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ERSTES BUCH: DER ELEGANTE MR. EVANS
ОглавлениеKapitel 1: Die Bruderschaft
Inspektor Pine war eigentlich etwas mehr als nur ein Polizeiinspektor. In bestimmten Kreisen nannte man ihn einen Christenmenschen. Er betätigte sich als Laienprediger, auch hatte er dem Alkoholgenuss den Kampf angesagt, galt sogar als Sozialreformer. Und wenn ein Mann es durch harte Arbeit geschafft hatte, Educated Evans zum Eingeständnis seiner Verfehlungen zu bringen, dann war es Inspektor Pine. Er hatte mit dem Teufel gerungen, als es um Evans’ geistige und moralische Erneuerung ging; er hatte für Mr. Evans gebetet, und einmal, als es sehr schlecht um ihn stand, hatte er Mr. Evans dazu bringen können, an einer Veranstaltung teilzunehmen, die unter dem Motto stand: Begegnung zum Lobe des Herrn.
Educated Evans respektierte die Ernsthaftigkeit eines jeden Menschen, wenn er ihn auch als seinen natürlichen Feind ansah; als er aber feststellen musste, dass ihm die »Begegnung zum Lobe des Herrn« keinerlei finanzielle Vorteile brachte, lehnte er jegliche weitere Einladung ab und widmete bei künftigen Exkursionen seine Kräfte dem Sammeln von Informationen über ein bestimmtes Pferd, das am 2. Weihnachtstag im Hindernisrennen von Kempton Court an den Start gehen sollte.
Dennoch – Inspektor Pine verlor keinesfalls den Mut. Er glaubte daran, dass man die Selbstachtung und das Selbstvertrauen eines Mannes wiederherstellen konnte; aber in diesem Punkt hätte er sich eine Menge an Mühe ersparen können; denn das Selbstbewusstsein eines Educated Evans war einfach enorm und so überzeugt wie nie, wenn er in eine Hymne einstimmte, wo es in zwei Zeilen heißt »Die Kräfte der Dunkelheit müssen fliehen; der kommende Tag triumphiert über die Nacht«.
Evans nahm dies gerne als Omen an und schickte all seinen Wettkunden seine Tipps mit dem Hinweis »Informationen eines frischen Morgens – bedient euch«. Evans war bei allen anderen Beschäftigungen, denen er so nachging, auch ein Tippgeber und verfügte über eine Kundschaft, in der sich viele Gastwirte und die gesamte Belegschaft des Güterbahnhofs der Midland Railway befanden.
Eines Tages im April lehnte Evans trübsinnig an einem breiten Brückengeländer und schaute mit mäßigem Interesse hinunter auf den Fluss. Sein melancholisches Gesicht drückte nichts als Schmerz und Enttäuschung aus, während sich seine Unterlippe kummervoll vorstülpte, und seine runden Augen drückten eine Qual aus, als habe er ihnen nur noch eine letzte Chance gegeben zu zeigen, was er wirklich sehen wollte. Und wenn sie diese Chance nicht nutzen wollten, brauchten sie ihm niemals mehr zu Diensten zu sein.
Er war so in Gedanken vertieft, dass er den Mann nicht bemerkte, der einem völlig anderen und für Evans verhassten Beruf nachging, sich nun zu ihm gesellte und an den stillen Betrachtungen teilnahm.
Kleine Schleppdampfer, langsame Boote, ein geschmeidig dahingleitendes Polizeiboot – all das beobachtete Educated Evans, aber anscheinend bekam er nicht das serviert, was er sehen wollte, und so wendete er mit einem ungeduldigen Seufzer seinen Blick ab.
Dann erst sah er seinen stillen Begleiter und stellte fest, dass er hier, an diesem eintönigen Uferdamm, einen Mann traf, den er meilenweit entfernt glaubte.
Der Neuankömmling war ein großer Mann Mitte dreißig, mit breiten Schultern, jeder Zoll eine kraftvolle Gestalt. Er trug schwarze Kleidung und die breite Krempe eines Filzhutes bedeckte seine Augen. Er kaute an einem Strohhalm, und wenn Evans ihn nicht an anderen Dingen erkannt hätte – spätestens daran hätte er ihn als den »Müller« identifiziert, dessen richtiger Name William Arbuthnot Challoner lautete.
»Wie das, Müller, ich dachte schon, Sie seien tot! Ich spekuliere hier über 190 Millionen Kubikmeter Wasser, die täglich unter dieser Brücke durchfließen, und sinniere über die bemerkenswerten Veränderungen, die sich ereignet haben, seit der gute alte Christoph Columbus von eben diesem Pier abgelegt hat; er und die Pilgerväter, die 1579 Amerika entdeckt haben...«
Der Müller hörte ihn, aber er hörte nicht zu. Der Strohhalm zwischen seinen starken Zähnen tanzte hin und her; sein langgezogenes, finsteres Gesicht war dem Fluss zugewandt und seine Gedanken waren weit weg.
»Eine hübsche Gegend hier«, sagte Evans und legte Begeisterung in seine Stimme, während er auf den dunstigen Horizont deutete. »Genau, wie der gute alte Turner sie gemalt hat, und Fluter...«
»Whistler«, sagte sein Begleiter abwesend.
»Whistler – natürlich! Oh, mein Gott, wo bleibt meine Bildung!« Mr. Evans wackelte mit dem Kopf, unzufrieden mit sich selbst. »Whistler. Was für ein Künstler. Müller – wenn Sie diese Vertraulichkeit entschuldigen. Ich werde Sie sonst Challoner nennen, wenn es Ihnen besser passt. Was – für – ein – Künstler! Da gibt es ein paar Gemälde von ihm in der National Gallery. Und noch eines in dem – dem Praydo* in Madrid. Kunst ist eine meiner großen Schwächen, immer schon, als ich noch ein Junge war. Kennen Sie Sergeant? Großer amerikanischer Maler. Einer der größten Künstler auf der Welt. Und kennen Sie den berühmten französischen Künstler Carrot?«
»Weißt du«, begann der Müller bedächtig und schaute dabei weiter auf den Fluss, »weißt du, wo du warst zwischen 19.30 Uhr und 21.15 Uhr am Abend des 8. in diesem Monat?«
»Ja, das weiß ich«, erwiderte Evans prompt.
»Weiß das sonst noch jemand – und zwar jemand, dessen Wort auch von einem Polizeirichter akzeptiert würde, der mit einem gesunden Verstand und ausgeprägtem Misstrauen der Unterwelt gegenüber ausgestattet ist?«
»Mein Freund, Mr. Harry Sefferal«, begann Evans und der Müller lachte gekünstelt und etwas gequält auf.
»Du musst nur deinen Freund in den Zeugenstand bringen«, sagte er, »und brauchst nur zuzulassen, dass der Richter seine düstere Visage sieht. Dann bist du ruckzuck in Dartmoor, und zwar für den Rest deines Lebens. Harry Sefferal könnte dich nur vor dem Gefängnis retten, wenn du des Mordes angeklagt würdest. Der Henker, der seine sogenannten Beweise liest, würde sofort seine Sachen packen, ohne auf den Freispruch zu warten. Harry Sefferal!«
Mr. Evans zuckte mit den Schultern.
»An dem bestimmten Abend spielte ich ganz ruhig für mich in der Gesellschaft eines bekannten und angesehenen Geschäftsmannes, Mr. Julius Levy...«
»Du bist jetzt schon tot!«, knurrte der Müller. »Kennst du Karbolt Manor?«
Mr. Evans dachte nach.
»Nein, ich glaube nicht«, sagte er schließlich.
»In der Nähe von Sevenoaks – das große Haus, das Binny Lester vor fünf Jahren ausgeraubt hat und entwischte.«
Educated Evans nickte.
»Jetzt, wo Sie von diesem prunkvollen Anwesen sprechen, Müller, kommt es mir wieder in den Sinn – wie ein Traum sozusagen oder eine Erinnerung an glücklichere Tage.«
»Gibt es eine Leiter in deinem Traum? Eine Leiter, die zu dem Fenster von Lady Cadrington’s Schlafzimmer hochging, als die Familie zu Mittag saß? Träume bitte sehr sorgfältig, Evans.«
Auf Mr. Evans Stirn, die normalerweise absolut glatt war, erschienen ein paar Falten.
»Nein«, sagte er; »ich kenne den Ort, aber in der Nähe bin ich nicht gewesen. Darauf kann ich den heiligsten Eid...«
»Tu’s besser nicht«, bat der Müller. »Ich habe lieber dein Ehrenwort. Es bedeutet mir mehr.«
»Bei meinem Ehrenwort als Gentleman«, sagte Evans feierlich, »ich bin nicht sehr oft in der Nähe oder sagen wir so, anderweitig diesem Hause nahegekommen. Und wenn ich jetzt nicht die Wahrheit spreche, möge der Himmel mich in dieser Sekunde zu Boden schmettern.« Dabei warf er die Arme theatralisch nach oben, während der Müller wartete und zum Himmel hinaufschaute.
»Der Himmel hat dich nicht gehört«, sagte er ungerührt und ergriff Evans am Arm. »Pine will dich sehen.«
Mit einem Schulterzucken gab Evans auf.
»Sie nehmen einen Unschuldigen fest«, sagte er würdevoll. Der Müller ertrug den kleinen Schlag gelassen.
»Der Müller« war für eine bestimmte Klasse immer »der Müller«. Er wurde mit Namen und unter der Berufsbezeichnung eines Detektiv-Sergeant W. Arbuthnot Challoner in den Steuerlisten geführt und war eine Autorität in Sachen Einbruchdiebstahl, Tresoraufbrüche, Mord, Bandenwesen, Betrug, Pferde. Überall in Camden Town, wo viele seiner glühendsten Verehrer wohnten, wurde er wegen seiner Marotte des beständigen Strohhalmkauens »der Müller« genannt.
