Читать книгу Von Geistern, Zombies und Unsterblichen - Эдгар Аллан По - Страница 10

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Fünftes Kapitel

»Mutter, Mutter, ich bin so glücklich!«, flüsterte das Mädchen und begrub ihr Gesicht im Schoß der verblühten, müde aussehenden Frau, die mit dem Rücken gegen das grelle Licht, das hereindrang, in dem einzigen Lehnstuhl saß, den das armselige Wohnzimmer aufzuweisen hatte. »Ich bin so glücklich!«, wiederholte sie, »auch du sollst glücklich sein!«

Frau Vane zuckte etwas zurück und legte ihre dünnen Hände, die weiß wie Wismut waren, auf den Kopf ihrer Tochter. »Glücklich!«, sprach sie ihr nach; »ich bin nur glücklich, Sibyl, wenn ich dich spielen sehe. Du musst an nichts andres als an deine Rollen denken. Herr Isaacs ist sehr gut zu uns gewesen, und wir sind ihm Geld schuldig.«

Das Mädchen sah auf und verzog den Mund. »Geld, Mutter?«, rief sie, »was liegt am Geld? Liebe ist mehr als Geld.«

»Herr Isaacs hat uns tausend Mark Vorschuss gegeben, damit wir unsere Schulden bezahlen und James ordentlich einkleiden können. Du darfst das nicht vergessen, Sibyl. Tausend Mark sind eine sehr große Summe. Herr Isaacs ist sehr entgegenkommend gewesen.«

»Er ist kein Gentleman, Mutter, und ich hasse die Art, wie er zu mir spricht.«, sagte das Mädchen, das aufstand und ans Fenster trat.

»Ich weiß nicht, was wir ohne ihn machen sollten«, antwortete die Alte in ihrem jämmerlichen Tone.

Sibyl Vane warf den Kopf zurück und lachte. »Wir brauchen ihn nicht länger, Mutter. Prinz Wunderhold sorgt jetzt für unser Leben.« Dann hielt sie inne. Das Blut schoss ihr in die Wangen und färbte sie dunkelrot. Schneller Atem teilte ihre blühenden Lippen. Sie zitterten. Ein Glutwind der Leidenschaft brauste über sie hin und erschütterte die glatten Falten ihres Gewandes. »Ich liebe ihn«, sagte sie einfach.

»Närrisches Kind! Närrisches Kind!«, waren die papageienhaften Worte, die zur Antwort herüberkamen. Dabei gingen die gekrümmten Finger, an denen falsche Steine glänzten, ängstlich beschwörend hin und her, sodass die Worte eine komische Wirkung taten.

Das Mädchen lachte wieder. Der Jubel eines gefangenen Vogels lag in ihrer Stimme. Ihre Augen fingen die Melodie auf und gaben sie strahlend wieder; dann schlossen sie sich einen Augenblick, als wollten sie ihr Geheimnis verbergen. Als sie sich wieder öffneten, war der Hauch eines Traumes über sie hinweggegangen.

Aus dünnen Lippen sprach Weisheit zu ihr von dem zerrissenen Stuhl aus, verwies auf die Klugheit und sagte Stellen aus dem Buch der Feigheit, das vom gesunden Menschenverstand verfasst ist. Sie hörte nicht hin. Sie war frei in ihrem Kerker der Leidenschaft. Ihr Prinz, Prinz Wunderhold, war bei ihr. Sie hatte das Gedächtnis aufgerufen, ihn herzuschaffen. Sie hatte ihre Seele auf die Suche nach ihm geschickt, und die hatte ihn zurückgebracht. Sein Kuss brannte wieder auf ihren Lippen. Ihre Lider waren wieder erwärmt vom Hauch seines Mundes.

