Читать книгу Feuerkind - Eckhard Lange - Страница 4
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ОглавлениеEr hatte sieben Jahre ein unbeschwertes Leben geführt, so könnte man sagen, weil das Schwere verborgen blieb. Er hatte ein normales Leben geführt, wenn es normal ist, daß jemand spielen und lachen kann , sich streiten und weinen und nachts aus Träumen schreiend erwachen, die er stets vergessen hatte, noch während er schrie. Das ist normal, sagte der Arzt, den man zu Rate zog, Kinder müssen verarbeiten, was sie nicht verstehen. Kinder verlieren ihre Angst, wenn sie nächtlich alles noch einmal durchleben dürfen, was ihnen tagsüber Angst bereitet hat. Aber es war nicht die Angst seiner Tage, all die sieben Jahre war es eine einzige Angst, und auch wenn er niemals erfuhr, was ihn denn ängstigte, es war dieses eine, Einzige, Unvergessliche, das er doch vergessen hatte, vergessen mußte.
Niemand hat eine Erinnerung an jene frühen Tage seines Erdenlebens, so sagt man, und doch ist tief vergraben in uns, was damals geschah, ja, was geschah, ehe der erste Schrei neun Monate Traum beendete. Und weil der Leib, der ihn all diese Monate behütet hatte, nun lodernd zu Asche wurde, weil dessen letzter, verzweifelter Schrei ungehört blieb und doch mit der Asche und dem Lodern herübergeweht kam wie die Funken, die in der Luft tanzten und verglühten, war da etwas in dem Kind, das anders war, als die Eltern, die doch nicht die seinen waren, als der Arzt, der so viel wusste und doch so wenig verstand, es je begreifen konnten.
Dann kam der Tag, da bauten sich die Eltern, die nicht die seinen waren, ein neues, schöneres Haus, weit weg von dem zum Urwald gewordenen Garten und den Resten von Mauerwerk. Nie hatte das Kind diese Stätte betreten dürfen, ein hoher Zaun sollte seine wahre Herkunft zum Nichtwissen machen, und stets hatten die Eltern Angst, der Junge würde, von Entdeckerlust getrieben, dieses verbotene Grundstück erforschen, würde Fragen stellen, auf die niemand antworten wollte. Nur eines bedachten sie nicht: Daß es nicht der Ort war, der diesem Kind gefährlich werden konnte, sondern die schwarzen Flöckchen und der hitzige Sog, der Geruch und das Knistern und der lodernde Schein, die etwas anrührten, ohne es doch wecken zu können.
So ließen sie in dem neuen Haus einen Kamin errichten, um der wohligen Wärme willen, um der Ansicht eines gezähmten Feuers willen, das doch in jenem Abgrund des Erinnerns ungezähmt und grausam und dennoch das einzige war, was den Schrei der Mutter dem Kind dort hinterbrachte, was für immer die Verbindung sein sollte zwischen dem Leib der Gebärenden und der Seele des Geborenen, eine nie durchschnittene Nabelschnur mitten im Haschen nach Wind.
Dabei war alles wohldurchdacht: Nie blieb die Glut ohne Aufsicht zurück, und wenn beim Knacken des Scheits ein Funke sich löste, war genügend Raum vor der Feuerstelle, metallen und unbrennbar, und auch der andere Boden blieb marmorn und teppichlos. Erst weit entfernt lag brennbares Gewebe, viel zu weit, als daß je ein Funke bis dorthin gelangen konnte, und wenn, dann war er lange schon verglüht. Niemand achtete darauf, wie ein Zittern das Kind überfiel, als man zum ersten Mal feierlich die Flamme an das Holz hielt, niemand bemerkte, wie das leise Knistern Erinnerung ohne Erinnern weckte. Und niemand vermochte es zu deuten, daß seit langem wieder ein Schrei einen Traum in der folgenden Nacht begrub.
Wie sollte man auch an Gefahr für seine Seele denken, wenn der Knabe selbst darum bat, man möge doch den Kamin entzünden, wenn er stumm davor saß und das Lodern der Flammen verfolgte. Wie sollte man ahnen, daß jenes Geheimnis, wohlverwahrt im Schweigen der Großen, dennoch seit Anbeginn in dieser Seele wurzelte. Und er schaute und lernte, schweigend, unbewußt, doch voller Aufmerksamkeit: Wie man das Holz schichtet zum Brennen, wie man das Feuer entzündet und den Brand entfacht. Und er sah, daß dort, wohin die Funken niemals gelangten, Brennbares lag, das schweigend nach Feuer sich sehnte. Und er spürte den Geschmack von Ruß, hörte das lodernde Brausen, sah das züngelnde Licht, und in dem allen war da der unhörbare Schrei derer, die ihn einst geboren hatte, deren Brust ihm entzogen war weit vor der Zeit, mit der ihn die Nabelschnur noch immer verband. Das alles war da und doch wieder nicht, weil es tief unten in seinem Erinnern sich versteckte, unter dem Ruß und dem Sausen, weil alles Suchen nur war wie das Haschen nach Wind.
Was nennen wir Sucht? Ist es dieses unbezähmbare Verlangen, immer und immer wieder zu wiederholen – wieder zu holen – was einmal unendlich erregend war, was Himmel und Hölle in eines war? Dann war er süchtig seit den ersten Wochen seines irdischen Daseins. Nur eines war anders: Er wusste es nicht, wusste nicht, wonach ihn verlangte, und wusste schon gar nicht, warum. Doch ist diese Art Sucht nicht die schlimmste von allen, unerreichbar für jeden, der sie behandeln müsste und doch nicht kann? Es ist jene Sucht, die warten kann auf den einen, den plötzlich aufscheinenden Augenblick, weil sie selber nicht weiß, wie sehr sie eben darauf wartet, daraufhin lebt. Es ist die Sucht, die erst suchen muß, was sie süchtig macht. Und die selbst dann, wenn sie zum Ziel gelangt, wenn sie Erfüllung findet, gar nicht weiß, daß es ihr Ziel war, daß sie sich erfüllt hat – für den Augenblick. Doch niemals für immer.
Ja, der Knabe war süchtig. Süchtig auf diese besondere Art. Und niemand sah es, konnte es sehen. Und er selbst sah es ebenso nicht.