnis zurückholen wollte, zerfloß sie im Nebel. Das war immer so mit seinen Träumen, dabei hätte er sie so gerne dokumentiert und analysiert. Träume reizten ihn seit jeher, und Traumgeschichten ebenso. Ja, er hatte manchmal während seines Studiums Vorlesungen auch danach ausgesucht, ob in den zu behandelnden Texten irgendwelche wichtigen Traumszenen vorkamen. Jakobs Vision von der Himmelsleiter etwa, oder die Träume Josefs und später auch die des Pharao – obwohl die ihm allzu gekünstelt vorkamen, viel zu wenig geheimnisvoll und hintergründig.

Das melodische Rufzeichen seines Handys, die ersten Takte von Paul Gerhardts „Befiehl du deine Wege“, ließ ihn jetzt ganz aufwachen. Er warf einen Blick auf den kleinen Wecker, der dort seitlich auf dem Nachttisch stand. Es war in der Tat höchste Zeit, sich dem neuen Tag zuzuwenden und die Nacht samt ihrer Traumbilder zu vergessen. Patrick wurde gebraucht, das war schließlich sein Beruf. Denn Patrick Troy, neunundzwanzig Jahre alt, ledig, war seit knapp vier Monaten Pastor der Lukas-Gemeinde. Genauer – er war Pastor zur Anstellung und nach dem zweiten Examen, das er durchaus erfolgreich bestanden hatte, mit der Verwaltung der seit über einem Jahr unbesetzten zweiten Pfarrstelle der evangelischen Kirchengemeinde St. Lukas beauftragt. Und wenn dieses kleine und etwas altmodische, aber in der kleinsten Tasche zu verstauende Handy sich meldete, dann galt der Anruf nicht ihm privat, sondern dem Pastor.

Patrick griff nach dem Gerät, ehe der Anrufbeantworter sich einschalten konnte, und meldete sich, während er zugleich die nackten Beine aus dem Bett streckte und auf der harten Kante zum Sitzen kam: „Lukas-Gemeinde, guten Morgen. Sie sprechen mit Pastor Troy; was kann ich für Sie tun?“

Er beherrschte diese kurzen Sätze längst perfekt; er hatte sie nun schon oft genug in das Mikrofon gesprochen, stets bemüht, freundlich und einladend zu klingen und doch eine gewisse Distanz zu dem ja noch unbekannten Anrufer zu wahren. Die Rufnummern, die sein Display ihm anzeigte, sagten ihm meist immer noch wenig, wenn es nicht gerade die seiner älteren Kollegin oder der Kirchenverwaltung waren. Da verzichtete er dann gerne auf sein Sprüchlein. Doch die Nummer, die er jetzt vor sich hatte, war ihm unbekannt.

Eine weibliche Stimme meldete sich und nannte ihren Namen, doch er verstand ihn nicht, weil er gerade das Handy von einem Ohr zum anderen wechselte. Ehe er zurückfragen konnte, fuhr die Frau schon fort: „Haben Sie sich schon entschieden?“ Irgend etwas verwirrte Patrick bei dieser Frage. Was meinte sie damit? Und auf einmal, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, tauchte das vergessene Traumbild der vergangenen Nacht wieder auf: Er sah eine Frau – nein mehrere, drei waren es, und sie blickten ihn herausfordernd an. Irgend etwas sollte er entscheiden. Jetzt kehrte es ins Bewusstsein zurück. Aber worum ging es? Er wusste es nicht. „Sind Sie noch dran?“ hörte er es plötzlich aus seinem Handy sprechen. Er schrak zusammen. Richtig, er telefonierte gerade! „Entschuldigung,“ sagte er zögernd, „ich hatte vorhin Ihren Namen nicht verstanden. Um welche Entscheidung sollte es gehen?“ Geduldig wiederholte die Frau ihren Namen. „Von der Hermes-Versicherung,“ ergänzte sie. „Wir hatten Ihnen ein Angebot zugeschickt. Ich wollte mich nur vergewissern, on Sie es erhalten haben, da Ihre Antwort noch aussteht.“

Jetzt war Patrick Troy wieder im Bilde. Richtig, die Versicherung! „Ja, die Unterlagen liegen hier auf meinem Schreibtisch,“ sagte er und bemühte sich, möglichst freundlich zu klingen. „Ich hatte allerdings noch keine Zeit, sie näher anzusehen.“ „Kein Problem, Herr Troy, lassen Sie sich Zeit. Ich darf Sie doch in den nächsten Tagen noch einmal kontaktieren?“ „Natürlich, gerne. Aber ich melde mich selbstverständlich auch von allein, wenn ich mich entschieden habe.“

Die Dame von der Versicherung bedankte sich – er sah ihr antrainiertes Lächeln geradezu vor sich, mit dem sie derartige Antworten quittierte. Er sah überhaupt eine Frauengestalt in sich auftauchen, um dieser Stimme einen Körper zu verleihen. Doch er wusste nicht, war es eine der Frauen aus seinem Traum oder bloße Fantasie? Die Dame hatte längst aufgelegt, das Signal seines Handys drang jetzt schmerzhaft in sein Ohr.