Dann änderte die Weisheit ihr Verfahren und sprach vom Auskundschaften und Erforschen. Dieser junge Mann war vielleicht reich. Wenn dem so war, musste man an die Heirat denken. An die Muschel ihres Ohres schlugen die Wellen weltlicher Schlauheit. Die Pfeile der Verschlagenheit flogen an ihr vorbei. Sie sah, wie die dünnen Lippen sich bewegten, und lächelte.

Auf einmal empfand sie das Bedürfnis zu sprechen. Das wortreiche Schweigen verwirrte sie. »Mutter, Mutter«, rief sie, »warum liebt er mich so sehr? Ich weiß, warum ich ihn liebe. Ich liebe ihn, weil er so ist, wie die Liebe selbst.«

»Ich dächte, du könntest ein paar Küsse für mich übrig behalten«, sagte der Bursche mit gutmütigem Brummen.

»Ach! Du machst dir ja gar nichts aus Küssen, Jim«, rief das Mädchen. »Du bist ein schrecklicher alter Bär.« Und sie lief durch die Stube zu ihm hin und umschlang ihn.

James Vane blickte seiner Schwester zärtlich ins Gesicht. »Ich wollte dich bitten, mit mir spazieren zu gehn, Sibyl. Ich glaube nicht, dass ich dieses gräßliche London je wiedersehe. Ich bin sicher, ich werde nie Verlangen danach tragen.«

»Mein Sohn, sprich nicht so schreckliche Dinge«, sagte Frau Vane, nahm seufzend ein geschmacklos ausstaffiertes Theaterkostüm zur Hand und fing an, es auszuflicken. Sie war ein wenig enttäuscht, dass er sich der Gruppe nicht angeschlossen hatte; es hätte die malerische Wirkung der Szene erhöht.

»Warum nicht, Mutter? Ich meine es im Ernst.«

»Du peinigst mich, mein Sohn. Ich hoffe, du wirst als reicher Mann aus Australien zurückkehren. Ich glaube, es gibt in den Kolonien keine eigentliche Gesellschaft, nichts, was ich Gesellschaft nenne; daher musst du, wenn du dein Glück gemacht hast, zurückkommen und dich in London zur Geltung bringen.«

»Gesellschaft«, murrte der junge Mensch. »Ich will davon nichts wissen. Ich möchte nur ein bisschen Geld verdienen, um dich und Sibyl von der Bühne zu nehmen. Ich hasse das Theater.«

»Oh, Jim!«, sagte Sibyl lachend, »das ist unfreundlich von dir! Aber willst du wirklich mit mir spazieren gehn? Das ist reizend! Ich fürchtete, du wolltest dich von deinen Freunden verabschieden, etwa von Tom Hardy, der dir diese hässliche Pfeife geschenkt hat, oder von Ned Langton, der sich über dich lustig macht, weil du sie rauchst. Es ist sehr lieb von dir, dass ich deinen letzten Nachmittag haben soll. Wohin gehn wir? Komm, wir wollen in den Park gehn. «

»Ich bin zu schäbig angezogen«, antwortete er und runzelte die Stirn. »Nur elegante Leute gehn in den Park.«

»Unsinn, Jim«, flüsterte sie und streichelte seinen Ärmel.

Er zögerte einen Augenblick. »Nun also, gut«, sagte er schließlich, »aber brauch nicht zu lange zum Anziehen.«

Sie tanzte aus der Tür. Man hörte sie singen, als sie die Treppe hinaufging. Ihre kleinen Füße trippelten oben über der Decke.

Er ging zwei- oder dreimal in der Stube auf und ab. Dann wandte er sich zu der stillen Gestalt im Lehnstuhl.

»Mutter, sind meine Sachen in Ordnung?«, fragte er.

