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Kapitel I – Frühsommer 1746

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Der große Saal von Schloss Holyrood in Edinburgh hatte sich nach der Auktion rasch geleert. Zurück blieben die Ausdünstungen von Gewinnern und Verlierern, leere Gläser und ein paar Beamte und – Oberst Arthur Middlehurst. Die Beamten hatten ihn klar den Verlierern zugeordnet. Sie hatten eine Weile Haltung bewahrt, weil er gezeigt hatte, dass er ziemlich hoch hatte mitbieten können.

Doch als er keine Anstalten machte, sich zu rühren, begannen sie, Tische und Stühle wegzuräumen.

Middlehurst bemerkte nichts davon. Er hockte in seinem Stuhl, vornübergebeugt, den Kopf in die Hände gestützt. Es brodelte in ihm wie in einem Kochtopf. Der kochte auf seinem Magen wie auf einem Ofen. Am Boden begann es anzubrennen. Dampf und Rauch stiegen ihm den Gaumen hoch in die Nase. Der Geruch hatte Namen – Demütigung, Enttäuschung und Zorn. Da hatten mehrere Gerichte gekocht, und alle waren angebrannt.

Seine geplatzte Hochzeit mit Lady Charlotte von Summerset – aus der Traum vom Schlossherr. Vermasselt von Cremor, dem ehemaligen Söldner im Dienste der Franzosen, den er in sicherem Gewahrsam wusste, bis die Soldlisten beim Überfall auf sein Feldlager in Flammen aufgegangen waren. Da hatten ihm die Beweise gefehlt, die zur Verurteilung und Hinrichtung von Cremor geführt hätten – aus der Traum, sich auch dessen Brennerei Blair Mhor unter den Nagel zu reißen. Und nun als Tiefpunkt die verlorene Auktion.

Er hatte keinen Augenblick daran gezweifelt, dass sein Plan aufgehen würde, hatte er doch selbst dafür gesorgt, dass Schloss Summerset enteignet worden war. Dann bräuchte er nur noch zu warten, bis die Regierung es verkaufen würde. Er hätte sein ganzes Vermögen dafür eingesetzt, um den Zuschlag zu erhalten.

Doch Cremor hatte ihn überboten. Und ihm dazu noch für ein Butterbrot seine Brennerei zurückgekauft, die er ihm für den Preis seines Lebens abgepresst hatte. Nur weil er zu unwissend gewesen war, sich auch den Besitz des umfangreichen Fasslagers zu sichern. Dort lag das Vermögen. Brennhäfen und ein paar Kupferleitungen waren nicht entscheidend. Ersetzbar. Aber während Jahren gereifter Whisky war nicht ersetzbar. Zeit kann nicht ersetzt werden. Und auch nicht das Wissen und die Erfahrung, die in seine Herstellung geflossen waren.

Er reckte sich auf und betrachtete mit leerem Blick die verlassenen Reihen der Stühle. Aus der Traum. Von den kleinen Rückschlägen, wie er sie nannte, ganz zu schweigen. Das Doppelspiel von Oberstleutnant James Moore, beauftragt von Cumberland und ihm persönlich, die Rebellen zu jagen und zu vernichten – dabei hatte Moore alles unternommen, um ihnen die Flucht zu ermöglichen. Nicht nachweisbar, und der einzige Zeuge, Major Tucker, sein Schützling, war tot. Da hatte sicher auch Moore seine Hände im Spiel, wie auch bei der Tatsache, dass der meistgesuchte der Rebellen, John MacDougal, ehemals Chieftain auf Schloss Blackhill, ebenfalls entkommen war.

Und letztlich die einfache Botschaft seines Feldherrn, des Herzogs von Cumberland. Die steckte wie ein Stachel in seinem Fleisch. Er hatte zur Kenntnis nehmen müssen, dass fast alle der Offiziere aus dem Stab von Cumberland, deren Vorgesetzter er doch gewesen war, an neue Posten berufen worden waren. Nur er nicht. Er griff in die Brusttasche und holte den Brief hervor.

Geschätzter Oberst

Seine Majestät, König George, hat mir neue Aufgaben übertragen. Ihr Auftrag als mein Stabschef ist somit erfüllt. Sie haben Ihre Aufgabe hervorragend … und so weiter. Man wird Sie sicher mit einer neuen Mission beehren … und Floskeln – der Dank der Nation ist Ihnen gewiss. Auch Ihr Name wird mit unserem glorreichen Sieg über die schottischen Rebellen in die Annalen eingehen. In der Zwischenzeit anvertraue ich Ihnen einen Auftrag höchster Wichtigkeit. Charles Edward Stuart, der katholische Erbschleicher, treibt sich immer noch irgendwo in den Highlands herum. Suchen und finden Sie ihn. Entweder tot oder lebendig, besser lebendig, und bringen Sie ihn vor Gericht. Es folgte eine Zusammenfassung der bisher erfolglosen Suchergebnisse . Wenden Sie sich an Hauptmann …, es folgte ein ihm unbekannter Name, er wird Ihnen alles Weitere erläutern. Ich entbiete Ihnen meine besten Wünsche … und so weiter. Siegel und Unterschrift von William Augustus Cumberland. Sohn des Königs von Großbritannien.

Daran angehängt war eine Einladung, eher ein Aufgebot, an der offiziellen Verabschiedung auf Fort Augustus teilzunehmen.

Er biss sich auf die Lippen. Damit war er arbeitslos geworden. Das schmerzte ihn nicht weiter. Aber machtlos, nicht mehr benötigt, das war viel schlimmer. Cumberland wollte ihn nicht mehr. Hatte ihn offensichtlich ersetzt durch einen anderen. Cumberland würde sich samt Hofschranzen nach London verziehen. Und er fasste diesen Auftrag, mit dem man ihn abschob und der kaum Aussicht auf Erfolg hatte. Dazu müsste er sich auch noch mit subalternen Beamten und Offizieren herumschlagen.

Das brannte tief in seiner Seele.

Cremor und Moore. Rache. Das war er sich selbst schuldig. Die Nation konnte ihm gestohlen bleiben, wenn man ihn schon nicht mehr benötigte.

Middlehurst wartete, bis sich sein Magen wieder beruhigt hatte. Er schaute kaum auf, als ein Beamter auf ihn zukam. „Sir …?“

Er erhob sich, schob ihn beiseite und eilte zum Ausgang und zu seiner Kutsche, die einzige noch auf dem großen Vorplatz zum Schloss Holyrood. Seine Leibwache und die Diener sprangen herbei. Sie empfingen ihre Befehle und schirrten die Pferde ein.

Leutnant Simon Buckle überwachte alles, beorderte die Soldaten an ihre Plätze und meldete Middlehurst die Bereitschaft zur Abfahrt.

„Ich muss mit Ihnen sprechen. Steigen Sie ein.“ Middlehurst wies mit der Hand auf die Kutschentüre.

Der Leutnant verharrte einen Moment. Es war noch nie vorgekommen, dass Middlehurst jemanden zu sich zusteigen ließ. Er wusste nicht, was er davon halten sollte und ob es ein gutes Zeichen war. Er überließ die Zügel seines Pferdes einem Soldaten.

Die Sonne stand noch halb über dem Schloss von Edinburgh, als sie von Holyrood wegfuhren und der Royal Mile Richtung Schloss folgten. Der Kutscher hatte seinen Hut tief über die Augen gezogen und folgte der Vorhut von drei Soldaten, die sich einen Weg durch den dichten Vorabendverkehr suchten. Es wimmelte von fliegenden Händlern, die mit letzter Anstrengung und lautem Rufen ihre Waren anboten, um ihren Tagesumsatz noch abzurunden. Die langsam fließende endlose Kolonne von Fuhrwerken und Kutschen staute sich immer wieder, wenn Seitenstraßen zur Royal Mile stießen und hunderte von Menschen kreuz und quer ihre Wege suchten.

In der Hauptstadt von Schottland war kein einziger Mann mit einem Kilt unterwegs. Man hätte meinen können, dass sei vor dem misslungenen Aufstand der Highlander anders gewesen und hätte nun ein Ende gefunden mit dem Verbot, die traditionelle Tracht aus den vielfarbig karierten Tüchern aus verwobener Schafwolle zu tragen. Doch in Edinburgh trug man zu keiner Zeit einen Kilt. Man wollte doch nicht mit den primitiven Barbaren in den Highlands in einen Topf geworfen werden.

Buckle saß Middlehurst gegenüber, und es war ihm nicht wohl in seiner Haut. Es war ihm unangenehm, mit seinem Rücken gegen die Fahrtrichtung zu sitzen. Middlehurst hatte kein Wort gesprochen, vielleicht hie und da geflucht über die Staus, und Buckle fühlte, dass er ihn beobachtete. Er spürte dessen Blick auf seinen Stiefeln, seinen Händen und seinem Gesicht und wenn er aufschaute, blickte er in eiskalte graue Augen. Es war ihm, als ob sein Gegenüber immer seine Stirn fixierte. Wenn Middlehurst einmal aus dem Fenster schaute, konnte er ihn seinerseits kurz betrachten. Es kam ihm seltsam vor, dass Middlehurst entgegen seiner Gewohnheit keine Perücke trug. Seine Kopfhaut war weiß mit braunen Flecken, kaum bedeckt mit kurzen grauen Haarstoppeln.

