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Edgar H. Schein und die Organisationsentwicklung

Prozessberatung, Kulturentwicklung, Karriere und Lernende Systeme

Seine Wurzeln

Edgar H. Schein wurde 1928 in Zürich geboren. Sein Vater unterrichtete an der ETH, der Eidgenössischen Technischen Hochschule, in Zürich und war Physiker. Seine Mutter kam aus Deutschland. Aufgrund der politischen Situation vor dem Zweiten Weltkrieg, die sich für jüdische Bürger massiv zuspitzte, versuchte sein Vater, eine feste Professur in Physik zu erhalten. Dies wurde ihm – die Gründe sind uns nicht bekannt – nicht ermöglicht. In dieser Situation entschloss sich der Vater, nach weiteren Möglichkeiten zu suchen und erhielt ein attraktives Angebot aus dem damaligen Russland. Diese Umstände schildert Schein selber auf sehr spannende Weise im Kapitel ›Von der Gehirnwäsche zur Organisationstransformation‹ (S. 53). Ich kann mich deshalb hier auf den Hinweis beschränken, denn es scheint dort eine von Ed Scheins Begabungen auf, nämlich seine Fähigkeit, kulturelle Begebenheiten mit der eigenen Biographie zu verbinden.

Seine scheinbar schwierige biographische Situation, nämlich als Einzelkind eines ungarischen Vaters jüdischer Herkunft und einer deutschen Mutter in der nicht weniger schwierigen politischen Situation des aufkommenden Nationalsozialismus aus der Schweiz nach Russland emigrieren zu müssen, hat bei ihm eine erste Neugier dem Thema Kultur gegenüber entstehen lassen.

Nachdem sein Vater erfolgreich in Odessa als Professor der Physik arbeiten konnte, verschlechterte sich auch dort die politische Situation, und er musste sich nach einer weiteren Station umsehen. Die Familie ging für anderthalb Jahre zurück nach Zürich, während der Vater Möglichkeiten in den USA, insbesondere in Chicago, prüfte, und sich dann zur Emigration in die USA entschloss. Schein war so innert kurzer Zeit mit drei Kulturen konfrontiert: der schweizerischen, der russischen und der amerikanischen. Die eigene Familienkultur konnte er immer mitnehmen.

So entwickelte sich eine Fähigkeit, nämlich die, genau beobachten zu müssen in einem Kontext, der mir unbekannt ist, und den ich vorerst noch nicht verstehe. Damit umschreibt Schein eines der Grundkonzepte oder Tätigkeiten seines späteren Arbeitsgebietes, der Organisationsentwicklung. Sehr viel später hat er diese Vorgehensweisen in seinem 1985 erschienenen Klassiker Organizational Culture and Leadership beschrieben. Wir finden dies im vorliegenden Buch auch wieder am Ende des Kapitels ›Veränderungsmanagement und Kulturentwicklung: Die vielen Gesichter von Führung im Change Management‹ (S. 25ff.) und es stellt für mich auch hier eine der zentralen Aussagen seines Buchs dar. Dies ist eine der Grundkompetenzen eines guten Managers und eines guten Beraters, nämlich die Haltung eines Anthropologen. Er hat daraus für die Prozessberatung die Grundkompetenz des »Befragens« entwickelt, die kunstvoll auch in der Interviewtechnik seines Karriere-Ankers aufscheint (Schein 1994; ebd. Kap. ›Interview‹). In seinem neusten Buch, das die Grundlagen von Beratung darstellt, der ›Philosophy of Helping‹ (Schein 2009) nennt er diese Grundkompetenz sogar »Humble Inquiry« – demütiges Befragen.

Schein schildert im Kapitel ›Von der Gehirnwäsche zur Organisationstransformation‹ (S. 67ff.) auch, dass er vor allem an der Universität von Chicago und nachher in Harvard die Grundlagen für sein späteres Werk und seine Tätigkeit legte. In Chicago war er durch die Zusammenarbeit mit Carl Rogers, der Soziologie-Schule des Symbolischen Interaktionismus eines George H. Mead und eines Erving Goffmann geprägt. Dies kommt auch in seinem neuesten Werk, der Philosophie des Helfens (2009) zum Tragen, wo Dynamiken von Helfen und Unterstützung auf dem Hintergrund von Goffmanns »Facework« ausgeführt werden.

In seiner Arbeit in Harvard arbeitete er vor allem mit Anthropologen und Soziologen, nämlich den Kluckhohns, Talcott Parsons, David Murray, Gordon Allport und David McClelland zusammen. In seiner Dissertation untersuchte er Beeinflussungstechniken, die er später als Einfluss von »brainwashing« bei Kriegsheimkehrern aus Korea analysierte, und entwickelte seine ersten Interviewtechniken zum späteren Karriere-Anker und zur Prozessberatung (Schein 1954).