Man achtete ihn; man liebte ihn zwar nicht und das tat nicht einmal Educated Evans, dieser weltoffene und tolerante Mann. Evans wiederum wurde geachtet und war beliebt. Im Norden Londons besitzt – im Unterschied zum Süden – das Wort Gelehrsamkeit einen gewissen Wert. Menschen mit weniger Begabung schauen mit einer Art von Lernwillen zu denen auf, die tüchtig und fähig sind. Selbst die gewalttätigsten und schlimmsten Zeitgenossen sprachen von Evans mit Respekt.
Neben seiner Gelehrsamkeit (er hatte mehr Verteidigungsreden und Ansprachen verfasst als jeder andere Amateur-Anwalt) besaß er unzweifelhaft das volle Vertrauen der Pferdebesitzer, Trainer, Jockeys und Ersten Stallburschen. Dazu bekannte er sich. Er war der Mann, der den entscheidenden Tipp für »Braxted« im Steward’s Cup und »Eton Boy« im Royal Hunt Club gab. Es gibt in Camden Town wohlhabende Männer, die ihren Reichtum auf die Ratschläge von Educated Evans zurückführen könnten. Es gab ein Gerücht, von Neidern und Böswilligen gerne verbreitet, dass das St. Pancras Armenhaus niemals voller war als zu den Zeiten, nachdem der gebildete Mann eine schlechte Saison hatte.
»Ich habe es sehr bedauert«, sagte Evans, als er an der Seite seines Fängers die Straße entlang schlenderte, »dass das Gesetz, von Moses und Lord So-und-so erfunden, immer nur dann angewendet wird, um die Schwachen sozusagen zu erdrücken. Und so lagen die Dinge auch am Vorabend des Frühlings-Handikaprennens von Newbury, als ich endlich hoffen durfte, über »Solway« ein ganzes Paket an Tipps zu packen.«
Der Müller hielt an und betrachtete seinen Gefangenen neugierig und mit deutlichem Unverständnis.
»’Solway’«, sagte er bedächtig, »steht gar nicht zur Debatte. ‚St. Albyn’ könnte ihn spielend abhängen.«
Verächtlich schürzte Evans die Lippen.
»’Solway’ könnte tot umfallen, dann wieder aufstehen und gewinnen«, übertrieb er. »’St. Albyn’ ist kein Pferd, sondern nur ein Torso mit Haaren. Der Mann, der auf ‚St. Albyn’ setzt...«
»Ich habe auf ‚St. Albyn’ gesetzt«, sagte der Müller kalt. »Ich bekam den Tipp vom Cousin des Besitzers, Lord Herprest, demzufolge, abgesehen von Unfällen, ‚St. Albyn’ eine todsichere Angelegenheit sei.«
Educated Evans lachte; es hörte sich nach dem Lachen eines Mannes an, der seinen Feind verlieren sieht.
»Aber der arme alte Crippen wurde gehängt!«, sagte er.
Es gab da so etwas wie ein zartes Band der Sympathie zwischen dem Müller und seiner legalen Beute: Sie waren beide passionierte Anhänger des Sports der Könige. Wenn der Müller gerade einmal nicht damit beschäftigt war, gesellschaftliche Plagen zu verfolgen (unter welchen er Educated Evans als beinahe die Nummer Eins ansah), dann studierte er mit dem gleichen Ernst die unberechenbaren Rennen vollblütiger Rassepferde.
»Was ist denn mit ‚Blue Chuck‘?«, fragte er. »Da soll es einen guten Tipp für ihn geben.«
Evans kratzte sich an seiner langen Nase.
»Das ist ein Pferd mit einer gewissen Chance«, stimmte er zu. »Canfyn’s Büro sagte seinen Kunden, dass es bis zum Rennen in Goodwood noch nicht fit genug sei, aber dieser Kerl würde auch seine eigene Großmutter verkaufen. Ich würde Canfyn immer noch nicht trauen, wenn er auf dem Schafott stünde und auf ‚Foxe’s Buch der Märtyrer’schwört.«
Vorübereilende Passanten, die den schäbig gekleideten Mann in dem unordentlichen, langen Mantel und den Großen neben ihm sahen, würden niemals denken, dass sie soeben einen angesehenen Beamten von Scotland Yard und seine willkommene Beute erblickt hatten.
»Evans, wieso glaubst du, dass ‚St. Albyn’ keine Chance hat?«, fragte der Müller besorgt.
»Weil er nicht gefordert wird«, sagte Evans mit Betonung in der Stimme. »Ich habe es direkt von dem Pfleger, der ihn betreut. Er wird bis zum Ascot-Rennen nirgends an den Start gehen und dann glauben die noch, sie können ihn im Hunt Cup für sieben zu eins bringen.«
Der Müller atmete heftig aus. An diesem Morgen hatte ihn Teddie Isaacheim, ein Straßenbuchmacher mit großem Reichtum und dementsprechender Immunität gegenüber polizeilichen Zugriffen, zu einer Wette von 50 zu fünfeinhalb Pfund für eben diesen »St. Albyn« überredet. Und fünfeinhalb Pfund zu verlieren war eine Menge Geld.
»Hätten Sie mich vorher gefragt, hätte ich Ihnen das sagen können«, bemerkte Evans sanft. »Wären Sie zu mir gekommen von Mann zu Mann und als Sportsmann zu Sportsmann, anstatt mit all diesem lächerlichen und kindischen Unsinn, ich sei in illegale und sonstige Diebstahlfälle verstrickt. Dann hätte ich Ihnen die wahre Stärke von ‚St. Albyn’ gezeigt. Und dazu hätte ich Ihnen dann den Gewinner des morgigen Ein-Uhr-Rennens gesteckt
- Spezial-Sparangebot – kein Yard in Kempton – nichts los in Birmingham – Blick auf Manchester – aber morgen ein Verlierer!«
»Was bedeutet das, Evans?«
Die Stimme des Müllers war sanft und weich geworden, geradezu verführerisch, aber Evans schüttelte den Kopf und sie marschierten weiter.
»Niemals«, sagte der gebildete Mann mit deutlicher Bitterkeit in der Stimme, »niemals, seitdem man den guten Cardinal Wolseley verhaftete, weil er gegen König Charles aufmuckte, hat man einen Mann schmählicher eingebuchtet als mich. Wenn ich von der Polizei nicht zehntausend Pfund bekomme für falsches Einsperren... wenn ich nicht den alten Pine entlarven kann für dieses...«
»Ist es ‚Clarok Lass’, alter Mann?«, fragte der Müller, als sie allmählich in die Nähe der Polizeiwache kamen.
»Nein, ist es nicht«, giftete Evans zurück. »Und wenn Sie jetzt glauben, Sie kriegen mein Fünf-Pfund-Spezial für eine halbe Ration Kernseife, müssen Sie schon weiter raten. Mit Ihnen bin ich fertig, Müller, fertig! Habe ich Ihnen nicht voriges Jahr für Ascot zu ‚King Salomon’ und ‚Flake’ geraten? Bin ich nicht durch die ganze Stadt gerast, um Ihnen den guten Tipp für ‚Jordan’ zu empfehlen?«
»Du hast sicherlich dein Bestes gegeben, Evans«, stimmte Challoner beruhigend zu, »und wenn ich ein gutes Wort für dich einlegen kann – wie sagtest du noch, wer das Ein-Uhr-Rennen gewinnen wird?«
Educated Evans presste die Lippen fest zusammen und Sekunden später war der Müller die Geschäftsmäßigkeit in Person. »Hier ist Evans, Sir. Er gibt an, nichts von der Sevenoaks-Geschichte zu wissen und er kann zwei Zeugen beibringen, die beschwören, dass er sich zum Zeitpunkt des Raubes in der Stadt aufgehalten hat. Eventuell kann er bis zu 42...«
Inspektor Pine kam gerade dazu, als der Gefängniswärter Evans durchsuchte, und schüttelte bekümmert den Kopf.
»Oh, Evans, Evans!«, seufzte er. »Sie hatten mir doch hoch und heilig versprochen, niemals wieder hierher zu kommen.«
Educated Evans rümpfte die Nase. »Wenn Sie glauben, Sir, ich sei freiwillig hier, dann liegen Sie falsch.«
Und wieder einmal schüttelte der Inspektor seinen weißhaarigen Kopf.
»In jedem Menschen steckt ein gutes Herz«, sagte er. »Ich will die Hoffnung bei dir nicht aufgeben, Evans. Wie lautet die Anklage?«
»Da gibt es keine Anklage, Sir, nur eine Festnahme.
Wir wollen ihn im Zusammenhang mit der Sevenoaks-Geschichte haben, aber da sind noch ein paar Alibis zu überprüfen«, sagte der Müller.
Also steckten sie Educated Evans in die Nummer Sieben, seine Lieblingszelle, und Evans dachte darüber nach, welches Pferd im Programmheft des Newbury Cup die Nummer 7 trug.
In dieser gewissen Nacht lieferten sich der ehrenwerte George Canfyn und die normalerweise recht liebenswürdigen Angestellten des Hippoleum Theaters einige recht hitzige Wortgefechte. George, der dort zu Abend aß, schlug recht heftig zurück.
Er war ein vermögender Mann mit einigen Besitztümern, dazu Rennpferdeeigner und nach dem Gesetz ein rechter Gentleman. Sein Vater war Lord Llanwattock. Sein weiterer Name lautete auf Snook und er produzierte Kerzen in großem Stil. Darüber hinaus war er Margarinefabrikant, machte Geld und damit Freunde. Diese wiederum machten ihn zum Baron und das Gesetz schließlich zum Gentleman. Der liebe Gott wurde dabei nicht gefragt.