»Alles bereit, James«, antwortete sie, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken. Seit einigen Monaten fühlte sie sich unbehaglich, wenn sie mit ihrem rauen, finstern Sohn allein war. Ihre oberflächliche Natur mit ihrem verborgenen Geheimnis wurde verwirrt, wenn ihre Augen sich trafen. Sie wusste nicht recht, ob er irgendetwas argwöhnte. Das Schweigen – denn er machte keine weitere Bemerkung – wurde ihr unerträglich. Sie fing an zu klagen. Frauen verteidigen sich, indem sie angreifen, gerade wie sie dadurch angreifen, dass sie sich unvermutet ergeben. »Ich hoffe, du wirst von deinem Seefahrerleben befriedigt sein, James«, sagte sie. »Du musst bedenken, dass es deine eigene Wahl ist. Du hättest in ein Anwaltsbüro eintreten können. Anwälte sind ein sehr geachteter Stand und speisen auf dem Lande oft mit den feinsten Herrschaften.«

»Ich hasse Büros, und ich hasse Schreiber«, erwiderte er. »Aber du hast ganz recht; ich habe mein Leben selbst gewählt. Alles, was ich sage, ist: Behüte Sibyl! Lass ihr nichts zustoßen! Mutter, du musst sie behüten!«

»James, du sprichst in Wahrheit sehr seltsam. Natürlich behüte ich Sibyl.«

»Ich höre, ein Herr kommt jeden Abend ins Theater und geht hinter die Kulissen, um mit ihr zu sprechen. Ist das richtig? Was ist’s damit?«

»Du sprichst von Dingen, die du nicht verstehst, James. In unserm Beruf sind wir gewöhnt, sehr viele wohltuende Aufmerksamkeiten zu empfangen. Auch ich habe zu meiner Zeit sehr viel Buketten erhalten. Das war noch eine Zeit, wo man von der Schauspielkunst etwas verstand. Was Sibyl angeht, so weiß ich zur Zeit nicht, ob es ein ernsthaftes Verhältnis ist oder nicht. Aber daran ist kein Zweifel: der fragliche junge Mann ist ein vollkommener Gentleman. Er ist immer sehr höflich zu mir. Außerdem sieht er aus, als ob er reich wäre, und die Blumen, die er schickt, sind sehr schön.«

»Aber du weißt nicht, wie er heißt«, sagte der junge Mensch in rauem Ton.

»Nein«, antwortete seine Mutter und sah gelassen drein. »Er hat seinen wirklichen Namen noch nicht enthüllt. Ich meine, das ist ganz romantisch von ihm. Wahrscheinlich ist er ein Mitglied der Aristokratie.«

James Vane biss sich auf die Lippen. »Behüte Sibyl, Mutter«, rief er, »behüte sie!«

»Mein Sohn, du kränkst mich sehr. Sibyl ist immer unter meiner besondern Obhut. Natürlich, wenn dieser Herr reich ist, liegt kein Grund für sie vor, einer Verbindung mit ihm auszuweichen. Ich glaube bestimmt, er gehört zur Aristokratie. Er hat ganz das Auftreten danach, muss ich sagen. Es könnte eine sehr glänzende Heirat für Sibyl werden. Sie wären ein reizendes Paar. Er ist wirklich hervorragend schön; es fällt jedem auf.«

Der junge Mensch brummte etwas in sich hinein und trommelte mit seinen schweren Fingern auf der Fensterscheibe. Eben hatte er sich umgewandt, etwas zu sagen, als die Tür sich öffnete und Sibyl zurückkam.

»Wie ernst ihr beide seid!«, rief sie. »Was ist euch?«

»Nichts«, antwortete er. »Ich denke, man muss manchmal ernst sein. Adieu, Mutter; um fünf Uhr will ich essen. Es ist alles gepackt außer meinen Hemden; du brauchst dich um nichts zu kümmern.«

»Adieu, mein Sohn«, antwortete sie mit einem gemachten, hoheitsvollen Neigen des Kopfes.

Sie war über den Ton, den er ihr gegenüber angeschlagen hatte, äußerst gekränkt, und es war etwas in seinem Blick gewesen, was ihr Angst eingeflößt hatte.