Das Massachusetts Institute of Technology als intellektueller Treffpunkt und Geburtsstätte der Organisationsentwicklung

Entscheidend war nach 1955 die Möglichkeit, am M.I.T. in die Sloan School of Management einzutreten und im Rahmen des 1947 von Kurt Lewin gegründeten Research Center for Group Dynamics zu arbeiten. Direktor war damals der legendäre Douglas McGregor, der geistige Vater von Theorie Y, wo ein erstes Mal mentale Modelle von Führung und Mitarbeiterorientierung gegenüber gestellt wurden, formuliert im Klassiker The Human Side of Enterprise. Mc Gregor hatte als früherer Direktor der Antioch Universities diese neue Philosophie von Führung praktisch erprobt. Lewin war viel zu früh 1947 mitten in seiner größten Schaffensperiode gestorben, nachdem er von McGregor nach einer längeren akademischen Irrfahrt durch amerikanische Universitäten ins M.I.T. geholt worden war.

Schein war damals mit Warren Bennis, Chin und Benne zusammen am M.I.T. und lernte unter anderem auch über Alex Bavelas die Gruppendynamik kennen. 1957 hatte er ersten Kontakt zu den National Training Labs, eine auf Lewin aufbauende Trainingsorganisation, welche in Bethel/Maine Sommerakademien und Trainingsgruppen anbot.

Ed Schein hat als Schüler von Douglas McGregor und Dick Beckhard so grundlegende Konzepte wie Organisationskultur, Prozessberatung und Karriere-Anker begründet. Er gilt neben Dick Beckhard, Chris Argyris und Warren Bennis als Mitbegründer der Organisationsentwicklung. Entstanden ist dieser Begriff 1956 durch Dick Beckhard, der im Rahmen dieser Gruppe und zusammen mit McGregor arbeitspsychologische oder ethnographische Erforschungen von Organisationen machte. Diese Forschungen waren als qualitative Forschung von einer derartigen Tiefenwirkung, dass die erforschten Organisationen auch beraten werden konnten.

Schein hat dann ab 1969 zusammen mit Beckhard und Bennis die Reihe Addison-Wesley Series on Organization Development herausgegeben, nach wie vor die wichtigste Quelle von grundlegenden OE-Konzepten.

Das Prinzip der Erforschung und Selbsterforschung von Gruppen und Organisationen wurde später, auch basierend auf den Grundlagen von Kurt Lewin, zum Forschungsansatz der Aktionsforschung entwickelt (vgl. Fatzer 1999; 2005). So entstand auch die Haltung, die Schein in diesem Buch ausdrückt, nämlich die des Kunden als Mitforscher und Mitdenker einer gemeinsam entwickelten Vorgehensweise: der Organisationsentwicklung.

Kundensysteme als Biotope zur Entwicklung konzeptioneller Grundlagen von Beratung und Organisationsentwicklung

Ed Schein hat, ähnlich wie sein Mentor Dick Beckhard, die Grundlagen von guter Beratung zusammen mit Kunden entwickelt. Bei Beckhard war es primär Shell in Europa, bei Edgar H. Schein mit Digital Equipment zusammen das Konzept der Organisationskultur und Prozessberatung, mit Ciba-Geigy das Konzept des Karriere-Ankers. Entsprechend hat er während über dreißig Jahren als Berater für Digital Equipment Corporation (DEC) gearbeitet und darüber ein bekanntes Buch publiziert, DEC is dead, long live DEC (2003). Dieses Buch stellt als bisher einziges die gesamte Lebensphase einer Organisation dar. Schein gilt als geistiger Vater der Prozessberatung und auch der Fünften Disziplin von Peter Senge.

Die Einblicke in die Arbeit bei DEC in dem Buch umfassen auch das Konzept des »Cultural DNA«, das besagt, dass jede Organisation und jedes Team einen einmaligen Kulturcode herstellt, der meistens die kulturellen Grundannahmen ausmacht.

Organisationskultur definiert Schein als die Werte und Normen und Grundannahmen, die sich aus der persönlichen Lerngeschichte eines Teams oder einer Organisation ergeben. Kulturkonzepte entstehen aber nicht abstrakt, sondern in der konkreten Form der Lerngeschichte eines Teams oder einer Organisation. Dazu sagt Schein:

„Ich habe in allen Bereichen, in denen ich tätig bin – sei es in der Prozessberatung, beim ›Karriere-Anker‹ oder in der Kulturberatung – die Erfahrung gemacht, dass das ausschließliche Festhalten an Abstrakta zu keinen befriedigenden Ergebnissen führt. Daher ist es notwendig, einen Weg zu finden, Konzepte in sinnhafte und exemplarisch nachvollziehbare Geschichten zu transferieren. Wenn man dabei in einer Vielzahl von sehr unterschiedlichen Bereichen gearbeitet hat, benötigt man eine Art übergreifender Story, eine ›Metageschichte‹, unter die sämtliche Konzepte subsumiert werden können.« (s.u. S. 25f.)