Es war schon ziemlich dunkel im Innern ihres Gefährtes, als Middlehurst endlich sein Schweigen brach. „Ich kenne Sie nun schon einige Zeit, Leutnant Buckle. Sie machen Ihre Aufgabe gut, denken an alles und halten Ihre Leute auf Trab. Aber sie sind nicht mehr der Jüngste.“

Buckle hatte sich zuerst leicht gereckt, doch die letzte Bemerkung ließ ihn wieder einfallen.

„Sicher haben Sie sich schon überlegt, sich um einen höheren Grad zu bewerben, zum Beispiel als Hauptmann, nicht wahr? Aber dazu fehlt Ihnen das Geld, oder?“ Middlehurst erwartete gar keine Antwort. Er steckte den Kopf aus dem Fenster und befahl dem Kutscher anzuhalten. „Suchen Sie einen Gasthof für uns. Wir bleiben über Nacht hier.“

Es war gerade noch hell genug, damit Middlehurst beobachten konnte, wie Buckle seine Soldaten herumkommandierte. Irgendwie erinnerte er ihn an Major Tucker, schwarzhaarig wie dieser, einen kurzen Zopf im Nacken, mit grauen Augen wie er selbst, darüber die zusammengewachsenen Brauen, wie ein schwarzer Strich quer über die Stirn. Buckle hatte die gleiche Art wie Tucker, mit den Soldaten umzugehen. Unduldsam, mit harter Hand, wie es sich gehörte, jeden Befehl fraglos ausführend und unbedingten Gehorsam fordernd. Als er ihn in der Kutsche vor sich sitzen sah, hatte er seine Schlussfolgerungen gezogen. Er kannte sich ja aus mit Menschen. Der kleine Kopf auf breitem Hals ließ wenig Platz für anspruchsvolles Denken, die herabfallenden Schultern mit den wuchtigen Armen darunter ließen nicht auf einen schnellen Fechter schließen, schon gar nicht auf diesen prallen Oberschenkeln und dicken Waden. Doch Buckle war groß, so groß wie er selbst, er würde sich mit seiner Kraft durchsetzen können, zu denken bräuchte er nicht viel, dafür würde er, Middlehurst, besorgt sein. Zu fechten bräuchte er auch nicht, dafür gab es Pistolen und Soldaten oder beides. Für Middlehurst war der Fall klar – Simon Buckle war der richtige Mann für die Aufgaben, die er ihm zu übertragen gedachte.

Buckle kam zurück. „Da vorne, Platz genug für die Kutsche und Unterkunft für die Soldaten. Ein Zimmer für Sie steht zur Verfügung.“

„Gut gemacht, Buckle, steigen Sie wieder ein. Haben Sie sich meine Fragen überlegen können?“

Des Leutnants Augenbrauen zogen sich zusammen und bildeten über seiner Nase eine dicke Brücke. „Ja, Sir, schon. Aber ich weiß nicht so recht, wie Sie es gemeint haben.“ Er ließ sich wieder auf seinen Platz fallen.

„Ganz einfach, Buckle, Ihre Zeit bei der Armee ist bald abgelaufen. Sie werden also Knecht oder Fischer oder sowas. Oder können Sie etwas, um sich ein besseres Leben zu leisten?“

Buckle stieg der säuerliche Geruch seines Obersten in die Nase. Er fasste den Ledervorhang am Fenster.

„Lassen Sie das!“ Die Stimme war kalt und barsch.

Buckles Hand zuckte zurück. „Ich bin seit ich denken kann, bei der Armee. Zwanzig Jahre bald. Bin immerhin Leutnant geworden“, meinte er trotzig.

„Die Armee braucht Sie bald nicht mehr. Da kommen Jüngere nach. Und für den Hauptmannsrang fehlt Ihnen das Geld.“

Buckle schwieg. Es wurde ihm plötzlich bewusst, dass Middlehurst recht hatte. Er hatte kein Geld auf die Seite legen können. Der knappe Sold reichte dafür nicht aus. Er war fünfzehn gewesen, als ihn die Armee sozusagen auf der Straße aufgelesen hatte. Seither hatte er stets genug zu essen gehabt. Irgendwann war er Unteroffizier geworden und es war eher Zufall gewesen, dass er zum erweiterten Stab von Middlehurst gekommen war und man ihm den Rang eines Leutnants gegeben hatte, was zwar einige Pfund mehr Sold, aber keinerlei Rente bedeutete. Er kriegte eine neue rote Jacke und neues Lederzeug, zwar gleicher Machart wie für die gewöhnlichen Soldaten. Aber immerhin hatte er dann seinen hohen Soldatenhut abgelegen und einen Dreispitz aufsetzen können, für den er selbst zu bezahlen hatte. Er ertastete ihn auf dem Sitz neben sich und stülpte ihn sich über. Als er das Schweigen nicht mehr aushielt, fragte er zögerlich: „Was bleibt mir denn anderes übrig?“

Middlehurst zögerte seine Antwort lange heraus. „Ich könnte Sie allenfalls weiter beschäftigen.“ Er hörte, wie Buckle den Atem anhielt und er wartete, bis sein Gegenüber wieder normal atmete, allerdings schneller als vorher. „Ich denke langfristig und habe auch Pläne für meine Zeit nach der Armee. Ich würde Sie als meinen Adjutanten bestellen.“

Buckles Stimme klang flach. „Das würden Sie tun, Sir, wirklich?“ Er zog seine Augenbraue hoch. „Aber für was brauchen Sie denn einen Adjutanten, wenn Sie nicht mehr in der Armee sind?“

Middlehurst sprach ungerührt weiter. „Vorläufig bin ich noch in der Armee. Mein Plan ist noch geheim. Aber ich werde etliche Männer brauchen, Männer wie Sie, Buckle. Sie können es sich ja noch überlegen. Aber wenn ich Ihre Antwort dann brauche, müssen Sie sich entscheiden.“

Als sie vor dem Gasthaus anhielten und Buckle am Aussteigen war, hielt er ihn kurz zurück. „Sie werden zehnmal mehr verdienen als jetzt.“ Buckle schaute zu Middlehurst hin, der sich seine Perücke aufstülpte, lächelte etwas verkrampft und sprang auf den Boden. Beinahe wäre er über seine eigenen Beine gestolpert.

Margaret und Cremor lagen zusammen auf einem der beiden Betten. Die Kerzen waren kürzer geworden, das Zimmer im Gasthof hatte die Kühle der Nacht aufgenommen.

Cremor holte eine Decke und breitete sie über Margaret aus. „Das war ein langer Tag, Margaret.“ Er streckte sich und unterdrückte ein Gähnen. „Und ein schöner Abend. Wie früher.“

Margaret erwiderte sein Lächeln. „Ja, wie früher. Wie wenn wir nie getrennt gewesen wären.“

Cremor legte sich wieder neben sie und schmunzelte. „Eigentlich hätten wir gar kein zweites Bett gebraucht.“ Er betrachtet sie liebevoll. „Du bist so schön wie eh und je.“ Er blies die letzte noch brennende Kerze aus und hörte noch, wie Margaret flüsterte: „Halt mich fest, Cremor, lass mich nie mehr los.“

Bald hörte er ihr ruhiges Atmen. Die Ereignisse des Tages zogen nochmals durch seine Gedanken. Die ungewisse Zukunft belastete ihn. Morgen ging es wieder zurück in die Highlands. Wieder eine Reise von etlichen Tagen, beschwerlich, gefährlich. Er war froh, hatten sie Finn dabei und die Soldaten vom Regiment. Einen ganzen Monat waren sie weg gewesen. Er hoffte, dass sie zu Hause keine schlechten Nachrichten erwarteten. Tröstlich war für ihn, dass da Freunde waren, auf die er sich verlassen konnte – Roderick und James Moore, sie würden für die Sicherheit von Mary und Seumas, von Maggie und allen anderen besorgt sein. Garantien gab es keine. Blair Mhor und die Brennerei waren zwar so etwas wie eine geschützte Insel, aber darum herum herrschte nach wie vor große Unruhe. Die Engländer waren immer noch hinter den Rebellen her, die Vertreibung der Bauern dauerte an und jeder musste, zu Recht oder zu Unrecht, um sein Hab und Gut oder sein Leben fürchten. Und über Recht oder Unrecht urteilten die Engländer; sie zerrten jeden, arm oder reich, Bauer oder Adliger, vor ihre Gerichte und wehe, wenn sie auch nur das Geringste mit dem Aufstand zu tun gehabt hatten.

Er hörte noch, wie im Gang vor ihrem Zimmer eine Tür zuschlug. Schwere Schritte ließen den Boden knarren und verklangen in der Tiefe der Treppe. Armeestiefel, dachte er. Seine Sorgen wären nicht geringer geworden, wenn er gewusst hätte, dass sich Oberst Middlehurst im gleichen Gasthaus einquartiert hatte.

Middlehurst hockte auf dem einzigen Stuhl in seinem Zimmer und starrte das Bett an. Es widerstrebte ihm, sich hineinzulegen. Seine Gedanken hingen immer noch an der verlorenen Auktion. Er hatte es als selbstverständlich betrachtet, dass er obsiegen würde. Triumphale Rückkehr zum Schloss Summerset, den Verwaltern und Dienern den Marsch blasen, sie auf sein Regime einstellen, die Verpächter aufbieten, ihnen zu sagen – nein, zu befehlen, dass sie die Unterpächter vor die Wahl zu stellen hätten, entweder Schafzucht oder Entlassung.