George liebte das Geld um des Geldes willen. Die meisten Menschen erzählen einem, dass ihnen das Geld nichts ausmacht, bis auf die Dinge, die man damit kaufen kann. George mochte schlicht und einfach Geld. Er wollte alles Geld haben, das existierte, und es schien ihn schwer zu treffen, mit ansehen zu müssen, wie ein außergewöhnlich großer Betrag einfach an ihm vorbeilief. Er lebte sparsam, aß recht wenig und wechselte jedes Jahr seinen Trainer.
Wenn eines seiner Pferde nicht gewann und er Geld verlor, dann unternahm er alles Mögliche, außer sich bei den Stewards zu beschweren. Er behielt denselben Jockey niemals mehr als für drei Rennen, weil er glaubte, dass Jockeys Rennen »kaputt reiten« konnten und den Sieger unter sich ausmachten, um in die eigenen Taschen zu wirtschaften. Er glaubte auch, dass alle Trainer inkompetent seien und alle Jockeys, die nicht für seine Farben ritten, in einer Verschwörung zusammenhielten, um »gut auf alles aufzupassen«.
Wenn er gewann, (und das geschah recht oft), hatte er schon vor dem Rennen seinen Freunden erzählt, dass sein Pferd eine knappe Chance habe, und riet ihnen, nicht zu hoch zu wetten.
George hasste fallende Preise, weil er konstant seine Wetten bei den S.P. Büros platzierte. (S.P. = starting price, also der Wettpreis des Pferdes beim Start des Rennens, anstelle von geschätzten Quoten im zeitlichen Vorfeld. d.Ü.) Und wenn er gewann, spielte er den Überraschten und erzählte jedermann, wie nahe er daran gewesen sei, einen Fünfer zu setzen; aber nachdem er sich in einer ruhigen Minute das Ganze überlegt hatte, entschied er sich doch angesichts der fälligen Einkommensteuer, es sei eine beinahe kriminelle Geldverschwendung. Und es gab einige Leute, die ihm das abnahmen.
George hatte einigermaßen gute Laune, als er sich hinaus ins Hippoleum begab; denn gerade an diesem Morgen war er von Wiltshire gekommen, wo er einen Probelauf von »Blue Chuck« beobachtet hatte, der für ihn im Newbury Cup starten sollte.
»Blue Chuck« hatte die Pferde in diesem Vorlauf in Grund und Boden gelaufen und mit straff angezogenem Zügel um Längen gewonnen. Und keine einzige Person von der schreibenden Zunft hatte auf »Blue Chuck« getippt. Er war ein sicherer Tipp, als einer von den »anderen 100 : 6« zu starten, und George übte bereits sein völlig überraschtes Gesicht, das er seinen Bekannten präsentieren wollte.
In fröhlicher Erwartung, wie sich der Mittwoch so anließ, brach Mr. Canfyn auf, mit drei alten, aber kostenlosen Brandies, die seine innere Zufriedenheit noch ein wenig mehr bestärkten (aus einer Musterflasche, die ihm ein fehlgeleiteter Weinhändler überlassen hatte). Und dann kam das Unheil.
Drei Polizisten brachten ihn in die Hallam Street Station und hier hätte die Angelegenheit noch zu aller Zufriedenheit gelöst werden können, wenn nicht der dritte jener Brandies begonnen hätte, seine fatale Wirkung zu zeigen.
»Ihr Halunken! Dafür ziehe ich euch die Hosen vom Arsch!«, kreischte er, als sie ihn gründlichst durchsuchten. »Ich bin der ehrenwerte George Canfyn, der Sohn von Lord Llanwattock...«
»Wie lautet die Anklage?«, fragte der genervte diensthabende Sergeant, dem solche Aufruhr-Szenen nicht fremd waren.
»Betrunken und ungebührlich und tätlicher Angriff«, sagte der Polizist, der diesen Ausbund an Vornehmheit hereingebracht hatte.
»Ich bin nicht betrunken!«, röhrte George. »Lassen Sie diese Dinge da, wo sie sind. Das sind meine privaten Papiere! Und zählen Sie gefälligst das Geld – wenn da ein Penny fehlt, sorge ich dafür, dass Sie aus der Polizei hinausgeworfen werden...«
»Nummer acht«, sagte der Mann am Schreibtisch und man führte George hinunter.
»Oh, wie kann ein Mann nur seinen Feind in den Mund nehmen, dass der sein Gehirn wegfrisst«, murmelte der Inspektor im Türeingang zu seinem Büro. »Saufen ist etwas Schreckliches, Sergeant!«
»Ja, Sir«, antwortete der Sergeant und schaute zur Uhr an der Wand. Sie stand ganz knapp vor zehn.
Der Inspektor ging seufzend in sein Büro zurück. Der große Schreibtisch war mit Karten und adressierten Briefumschlägen übersät und der Inspektor ein älterer Herr und rechtschaffen müde. Für einen langen Augenblick betrachtete er die Anhäufung von Arbeit, die erledigt werden musste, bevor um Mitternacht die Post hinausging.
Inspektor Pine betätigte sich, neben anderen Tätigkeiten, als Sekretär der »Bruderschaft des Rennplatzes zur Unterdrückung der Spielsucht«. Und die Karten enthielten Einladungen zu einer Versammlung der Bruderschaft, auf der das Programm des kommenden Jahres besprochen werden sollte. Leider fehlte bis jetzt noch auf jeder der Tausenden von Karten der Hinweis, dass wegen eines dringenden Termins der Bischof von Chelsea nicht werde teilnehmen können.
Pine war völlig in die Betrachtung des unfertigen Werkes vertieft, als nach kurzem Anklopfen der Müller den Raum betrat.
»Es ist ein Wunder geschehen, Sir«, sagte er. »Ich habe drei ehrbare Leute gefunden, die beschwören können, dass Evans sich so gut wie in ihrem Sichtbereich befand, als der Diebstahl begangen wurde. Mr. Isaacheim, der bekannte und angesehene Kommissionär...«
»Ein Buchmacher«, murmelte Inspektor Pine vorwurfsvoll.
»Immerhin, er zahlt seine Steuern und auch die Kommunalsteuer«, sagte der Müller anstandshalber. »Und obwohl das Glücksspiel für mich so eine Art krimineller Verrücktheit darstellt, müssen wir seine Aussage zur Kenntnis nehmen,. Und Mr. Corgan vom ‚Blue Hart’...«
»Ein Kneipenwirt«, sagte der alte Pine bekümmert.
»Und ein alter Sünder. Aber er ist ein sehr bekanntes Mitglied des Stadtrates. Kann ich dem Wärter sagen, er solle Evans gehen lassen?«
Inspektor Pine nickte und seine Augen kehrten zu der unerledigten Arbeit zurück.
»Ich nehme an, dass Sie niemanden kennen, der mir helfen könnte, diese Karten in die Briefumschläge zu stecken?«
Es hörte sich an wie ein SOS-Ruf: Ein Aufruf, an den Müller persönlich gerichtet.
»Nein, Sir«, erwiderte der Müller prompt; und dann, als ihm ein bestimmter Gedanke kam: »Warum fragen Sie nicht den Evans? Er ist ein Mann von Bildung und wäre bestimmt froh über eine Pause von einigen Stunden.«
Educated Evans hatte fünf schlaflose Stunden in einer großen und hygienisch einwandfreien Zelle verbracht, dort wechselweise über die Ungerechtigkeit der Menschen gegenüber einem einzelnen nachgedacht wie über den erschöpften Zustand seiner Barschaft. Denn seine Besitztümer bestanden aus ganzen zwölf Shilling und Sixpence für eine Bahnfahrt nach Newbury und die Eintrittskarte. Um noch in irgendeine Wette zu investieren, reichte es einfach nicht. Man stand erst am Anfang der Saison und seine Kundschaft hatte sich wegen seiner fehlgeschlagenen Versuche, einigermaßen durch den Winter zu kommen, beinahe aufgelöst. Er würde wohl bis zum Tag der Jubilee-Veranstaltung brauchen, bis er ihr Vertrauen zurückgewonnen hatte.
Der Klang einer verärgerten Stimme ließ ihn durch das Gitter des Ventilators blicken; so erkannte er den ehrenwerten George Canfyn, der soeben in seine Zelle abgeführt wurde. Als der Wärter sich entfernt hatte: »Entschuldigen Sie, bitte, Mr. Canfyn!«, sagte Evans völlig aufgeregt und mit heiserem Flüstern durch den Ventilator.
»Was wollen Sie?«, grollte es aus der Nachbarzelle.
»Ich bin Johnny Evans, Sir, besser bekannt als Educated Evans, der berühmte Turf-Ratgeber. Was ist morgen mit Ihrem Pferd, ‚Blue Chuck’?«
»Gehen Sie zum Teufel!«, donnerte die Stimme des Mitgefangenen.
»Ich kann da vielleicht etwas Gutes tun«, bohrte Evans weiter. »Ich habe einen...«
»Scheren Sie sich doch zum Teufel, Sie...«
In all seinem Ärger bedachte er Evans mit etlichen Beschimpfungen.
Der meditierte soeben über die seltsamen Wege des Schicksals, das den Sohn eines Millionärs in die Zelle Nr. 8 gebracht hatte, als das Schloss seiner eigenen plötzlich aufsprang.
»Du kannst gehen, Evans«, sagte der Müller leutselig. »Ich habe keine Mühe gescheut, dich hier heraus zu bekommen – wie ich es versprochen hatte. Wie heißt das Pferd im Ein-Uhr-Rennen?«
»’Clarok Lass’«, sagte Evans; und der Müller fluchte leise vor sich hin.
»Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich dich hier verhungern lassen«, sagte er. »Du sagtest, es sei nicht ‚Clarok Lass’- hier, los, der Inspektor hat einen Job für dich.«
Verwundert folgte Evans dem Detective zum Büro des Inspektors und dann wurde ihm in wenigen, aber höflichen Worten erklärt, wie sein kommender Job aussehen sollte.