Patrick legte das Handy auf den Nachttisch zurück, aber seine Erinnerung suchte krampfhaft danach, die nächtlichen Bilder aus der Tiefe des Vergessens wieder heraufzuholen. Und es gelang ihm, wenigsten für kurze Zeit. Aus der Dunkelheit hinter seinen verschlossenen Augen traten langsam die drei Frauen heraus: schöne Frauen, attraktive Frauen. Da war er sich sicher. Doch warum waren sie erschienen? Was wollten sie von ihm? Verzweifelt versuchte er, die Bilder festzuhalten, sich an ihre Worte zu erinnern. Aber die Gestalten verblassten ebenso schnell, wie sie zurückgekehrt waren, und je mehr er sie speichern wollte, desto schneller kehrten sie in das Nichts des Unterbewusstseins zurück.

„Blöder Traum!“ sagte er halblaut vor sich hin und suchte nach seinen Schuhen, die unter das Bett gerutscht waren. Ja, es war gelegentlich vorgekommen, daß ihm Frauen im Traum erschienen waren. Keine bestimmten, sondern eher Bilder unerfüllter Wünsche, das wusste er durchaus zu analysieren. Die meisten seiner ehemaligen Kommilitonen waren längst verheiratet, hatten bereits im Studium eine feste Beziehung und manchmal auch schon Kinder. Doch er selbst war über ein paar oberflächliche Flirts nie hinausgekommen. Dabei war er durchaus nicht unattraktiv. Er betrachtete sich in dem hohen Spiegel, der eine Tür des Schlafzimmerschrankes ausfüllte:

Mittelgroß und schlank, mit einem muskulösen Körper und ungewöhnlich schmalen, fast zarten Händen. Daran hat es bestimmt nicht gelegen, daß ihn die Mädchen nicht anziehend finden würden. Und der wuschelige, dunkelblonde Haarschopf umrahmte ein längliches Gesicht mit nur wenig hervorstehenden Wangenknochen, einer sehr geraden und keineswegs überlangen Nase, einem fast weiblichen Mund. Er hatte durchaus gemerkt, wie ihn in den Zeiten, die er zu Ausbildungszwecken in einer ländlichen Gemeinde tätig war, die Konfirmandinnen angehimmelt hatten. Es hatte ihm geschmeichelt, sicherlich.

Aber eine einzige junge Frau, zu der er sich hingezogen fühlen könnte, war ihm die ganze Zeit nicht begegnet, und die Vikarinnen, denen er in den Seminaren begegnete, waren alle schon vergeben. Nie hatte er sich mehr als ein paar harmlose, scherzhafte Anzüglichkeiten erlaubt, auch da, wo er gerne eine tiefere Beziehung aufgebaut hätte. Doch das verbot sich schon durch den Beruf, den beide gewählt hatten: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib!

Er verzog den Mund gegenüber seinem Spiegelbild. Vielleicht hatte er seine Chancen bereits verpasst, während der langen Jahre an der Uni. Jetzt war er plötzlich Amtsperson, und auch wenn alle Welt erwartete, daß der Pastor auch Ehemann und Familienvater war – wie und zu wem sollte sich in seiner Gemeinde eine Beziehung entwickeln! Wer so unter Beobachtung steht wie der neue Pfarrer, hatte kaum die Gelegenheit, sich einen Freiraum offen zu halten, und wo gab es schon ein Jenseits zu seiner Gemeinde?

„Mach deine Arbeit, Patrick, und überlaß dein Privatleben der Zukunft,“ sagte er laut zum Spiegel hin. Warum hatte er „Zukunft“ gesagt – und nicht „Gott“, wie es sich für einen Theologen doch gehörte? Er streckte seinem Gegenüber die Zunge aus und wandte sich ab. Den Traum hatte er nun endgültig vergessen. Doch er sollte sich wiederholen, und irgendwie sollte er sein Leben verändern, die Zukunft von Patrick Troy, Pfarrer von Sankt Lukas, bestimmen. Aber das wusste er an diesem Morgen noch nicht.