Ein schwarzer Käfer tauchte aus einer Falte der Bettdecke auf. Middlehurst klatschte beide Hände um ihn zusammen. Angewidert betrachtet er den großen schwarzen Fleck in seiner Hand und strich ihn an der Unterseite des Bettes ab. So ähnlich würde es den Bauern ergehen. Er konnte sich dieses Gedankens nicht erwehren. Abrupt erhob er sich, ergriff die Öllampe und trat in den Gang hinaus. In der Kutsche würde er einen Krug finden, der es ihm erleichtern würde, zur Ruhe zu kommen.

Er suchte im dunklen Gang den Weg in den Hinterhof, wo die Kutschen eingestellt waren. Er trat zur seinigen und rüttelte mit seinem Stiefel an der Federung. Der schlafende Soldat auf dem Kutschbock fuhr auf und griff zu seiner Pistole.

Middlehurst streckte ihm die flache Hand entgegen. „Ich bin's. Schlafen Sie ruhig weiter.“ Sein Blick fiel auf die Türe einer anderen Kutsche. Er brauchte eine Weile, bis er das Wappen auf der Türe erkannte. Als er nähertrat, erkannte er den Schriftzug unter dem gemalten Schild The Royal Summerset Highland Regiment. Seine Augen wurden schmal, sein Mund ging langsam auf und zu. Hier hatte er den Beweis vor sich, dass James Moore und Cremor unter einer Decke steckten. Er spürte seinen Puls im Hals schlagen. Er musterte die einzelnen Buchstaben. Seine Schlauheit ließ ihn ahnen, dass sich die beiden abgesichert haben würden. Er atmete tief und versuchte, sich zu beruhigen. Cremor hatte bestimmt irgendeinen offiziellen Auftrag von Moore erhalten, um die Reise nach Edinburgh zu rechtfertigen. Ohne solchen wäre er kaum durch eine Kontrolle der Armee gelangt. Für ihn war sonnenklar, dass Cremor einzig und allein wegen der Auktion hierhergekommen war.

Middlehurst fand den Schlafraum der Reisenden und seiner Soldaten. Als er die Türe öffnete, schlug ihm der stickige Geruch schlafender Menschen entgegen. „Buckle!“, schrie er ins Dunkel und schloss sofort wieder die Türe.

Es dauerte nicht lange, der Leutnant tauchte auf, in Hemd und Hose. Er war froh, dass er vor dem Oberst den Missmut in seinem Gesicht im Dunkel des Ganges nicht verbergen musste.

„Ziehen Sie sich an und kommen Sie mit zwei Mann zum Einspannen. Die anderen sollen sich reisefertig machen. Ich will keinen einzigen Ton hören, verstanden? Wir sehen uns im Hof.“

Middlehurst kehrte ihm den Rücken. Ein Rätsel konnte er nicht ergründen – woher nur hatte Cremor das viele Geld? Soviel konnte die Brennerei in all den Jahren gar nicht hergegeben haben. Lady Charlotte? Sie war ihrer Ländereien zwar verlustig geworden, aber vielleicht hatte sie genügend Mittel auf die Seite schaffen können?

Die Stimme von Buckle riss ihn aus seinen Gedanken. „Wir können einspannen. Zwei oder vier?“

„Vierspännig, Buckle, wir ändern den Plan. Wir reisen ab. Alle und sofort. “

Buckle stutzte, seine Schultern zuckten. Dann nickte er und kehrte auf dem Absatz.

„Und seien Sie, verdammt noch mal, leise!“, rief ihm Middlehurst nach. Er ging zurück in sein Zimmer und machte sich reisefertig. Alles, was an einen Offizier der englischen Armee erinnern könnte, packte er in seinen massiven Holzkoffer, auch die Perücke. Er schaute sich im Raum um, die Öllampe in der Hand, um sich zu vergewissern, dass er nichts vergessen würde. Er stülpte einen schwarzen hohen Hut mit breiter Krempe über, duckte sich unter der Türe und verließ den Raum.

Seine Truppe wartete reisefertig im Hof. Er wies zwei Diener mit einer Kopfbewegung an, seinen Reisekoffer zu holen. Dann winkte er den Kutscher und Buckle zu sich. „Wir reiten heute Nacht durch. Die erste Wechselstation lassen wir aus. In der zweiten müssen wir gegen Abend eintreffen, also beeilen wir uns. Dort nehmen wir Quartier und wechseln die Pferde.“ Er stieg in die Kutsche. Buckle machte einen Schritt hinzu, doch der Befehl von Middlehurst, die Türe zu schließen, zeigte ihm, dass seine Gesellschaft nicht erwünscht war.

Middlehurst öffnete den Deckel im Boden und holte seinen Krug hervor. Er nahm ein paar Schlucke und fluchte, als die Kutsche plötzlich anzog. Er wischte sich die übergeschwappte Flüssigkeit vom Gesicht und stellte den Krug zurück. Dann legte er seine Füße auf das gegenüberliegende Sitzpolster und starrte durch das Fenster ins Dunkel der Nacht.

Er hatte sich lange überlegt, ob er dem Herzog von Cumberland seine Demission aus der Armee einreichen sollte. Dann käme er um den unangenehmen Auftrag herum, sich auf die Jagd auf Prinz Charles Stuart zu machen. Da gab es zwar eine riesige Belohnung, aber die würde sich die Regierung für einen Obersten sparen. Es sei schließlich sein offizieller Auftrag gewesen, würde es heißen. Immerhin würde er in die Geschichte eingehen, wenn er seiner habhaft werden würde. Arthur Middlehurst, der Mann der Prinz Charles fing und ihn seiner gerechten Strafe zuführte. Doch er betrachtete die Sache als aussichtslos. Zu lange schon war der Prinz auf der Flucht, vielleicht hatte er das Land auf einem französischen Schiff bereits verlassen können.

Der Gin hatte seine Gedanken angeheizt und wieder spürte er den Zorn in sich aufwallen. Cumberland wollte ihn nicht mehr in seinem Stab, daran gab es nichts zu rütteln. Seine Generäle und Obersten bezögen ihre Pfründe als die Sieger von Culloden, versehen entweder mit ehrenvollen Ämtern oder mit neuen Kommandoposten in der Armee. Sein eigener Name würde vergessen werden, es würde für ihn nicht einmal mehr für eine offizielle Verabschiedung mit allem Drum und Dran reichen.

Middlehurst griff nochmals in den Zwischenboden und holte den Ginkrug hervor. Beim ersten Schluck entschied er, sein Kommando trotz des widrigen Auftrages nicht abzugeben. Er würde zwar keine Zeit darauf verwenden, aber die Vorteile, bei Bedarf seinen Rang als Oberst hervorzukehren, überwogen.

Beim zweiten Schluck dachte er an Cremor und James Moore. Sie würden seiner Rache nicht entgehen.

Beim dritten und den nachfolgenden Schlucken überdachte er seine Pläne.

Kaum ein halbes Jahr war vergangen, seit er mit Cumberland aus Frankreich zurückgekehrt war. Der Sieg der Franzosen über die Engländer bei der Schlacht von Fontenoy hatte der Überlegenheit der englischen Armee ein Ende bereitet. Er, Middlehurst, hatte vergeblich versucht, die Schuld für die Niederlage den verbündeten Holländern in die Schuhe zu schieben. Cumberland musste dem Ruf seines Vaters, König George II, folgen. Zurück nach London.

Prinz Charles Stuart, hatte den Zeitpunkt für seine Rebellion gut gewählt, um die britische Krone wieder in seine Hände und damit in die Hände der Katholiken zu bringen. Er wusste, dass fast die ganze englische Armee auf dem Kontinent gebunden war. Sein Feldzug hatte ihn bis kurz vor London geführt. Dort war Panik ausgebrochen, Banken waren gestürmt worden, und die Reichen und Vornehmen hatten ihre Koffer gepackt. Doch Prinz Charles hatte vergebens auf die Unterstützung durch die Franzosen gehofft und er blies zum Rückzug in die Highlands. London atmete auf. Cumberland erhielt den Auftrag, den Aufstand niederzuschlagen. Am 16. April 1746 versanken alle Träume der Highlander in einer Flut von Blut und Tränen.

Für Middlehurst hatte sich das Schicksal der Highlander nach der verlorenen Schlacht besiegelt. Den Auftrag von Cumberland, dem er mitgeholfen hatte, als „der Schlachter“ in die Geschichte einzugehen, hatte er erfüllt. Dorf um Dorf war abgebrannt worden, die Bewohner vertrieben oder umgebracht. Major Tucker und die anderen Offiziere unter dem Kommando von James Moore, sowie alle anderen Abschnittskommandanten hatten dem Auftrag von Cumberland nachgelebt; geplant und umgesetzt von ihm, Oberst Middlehurst – nur ein toter Highlander ist ein guter Highlander. Keine Gnade.

Andere würden die Lorbeeren kriegen, er nicht. Er nahm einen großen Schluck aus dem Krug. Die Menschenjagd war in vollem Gange. Gerichtsurteile wurden zuhauf gefällt und meist war es Verbannung und Tod. Verbannung konnte heißen zum Militärdienst in den Kolonien in Amerika oder unter der heißen Sonne der Karibik gezwungen zu werden. Oder als Arbeiter und Diener in die Baumwollplantagen und Tabakfeldern, ob Männer, Frauen, Jungen oder Mädchen. Weiße Sklaven.