»Ich gebe Ihnen fünf Shilling aus meiner eigenen Tasche, Evans«, sagte Inspektor Pine, »und fühle gleichzeitig, dass ich Ihnen vielleicht wieder zum Licht verhelfen kann.«
Educated Evans blickte mit geübten Augen über den Tisch. Vor Jahren hatte er 1000 Kunden in seinen Büchern; insofern war ihm die Aufgabe, Briefumschläge zu füllen, nicht unbekannt.
Der Müller war froh, dass er alsbald eine Ausrede fand, sich verabschieden zu können, und der Inspektor gab sich daran, seinen Helfer noch etwas genauer über seine Aufgabe mit dem Stempelapparat zu instruieren.
»Wenn die Matrize aufgebraucht ist, schreiben Sie eine weitere. Dann befestigen Sie sie auf dem Tintenkissen und machen weiter.«
Es war ein seltsames Gerät, wie Evans es noch nie benutzt hatte. Es bestand aus einem länglichen Matrizenwachspapier, in einem steifen Rahmen fixiert, und einem metallenen Tintengefäß. Der Inspektor zeigte ihm, wie die Matrize auf einem steifen Brett mittels eines spitzen Schreibstiftes beschriftet, dann befeuchtet und anschließend abgelöscht wurde; und Evans, wissbegierig wie immer, schaute ganz genau hin.
»Nun haben Sie Gelegenheit darüber nachzudenken, dass jeder dieser lieben Menschen ein Feind dieses bösartigen und schädlichen Pferdesports ist. Einmal in Ihrem Leben, Evans, tun Sie etwas Sinnvolles, diese Hydra-Bestie des Glücksspiels zu zerschmettern.«
»Und wo sind diese fünf Shilling, Sir?« fragte Evans und der Beamte entfernte sich. Er war gerade dabei, Evans seiner Aufgabe zu überlassen, als der wachhabende Sergeant eintrat.
»Hier sind Geld und Papiere dieses Betrunkenen, Sir«, sagte er und legte ein kleines Päckchen auf den Tisch. »Vielleicht legen Sie das besser alles in den Safe. Er hat nach seinem Anwalt geschickt, also wird er wohl bald gegen Kaution frei kommen. Aber er hat einen solchen Aufstand gemacht, dass man ihn angeblich beraubt hat, sodass es wohl besser sein könnte, man behielte das alles hier, bis er in nüchternem Zustand vor einen Richter gestellt wird.«
Mr. Pine nickte und öffnete den großen Safe in einer Ecke des Raumes, während der Sergeant ging. Zunächst legte Pine das Geld, die Uhr mit Kette und das goldene Zigarettenetui in eine Schublade. Dann nahm er ein kleines Notizbuch heraus und blätterte darin mit professioneller Geschicklichkeit.
»Noch ein Spieler«, bemerkte er traurig.
»Wer ist das, Sir?«
»Ein Mann – ein Gentleman, der unglücklicherweise heute Abend hier sein muss«, sagte der Inspektor und hielt für einen Moment inne. »Was bedeutet – ein Probelauf, Evans?«
»Ein Probelauf, Sir?«
»Es hat offensichtlich etwas mit Pferderennen zu tun«, sagte der Inspektor und las, wie für sich selbst: »’Blue Chuck’ 8 zu 7; ‚Golders Green’ 7 zu 7; ‚Milikin’ 7 zu 0. Gewann mit vier Längen in 1 min 39’. Das hat doch mit Pferderennen zu tun, Evans?«
Educated Evans nickte, wagte aber nicht, sich dazu zu äußern.
»Hier haben Sie Ihre fünf Shilling, Evans. Ich lasse Sie nun allein. Geben Sie dem Sergeant diese Briefe; er wird sie aufgeben. Gute Nacht.«
In dieser Nacht spähte der Sergeant hin und wieder durch die offene Tür des Inspektorbüros; augenscheinlich war Evans sehr beschäftigt. Um Mitternacht, gerade als der Anwalt des ehrenwerten George Canfyn eintraf, trug er die Früchte seiner Arbeit zum Schreibtisch des Sergeanten, und nach einer schnellen Überprüfung des Büros, ob irgendetwas fehle, konnte Evans sich entfernen.
Um zehn Uhr des folgenden Morgens, Inspektor Pine war gerade bei der Rasur, als sein Freund und Mitstreiter bei der Sozialarbeit, (Mr. Stott, der ehemalige Lebensmittelhändler), in großer Eile zu ihm kam, verwirrt und tief verärgert zugleich.
»Guten Morgen, Bruder Stott«, sagte der Inspektor. »Ich habe es letzte Nacht geschafft, alle Karten herauszugeben – wenigstens hoffe ich das.«
Mr. Stott atmete schwer.
»Ich habe meine Karte auch bekommen, Bruder Pine«, sagte er, »und ich würde gerne wissen, was sie bedeuten soll.«
Er warf ein Stück Karton in das schaumbedeckte Gesicht des Inspektors. Es gab nichts Außergewöhnliches auf der Karte zu entdecken. Sie enthielt eine Einladung zu einer Versammlung der »Bruderschaft zur Unterdrückung der Spielsucht«.
»Nun?«
»Schauen Sie sich die Rückseite an«, zischte Mr. Stott.
Der Inspektor wendete die Karte und las die schablonierte Inschrift:
Wenn jemand aus der Bruderschaft den Sieger des Newbury Hindernisrennens erfahren will, so schicke er 20 Shilling an den alten, aber absolut verlässlichen Educated Evans, 92 Bingham Mews. Das ist das größte Schnäppchen des Jahres! Niederlage ausgeschlossen! Auf, Brüder! Bedient Euch und überweist das Geld an E. Evans.
»Natürlich wird niemand auf diesen Unsinn eines bösen Mannes reagieren«, sagte der Inspektor, als er dem Müller Anweisungen erteilte. »Jedes Mitglied der Bruderschaft wird dieses Papier mit Verachtung strafen; trotzdem, Sie hätten besser auf Evans achten sollen.«
Als der Müller an Bingham Mews Nr. 92 ankam, (es war der obere Teil eines Stalles), traf er jenen melancholischen Mann an, wie er Telegramme öffnete, zwanzig pro Minute.
»Und da kommen noch mehr«, sagte Educated Evans. »Es gibt keine besseren Wetter als die von der Bruderschaft.«
»Wie heißt das Pferd?«, fragte der Müller atemlos.
»’Blue Chuck’, bedienen Sie sich«, antwortete Educated Evans. »Und vergessen Sie nicht – Sie schulden mir ein Pfund.«
Der Müller beeilte sich, Mr. Isaacheim zu sprechen, den bekannten und ehrbaren Turf-Buchmacher.
Kapitel 2: Mr. Homasters Tochter
Mr. Homasters Tochter war unzweifelhaft die Schönheit von Camden Town; und als sie sich vom öffentlichen Leben zurückzog, hatte in der Folge und ganz zweifellos Mr. Homasters Handel sehr darunter zu leiden.
Aber Mr. Homaster bemerkte schon richtig, dass besonders eine Saloonbar kein geeigneter Ort für eine junge Dame sei. Viele Kunden, die bislang mit einigen Schwierigkeiten die Saloon-Preise ausgehalten hatten, kehrten nun als Reaktion auf ihren Rückzug scharenweise zur öffentlichen Variante des »Rose and Hart« zurück, wo Bier das einzige Handelsobjekt ist. Dennoch trug Mr. Homaster ( bis zum Krieg hieß er eigentlich Hochmeister) seinen Verlust mit Gelassenheit und sein Ruf, sowohl als Vater wie als Gentleman, stand besser da als je zuvor.
Miss Belle Homaster war die schönste Frau, die Educated Evans je gesehen hatte. Sie war groß, mit goldenen Haaren und blauen Augen und einer tollen Figur. Quer über ihre schwarze, eng sitzende und wohlgefüllte Bluse zog sich das aus Diamanten geformte Wort »Baby«, wie ihr Vater und enge Verwandte sie stets zu nennen pflegten.
Evans pflegte jeden Abend in die Saloonbar zu gehen, das Glück ihres Lächelns zu genießen, das sie ihm mit einem Augenaufschlag ihrer sorgfältig gemalten Lider schenkte.
Niemals stellte sie unnötige Fragen. Ein Anheben dieser gebogenen Augenbrauen, ein gnädiges Nicken von Evans, das Leeren einer Flasche, das Sprudeln des Sodawassers, und Evans legte einen Halfcrown auf die Theke und nahm das Wechselgeld mit einem gezierten »Danke« entgegen.
Manchmal sagte sie so etwas wie »Es war heute ein recht schöner Tag für diese Jahreszeit«. Manchmal, wenn es kein so schöner Tag gewesen war, fragte sie mit sanfter Verzweiflung: »Was kann man schon erwarten?«
Es hieß allgemein, dass Evans ihr Lieblingskunde war. Ganz bestimmt genoss er unter allen Kunden ihr alleiniges Vertrauen. Nur Evans gegenüber bekannte sie ihre Schwäche für Spargel und nur er hörte von ihren eigenen Lippen, dass sie einmal als kleines Mädchen in demselben Bus gefahren sei wie Crippen.
Einer seiner Freunde hatte auf seine dringende Bitte hin in den glühendsten Farben von ihm gesprochen, ihr von seiner Bildung erzählt und seiner Fähigkeit, bei den verrücktesten Fragen noch Wetten zu gewinnen, ohne dabei ein Buch oder Lexikon zu befragen. Nach diesen Vorbereitungen seines befreundeten Angebers ergriff Evans die erste günstige Gelegenheit, Beispiele seiner tiefen Gelehrsamkeit und Bildung zu offerieren.