»Küsse mich, Mutter!«, sagte das Mädchen. Ihre blumenhaften Lippen berührten die welke Wange und erwärmten sie.

»Mein Kind! Mein Kind!«, rief Frau Vane und blickte zur Decke empor, wo sie eine nicht vorhandene Galerie Zuschauer suchte.

»Komm, Sibyl«, sagte ihr Bruder ungeduldig. Er hasste das affektierte Wesen seiner Mutter.

Sie traten in den flackernden, windverwehten Sonnenschein hinaus und gingen langsam durch die trostlose Euston Road. Die Vorübergehenden blickten erstaunt auf den finstern, plumpen jungen Menschen, der in groben, schlecht sitzenden Kleidern in Gesellschaft eines so lieblichen, fein aussehenden Mädchens war. Er sah aus wie ein Gärtnerbursche, der mit einer Rose geht. Jim runzelte von Zeit zu Zeit die Stirn, wenn er den prüfenden Blick irgendeines Fremden bemerkte. Er hatte die Abneigung gegen das Angestarrtwerden, die Männer von Geist spät im Leben bekommen und die Dutzendmenschen nie verlieren. Sibyl dagegen merkte gar nichts von der Wirkung, die sie ausübte. Ihre Liebe zitterte auf ihren lachenden Lippen. Sie dachte an Prinz Wunderhold; und damit sie umso mehr an ihn denken konnte, sprach sie nicht von ihm, sondern schwatzte über das Schiff, mit dem Jim abfahren sollte, über das Gold, das er sicher finden würde, über die wundervolle reiche Erbin, der er gegen die verruchten Buschklepper im roten Kamisol das Leben retten würde. Denn er würde kein Matrose oder Superkargo oder was er sonst noch zunächst werden wollte, bleiben. O nein! Das Dasein eines Matrosen war schrecklich. Er solle sich vorstellen, in einem grässlichen Schiff eingepfercht zu sein, und die Wellen krümmten sich brüllend hoch, um einzudringen, und ein finsterer Wind blase die Masten um und zerreiße die Segel in lange, sausende Bänder! Er werde das Schiff in Melbourne verlassen, sich vom Kapitän verabschieden und sofort nach den Goldfeldern reisen. Ehe noch eine Woche vorbei sei, werde er auf einen großen Klumpen reinen Goldes stoßen, auf den größten Klumpen, der je gefunden wurde, und werde ihn in einem Wagen, der von sechs berittenen Schutzleuten bewacht würde, zur Küste bringen. Die Buschklepper griffen sie dreimal an und würden in furchtbarem Kampfe zurückgeschlagen. Oder nein! Er ginge überhaupt nicht zu den Goldfeldern. Das sei ein schrecklicher Ort, wo die Menschen sich betränken und einander im Wirtshaus erschössen und eine gemeine Sprache redeten. Er werde ein friedlicher Schafzüchter werden, und eines Abends, wenn er heimritte, sähe er die schöne Erbin, die von einem Räuber auf einem schwarzen Pferd entführt werde, und er jage ihm nach und rette sie. Natürlich werde sie sich in ihn verlieben und er in sie, und sie heirateten einander und kehrten heim und lebten in einem großen Palast in London. Jawohl, auf ihn warteten herrliche Dinge. Aber er müsste sehr brav sein und dürfte die Geduld nicht verlieren und sein Geld nicht verschwenden. Sie sei nur ein Jahr älter als er, aber sie verstehe so viel mehr vom Leben. Er müsse ihr auch mit jeder Post schreiben, und jede Nacht, wenn er schlafen gehe, zu Gott beten. Gott sei sehr gut und werde über ihn wachen. Sie werde auch für ihn beten, und in ein paar Jahren werde er reich und glücklich zurückkommen. Der Bursche hörte ihr düster zu und gab keine Antwort. Ihm tat das Herz weh, dass er die Heimat verlassen sollte.