Middlehurst hatte gut beobachtet. Bei ihm kamen die Informationen zusammen.

Da gab es Menschen, die waren Geld wert und es gab es einen Markt dafür. Er würde in diesem Markt mitmischen. Dafür brauchte er Simon Buckle und noch ein paar Helfer mehr. Solche vom Kaliber Buckle, lieber noch darüber. Aber alle mit den gleichen Eigenschaften – skrupellose Halsabschneider, erbarmungslos, gewissenlos. Wie er selbst. Und geldgierig dazu. Wie er selbst. Er wusste, wo diese zu finden waren und er wusste auch, wo er sein Material, wie er es nannte, finden würde. Nicht auf Schloss Summerset, vorläufig wenigstens. Dort gab es noch jene, die sich auf die Seite der Engländer geschlagen hatten. Was nicht hieß, dass ihre Untertanen plötzlich königstreu geworden waren. Nein, das war alles das gleiche Pack – Barbaren des Norden, rückständig, ungebildet, nicht würdig in das britische Königreich aufgenommen zu werden.

„Ha!“, rief er, nicht laut. Dann schlief er ein. Nicht einmal das Rütteln der Kutsche vermochte ihn zu wecken.

Gegen Abend des zweiten Tages erreichten sie die Poststation, wo sie ihre Zugpferde auswechseln konnten. Auf einer Weide tummelten sich gut zwei Dutzend Pferde. Die Kutscher und die Soldaten wurden von Buckle angehalten, sich nicht zu betrinken und am anderen Morgen bei Tagesanbruch wieder reisefertig zu sein. Je zwei Soldaten sollten abwechselnd die Kutsche bewachen. Der Stallmeister der Station ließ die erschöpften Pferde in einen separaten Pferch treiben, trug sie in seine Bücher ein, überwachte deren Pflege und bestimmte die Ersatztiere für den Weiterritt. Die Reitpferde wurden von den Soldaten in den Stall geführt, gestriegelt und getränkt und in eine abgezäumte Weide gelassen. Vor einer Taverne neben einer zweistöckigen Herberge waren etliche gesattelte Tiere angebunden. Man sah mehrere englische Soldaten, Reisende in edlen Kleidern und Perücken samt ihren Dienern sowie Knechte, die hin und her eilten. Die wenigen Frauen erregten sofort Aufmerksamkeit; man sah sie nur kurz, entweder warteten sie in ihren Kutschen oder hatten sich rasch in die Herberge verzogen. Unter einem Vordach glühte das Feuer einer Esse, ein Knecht trieb den Blasebalg. Der Schmied hämmerte auf seinem Amboss ein Hufeisen in seine Form. Mehrere Fuhrleute warteten mit ihren Pferden, bis sie an die Reihe kamen. Es ging laut zu und her, derbe Sprüche wechselten mit Befehlen.

Überall hing Rauch in der Luft, von der Esse und einzelnen Feuerstellen, an denen Männer lagerten und zechten. Da gab es jede Menge Wegelagerer die ihre Spitzel zu den Vorreitern der Kutschen schickten, um zu erfahren, welches Gefährt für einen Überfall am meisten Ertrag versprach. Die Kutscher selbst waren ziemlich unbestechlich, um ihren Ruf zu wahren. Doch die Vorreiter, positioniert auf dem Zugpferd vorne rechts, hatten nichts zu verlieren außer ihrem Leben, welches sie solange auf dem Pferderücken verbrachten, bis sie entweder altershalber vom diesen fielen oder bei einem Überfall zum Schweigen gebracht wurden.

Hier auf der Wechselstation kamen alle zusammen. Einige für längere Zeit, gar für immer, die meisten für kurze. Hier trafen sich Hoffnungen und Enttäuschungen, Trunkenbolde, Reiche, Arme, Diener, Herren und auch lose Damen, Spieler, Heilsversprecher und Gesundbeter. Man lebte den Tag, entweder man konnte ihn loben oder hoffte auf den nächsten. Keiner trug Verantwortung für den anderen, nicht wie in einem Dorf, das für ewig angelegt war, hier war ein Kommen und Gehen, jeder nahm seine Gelegenheiten nach seinen Fähigkeiten und seinem Glück war. Dann waren da noch diejenigen, die von den ersteren lebten. Zuoberst die Besitzer der Taverne, der Herberge, der Ställe, der Weiden. Dann der Schmied, auf gleicher Stufe wie der Metzger und der Bäcker, alle stets auf der Hut, weil sie kein Land besaßen. Zuunterst die Arbeiter, Knechte und Diener. Auswechselbar, ausgebeutet, kämpfend um ihr täglich Brot. Auch der Totengräber musste stets um seinen kargen Lohn bangen, denn die meisten kamen nicht zum Sterben hierher, und es war der Landeigner, der ihn nach Abzug seiner eigenen Spesen aus dem verwertbaren Nachlass des Toten entschädigte.

Middlehurst war nicht zum ersten Mal auf solch einer Station, er wusste wie sie funktionierten, diese hier kannte er besonders gut von mehreren Besuchen. Und er wusste, dass er, was er suchte, nicht zuunterst suchen musste, den dort waren nur die Ärmsten, die Bettler und die Dümmsten, wie er meinte. Gegen oben war er offen, Deserteure, Wegelagerer würden gut genug sein, Hasardeure waren willkommen. Er hatte Simon Buckle mit Bedacht auserkoren, um jene, die er auswählen würde, zu führen. Er, Middlehurst, würde nachher im Hintergrund bleiben. Er wusste, dass sich in der Kneipe die gesuchten Talente offenbaren würden.

Er trat ins Halbdunkel des großen Raumes, gefolgt von Buckle, und musste seinen Kopf einziehen, um mit seinem Hut nicht an die niedrige Decke zu stoßen, die mit mehreren Holzbalken abgestützt war. An ihnen hingen flackernde Öllampen. Die Luft war stickig, ein Gemisch von Schweiß und Rauch aus dem Ofenfeuer der offenen Küche, wo riesige Eintöpfe dampften. Middlehurst drängte sich durch die Menge, die ein lautes Sprachgewirr lieferte. Er erkannte Brocken von Deutsch und Holländisch. Dicht an dicht standen Männer an der Theke und forderten Nachschub für ihre Becher. Aus der Küche wurden gefüllte Teller herausgereicht und von den hin und her eilenden Kellnern zu den Tischen getragen. Sie kassierten sofort, maulten über schlechte Trinkgelder und holten die nächsten Mahlzeiten.

„Machen Sie einen Tisch frei, Buckle. Dort, in der Ecke.“ Er schaute zu, wie Buckle hinging und sich vor den dort sitzenden Männern aufpflanzte. Er sah, wie diese zornig auffuhren, als Buckle sein Begehren nannte, doch seine Körpermasse und die rote Uniformjacke ließen keinen Widerspruch zu. Sie schnappten sich ihre Krüge und räumten das Feld. Buckle kippte den Tisch kurz, um die Essensreste loszuwerden, rückte zwei Stühle zurecht und wartete bis Middlehurst hinzugekommen war und sich gesetzt hatte.

„Gut gemacht, Buckle, holen Sie uns Wein und etwas zu essen!“ Der Oberst schaute um sich und musterte Gesichter und Gestalten. Um ihn herum flossen Rum und wasserklarer Whisky in gierige Kehlen. Er schaute auf Kleidung und Verhalten, schloss jene aus, die einzeln oder in kleinen Gruppen da waren, auch jene, die ihm zu gut gekleidet erschienen.

Buckle brachte einen Krug Wein und zwei Becher. „Essen kommt gleich.“

„Sehen Sie den langhaarigen Kerl dort, den Rücken zur Theke?“

Buckle sah sofort, wen er meinte. Er war ihm schon vorher aufgefallen, nicht nur wegen der Lautstärke seiner Stimme, sondern weil sein Kopf, wie sein eigener, beinahe bis zur Decke reichte, und an der Art und Weise wie er seine Kumpane auf Distanz hielt oder sie an sich zog, in dem er ihnen auf die Schultern klopfte, oder sie am Kragen packte, oder ihre Sprüche lobte oder zurückwies.

„Der Kerl führt eine größere Gruppe. Selbst am Tisch da drüben achten sie auf ihn. Schätze mindestens ein Dutzend. Er hat den Überblick. Seine Leute sammeln Informationen.“ Er sprach es mehr zu sich selbst.

Buckle schaute ratlos. „Warum …?“

„Später, Buckle, holen Sie ihn her!“ Er beobachtete, wie sich Buckle durch die Menge drängte und dann auf den Mann einredete. Dieser schaute zu ihm hin, dann wieder zu Buckle und schob ihn schließlich beiseite.

Als er vor ihm stand, erhob sich Middlehurst. Er musste seinen dünnen Hals höher recken, um ihm in die Augen zu blicken. Der Mann sah jünger aus, als es seine fast weißen Haare, die ihm bis zur Schulter reichten, vermuten ließen. Er stiess ihm gleich die Frage ins Gesicht: „Was willst Du von mir?“

„Ich hätte eine Aufgabe für Dich. Wie viele seid ihr?“

Der Mann musterte ihn misstrauisch. „Wer bist Du? Was für eine Aufgabe?“

„Wie heißt Du?“

„Hans.“

„Deutscher?“

„Möglich. Nun sprich schon. Um was geht es?“

„Wie viele Leute hast Du dabei?“

Der Mann, der sich Hans nannte, stiess ihm mit der flachen Hand auf die Brust, so dass er zurücktaumelte. „Vergiss es!“ Er dreht ihm den Rücken zu und wollte zurück zu seinen Kumpanen.