»Es ist seltsam, mein Fräulein, wie Sie und ich hier stehen, während die Welt sich in 24 Stunden um ihre eigene Achse dreht, wobei sie Tag und Nacht entstehen lässt. Nur wenige Menschen können sich, sozusagen, die Geheimnisse der Natur vergegenwärtigen, wie Mond und Sterne, die eine andere Welt sind als die unsere. Man sagt, es gebe Leben auf dem Mars wegen der Kanäle, die man über Teleskope beobachtet hat. Was uns zu der Frage bringt: Ist der Mars bewohnt?«
Sie hörte hingerissen zu.
»Die Entwicklung der Menschheit«, fuhr Evans freudig fort, »wurde von Darwin erfunden, was uns zu der Frage nach prähistorischen Zeiten bringt.«
»Was Sie nicht alles wissen!«, sagte die junge Dame. »Hätten Sie gerne etwas mehr Sodawasser? Das Wetter entspricht doch recht gut der Jahreszeit, finden Sie nicht?«
»Die Jahreszeiten werden hervorgerufen oder verursacht durch die Umdrehungen der Welt...« begann Evans.
Aber ihre Aufmerksamkeit wurde abgelenkt durch einen ungebildeten Mann, der ein weiteres Getränk bestellte.
Jedermann kannte Mr. Homaster. Sogar der Müller. Wenn diese Leuchte der kriminalistischen Ermittlung ein Interview mit einem seiner zwielichtigen Bekanntschaften zu führen wünschte, konnte er sicher sein, denjenigen bei ihr zu finden, wie er einer Motte gleich um das Licht ihres Charmes und ihrer Schönheit herumschwänzelte.
Ungefähr gegen acht Uhr abends würde dann Sergeant William Arbuthnot Challoner die Schwingtüren der Saloonbar aufdrücken und einen gelangweilten Blick in die Runde werfen. Sodann nickte er einigen alten Freunden zu, die er entdeckte, zog grüßend den Hut vor Miss Homaster und ging wieder.
Ihre Verlobung verkündigte sie zwei Tage, bevor sie die Bar endgültig verließ. Es war ein unglücklicher Evans, dem sie die Nachricht unterbreitete.
»Ich werde einen richtig guten Freund heiraten, einen Gentleman«, sagte sie, worauf Evans sich an der Ecke der Theke festhalten musste. »Ich halte viel von frühem Heiraten und von Treue. Eine Ehefrau sollte ihrem Mann ein Freund sein und ihm immer helfen. Sie sollte sich auch für seine Geschäfte interessieren. Da stimmen Sie doch zu, Mr. Evans?«
»Ja, Miss«, erwiderte Evans mit einiger Anstrengung.
»In guten wie in schlechten Zeiten, in Krankheit und Jammer, Asche zu Asche.«
Der Müller erfuhr von der Verlobung durch Educated Evans.
»Ich glaube an die Kraft der Ehe«, sagte er. »Sie gibt dem Scheidungsrichter Arbeit.«
Ein harter, zynischer Mann, in dem die Quellen allen menschlichen Verständnisses versiegt waren.
Es gibt die Legende, dass vor einiger Zeit der Müller ein Vermögen in der Hand hatte oder in seiner unmittelbaren Reichweite. Der Müller hatte nie über diese Angelegenheit gesprochen, nicht einmal mit seinen engsten Freunden. Selbst Educated Evans, der seine Bekanntschaft zu ihm als etwas enger betrachtete, kam mit selten geübter Zurückhaltung niemals auf diese enorme, verpasste Gelegenheit zu sprechen.
Dennoch hatte es sie gegeben: Das Glück klopfte an seine Tür, mit einer Reihe von Häusern unter dem Arm, und der Müller, mit der Hand schon auf der Klinke, hatte gezögert.
Reihen von Häusern, ein Automobil, jeden Tag seines Lebens zum Pferderennen, wann ihm danach zumute war, und sein Ehrgeiz trieb ihn zu so einem hochfliegenden Ende – und Verlust, weil der Müller sich weigerte, dem Beweis zu vertrauen, den ihm seinen eigenen Ohren lieferten, oder der Maxime der Vorfahren zu glauben: in vino veritas.
Mr. Sandy Leman hatte sicherlich dem vino zugesprochen, als der Müller ihn schnappte: a) wegen Trunkenheit, b) wegen ruhestörenden Lärms, c) wegen Landfriedensbruch, d) beleidigendes Verhalten.
(»Er war«, um es in Educated Evans’ deutlicher Sprache zu formulieren, »so besoffen, dass er versuchte, auf einem fahrbaren Würstchenstand zu spielen in der Annahme, das sei ein Konzertflügel.«
Was die »veritas« betraf, so hatte der Müller berechtigte Annahme zu glauben, dass nur ein einziges Pferd einen ernsthaften Probelauf in der Clumberfield Zuchtstation gestartet hatte und das sollte »Curly Eyes« gewesen sein? Auf dem Weg dorthin tat Mr. Sandy Leman der ganzen Welt diese Tatsache kund und bestand darauf, den Bezirksveterinär aufzusuchen, um auch ihn darüber zu informieren. Dazu unternahm er geradezu mitleiderregende Versuche, die Telefonnummer von Mr. Lloyd George herauszufinden, nur um ausgerechnet dem die gute Nachricht zu übermitteln, über den er aber (in Augenblicken völliger Trunkenheit) bittere Tränen zu vergießen pflegte.
Dem Müller lag sozusagen der Markt zu Füßen und nach vielem Zögern setzte er fünf Shilling auf Platz und Sieg. Und das, nachdem er eine Nacht über die Entscheidung geschlafen hatte, ein Risiko einzugehen, um mit dem Einsatz von 50 gewinnen zu können. »Curly Eyes« gewann und brachte die Quote auf 100 zu 6. Der Müller las die Nachricht in der Zeitung, warf sie zur Erde und trampelte wütend darauf herum. Das ist die ganze Geschichte.
Langsam und gelassen schlenderte Educated Evans auf dem Bahnsteig der Paddington Station umher. Seine Kopfhaltung drückte einen gewissen Stolz aus, seine Lippen hielten eine ausgefranste Zigarre, seine Augen hielt er halb geschlossen, als sei ihm der Anblick so vieler gewöhnlicher Pferdenarren auf der Fahrt nach Newbury zu viel. Groß und schwer hing der Feldstecher über seiner Schulter, aus jeder Tasche seines Mantels lugte eine Rennzeitung hervor.
Educated Evans hielt vor der verschlossenen Tür eines Erste-Klasse Waggons an und betrachtete kühl und nüchtern den näher kommenden Schaffner.
»Mitglied«, sagte er nur.
»Mitglied des Parlaments oder der Rennställe?«, fragte der Schaffner sardonisch grinsend zurück.
»Presse«, sagte Evans mit noch mehr Ernst in der Stimme.
»Ich bin der Herausgeber der TIMES«.
Der Schaffner machte eine bestimmte Geste.
»Wo ist Ihr Ticket?«, fragte er und mit einem Seufzer präsentierte Evans das Dokument.
»Dritter Klasse – und von gestern«, bemerkte der Schaffner böse. »Zum Teufel noch mal, einige von euch Typen geben es wohl nie auf, was?«
»Ich werde mir Ihre Dienstnummer merken, mein Freund«, sagte Evans, zu einer Antwort gezwungen. »Der Railway Act von 1874 spezifiziert ganz genau, dass Tickets, die unter diesen Gesetzesbedingungen ausgegeben wurden, übertragbar und austauschbar...«
Der Schaffner ging einfach weiter. Evans sah, dass eine Tür in dem Durchgangswaggon offen stand und der Schaffner sich soeben abgewendet hatte. Er betrat das Abteil, setzte sich in einen Eckplatz und verhüllte seine Identität mit einer auseinander gefalteten Abendzeitung.
»Ich sage immer, Sir«, sagte er, als der Zug sich in Bewegung setzte und es kein Risiko mehr bedeutete, sich wieder der Allgemeinheit zu zeigen, »ein billiger Start ist ein guter Start. Nicht, dass ich nicht in der Lage wäre, mein Leben als Gentleman und Sportsmann zu bezahlen!«
Sein einziger Abteilgenosse versteckte sich ebenfalls hinter einer ausgebreiteten Zeitung.
»Es ist doch wohl klar«, so fuhr Mr. Evans fort, »dass ein Mann wie ich, der ich mich sozusagen des Vertrauens der meisten Rennställe in Wiltshire und Berkshire erfreue und meine eigenen Korrespondenten in Lambourn, Manton, Stockbridge und so weiter habe, so leuchtet es doch ein, dass ich Besitzer meiner eigenen Pferde – oha!«
Der Müller betrachtete ihn kühl über den Rand seiner Zeitung.
»Lass dich nicht stören, Evans«, sagte er höflich. »Ich höre dir sehr gerne zu, wenn du von deinen Pferden erzählst! ‚Tell-a-Tale’, Sohn von ‚Swan’ und ‚Gullibility’, dem Bruder von ‚Jailbird’ und Rennsieger; ‚Tipster’, Sohn von ‚Ananias’ und ‚Writer’s Cramp’, und so weiter und so weiter.«
»Wir wollen uns doch keine Unannehmlichkeiten bereiten, Mr. Miller«, sagte Evans mit säuselnder Stimme. »Ich bin von Natur aus ein umgänglicher und redseliger Mensch, wie der berühmte Cardinal Rishloo*, der, als er von Napoleon ins Gebet genommen wurde, geantwortet haben soll: ‚Es gibt so manche schöne Weise, die auf einer alten Violine gespielt wurde’.«
»Noch nicht genug«, fuhr der Müller fort, »dass du die Great Western Eisenbahngesellschaft betrügst, indem du erster Klasse reist, dazu mit einem abgelaufenen 3. Klasse-Ticket. Du strengst dich mit deinem schändlichen Charakter auch noch an, durch Vorspiegelung falscher Tatsachen Geld einzuheimsen.«
Der Müller schüttelte den Kopf und der Strohhalm zwischen seinen Zähnen zwirbelte bedrohlich.