Aber es war nicht das allein, was ihn bedrückte und verstimmte. So unerfahren er auch war, hatte er doch ein starkes Gefühl für die Gefahr, in der Sibyl war. Dieser junge Stutzer, der eine Liebschaft mit ihr haben wollte, konnte es nicht gut mit ihr meinen. Er war ein Herr aus der Gesellschaft, und er hasste ihn darum, hasste ihn mit dem seltsamen Rasseninstinkt, von dem er sich keine Rechenschaft geben konnte und der darum nur um so stärker in ihm war. Er kannte auch die Oberflächlichkeit und Eitelkeit des Wesens seiner Mutter und sah darin unendliche Gefahren für Sibyl und ihr Glück. Kinder fangen damit an, ihre Eltern zu lieben; wenn sie älter werden, halten sie Gericht über sie; manchmal verzeihen sie ihnen.

Seine Mutter! Es lag ihm etwas im Sinn, was er sie fragen müsse, etwas, worüber er in vielen Monaten des Schweigens gebrütet hatte. Ein zufälliges Wort, das ihm im Theater zu Ohren gekommen war, ein gerauntes Hohnwort, das er eines Abends hörte, als er an der Tür zur Bühne wartete, hatte eine Flucht schrecklicher Gedanken in ihm erweckt. Bei der Erinnerung daran war ihm, als ob er einen Peitschenschlag ins Gesicht bekommen hätte. Seine Brauen zogen sich zu einer keilförmigen Furche zusammen, und in krampfhafter Qual biss er sich auf die Lippen.

»Du hörst kein Wort von dem, was ich sage, Jim«, rief Sibyl, »und ich schmiede die entzückendsten Pläne für deine Zukunft. Sag doch etwas!«

»Was möchtest du, das ich sage?«

»Oh, dass du immer brav sein willst und uns nicht vergessen wirst«, antwortete sie und lächelte ihn an.

Er zuckte die Achseln. »Es wäre eher möglich, dass du mich vergisst, als dass ich dich vergesse, Sibyl.«

Sie errötete. »Was meinst du damit, Jim?«, fragte sie.

»Ich höre, du hast einen neuen Freund. Wer ist es? Warum sprachst du mir nicht von ihm? Er meint es nicht gut mit dir.«

»Hör auf, Jim!«, rief sie aus. »Du darfst nichts gegen ihn sagen. Ich liebe ihn.«

»Wie, und du weißt nicht einmal seinen Namen?«, antwortete der Bursche. »Wer ist es? Ich habe ein Recht, es zu wissen!«

»Er heißt Prinz Wunderhold. Gefällt dir der Name nicht? O du dummer Bube! Du solltest ihn nie vergessen. Wenn du ihn nur einmal sähest, würdest du merken, dass er der wundervollste Mensch der Welt ist. Eines Tages wirst du ihn kennenlernen, wenn du von Australien zurückkehrst. Er wird dir so sehr gefallen. Allen Menschen gefällt er, und ich … ich liebe ihn. Ich wollte, du könntest heute Abend ins Theater kommen. Er wird da sein, und ich werde die Julia spielen! Oh, wie werde ich sie spielen! Denk dir, Jim, lieben und die Julia spielen! Und er hört zu! Zu seiner Wonne spielen! Ich fürchte, ich werde die Mitspieler erschrecken, erschrecken oder hinreißen. Wenn man liebt, geht man über sich selbst hinaus. Der arme grässliche Herr Isaacs wird seinen Kumpanen am Schenktisch zurufen: Ein Genie, ein Genie! Er hat mich wie ein Dogma verkündigt; heute Abend wird er mich als Offenbarung preisen. Ich fühle es. Und es gehört alles ihm, ihm allein, dem Prinzen Wunderhold, meinem herrlichen Geliebten, der mein Gott ist! Ich aber bin arm neben ihm. Arm? Was tut das? Wenn die Armut durch die Tür hereinschleicht, fliegt die Liebe durchs Fenster herein, und die Liebe schlägt die Not tot. Sonst hieß es wohl anders im Sprichwort: Not sei der Liebe Tod, meinten sie. Aber die Sprichwörter müssen umgearbeitet werden. Sie sind im Winter gemacht worden, und jetzt ist es Sommer; für mich wohl Frühling, ein rechter Blütentanz im blauen Himmel.«

»Er ist ein Herr aus der feinen Gesellschaft«, sagte der Bursche finster.