„Einhundert!“, rief ihm Middlehurst nach.

Hans wandte den Kopf zurück. Der Kellner stellte zwei dampfende Teller auf den Tisch.

„Pro Kopf“, ergänzte Middlehurst. „Und pro Monat.“

Der Deutsche baute sich wieder vor ihm auf. „Macht fünfzehnhundert. Zahlbar an mich. Fünfhundert vorweg. Um was geht es?“

„Wir gehen nachher nach draußen.“ Middlehurst drückte ihm ein paar Pfundnoten in die Hand. „Zahlen Sie Ihren Männern noch eine Runde. Wir sehen uns nachher, sobald ich gegessen habe.“ Er setzte sich wieder, stocherte mit dem Löffel im Teller und schlürfte von der Löffelkante. „Nicht schlecht.“ Er schaute dem Langen zu, wie dieser Leute zur Seite schob und zurück an die Theke ging. Buckle pflichtete ihm bei. „Wirklich nicht schlecht.“

Middlehurst sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Ich meine nicht das Essen, Buckle.“ Er kaute langsam und beobachtete das Geschehen an der Theke. Hans sprach mit einem der Kellner. Dieser nickte und bald wanderten etliche frisch gefüllte Krüge zu den ausgestreckten Händen. Middlehurst sah die dazu gehörenden Gesichter und machte sich ein Bild jedes einzelnen. Zwischendurch murmelte er: „Nicht schlecht, gar nicht schlecht.“

Buckle nickte, obwohl er nicht wusste, wofür er zustimmte.

Als Middlehurst den letzten Bissen geschluckte hatte, suchte er den Blickkontakt zu Hans und wies mit einer Kopfbewegung nach draußen.

Als Margaret erwachte, vermisste sie sofort die Wärme von Cremors Körper. Ihre Hand fuhr über das Bett. „Cremor?“

„Ich bin hier, Margaret.“

Sie setzte sich auf. Das Morgenlicht drang schwach zwischen den Ritzen der Fensterläden hindurch und sie erkannte Cremor auf einem Stuhl in der Ecke des Zimmers. „Schon auf, mein Liebster? Es ist doch noch fast dunkel. Komm zurück ins Bett.“

„Ich kann nicht mehr schlafen, Margaret. Wir müssen sowieso bald aufbrechen.“ Er ging zu Bett und setzte sich auf die Bettkante. Sanft strich er ihr über die Haare.

Sie zog ihn zu sich, um seine Augen sehen zu können. „Was bedrückt Dich? Was ist geschehen?“ Sie ertastete seine Jacke und stellte fest, dass er bereits angezogen war.

Cremor holte tief Luft. „Ich habe Dir nicht gesagt, wie die Auktion ablief.“

Margaret setzte sich auf. „Du hast obsiegt, nicht wahr? Also …“

„Middlehurst war an der Auktion. Ich war völlig überrascht, als er ein Gebot abgab. Er wollte Schloss Summerset für sich. Die Brennerei hatte er ja schon.“

„Du hast ihn überboten. Ist doch gut, oder?“

„Du kennst Middlehurst nicht. Er verliert nicht gerne. Ich habe sein Gesicht gesehen. Er wird alles tun, um sich zu rächen.“

„Aber er ist doch ein Offizier der englischen Armee. Er kann doch nicht einfach …“

„Die Engländer haben Schottland im Griff. Es gilt das Recht des Siegers. Sie werden das erbarmungslos ausnützen.“ Seine Stimme wurde eindringlich. „Wir müssen uns vorsehen, Margaret.“

Cremor öffnete die Läden der Fenster. Sie sahen sich ins Gesicht. Margaret schaute kummervoll. Cremor gelang ein leichtes Lächeln. „Guten Morgen, mein Liebling.“ Er küsste sie auf den Mund. „Vorläufig sind wir in Sicherheit. Wir haben Finn und die Soldaten. Aber wir müssen rasch zurück nach Blair Mhor. Ich muss mit James und Roderick sprechen.“

Margaret kämmte sich die Haare und begann sich anzuziehen. „Was geschieht mit Lady Charlotte?“

Cremor runzelte die Stirn. „Offiziell bin ich der neue Schlossherr. Eine Rolle, die mir gar nicht passt. Sie steht mir auch nicht zu. Es war im Wesentlichen ihr Geld und jenes von Dir und Shauna, was mir den Kauf ermöglichte.“ Er schüttelte ungehalten den Kopf. „Charlotte soll in ihrer Villa hocken und den Mund halten. Doch ich schulde ihr ziemlich viel Geld. Wir müssen uns wohl oder übel mit ihr arrangieren.“

Margaret wiegte den Kopf hin und her. „Was geschieht mit dem Schloss und all den Liegenschaften und mit dem Land?“

„Meine größte Sorge sind die Bauern mit ihren Familien. Wenn sie kein Einkommen haben, werden sie entweder verhungern oder müssen auswandern oder an der Küste nach Arbeit suchen. Die jungen Männer werden zum Militärdienst gezwungen.“ Seine Stimme wurde lauter. „Die verdammten Engländer geben erst Ruhe, wenn alle vertrieben oder geknechtet sind. Noch lieber wären sie ihnen tot als lebendig.“

Margaret schaute entsetzt. „Ich habe nicht gedacht, dass es so schlimm ist. Was können wir tun?“

„Weißt Du, Blair Mhor und die Brennerei waren so etwas wie eine Oase inmitten einer Welt von Gewalt und Terror. Die Engländer haben die Brennerei bisher in Ruhe gelassen. Ebenso das Dorf. Du wusstest vielleicht gar nicht, dass Blair Mhor vor nicht allzu langer Zeit nur Schutt und Ruinen war. Es wurde abgebrannt und viele Menschen umgebracht oder verschleppt, weil der Herzog von Cumberland uns einen Denkzettel verpassen wollte. “ Cremors Stimme wurde heftig. „Die einzigen, die etwas getan hatten, waren Maggie und James Moore. Ich habe nur zugeschaut.“ Seine letzten Worte klangen bitter.

Margaret schlang ihre Arme um ihn. „Du hast Deinen Teil abbekommen.“ Sie küsste ihn auf die weiße Narbe über seiner Nase.

„Das alles wächst mir über den Kopf, Margaret. Ich wollte mal Wundarzt werden und aus mir ist ein Whiskybrenner geworden. Und jetzt bin ich Großgrundbesitzer und …“ Er unterbrach und runzelte die Stirne. „Wusstest Du eigentlich, dass Alan MacLennoch die Ruinen von Blair Mhor, ich meine das Land darunter, auf mich überschrieben hatte? Sozusagen als zukünftiges Erbe für Maggie.“

Margaret schüttelte verneinend den Kopf. „Und jetzt ist daraus ein neues Dorf mit vielen Bewohnern entstanden.“

„Ja, dank Maggie und James und Roderick, und allen anderen natürlich. Als Laird of Blair Mhor könnte ich von jedem eine Pacht verlangen, was mir fernliegt. Außer bei den Engländern. Da besteht ein Vertrag mit der Armee. Middlehurst wird auch das nicht schlucken wollen. Dass ich als vermuteter Rebell auch noch vom Sieger abkassiere.“

Cremor lächelte leicht und umfasste mit beiden Händen ihr Gesicht. Seine Stimme war ernst. „War eine lange Zeit ohne Dich, Margaret. Ich bin manchmal schier verzweifelt. Ich würde es nicht ertragen, noch einmal von Dir getrennt zu werden.“ Er schluckte leer. „Wir müssen uns vorsehen, es wird nicht einfach werden. Wir müssen uns auf den Weg machen. Es gibt noch viel zu besprechen. Zeit genug haben wir ja auf unserer Rückreise.“ Er lächelte leicht unsicher und wandte sich zur Türe. „Ich sehe nach Finn und der Kutsche und besorge uns ein Frühstück. Ich komme Dich in einer halben Stunde holen.“

Middlehurst, Buckle und Hans traten nach einander aus der Taverne. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen ans Dunkel der Nacht gewöhnt hatten. Middlehurst wies auf einen Baum am Rande der Pferdekoppel hin. „Gehen wir da hinüber. Wie heißen Sie eigentlich?“

„Hoffman. Wer ist der Kerl hier?“.

„Simon Buckle, mein Vertrauter. Er wird alles koordinieren."

Hoffman schaute misstrauisch. „Also, um was geht es?“

„Setzen wir uns.“ Middlehurst hockte auf den Boden. Buckle tat es ihm gleich. Hoffman zögerte. „Vorerst klären wir Deine Situation, Hoffman. Du wirst viel Geld verdienen. Du erhältst die Anweisungen von Buckle. Es ist alles vertraulich. Du sorgst dafür, dass Deine Leute keine dummen Fragen stellen.“

Hoffman blieb immer noch stehen. „Wer bist Du?“

„Mein Name ist Middlehurst, Oberst der königlichen Armee.“

Hoffman kehrte sich um und machte die ersten Schritte zur Taverne zurück.

„Dreißig tausend Pfund!“

Hoffman blieb stehen und verharrte einen Augenblick. Dann drehte er sich um und kam zurück zu den beiden Männern.