»Was werden Sie im 2.30-Uhr-Rennen wetten?«, fragte Evans leichthin. »Ich habe da etwas, das könnte sich zum Schlafen hinlegen, dann aufstehen und so deutlich gewinnen, dass der Zielrichter eine neue Zielmarke malen müsste. Dieses Pferd kann man nicht schlagen, Mr. Miller. Wenn der Jockey herunterfiele, würde dieses Pferd anhalten, ihn auflesen und ihn im Maul als Sieger durchs Ziel tragen. Er ist so intelligent! Ich kriegte den Tipp von dem Jungen, der ihn betreut.«
»Wenn er ihn so betreut, wie du mich gerade wieder geschafft hast«, sagte der Müller, »müsste er vor Gold glänzen! Ich werde nichts anderes tun als auf deinen unschlagbaren Edelstein im Handicap setzen. Isaachheim wollte mir die erforderliche Summe nicht geben, also dachte ich, ich mache es etwas billiger. Nicht, dass das Pferd etwa gewinnt!«
Die Melancholie wich aus Educated Evans’ Gesicht und endete in einem verächtlichen Schnaufen.
»Es wird gewinnen«, sagte er ruhig und selbstbewusst. »Wenn dieses Pferd an einem Pfahl vergessen würde und dann in die falsche Richtung rennt, könnte es immer noch umdrehen und dann gewinnen! Ich weiß, wovon ich rede!
Ich kann Ihnen seine Stärke nicht beschreiben, ohne, wenn ich so sagen darf, ein großes Geheimnis zu verraten. Aber dieses Pferd wird gewinnen! Ich habe es dreitausend Kunden empfoh...«
»Das ist gelogen«, sagte der Müller, an seine eingehende Lektüre der »Sporting Life« erinnernd.
»Nun, dreihundert – aber nicht viel weniger!«
Mr. Evans fühlte das Knistern des Geldes in seiner Tasche und es kam ihm wie Musik vor, neben der Orpheus’ Laute wie eine gedämpfte Kirchenglocke an einem nebligen Morgen geklungen hätte. Er hatte gewiss hervorragende Informationen erhalten. Wenn ‚Blue Chuck’ kein absolut sicherer Tipp für das Newbury Handicap war, dann gab es so etwas wie todsichere Tipps einfach nicht. Hatte er doch persönlich die schriftlichen Eindrücke und Bemerkungen über den Trainingslauf in des Besitzers Notizbuch gelesen!
Den gesamten Vormittag war Evans, der in Camden Town durchaus ein gewisses Ansehen als Tippgeber genoss, damit beschäftigt gewesen, seinen Klienten die herrlichen und profitträchtigen Informationen zu schicken. Eine Stunde lang hatte er die freudige Nachricht zu seiner alterprobten Kundschaft getragen. Einige von ihnen waren so heftig davon angetan, dass sie ihn öffentlich beschimpften. Andere, denen er die Nachricht in hektischer Eile über die verzinkte Theke einer Kneipe zuflüsterte, tranken ihre Pint in Ruhe zu Ende und sagten dann: »Ist das wieder so eine von deinen So-und-so-Phantastereien?«
Educated Evans hatte noch Zeit gehabt, den Zug um 12.38 Uhr zu erreichen. Mr. Evans hätte sich ohne weiteres ein Erste-Klasse-Ticket leisten können. Aber er hielt an dem Glauben fest, dass es drei Stände gab und es die Aufgabe eines jeden Bürgers war, zum Besten zu gehören. Zuerst kam die Regierung; dann, in der gerecht verdienten Reihenfolge, kamen die Eisenbahngesellschaften; drittens und manchmal sogar an erster Stelle, erschien die Klasse der Buchmacher.
Er hatte sein Ticket von einem mittrinkenden Gast im »Rose and Hart« ergattert. Der wollte dafür einen unverschämten Preis haben; Evans handelte ihn auf acht Pence herunter.
»Mit ‚Blue Chuck’ kann man leichter Geld machen als Stempelgeld kriegen, so viel ich weiß«, sagte Evans. »Mr. Miller, Sie wissen doch, wie das läuft. Was würden Sie an meiner Stelle mit 1800 Pfund tun?«
»Äh?«, machte der Müller aufgeregt. »Du hast 1800 Pfund?«
»Nicht im Augenblick«, ruderte Evans bescheiden zurück. »Aber diesen Betrag habe ich in der Tasche, wenn ich zurückkomme. Ist eine Menge Geld, um es mit sich herumzuschleppen. Hauseigentum ist auch nicht mehr das, was es mal war«, fügte er hinzu, »ebenso wenig wie Kriegsanleihen, nach all dem, was dieser Kapital-Levy versucht, mit uns zu machen. Wer ist dieser Kerl namens Levy, Mr. Miller? Er ist Jude, gut; aber ich kann mich nicht an seinen Vornamen erinnern.«
Während der Zug durch Reading fuhr, gab Evans einen Teil seiner Philosophie zum Besten.
»Buchmacher werden fett durch die, wie ich es einmal nennen möchte, Unentschlossenheit der Rennbesucher«, sagte er. »Der Wetter, der seinem Turfratgeber blind und ohne Angst folgt, der wird immer richtig liegen. Aber tut er das denn auch, blind und ohne Furcht, Mr. Miller? Nein, er tut es nicht.«
»Und das ist sehr weise von ihm«, sagte der Müller, ohne von seiner Zeitung aufzuschauen, »wenn du nämlich der Ratgeber bist.«
»Das mag so sein oder auch nicht«, antwortete Evans bestimmt. »Ich erzähle Ihnen nur, was ich in vielen Jahren an Erfahrung gesammelt habe – immerhin geht meine Erinnerung zurück bis zu den Tagen des alten Croydon Rennplatzes. Man hört hier etwas, verwirft es wieder, man bekommt dies erzählt und jenes von neugierigen Wichtigtuern erzählt, was übrigens Sir Douglas Stuart – das ist er doch? Nun gut, er muss es sein – in die Lage versetzt, seine restlichen Tage an der Riviera zu verbringen.«
»Das ist das Schlimme mit dir, Evans«, sagte der Müller und faltete seine Zeitung zusammen, als der Zug vor Newbury abzubremsen begann, »du redest zu viel.«
»Das Schlimme mit mir ist«, sagte Educated Evans würdevoll, »dass ich zu viel denke!«
Auf dem Bahnsteig trennte er sich von dem Detektiv und machte sich auf den Weg zum Haupteingang des »Silver Ring« (Logenplatz für Aristokraten, wo mit höheren Summen gewettet wird;d.Ü.) als er plötzlich ruckartig stehen blieb. Eine Dame überquerte die Fahrbahn, strebte zum Kasseneingang und Evans’ Herz hüpfte für Freude. Er kannte diesen Fuchspelz, diesen teuren Velourshut, diese hochgeknöpften Stiefel. Für einen Augenblick kämpften in ihm der Liebhaber und der Sparfuchs – und der Liebhaber gewann. Educated Evans folgte ihr heißen Herzens, zuckte schmerzlich zusammen, als er ein Pfund zwei Shilling und sechs Pence Eintritt bezahlen musste und folgte der Dame zum Sattelplatz.
Als sie ihren Namen rufen hörte, drehte sie sich herum, und es kann von Miss Homaster einfach nur gesagt werden, dass sie sich Evans gegenüber zwar äußerst herzlich, dafür aber extrem herablassend verhielt.
»Na, so was, Mr. Evans, mit Ihnen hatte ich ja gar nicht gerechnet«, sagte sie. »Was haben wir doch für ein außergewöhnliches Wetter für die Jahreszeit!«
»Das ist wohl wahr, Miss Homaster«, erwiderte Evans. »Ist Ihr verehrter Herr Vater auch zugegen?«
»Nein, ich bin allein gekommen«, sagte Miss Homaster und warf keck ihren Kopf in den Nacken, »und ich bin gerade dabei, auf sämtliche Sieger zu setzen.«
Da war also die Chance gekommen, um die Evans insgeheim gebetet hatte, die günstige Gelegenheit, die er sich nie zu erträumen gewagt hatte. Er hatte sich ausgemalt, sie aus einem brennenden Haus zu retten, oder wie er ins schäumende Wasser des Ärmelkanals sprang und sie zurück ans sichere Ufer holte, wo er vielleicht in ihren Armen seinen letzten Atemzug tat; aber er hatte sich niemals vorgestellt, dass die gute Gelegenheit käme, ihr seine »guten Tipps« unterbreiten zu können.
»Miss Homaster«, flüsterte er mit heiserer Stimme, »ich werde Ihnen jetzt etwas Gutes tun. Ich habe den Sieger des Handicaps; es ist ‚Blue Chuck’. Er ist ein absolut sicherer Tipp. Er könnte stürzen, wieder aufstehen und das Rennen noch gewinnen.«
»Wirklich?« Er wirkte sehr überzeugt und so war sie ernsthaft interessiert.
Er verließ sie bald darauf und schlenderte zum Buchmacherring hinüber. Er war schon einmal bei Tattersall’s gewesen, aber das Erlebnis hatte ihn nicht sonderlich berührt. Ein Bekannter sah ihn und kam ausgelassen auf ihn zu.
»Hallo, Educated!«, sagte er.
»Ich habe eine gute Nachricht für dich, altes Haus; ich habe den Sieger des Handicaps in petto. ‚Bing Boy’!«
Er schaute sich vorsichtig um, ob man ihn etwa gehört hatte, und in seinem Eifer sah er die kalte Verachtung nicht, die sich in Evans’ Gesicht auszudrücken begann.