»Ein Prinz!«, rief sie, und es klang, als ob sie sänge; »was willst du mehr?«

»Er will dich zu seiner Sklavin machen.«

»Ich schaudere bei dem Gedanken, frei zu sein.«

»Ich rate dir, sei auf der Hut vor ihm!«

»Ihn sehen heißt ihn anbeten, ihn kennen heißt ihm vertrauen.«

»Sibyl, deine Liebe ist wahnsinnig!«

Sie lachte und nahm seinen Arm. »Du lieber alter Jim, du redest, als wärst du hundert Jahre alt. Eines Tages wird die Liebe auch über dich kommen. Dann weißt du, was sie ist. Blick nicht so mürrisch drein. Du solltest doch froh sein bei dem Gedanken, dass du, obwohl du fortgehst, mich glücklicher zurücklässt, als ich je war. Das Leben ist hart für uns gewesen, schrecklich hart und schwer. Aber es wird jetzt anders werden. Du gehst in eine neue Welt, und eine neue Welt ist zu mir gekommen. – Hier sind zwei Stühle frei, wir wollen uns hinsetzen und die geputzten Menschen an uns vorbeigehen lassen.«

Sie setzten sich unter viele andre Menschen, die dasaßen und ausschauten. Die Tulpenbeete am Wegrand flammten wie stürmisches Feuerläuten. Ein weißer Staub wie eine zitternde Wolke von Veilchenpuder hing in der lechzenden Luft. Die leuchtend farbigen Sonnenschirme tanzten und tauchten unter wie Riesenschmetterlinge.

Sie brachte ihren Bruder dazu, von sich selbst zu sprechen, von seinen Hoffnungen, seinen Aussichten. Er sprach langsam und gequält. Sie setzten ihre Worte beide langsam und vorsichtig, wie Spieler ihre Züge. Sibyl fühlte sich bedrückt; sie konnte ihre Freude nicht mitteilen. Ein schwaches Lächeln, das diesen finstern Mund umspielte, war die ganze Erwiderung, die sie erlangen konnte. Nach einer Weile verstummte sie. Plötzlich gewahrte sie den Glanz goldenen Haares und lachende Lippen, und in einem offenen Wagen fuhr Dorian Gray mit zwei Damen vorüber.

Sie sprang auf. »Da ist er!«, rief sie.

»Wer?«, fragte Jim Vane.

»Prinz Wunderhold«, antwortete sie und blickte dem Wagen nach.

Er sprang auf und griff heftig nach ihrem Arm. »Zeig ihn mir! Welcher ist es? Deute nach ihm, ich muss ihn sehen!«, rief er; aber in diesem Augenblick kam das Viergespann des Herzogs von Berwick dazwischen, und als der Raum wieder frei war, war der Wagen nicht mehr im Park zu sehen.

»Er ist weg«, flüsterte Sibyl traurig. »Ich wollte, du hättest ihn gesehen.«

»Das wollte ich auch, denn so wahr ein Gott im Himmel ist, wenn er dir je ein Leid zufügt, bringe ich ihn um!«

Sie sah ihn entsetzt an. Er wiederholte die Worte; sie schnitten durch die Luft wie ein Dolch. Die Leute in der Nähe fingen an aufmerksam zu werden. Eine Dame, die neben ihnen stand, kicherte.

»Komm fort, Jim, komm«, flüsterte sie. Er folgte ihr mit verbissener Miene, als sie durch die Menschenmenge ging. Er war froh, dass er das gesagt hatte.