Der junge Pastor blickte auf die Uhr: „Was, schon halb neun? Ich sollte mich endlich unten sehen lassen!“ Er hatte sich angewöhnt, halblaut mit sich selber zu sprechen, wenn er allein war. Das durchbrach für kurze Zeit die Stille, die ihn sonst umgab, denn er haßte es, irgendwo einfach Musik als Hintergrundgeräusch laufen zu lassen. Patrik ging ins Bad, machte sich zurecht, streifte die graue Tuchhose mit Gummizug und ein ebenso graues T-Shirt über, griff sich ein Brötchen vom Küchentisch, das er schon am Vorabend dort deponiert hatte, spülte die Bissen mit einigen Schlucken Mineralwasser hinunter – einen Kaffee würde er von der fürsorglichen Sekretärin wie stets an den Bürotagen sowieso noch erhalten – und ging über den offenen Vorplatz zu der geschwungenen Treppe, die ins Erdgeschoß führte.

Seine Wohnung lag im oberen Stockwerk des Pfarrhauses, eines protzigen Ziegelbaus von 1895, der einst für die gut bürgerlichen Pfarrfamilien mit einem Dutzend Kindern und Hausmädchen gedacht war. Später hatte der Kirchenrat die vielen Schlafräume oben zu einer Vierzimmerwohnung mit Küche und Bad umgebaut, ohne sie doch vom übrigen Haus wirklich abzutrennen, in zwei weiteren Räumen das Archiv untergebracht und unten, zu beiden Seiten der großen hohen Diele links Büro und das Dienstzimmer des Pastors und rechts einen größeren Raum für Veranstaltungen geschaffen. Allein die Diele mit Stuckdecke und der schönen Holztreppe mit ihrem gedrechselten Geländer ließen noch den einstigen Charme des Hauses erkennen.

Patrick war ins Büro eingetreten, das wie ein Puffer zwischen Diele und seinem Arbeitszimmer lag und von Gisela Grabert bewacht wurde, der Gemeindesekretärin, nun schon seit 25 Jahren dienstbarer Geist für bereits mehrere Vorgänger. Sie wusste inzwischen weit mehr über deren Schäfchen als ihre Hirten, aber niemals würde sie ihr Wissen ungefragt ins Spiel bringen. Patrick hatte sie sofort ins Herz geschlossen und bat sie häufig um ihre Meinung oder doch um Auskünfte, was sie erfreut zur Kenntnis nahm und mit gleicher, allerdings eher mütterlicher, Zuneigung erwiderte.

„Moin, Frau Grabert,“ grüßte er und blieb wie jeden Morgen erst einmal neben ihrem Schreibtisch stehen, um sich nach den Neuigkeiten des Tages zu erkundigen. Auch wenn in seinem Amtszimmer ein großer Terminplaner mit allen wichtigen Daten hing, ihrem Gedächtnis traute er mehr als den eigenen Einträgen.

„Kaffee?“ fragte sie und goß einen großen Becher voll, ohne die Antwort abzuwarten. Und während er langsam das schwarze Gebräu schlürfte, erinnerte sie den jungen Pastor an zwei wichtige Geburtstage und den noch ausstehenden Brief an die kirchliche Bauverwaltung. Patrick nickte und schaute dankbar auf die beiden Blumensträuße, die Gisela Grabert für die beiden Besuche schon bereitgestellt hatte. „Sie sind ein Schatz,“ lächelte er sie an und verschwand dann hinter der Tür zum nächsten Raum.

Eine Weile brütete er nun schon über diesem Schreiben für das Bauamt, als Frau Grabert noch einmal den Kopf durch die Tür steckte: „Sie denken daran, daß Ihre Eltern morgen Hochzeitstag haben?“ fragte sie. Patrick blickte erstaunt auf: „Mein Gott, das stimmt ja. Aber,“ er schaute sie fragend an, „woher wissen Sie denn das nun schon wieder? Ihnen scheint auch wirklich nichts verborgen zu sein.“ Und damit das nicht als Vorwurf verstanden werden konnte, lächelte er sie an: „Der liebe Gott scheint nicht der einzige zu sein, der allwissend ist.“

Die Sekretärin hob abwehrend die Hand: „Ganz einfach: Ihre Schwester hat angerufen und mich gebeten, Sie daran zu erinnern.“ „Typisch Sandra!“ Der junge Pastor verdrehte die Augen. „Sie traut mir auch überhaupt nichts zu!“ Er schlug sich mit der Hand auf die Brust: „Und das Schlimme ist: Sie hat recht. Diesmal jedenfalls. Ich hätte es tatsächlich vergessen. Mea culpa, mea maxima culpa.“

Das letzte verstand Gisela Grabert nicht, aber sie wagte auch nicht, danach zu fragen. Schließlich war er der Pastor und sie saß nur im Büro. „Sagen Sie doch einfach, ich hätte Sie gar nicht erinnert, Sie hätten es selber gewusst,“ schlug sie vor. „Notlügen erlaubt der liebe Gott doch bestimmt, nicht wahr? Damit Ihre Eltern nicht traurig sind.“ Sie ist wirklich ein Schatz, dachte Patrick, aber er wiederholte den Satz nicht laut.

Elena

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