„Nun setz Dich endlich!“

Hoffman kauerte sich auf seine Stiefelabsätze. „Ziemlich viel Geld. Wie komme ich daran?“

„Es ist die Belohnung, die auf den schottischen Rebellen Stuart ausgesetzt ist. Er ist immer noch auf der Flucht. Ich habe den Auftrag, ihn zu jagen.“

„Warum tust Du es dann nicht?“

„Ich hätte als Armeeangehöriger keinen Anspruch auf Belohnung. Aber Du erhältst von mir alle Informationen.“

Hans Hoffman grinste und kniff die Augen zusammen. „Schönes Schlitzohr bist Du. Aber von mir willst Du dann deinen Anteil, oder?“

Middlehursts Gesicht blieb kühl. „Nein. Und ich sage Dir gleich warum. Du wirst von Buckle einen zusätzlichen Auftrag erhalten, der Dir mindestens gleich viel Geld bringen wird. Die Jagd auf Stuart dient nur als Deckmantel für den zweiten Auftrag. Du wirst den Prinzen sowieso nicht erwischen.“

Hoffman setzte sich auf den Boden. Buckle schaute mit großen Augen zu Middlehurst.

Es dauerte bis spät in die Nacht hinein, bis Middlehurst seine Vorhaben ausführlich beschrieben hatte. Hoffman steckte seine Vorauszahlung ein und sie gingen auf getrennten Wegen zurück zu ihrer Unterkunft.

Am anderen Morgen machte sich Middlehurst auf den Weg zurück nach Fort Augustus. Er trug wieder seine Uniform samt Perücke.

In einigem Abstand folgten Hoffman und seine Leute. Am fünften Tag ihrer Rückreise rief ihn Middlehurst zu sich. „Es ist soweit, Hoffman. Dein erster Auftrag wartet auf Dich.“

Hoffman blinzelte mit den Augen. „Du gehst aber rasch zur Sache.“

„Sicher, hast Du daran gezweifelt? Wir reiten demnächst bei Blair Mhor vorbei. Dort steht die Brennerei. Die interessiert uns nicht. Aber gleich dahinter liegen die Lagerhäuser mit den gefüllten Fässern. Du brennst die Lagerhäuser ab!“

Hoffman verzog das Gesicht. „Wie willst Du daraus Geld machen?“

„Geld interessiert mich hier nicht. Wir schießen jemandem vor den Bug. Er soll wissen, dass wir uns nichts gefallen lassen.“

Hoffman schaute misstrauisch. „Um wen geht es?“

Middlehurst blickte an ihm vorbei. „Ein schottischer Rebell. Gegen die Regierung. Wir konnten ihm jedoch nichts nachweisen. Jetzt sorgen wir für gerechte Strafe.“

Hoffman wiederholte: „Um wen geht es?“

„Sein Name ist Cremor. Weiß der Teufel, wo er seinen Namen herhat. Weder englisch noch schottisch. Er ist zurzeit nicht in der Brennerei. Es schadet nichts, wenn er erfahren wird, dass jemand hinter ihm her ist. Wir fordern ihn heraus. Er wird Fehler machen. Dann erledigen wir ihn.“

Hoffman nickte. „Damit wird jedoch eine weitere Anzahlung fällig.“

Middlehurst drückte ihm einen Umschlag in die Hand. „Das habe ich erwartet.“ Er zog seinen Degen und zeichnete mit dessen Spitze eine Skizze in den Boden. „Hier liegt die Brennerei, hier die Fasslager, daneben ein großes Wohnhaus und andere Gebäude. Die Destillerie ist bewacht. Fünf Leute oder so. Falls sie sich wehren, eliminiert ihr sie. Sonst soll niemand behelligt werden. Ihr habt nur den einen Auftrag – das Fasslager vernichten. Klar?“

Hoffman runzelte die Stirn. „Wir haben keine Brandfackeln dabei.“

Middlehurst verzog einen Mundwinkel. „In der Destillerie brennen Tag und Nacht Feuer. Ihr braucht nur ein oder zwei Fässer aufzuschlagen und die glühenden Brocken darauf zu werfen.“

Hoffman versorgte den Umschlag in seiner Jacke. „Wenn das alles ist …“.

„Anschließend kommt ihr zum Fort Augustus und lagert am Loch Ness. Jemand soll mir berichten, wenn ihr angekommen seid.“

Middlehurst steckte seinen Degen in die Scheide und ging zur Kutsche.

Zehn, manchmal zwölf Stunden dauerte die Reise von einer Wechselstation zur nächsten. Manchmal schien die Sonne und heizte die Kutsche erbarmungslos auf. Man war froh, wenn es zwischendurch wieder regnete und erst wenn der Fahrtwind die Schauer durch die Fenster trieb, zog man die Vorhänge. Von Zeit zu Zeit wechselten Margaret und Cremor ihre Plätze. Kurzweilige Gespräche über ihre Erlebnisse der Vergangenheit wechselten mit stundenlangem Dösen. Finn O‘Brian hatte erkannt, dass sie seine Gesellschaft zur Abwechslung schätzten und er spürte, wenn er bei einem kurzen Halt sein Pferd hinter der Kutsche anbinden und für ein Wegstück zu ihnen zusteigen sollte.

Manchmal erzählte Finn von seinem Heimatdorf und warum er als Ire bei der englischen Armee gelandet war. Es war für Cremor nichts Neues, als er erfuhr, wie man ihn betrunken gemacht hatte und ihn ein Papier unterzeichnen ließ und dass er, kaum war er wieder nüchtern, eine englische Uniform trug.

„Ich war nicht einmal unglücklich darüber, denn endlich kriegte ich genug zu essen.“ Finn verzog sein Gesicht. „Da ging es mir noch besser, als jenen die schon am nächsten Tag auf ein Schiff verladen wurden. Ich habe gar nicht gewusst, dass so viele Leute darauf Platz haben.“ Finn schloss die Augen und schwieg.

Margaret betrachtete sein versteinertes Gesicht. „Da war noch etwas anderes, oder?“

Finn ließ den Kopf hängen. Dann schaute er mit schmerzverzogenem Gesicht zu Margaret, dann zu Cremor und wieder zurück zu ihr. „Es war die Hölle. Wir litten Hunger. Die Väter waren irgendwo. Unsere Mütter konnten uns nicht mehr ernähren. Wir mussten betteln, ich und meine Geschwister. Anfangs waren wir noch ein halbes Dutzend. Eines ums andere ist verschwunden. Ich war der Älteste. Ich habe sie gesucht. Vergeblich.“ Er schlug die Hände vor sein Gesicht um seine Tränen zu verbergen. „Entschuldigung, ich wollte nicht …“.

„Sprich weiter, Finn.“ Margaret fuhr ihm mit der Hand über den Kopf.

„Ich wollte es zuerst nicht glauben, nicht wahrhaben. Mit der Zeit erfuhr ich es dann. Ich sah die Fuhrwerke voller Kinder, ja Kinder. Jungen und Mädchen. Man hatte sie eingesammelt, mit Gewalt.“ Er schaute Margaret hilflos in die Augen. „Dann wurden sie zum Hafen gebracht. Ich habe alles beobachtet, musste aufpassen, dass man mich nicht entdeckte. Ich sah, dass die Kapitäne Geld für sie zahlten. Dann wurden sie in die Schiffe getrieben. Man sah bald keinen mehr, sie waren alle unter Deck.“

„Und dann?“, fragte Cremor atemlos.

„Ich wollte nach Hause. Unsere Hütte war abgebrannt, meine Mutter verschwunden. Ich habe sie überall gesucht. Es war alles so grauenhaft. In den wenigen Hütten, die noch unversehrt waren, vegetierten nur eine paar Alte und Kranke. Keine Kinder, keine jungen Leute mehr. Alle weg. Eigentlich hatte ich noch Glück, dass ich in der Armee gelandet bin.“

Margaret seufzte tief. „Dann war es also doch wahr.“

Cremor schaute sie fragend an. Er ahnte was kommen würde. „Amerika?“

Margaret nickte. „Man hatte viel darüber geredet. Schlimme Geschichten. Ich wollte es nie richtig wahrhaben.“ Sie fuhr sich mit beiden Händen über die Nase und über die Wangen. „Ich hätte es merken müssen. Die Schiffe brachten unzählige Leute aus Irland und Schottland, doch die wenigsten verließen es am Hafen, eben nur diejenigen, die Geld hatten und für die Überfahrt bezahlen konnten. Sie halfen uns beim Aufbau des Dorfes. Doch auch sie hatten schon ihre Arbeiter dabei und die wurden geschunden.“

„Und die anderen?“

„Für die war die Reise in Brunswick Town nicht zu Ende. Die Schiffe segelten weiter den Fluss hinauf. Die meisten Leute waren an Bord geblieben. Man sah sie nicht, denn sie waren alle unter Deck.“

Die Kutsche schaukelte heftig und sie mussten sich an den Wänden festhalten. Cremor spürte, wie es in seiner Stirnnarbe pochte. „Was geschah mit ihnen?“