Als sie die Achillesstatue erreicht hatten, wendete sie sich um. In ihren Augen lag Mitleid, das auf ihren Lippen zu Lachen wurde. Sie schüttelte den Kopf über ihn. »Du bist närrisch, Jim, völlig närrisch; ein galliger Bursche, weiter nichts. Wie kannst du so schreckliche Sachen sagen! Du weißt nicht, was du zusammen redest. Du bist einfach eifersüchtig und unfreundlich. Ach! Ich wollte, über dich käme die Liebe. Die Liebe macht die Menschen gut, und was du sagst, war böse.«

»Ich bin sechzehn Jahre alt«, antwortete er, »und ich weiß, was ich tue. An Mutter hast du keine Stütze. Sie versteht es nicht, dich zu behüten. Ich wollte jetzt, ich ginge überhaupt nicht nach Australien. Ich habe große Lust, die ganze Sache aufzugeben. Ich täte es, wenn mein Kontrakt nicht unterzeichnet wäre.«

»Ach, sei nicht so ernsthaft, Jim! Du bist wie einer der Helden aus den albernen Melodramen, in denen Mutter so gerne spielte. Ich will nicht mit dir in Streit kommen. Ich habe ihn gesehn, und ihn zu sehen ist vollkommenes Glück. Wir wollen nicht streiten. Ich weiß, du wirst dich nie an einem vergreifen, den ich liebe, nicht wahr?«

»Solange du ihn liebst, wohl nicht«, war die finstere Antwort.

»Ich liebe ihn immer!«, rief sie.

»Und er dich?«

»Immer, auch!«

»Er täte recht daran.«

Sie fuhr zurück. Dann lachte sie und legte die Hand auf seinen Arm. Er war ja noch ein Knabe.

Am Marble Arch bestiegen sie einen Omnibus, der sie in die Nähe ihrer armseligen Wohnung in der Euston Road brachte. Es war nach fünf Uhr, und Sibyl musste sich, bevor sie auftrat, ein paar Stunden hinlegen. Jim bestand darauf, dass sie es tat. Er sagte, er wolle sich lieber von ihr verabschieden, wenn die Mutter nicht dabei sei. Sie würde sicher eine Szene aufführen, und er verabscheue Szenen aller Art.

In Sibyls eigenem Zimmer verabschiedeten sie sich. Eifersucht war im Herzen des jungen Menschen und ein wilder, mörderischer Hass auf den Fremden, der, wie er meinte, zwischen sie getreten war. Als aber ihre Arme sich um seinen Hals legten und ihre Finger durch sein Haar strichen, wurde er ruhiger und küsste sie mit echter Zärtlichkeit. Es standen Tränen in seinen Augen, als er die Treppe hinabging.

Seine Mutter wartete unten auf ihn. Sie murrte über seine Unpünktlichkeit, als er eintrat. Er gab keine Antwort, sondern setzte sich an sein kärgliches Essen. Die Fliegen schwirrten um den Tisch und krochen über das fleckige Tischtuch. Durch das Gerassel der Omnibusse und das Lärmen der Droschken hörte er die eintönige Stimme, die ihm jede Minute wegnahm, die ihm noch blieb.

Nach einer Weile schob er den Teller zurück und stützte den Kopf in die Hände. Er fühlte, dass er ein Recht hatte, es zu wissen. Man hätte es ihm früher sagen sollen, wenn es so war, wie er argwöhnte. Von Angst gepeinigt, beobachtete ihn die Mutter. Die Worte fielen ihr mechanisch vom Munde. Ein zerfetztes Spitzentaschentuch zerdrückte sie in der Hand. Als die Uhr sechs schlug, stand er auf und ging zur Tür. Dann wandte er sich um und sah sie an. Ihre Augen trafen sich. In ihren sah er ein wildes Flehen um Erbarmen. Das machte ihn wütend.