»Dieses Pferd«, sagte sein Bekannter, »ist so gut trainiert worden, dass es das Derby gewinnen kann, auch wenn es über Hürden ginge! Dieses Pferd könnte stürzen...«
»Und ich sage, das wird es auch tun«, sagte Evans so genervt, dass seine Höflichkeit stark zu leiden begann.
»Du wirst mich nicht dazu bringen, Geld zu verplempern und es auf ‚Bing Boy‘ zu wetten. Du wirst mich nicht in Wetten mit Buchmachern treiben, die im Dämmerschlaf dösen und alles vergessen haben, was zwei Minuten vorher passiert ist. ‚Bing Boy‘!«
Nichtsdestoweniger war ‚Bing Boy‘ der Favorit und das Pferd, auf das Evans wetten wollte, war um jeden Preis zu haben. Er ging in den Sattelplatz und sah den finster dreinblickenden Besitzer seines großartigen sicheren Tipps. Er sah nicht besonders glücklich aus. Vielleicht deshalb, weil er den größeren Teil der vergangenen Nacht in einer unbequemen Polizeizelle verbracht hatte.
Evans ging auf die Suche nach dem Mann, der ihm ‚Bing Boy’ als Tipp empfohlen hatte, um ein paar Informationen mehr zu bekommen.
Und man wettete auch noch auf ‚Smocker’. Er galt als starker zweiter Favorit und es war schwierig, 7 zu 2 für ihn zu bekommen. Ein Mann, den Evans kannte, nahm ihn beiseite an einen Ort, wo niemand aus der Menge sie hören konnte, und erzählte ihm alles über ‚Smocker’.
»Dieses Pferd«, sagte er eindringlich und bohrte zur Unterstreichung seiner Ernsthaftigkeit seine Fingerspitze in Evans’ Bauch, »kam um 21 Pfund besser aus dem Training als ‚Glasshouse’. Er gewann das Training sogar mit angezogenem Zügel, und wenn das wahr ist, was ich gehört habe – und mein Informant ist derjenige, der sich um das Pferd kümmert – könnte ‚Smocker’ stürzen...«
»Es wird in der Tat in diesem Rennen ein paar Stürze geben«, sagte Evans gequält.
Die ersten paar Rennen gingen vorüber und das große Wetten setzte erst beim Handicap ein und trotzdem verpasste Educated Evans seinen Auftrag. Er hatte an ungefähr 300 Kunden gekabelt ‚Blue Chuck‘. Bedient euch. Kann nicht verlieren.«
‚Blue Chuck‘ jedoch rutschte im Marktwert ab wie ein Klümpchen Butter auf einem warmen Teller: Zehnerwetten mit 100 zu 8 auf Sieg, 100 zu 7 auf Platz.
»Puh!«, machte Evans.
Die papiernen Abschnitte in seiner Tasche waren feucht vom ständigen Anfassen. Ein weiteres Mal versuchte er verzweifelt, unten am Sattelplatz jemanden zu finden, der ihm wenigstens ein bisschen Mut wegen ‚Blue Chuck’ zusprechen konnte. Wiederum sah er den Besitzer von ‚Blue Chuck‘, mit einem Gesicht so finster wie die Nacht.
Und dann sprach ihn jemand an und er drehte sich schnell um und nahm seinen Hut ab.
»Nun, ich habe überall nach Ihnen gesucht, Mr. Evans«, sagte Miss Homaster. »Ich habe so einen tollen Tipp für Sie. Ihr Pferd – ‚Blue Chuck’, so heißt er doch, nicht wahr? – findet nicht den geringsten Anklang. Der Besitzer erzählte einem meiner Freunde, dass er ihn nicht unter den ersten drei erwartet.«
Educated Evans sank der Mut, aber nicht aus Sorge um seine irregeleiteten Kunden.
»‘Smocker‘ wird gewinnen.« Sie senkte ihre Stimme. »Es ist ein todsicherer Tipp. Ich habe gerade fünf zu eins auf ihn gewettet.«
»Fünf zu eins?«, sagte Educated Evans mit wieder erwachendem Geschäftssinn. »Sie bekommen aber nicht mehr als vier zu eins.«
»Doch«, sagte das Mädchen triumphierend. »ich werde es Ihnen zeigen.«
Voller Stolz, dass man ihn in solch erfreulicher Gesellschaft gesehen hat, folgte Educated Evans ihr nach, durch die bei Pferderennen stets präsente Reportermeute, an den Absperrungen entlang, wo er endlich einen hochgewachsenen jungen Mann mit rotem Gesicht entdeckte – das war kein Geringerer als Barney Gibbet persönlich!
»Mr. Gibbet, das ist ein Freund von mir, der auf ‚Smocker’ setzen möchte. Geben Sie ihm fünf zu eins?«
Gibbet betrachtete Educated Evans mit sorgenvoller Miene.
»Fünf zu eins, Miss Homaster?«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Nein, das liegt über dem Marktpreis.«
»Aber Sie haben es mir versprochen«, meinte sie mit vorwurfsvoller Stimme.
»Nun gut. Wie viel wollen Sie denn setzen, Sir?«
Educated Evans öffnete den Mund für eine Antwort, aber er brachte kein Wort heraus. Aber dann schaffte er es.
»Dreihundert«, sagte er mit gebrochener Stimme.
»In bar?«, fragte Mr. Gibbet mit verständlichem Argwohn.
»In bar«, antwortete Educated Evans.
Es stellte sich bei der folgenden Überprüfung heraus, dass er nur 240 Pfund dabei hatte. Die fehlenden 60 Pfund hatte er sich erdacht, denn er war ein hoffnungsloser Optimist.
Schließlich lautete seine Wette 1100 zu 220.
»Sie werden nichts dagegen haben, wenn ich Ihnen einen Scheck über Ihren Gewinn ausstelle?«, fragte Mr. Gibbet. »Ich trage nie eine große Summe bei mir; es ist nicht sehr sicher bei all diesen zwielichtigen Gestalten, die sich auf den Rennplätzen herumtreiben.«
»Ich stimme Ihnen zu«, sagte Educated Evans herzlich und ging auf die Tribüne, sich das Rennen anzusehen.
Es war ein Rennen, das man recht leicht beschreiben kann, bei welchem kein Verlangen nach diesen komplizierten und kniffligen Berechnungen aufkommt, die zu jeder Reportage über ein Rennen gehören.
‚Blue Chuck’ sprang sofort an die Spitze des Feldes, blieb dort während des gesamten Rennens und gewann mit fünf Längen Abstand. Zwei Pferde, die Educated Evans völlig unbekannt waren, wurden Zweiter und Dritter. ‚Smocker’ wurde auf halber Strecke aus dem Rennen genommen.
Educated Evans taumelte von der Tribüne hinüber zum Sattelplatz. Seine einzige, aber sehr schwache Hoffnung war, dass die zwölf Pferde, die vor ‚Smocker’ über die Ziellinie gekommen waren, alle disqualifiziert würden. Aber die Flagge ging hoch und eine mächtige Stimme sang wohlklingend »Alles In Ordnung«.
Mit schweren Schritten schleppte sich Educated Evans zum Zug.
»Der fährt erst in einer Stunde«, sagte ein Bahnbeamter.
»Ich kann warten«, erwiderte Evans sanft.
Sogleich nach dem letzten Rennen kam ein ausnehmend zufrieden dreinschauender Müller auf den Bahnsteig. Er sah Evans und bestieg dasselbe Abteil.
»Hattest du einen schönen Renntag, mein Junge?«, fragte er, »ich schon, und danke nochmals für den Tipp.«
»Überhaupt nicht«, murmelte Evans und sein Ton hörte sich sehr leidend an.
»Man hat versucht, mich auf ‚Smocker’ festzunageln; aber Buchmacher-Pferde sind nichts für mich!«
»Ist das ein Buchmacher-Pferd?«, fragte Evans mit einem leisen Anflug von Interesse.
»Ja, es gehört diesem gewissen Gibbet – der mit Miss Homaster verlobt ist.«
Educated Evans versuchte ein Lächeln.
»Wenn es dir schlecht ist«, sagte der Müller mit Besorgnis in der Stimme, »dann mach besser ein Fenster auf.«
Kapitel 3: Der Coup
Es gab Zeiten, da wurde in den Zeitungen ein gewisser Mr. Yardley als »der Zauberer von Stotford« bezeichnet; manchmal wurde diese Auszeichnung sogar zur »Yardley Verschwörung« ausgeweitet. Nur gelegentlich sprach man ganz einfach von ihm als »Bert Yardley«, aber seine Buchungen bei jedwedem bedeutenden Handicaprennen wurden stets und unveränderlich als das »Geheimnis von Stotford« bezeichnet. Denn niemand wusste so richtig, was Mr. Yardley bis zum Tag des Rennens wirklich vorhatte und für gewöhnlich auch nach dem Rennen; denn es beunruhigte schon ein wenig, dass der Favorit aus seinem Stall gewöhnlich nicht gesetzt war und der Sieger (ebenfalls aus seinem Stall) in der Masse der »hundert zu sieben« anderen startete.
Wenn das ganze Spektakel vorüber und das »Alles in Ordnung« verkündet war, pflegten die Leute immer in kleinen Gruppen am Sattelplatz zusammen zu kommen und sich gegenseitig zu befragen, was dieses Pferd in Nottingham zu suchen hatte und wo die Stewards waren und warum man Mr. Yardley nicht endlich mal die Tür gezeigt hatte. Aber sie sprachen dieses »endlich mal« nicht laut aus.
Denn es ist beim Rennen eigentlich Usus, dass der Trainer hinausgeworfen werden sollte, wenn ein Außenseiter gewinnt. Dennoch, weder Bert Yardley noch Oberst Rogersman oder Mr. Lewis Feltham (die beiden Hauptbesitzer, für die er Pferde trainierte), wurden von den Stewards um Erklärungen gebeten, was sie mit ihren Pferden so unternahmen. Somit lag auf der Hand, dass der Turf reformbedürftig und der regulär besoldete Steward zu einer absoluten Notwendigkeit geworden war.