„Ich hielt es zuerst für Gräuelgeschichten, so unglaublich war es.“ Margaret schüttelte den Kopf. „Ich habe sie gesehen, als ich als Lehrerin unterwegs war. Man hat es vor mir nicht einmal verborgen. Ich habe sie gesehen, wie sie zusammen mit den schwarzen Sklaven auf den Baumwoll- und Tabakfeldern arbeiteten. Die Hitze war unvorstellbar. Gar Kinder noch, viele von ihnen, teilweise nackt. In den Villen selbst ging alles sehr gesittet zu und her. Die Diener waren gut gekleidet und machten einen sorglosen Eindruck.“ Sie hielt inne. „Aber ich habe mich täuschen lassen. Später habe ich von unglaublichen Geschichten erfahren. Die weißen Sklaven waren weniger wert als die schwarzen. Sie waren schwächer und weniger widerstandsfähig.“ Margarets Augen füllten sich mit Tränen. „Man hat mir erzählt, dass die Decks der Schiffe vollgepfercht waren mit den gefangenen Iren und Schotten. Sie waren an einander gekettet, selbst im Tod noch, etliche sind verhungert oder an Krankheit gestorben. Man hat sie einfach in den Fluss gekippt. Sie trieben später wieder an Brunswick vorbei und wurden ins Meer hinaus gespült.“

Finn murmelte: „Du hättest es nicht verhindern können.“

Margaret fuhr auf. „Doch, jemand hätte etwas tun müssen. Aber es war alles wie normal, wie wenn es zum Alltag gehört hätte. Sklaven waren überall, Schwarze und Weiße. Es hat niemanden gestört.“ Sie schrie plötzlich laut auf. „Es war alles wie normal. Völlig normal! Und ich habe es akzeptiert!“

Cremor setzte sich neben sie und umfasste sie über die Schultern. „Beruhige Dich, Margaret. Du bist nicht schuld daran.“

Sie atmete tief. Es war, wie wenn sie zu den Sitzpolstern sprechen würde. „Ich habe geschwiegen. Ich brauchte das Geld. Ich wollte es mit den Gutsherren nicht verderben. Ich brauchte das Geld, um zurückzukommen.“ Sie sank in sich zusammen. Cremor suchte nach Worten, doch seine Stimme blieb stumm.

„Ich hatte später Kinder in meiner Schule, deren Eltern nach Jahren der Zwangsverpflichtung als Sklaven wieder freigelassen wurden. Es dauerte Monate, bis sie wieder zu sprechen begannen.“ Margaret würgte die Sätze heraus. „Eine Mutter hatte mir erzählt, dass es Sklavenmärkte gab. Mädchen und Jungen jeden Alters, nackt, an einander gekettet, jeder der Prüfung durch den Käufer ausgesetzt. Die Schwarzen erzielten höhere Preise als die Weißen, doch für junge weiße Mädchen überboten sich die Käufer gegenseitig.“ Es schauderte sie und sie schluchzte laut. „Und ich habe nichts unternommen.“

Cremor umfasste ihre Hände. „Du konntest nichts dafür. Du hattest andere Sorgen.“ Er atmete tief aus. „Wir können es nicht ändern. Eigentlich war es nicht wesentlich anders als hier.“ Er drückte noch immer ihre Hände.

Finn war der erste, der sich gefasst hatte. „Machen wir eine kurze Rast?“

Cremor nickte kraftlos.

Als die Reise weiterging, saß Margaret in sich zusammengesunken in einer Ecke der Kutsche. Finn ritt manchmal voraus, dann wieder hinterher. Manchmal sah man ihn durch das Fenster vorbeireiten. Sie nahm ihren Schal und bedeckte ihr Gesicht. „Lass mich einen Moment schlafen, Cremor.“

Cremor lauschte ihrer tonlosen Stimme. Er selbst war hellwach und aufgewühlt von ihren Schilderungen. „Sicher, meine Liebste, ruh Dich aus.“ Er wühlte nach seinen Papieren, blätterte darin herum und versuchte sich ein Bild zu machen, was er an der Auktion eigentlich alles ersteigert hatte. Hie und da schaute er zu ihr hin. Er hatte nicht den Eindruck als ob sie schlafen würde. Sie hatte ihre Arme vor sich im Schoss. Es entging ihm nicht, dass sie ihre Hände manchmal zusammenpresste. Es kam ihm vor, wie wenn sie ihn durch den Schal hindurch beobachten würde.

Margaret hatte ihre verdeckten Augen meistens offen. Sie versuchte sich ein Bild zu machen von dem Mann, der ihr gegenübersaß. Der Mann, der ihre erste und einzige Liebe war. Auf den sie ein halbes Leben gewartet hatte, nachdem sie auseinandergerissen worden waren. Sie wiegte ihren Kopf langsam hin und her und es kam ihr vor, wie wenn sie vom Anfang einer Brücke die vielen Stationen bis zum Ende der Brücke überblicken könnte.

Cremor hatte sie aus der Tyrannei ihres Gatten und aus dem goldenen Gefängnis in der weißen Villa auf Schloss Blackhill befreien wollen. Ihre Liebe war leidenschaftlich gewesen und Cremor hatte ihr eine neue Welt eröffnet und eine noch bessere versprochen. Doch ihre Liebe war verraten worden und die Rache von Ronald MacAreagh war unbarmherzig. Verbannung in die englische Kolonie New Brunswick in Amerika für sie, Galgen für Cremor, dem er mit Hilfe ihrer Tochter Shauna knapp entringen konnte. Sie hatte beides verloren, Cremor und Shauna, doch hatte sie dank dieser beiden einen Großteil ihres Vermögens glückhaft retten können. Es erfüllte sie nur mit bitterer Genugtuung, dass es mitgeholfen hatte, Schloss Summerset zu ersteigern. Freude am neuen Besitz wollte keine aufkommen.

Es meldeten sich Gefühle der Scham, wenn sie bedachte, dass sie in Brunswick Jahre an der Seite von Scott, dem dortigen Sheriff verbracht hatte, den sie zwar mochte und respektierte, aber nicht liebte. Und es ließ ihr das Blut in den Kopf steigen, dass sie Cremor darüber im Unwissen ließ. Eines Tages würde sie ihm die Wahrheit sagen müssen.

Hier, am Ende der Brücke, saß er ihr nun wieder gegenüber. Sie wusste, es wäre ungerecht, ihn mit damals zu vergleichen, genauso ungerecht, wie wenn er denselben Vergleich mit ihr anstellen würde. Sie spürte, dass sie ihn liebte wie eh und je, aber es war eine andere Liebe als damals. Sie glaubte nicht, dass sie sich stark verändert hatte. Sie war noch immer das Kind reicher Leute, die ehemalige Ehefrau eines noch reicheren Clan-Chiefs und sie hatte sich in Amerika eine ehrenvolle Position als Lehrerin und Ehefrau des Sheriffs erarbeitet. Wahrlich, sie war stark gewesen, sie war immerhin auch zweimal über den Ozean gesegelt, einmal auf der vergeblichen Suche nach Shauna und nach Cremor, und das zweite Mal mit der Hoffnung, Cremor wieder zu finden. Und sie hatte ihn wiedergefunden, hatte Gewissheit über das Schicksal ihrer Tochter erhalten. Es schauderte sie, wenn sie daran dachte, wie sie ihre Enkelin Maggie zum ersten Mal vor sich gesehen hatte. Die unbändige Maggie. Es trieb ihr Tränen in die Augen, wenn sie daran dachte, dass Shauna ihr eigenes Kind nie gesehen hatte.

Und hier, am Ende der Brücke, saß ihr Cremor gegenüber, kaum eine Armeslänge entfernt. Er, der Maggie auf die Welt geholfen hatte, er, der Shauna beerdigt hatte, dort auf dem Hochtal, in einem eigenen kleinen Friedhof. Es lief ihr eiskalt über den Rücken, als in ihr der Wunsch aufwallte, eines Tages neben ihr zu liegen.

Sie fragte sich, warum Cremor so lange auf sie gewartet hatte. Warum hatte er nicht längst eine eigene Familie gegründet? War seine Liebe so unendlich, dass es dafür keinen Platz gegeben hatte? Sie war bereit, es zu glauben.

Sie fuhr sich mit dem Schal über die Augen, faltete ihn zusammen und legte ihn neben sich auf die Bank der Kutsche.

Die ersten Sätze von Cremor rissen sie in die Gegenwart zurück. „Ich bin froh, dass Du mir das erzählt hast, meine Liebste.“ Cremor musste lauter sprechen als beabsichtigt um das Rattern ihres Gefährtes zu übertönen. „Du solltest Dir keine Vorwürfe machen. Es waren nicht nur die Iren, die in die Sklaverei getrieben wurden. Es waren und sind auch unsere Leute hier. Da machten die Sklavenhändler keinen Unterschied. Wer gälisch sprach, kam dran. Und Dein ehemaliger Mann, Ronald, war einer der ersten, der Bauern vertrieben hatte.“ Cremor atmetet tief aus. „James Moore hat mir erzählt, dass er beinahe die gesamte Kriegskasse geplündert hatte, um den Flüchtlingen die Überfahrt nach Amerika zu ermöglichen. Wer bezahlen konnte, reiste auf dem Ober- und dem Mitteldeck. Die anderen wurden zusammen mit Verbrechern und Deserteuren ins Unterdeck gepfercht.“ Ein leises Schmunzeln überzog sein Gesicht. „James hat haufenweise Belege gefälscht für Verpflegung und Material, was nie geliefert worden ist. Hoffentlich kommen sie ihm nicht auf die Schliche.“ Er wurde wieder ernst. „Das Schicksal dieser armen Leute ist unbeschreiblich. Ich kann dagegen kaum etwas tun, auch ich nicht, Margaret.“ Sein Blick schweifte zum Fenster.