»Mutter, ich muss dich etwas fragen«, sagte er. Ihre Augen irrten unbestimmt im Zimmer umher. Sie gab keine Antwort. »Sag mir die Wahrheit! Ich habe ein Recht, es zu wissen! Warst du mit meinem Vater verheiratet?«

Sie seufzte tief auf. Es war ein Seufzer der Erleichterung. Der furchtbare Augenblick, der Augenblick, den sie Tag und Nacht seit Wochen und Monaten gefürchtet hatte, war endlich gekommen, und doch fühlte sie keine Furcht. In der Tat, gewissermaßen war das eine Enttäuschung für sie. Die grobe Deutlichkeit der Frage verlangte eine Antwort ohne Umschweife. Die Situation war nicht allmählich gesteigert worden. Es war roh. Es kam ihr vor wie eine schlechte Deklamation.

»Nein«, antwortete sie, und war verwundert über die harte Einfachheit des Lebens.

»Mein Vater war also ein Schurke!«, rief der Bursche und ballte die Faust.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich wusste, dass er nicht frei war. Wir liebten uns sehr. Wenn er am Leben geblieben wäre, hätte er für uns gesorgt. Sage nichts gegen ihn, mein Sohn. Er war dein Vater und ein Gentleman. Es ist wahr, er hatte hohe Verbindungen.«

Ein Fluch kam aus seinem Munde. »Ich kümmere mich nicht um mich«, rief er, »aber lass Sibyl nicht … Ist es ein Gentleman oder nicht, der in sie verliebt ist oder so sagt? Mit hohen Verbindungen, denk ich.«

Einen Augenblick kam ein grässliches Gefühl der Demütigung über die Frau. Sie ließ den Kopf sinken. Mit zitternden Händen wischte sie sich die Augen. »Sibyl hat eine Mutter«, sprach sie leise; »ich hatte keine.«

Der junge Mensch war gerührt. Er trat auf sie zu, beugte sich nieder und küsste sie. »Es tut mir leid, wenn ich dich mit der Frage nach meinem Vater gequält habe«, sagte er, »aber ich konnte nicht anders. Ich muss jetzt gehen. Leb wohl! Vergiss nicht, dass du jetzt nur noch ein Kind zu behüten hast, und glaube mir, wenn dieser Mann meiner Schwester ein Leid zufügt, finde ich heraus, wer er ist, spüre ihn auf und bringe ihn um wie einen Hund. Das schwör ich dir!«

Die wahnsinnige Übertreibung der Drohung, die leidenschaftlichen Gesten, die sie begleiteten, die tollen melodramatischen Worte machten ihr das Leben wieder behaglicher. Sie war mit dieser Atmosphäre vertraut. Sie atmete freier, und zum ersten Mal seit vielen Monaten bewunderte sie ihren Sohn wahrhaft. Sie hätte die Szene gern auf derselben Höhe der Empfindsamkeit fortgeführt, aber er brach kurz ab. Koffer mussten hinuntergeschafft und Tücher mussten besorgt werden. Der Knecht des Logierhauses ging geschäftig hin und her. Mit dem Kutscher wurde verhandelt. Der Moment wurde mit gewöhnlichen Einzelheiten verzettelt. Wiederum mit einem Gefühl der Enttäuschung stand sie am Fenster und ließ das zerfetzte Spitzentuch in der Luft flattern, als ihr Sohn abfuhr. Es war ihr, als sei eine große Gelegenheit verpasst worden. Sie tröstete sich, indem sie Sibyl sagte, wie verödet ihr Leben künftig sein werde, jetzt, wo sie nur noch ein Kind zu behüten habe. Sie hatte sich diesen Satz gemerkt, er hatte ihr gefallen. Von der Drohung sagte sie nichts. Sie war lebhaft und dramatisch gesprochen gewesen. Sie hatte das Gefühl, sie würden alle eines Tages darüber lachen.

Von Geistern, Zombies und Unsterblichen

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