So wird auch klar, dass z.B. Peter Senges Anspruch in seiner eigenen Organisation, der Society of Organizational Learning – SoL (s. Fatzer/Schoefer 2004), die drei »Communities«, nämlich die der Forscher, der Praktiker und der Berater zusammenzubringen, schon sehr früh als Idee von Schein praktiziert wurde.

Schein hat dazu in unseren Interviews zu SoL eine wunderschöne Zusammenfassung des Sachverhalts gegeben:

»Heute ist die Situation so, dass Forscher Themen erforschen, die Manager nicht interessieren. Die Manager ihrerseits nehmen die Studien, Forschungsresultate oder Lerngeschichten der Forscher nicht ernst. Die Berater als dritte Gruppierung spielen die Rolle, dass sie nicht die nötige Geduld aufbringen, bis Wissen über Organisations- oder Veränderungsprozesse soweit entwickelt ist, dass es haltbar und auch reproduzierbar ist. Vielmehr nehmen sie dieses Wissen im Rohzustand, versehen es mit einem Label und bringen es zum Kunden, ohne dass es wirklich überprüft worden ist. Durch diese fragmentierte Form der Wissensproduktion entsteht das, was wir heute irrelevante Management-Literatur nennen können. Es entstehen Fallgeschichten von Unternehmensprozessen, die uns nichts erzählen außer der Geschichte. Es werden keine verallgemeinerbaren Prinzipien von Transformationen oder Veränderungsprozessen kreiert und so entsteht wiederum Wissen, das für die Manager überhaupt nicht handlungsrelevant ist.« (Editorial. In: Profile 8.2004, 1)

Ich denke, dass Ed Schein sicherlich eine andere Art von Wissen über Prozesse, Kultur, Lernen und Karriere erzeugt, da er seine spannenden Geschichten unverzüglich in Konzepte umwandelt und so verallgemeinerbar macht. Er hat mit seiner Diskussion der Prozessberatung 1969 die heute im deutschsprachigen Raum herrschende Diskussion zur Komplementärberatung weit vorweggenommen und er hat im neusten Buch Helping (2009), das in deutscher Sprache in unserer Reihe herauskommen wird, die Grundlagen der Beratung von Personen, Teams und Organisationen meisterhaft ausformuliert. Ich wünsche Ihnen bei der Lektüre des vorliegenden Bandes viel Vergnügen.

Literatur

FATZER, Gerhard (2005) Gute Beratung von Organisationen – Auf dem Weg zu einer Beratungswissenschaft. Supervision und Beratung 2. Bergisch Gladbach: EHP 2005

FATZER, Gerhard / RAPPE-GIESECKE, Kornelia / LOOSS, Wolfgang (1999) Qualität und Leistung von Beratung. Supervision, Coaching und Organisationsentwicklung. Köln: EHP, 2. Aufl. 2002

FATZER, Gerhard / SCHOEFER, Sabina (2004) Wissensentwicklung und Wissensmanagement in Beratungsnetzwerken. In: Profile 8.2004, 40-58

SCHEIN, Edgar H. (1969) Process consultation: Its role in organization development. Reading: Addison-Wesley

SCHEIN, Edgar H. (1980) Organizational psychology. Englewood Cliffs: Prentice-Hall

SCHEIN, Edgar H. (1999) Corporate culture survival guide. Sense and nonsense of cultural change. San Francisco: Jossey Bass. – Dt.: Organisationskultur. Bergisch Gladbach: EHP 2003, 2. korr. Aufl. 2006

SCHEIN, Edgar H. (1999) Process consultation revisited: Building the helping relationship. Reading: Addison-Wesley. – Dt.: Prozessberatung für die Organisation der Zukunft. Der Aufbau einer helfenden Beziehung. Bergisch Gladbach EHP 2000, 2. Aufl. 2003

SCHEIN, Edgar H. (2003) DEC is dead, long live DEC. The lasting legacy of Digital Equipment Corporation. San Francisco: Berrett-Koehler. – Dt.: Aufstieg und Fall von Digital Equipment Corporation. Eine Learning History oder: DEC ist tot – lang lebe DEC. Bergisch Gladbach: EHP 2006

SCHEIN, Edgar H. (2004) Organizational culture and leadership. 3. Ed. New York: Wiley. - Zuerst: 1985. – Dt.: Unternehmenskultur. Frankfurt 1995

SCHEIN, Edgar H. (2009) Helping. How to offer, give, and receive help. San Francisco: Berrett-Koehler. – Dt.: Hilfe als System: Anbieten, Geben, Annehmen. Die Philosophie der helfenden Beziehung. Bergisch Gladbach: EHP, erscheint 2010

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