Sie fühlte, dass er nicht hinausschaute, sondern in sich versank. „Wir haben beide eine Vergangenheit, die schmerzt.“

„Was hast Du gesagt?“

Sie schaute ihn liebevoll an. „Sprich, Cremor.“

„Mein Vater hatte mir eingebläut, man soll nicht töten. Das ist fast das einzige, was mir von ihm in Erinnerung ist. Abgesehen davon, dass er mich verleugnet hat.“

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass er nie bewaffnet war. Er hatte weder einen Säbel griffbereit noch trug er eine Pistole.

Cremor stieß ein bitteres Lachen aus. „Ich habe hunderte von Soldaten angeleitet, wie man andere Leute möglichst effektiv ins Jenseits befördert. Ich habe Deine Tochter töten gelehrt. Sie musste mehrere Menschen umbringen. Sie hatte mir das Leben gerettet. Ich habe auch Maggie befähigt, zu töten. Auch sie hatte mir das Leben gerettet, als mich der Leibwächter von MacAreagh erdolchen wollte.“

„Du willst mir doch nicht etwa sagen, dass Du es bedauerst, dass Du niemanden getötet hast?“

Cremor schloss kurz die Augen. „Nein, oder ja, eigentlich. Ich muss Dir sagen, dass ich es war, der Ronald MacAreagh getötet hatte.“ Er hob die Hand. „Oder verletzt hatte, er fiel dann einfach von der Dachzinne.“ Sein Gesicht zeigte Hilflosigkeit.

Es war nur ein kurzer Moment des Entsetzens in ihrem Gesicht und sie fasste sich sofort wieder. „Wusste ich nicht, hättest mir es auch früher sagen können. Dann hätte ich Dir gesagt, dass ich ihm keinen Moment nachgetrauert habe. Er hat nur Unheil angerichtet. Das einzig Gute an ihm war, dass er der Erzeuger von Shauna war.“ Sie ballte ihre Hände. „Außerdem wollte er Dich hängen sehen. Und hat er mich nach Amerika verbannt. Und er trägt die Schuld am Tod von Shauna. Er hat sie gejagt. Sie könnte noch leben.“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Du hast vor etwas anderem Angst, nicht wahr?“

Cremor setzte sich neben sie und umarmte sie. „Meine größte Angst, ist Dich zu verlieren, Margaret. Wir schweben in tödlicher Gefahr. Ich habe mir einen weiteren Todfeind geschaffen. Middlehurst wird nicht ruhen. Er wird mir nach dem Leben trachten. Darum sind alle um mich herum gefährdet. Du, Maggie, Seumas und Mary. Und James Moore. Und Finn.“

Margarets Stimme klang fest. „Wir kennen die Bedrohung. Wir werden uns wehren. Du bist nicht allein, Cremor. Und ich bin nicht mehr die verwöhnte Lady Margaret. Ich kann reiten. Ich will eine Pistole. Ich will schießen lernen.“ Cremor staunte. So kannte er Margaret nicht. In seiner Erinnerung war sie die ruhige, fast ängstliche Lady der weißen Villa gewesen, versorgt mit allem, hingewandt zu ihren Büchern, zu ihrer Tochter Shauna. Jetzt wurde ihm bewusst, wo Shauna ihre kämpferischen Eigenschaften herhatte. Und warum sie in gleichem Masse auch bei Maggie vorhanden waren. Es waren die wahren Eigenschaften vom Margaret. Wie zur Bestätigung hörte er sie noch hinzufügen: „Ich erschieß jeden, der sich gegen uns richtet.“

Middlehurst lobte sich selbst für die Wahl von Hans Hoffman und seinen Kumpanen. Der würde ihm helfen, die erlittenen Niederlagen wieder gut zu machen, mindestens. Darüber hinaus sollte er ihn reicher machen, noch reicher als er schon war.

Middlehurst hatte im Verlauf seiner Karriere viele Offiziere erlebt, die sich nur mit Gewalt und Drohungen gegen ihre Untergebenen durchsetzen konnten. Etliche jungen Männer waren zum Dienst gezwungen worden und nur hohe Strafen hielten sie davon ab, sich bei der nächsten Gelegenheit wieder aus dem Staub zu machen.

Hoffman musste also schon ein viel überzeugenderer Führer sein, dass er eine solche Kohorte um sich scharen und bei der Stange halten konnte. Middlehurst hielt Geltungstrieb und Geldgier für seine Triebfeder und für naheliegend, dass Hoffman seine Leute gut bezahlte. Über deren Eigenschaften und ihre Herkunft machte er sich keine Gedanken. Er hielt sie für Deserteure und Kriminelle, darüber bestand kein Zweifel. Doch selbst er wäre noch überrascht gewesen, wenn er die einzelnen Figuren näher gekannt hätte.

In der Tat gehörte jeder zum miesesten Abschaum, was Zeit und Gesellschaft hervorzubringen vermochten. Mörder auf der Flucht. Sadisten, Folterer, Vergewaltiger, Spinner jeder Art. Holländer, Engländer, ein Landsmann von Hoffman, ein Schweizer Söldner, aus der niederländischen Armee desertiert. Mit Lebensläufen, die einem die Haare zu Berge stehen ließen. Jeder von ihnen war über Leichen gegangen und es berührte sie nicht, wenn unter ihren Füssen weiteres Blut in der Erde versickerte. So lange es nicht ihr eigenes war. Zahlreiche Narben von erlittenen Verletzungen waren der Preis fürs Überleben, sichtbar im Gesicht oder unsichtbar unter ihren Kleidern oder an ihrer Seele.

Sie waren selten schwer betrunken, wenn schon dann, wenn sie sich in Sicherheit fühlten, und das war kaum je der Fall. Allerdings waren sie auch kaum jemals nüchtern. Falls sie ihre Mägen füllen konnten, kümmerte es sie nicht, was sie mit großen Löffeln in sich hinein schaufelten, Hirsebrei oder Haferbrei, es war ihnen einerlei; Brot und Käse in groben Stücken geschlungen, hinuntergespült mit Wein, sicherer als Wasser in der Spelunke und später ein Stück Lamm oder Kaninchen vom Feuer, dazu Whisky verdünnt mit Wasser von der Quelle. Und die langen Abende wurden verzecht mit Bier aus hohen Krügen.

Hoffman führte ein hartes Regime. Wenn es Aufträge zu erledigen gab, waren Wein und Bier verboten. Er wollte seine Truppe nüchtern und aufmerksam und duldete es nicht, wenn sie seine Befehle nicht haargenau ausführten. Es hatte zwei oder drei Abweichler gegeben und er hatte sie mit seinen eigenen Fäusten bewusstlos geschlagen und selbst wenn sie am Boden lagen noch mit Füssen getreten. Damit hatte er sie sich völlig untertan gemacht, denn keiner hatte eine bessere Option für sein weiteres Leben, als sie ihnen Hoffman bot. Sie wurden zu seinen willfährigen Handlangern.

Hoffman hatte Middlehurst gut zugehört. Da wurde ihm die Möglichkeit geboten, ins große Geschäft einzusteigen. Weg von der Wegelagerei, weg von Überfällen auf Reisende, weg von Hoffnung und Enttäuschung, wenn die überfallenen Kutschen nicht hergaben, was sie erhofften. Ihm waren plötzlich die Augen aufgegangen, als er erkannte, dass die unzähligen Vertriebenen, die Gejagten, die heimatlosen Bauern, die Kinder und Jugendlichen, die niemand ernähren konnte, ein viel größeres Potential darboten. Da lag ein Markt vor ihm und Middlehurst hatte ihm erklärt, wie man ihn bearbeiten musste, um den größtmöglichen Ertrag zu erzielen. Hoffman war schlau genug, um rasch zu erkennen, dass jeder den anderen brauchte. Er brauchte Middlehurst, weil dieser wusste, wo und wie man an das Material herankam, und dieser brauchte ihn um das Angebot zu erfassen und zu den Nachfragern zu bringen. So hatte man seine Standpunkte erklärt, so hatte jeder seinen Beitrag definiert.

Middlehurst hatte sein kaltes Grinsen aufgesetzt und gesagt: „Ich glaube, wir sind uns einig.“ Er hatte zwar noch erklärt, sehr zum Missfallen von Hoffman, dass Simon Buckle die Befehle erteile. Hoffman hatte sich insgeheim schon vorgenommen, Buckle bei Gelegenheit kalt zu stellen. Doch er hatte genickt, er hatte auch noch genickt, als Middlehurst hinzugefügt hatte: „Da stehen uns noch ein paar nebensächliche Hindernisse im Wege. Ich habe da noch ein paar Rechnungen offen. Ich will nicht, dass diese Kerle uns im Wege stehen werden.“ Hans hatte nur gefragt: „Wie viele?“ Und als Middlehurst zwei Finger in die Luft streckte, hatte er nur den Kopf geschüttelt. „Kleines Problem. Wischen wir weg.“

Hans Hoffman, geboren in Deutschland, aus dem Gefängnis entwichen und vor etlichen Jahren nach England verschlagen, hatte sich soeben mit einem Obersten der königlichen Armee und zukünftigem Sklavenhändler verbündet.

Die Erbinnen

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