Mr. Bert Yardley war ein ziemlich jung aussehender Mittdreißiger, der sehr wenig sprach und seine Wetten per Telegraph tätigte. Er bewohnte eine Suite im Midland Hotel, war Mitglied in einem angesehenen und seriösen Club in Pall Mall. Er beschäftigte sich sehr viel mit Lesen, meistens solche Klassiker wie »Das nächste Rennen« und den zigsten Band eines Werkes über Zuchtpferde, und er lockerte seine Studien auf mit leichterer Lektüre wie zum Beispiel den Trainingsberichten der Sportzeitungen – er lachte gerne und herzhaft.
Auch sein schlimmster Feind hätte sich nicht über ihn beschweren können, dass er irgendjemandem Informationen verweigern würde.
»Ich denke mal, meine Pferde haben eine gewisse Chance, also wette ich auch auf sie beide. ‚Tinpot’? Nun, gewiss, er kann gewinnen; Wunder geschehen immer wieder einmal und ich sollte nicht allzu überrascht sein, wenn er eine gute Show abliefert. Aber ich musste ihn letztens zurücknehmen, und als ich Montag mit ihm den Galopp probierte, konnte er es einfach nicht schaffen – und ich konnte ihn nicht dazu bringen, seine echte Leistung abzuliefern. Vielleicht läuft er besser, wenn er etwas selbstbewusster geworden ist, aber er ist und bleibt ein Pferd mit Stimmungsschwankungen. Wenn er nur endlich aus sich heraus ginge, dann würde er auch richtig loslegen.
‚Lampholder’ hingegen bedeutet das reine Glücksspiel, das je ein Zaumzeug gespürt hat. Ein Kämpfer! Er kann hier und überall starten.«
Auf welches Pferd würden Sie nach solch absolut ehrlichen und rückhaltlosen Informationen wetten, die gleichsam aus des Pferdes Maul, also direkt von der Quelle stammen?
‚Lampholder’, natürlich; und ‚Tinpot’ würde gewinnen. Selbst die bezahlten Stewards konnten ‚Lampholder’ nicht zum Sieg verhelfen, auch dann nicht, wenn sie hinter ihm herliefen und ihn anschoben. Und so etwas gehört selbstverständlich nicht zu ihren Aufgaben und Pflichten.
An einem Abend im März zog Mr. Bert Yardley sich zum Abendessen um und entdeckte beim Öffnen seines Koffers, dass seine wertvolle goldene Uhr fehlte. Er rief den Diener, der nichts anderes berichten konnte, als dass sie bei ihrer Abfahrt von Stotford nach Sandown Park noch vorhanden gewesen sei.
»Holen Sie die Polizei«, sagte Mr. Yardley und so kam Detektiv-Sergeant Challoner zu ihm.
Mr. Challoner hörte zu, machte sich ein paar Notizen, stellte einige wenige, sehr wenige Fragen an den Diener und klappte dann sein Notizbuch zu.
»Ich denke, ich kenne die Person«, sagte er und zum Diener gewandt: »Eine große Nase – da sind Sie sicher?«
Der Diener nickte heftig.
»Sehr gut«, sagte der Müller. »Ich werde mein Bestes tun, Mr. Yardley. Ich hoffe, ich werde ebenso Erfolg haben wie ‚Amboy’ im Lincoln Handicap.«
Mr. Yardley lächelte schwach. »Darüber reden wir später«, sagte er.
Der Müller stellte eine oder zwei Nachforschungen an und an diesem Abend kreuzte »Nosey« Boldin auf, dessen Lieblingsbeschäftigung darin bestand, als Telefoninspektor aufzutreten, und in dieser Funktion konnte er bereits viele erfolgreiche Erfahrungen sammeln. Auf dem Weg zum Bahnhof verschaffte sich »Nosey« – den Namen trug er seiner abnormen Nase wegen – Luft mit kräftigen und sehr bissigen Bemerkungen.
»Das kommt vom Wetten bei Pferderennen und auch, wenn man Educated Evans’ tödlichen Fünf-Pfund-Specials hinterher rennt! Lassen Sie sich das eine Warnung sein, Müller!«
»Nun hau mal nicht so auf die Pauke, bitte!«
»Ich habe ihm zehn Tipps bezahlt und einen einzigen Sieger bekommen und das fing mit 11 zu 10 an«, beharrte ‚Nosey’. »Männer wie der treiben andere Leute in das Verbrechen. Es sollte ein Gesetz geben, dass den fünften Verlust zum Verbrechen erklärt! Und nach der achten Niete sollte man ihn aufhängen! Das würde diese Kerle endlich stoppen!«
Der Müller sah zu, wie man seinen »Freund« anklagte und für die Nacht einbuchtete und ging nach Hause schlafen.
Und am nächsten Morgen, als er seine Wohnung zum Frühstück verließ, war Educated Evans die erste Person, die er zu Gesicht bekam. Der gebildete Mann schaute recht unglücklich und ängstlich drein.
»Guten Morgen, Mr. Challoner. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich mir die Freiheit nehme, aber ich hörte, dass einer meiner Kunden in Schwierigkeiten ist?«
»Wenn du Nosey meinst, liegst du richtig«, stimmte der Müller zu. »Und weiter, er macht deine Tipps für seine Probleme verantwortlich. Ich kann ihn sehr gut verstehen.«
Educated Evans gab ein Geräusch von sich, das seine Ungeduld ausdrücken sollte, machte ein hochnäsiges Gesicht und streckte seine Hand aus. »’Bolsho’«, sagte er einfach.
»Äh?« Der Müller runzelte argwöhnisch die Stirn. »Du gibst ‚Bolsho’ nicht als Tipp, oder?«
»Jeder meiner echten Kunden bekam ihn von mir: ‚Bolsho’ – keinerlei Befürchtungen«, sagte Evans betont ruhig. »Es folgt ‚Mothegg’ (10 zu 1, um eine Halslänge geschlagen, Pech gehabt), ‚Toffeetown’ (Dritter, 100 zu 8, richtig Pech gehabt), ‚Onesided’, (gewann, 7 zu 1, was für ein Prachtexemplar!), gefolgt von ‚Curds and Whey’, gewann, 11 zu 10 – für den Preis kann ich nichts). Ist das fair?«
»Die Frage ist«, sagte der Müller bedächtig, »hat ‚Nosey’ dein Garantieangebot, also dein berühmtes Special oder auch das Resultat deiner Mitternachtsträume gekauft?«
»Das«, antwortete Evans diplomatisch, »kann ich erst nach einem Blick in meine Bücher sagen. Der Punkt ist der: Wenn ‚Nosey’ eine Kaution braucht, ist dann bei mir alles in Ordnung? Ich will keinen Skandal, und Sie kennen den ’Nosey’. Er müsste eigentlich für ‚Shelfridges’* die Werbetrommel rühren oder Versicherungstricks in der ‚Daily Flail’* veröffentlichen.«
‚Noseys’ Hang zu Werbung und Reklame war dem Müller in der Tat wohl bekannt. Er hatte die Marotte, auch beim geringsten Anlass aus einer Maus einen Elefanten zu machen, und sich dabei in den Zeitungen einen Platz zu verschaffen, der sonst nur dem Parlament oder großen Mordfällen eingeräumt wird.
Es war ‚Nosey’, der mit seiner aufschreckenden Behauptung, Essiggurken würden eher zu Verbrechen verleiten als Bier, eine Pressekampagne lostrat, die Monate andauerte.
Als man denselben ‚Nosey’ wegen Hoteldiebstahls anklagte (sein Lieblingsfehltritt), verkündete er, dass Motorbusse die Ursache aller Verrücktheiten seien.
Wichtiger als seine häufigen Missgeschicke war ihm das Anliegen, für irgendjemand eine Vorstellung zu liefern.
Der Fall ‚Nosey’ wurde recht schnell abgehandelt. Lange bevor der Staatsanwalt seinen Beweisantrag beendet hatte, musste er feststellen, dass sein Schicksal besiegelt war.
»Ist über den Mann irgendetwas bekannt?«, fragte der Richter.
Ein Strafgefangener trat behände in den Zeugenstand und gab einen kurzen Abriss von ‚Noseys’ Leben, und ‚Nosey’, der das alles schon kannte, gab sich gelangweilt.
»Gibt es dazu irgendetwas zu sagen?«, fragte der Richter.
‚Nosey’ räusperte sich.
»Ich kann nur sagen, Euer Ehren, dass ich durch die skrupellosen Machenschaften der Tippgeber auf die schiefe Bahn des Diebstahls kam. Ich bin durch Tipps ruiniert worden, und wenn es eine Gerechtigkeit gibt, dann müsste neben mir noch ein anderer hier stehen.«
Im Hintergrund des Gerichtssaales wand sich Educated Evans wie ein Aal.
»Ich habe eine Frau«, fuhr ‚Nosey’ fort, »wie man sie nur einmal im Leben findet. Ich habe zwei liebe kleine Kinder und ich bitte Euer Ehren zu bedenken, wie ich wegen der Pferderennen und der Wetten und wegen dieses Tippgebers in Versuchung geriet.«
»Sechs Monate Zwangsarbeit«, sagte der Richter, ohne aufzuschauen.
Auf der Straße vor dem Gerichtsgebäude wartete Mr. Evans geduldig, bis der Müller erschien.
»’Nosey’ hat in seinem Leben niemals mehr als einen Shilling für die Wette auf ein Pferd gehabt«, sagte er bitter, »und er hat Schulden! Mir wird das Brot durch Verleumdungen und Verdrehungen vom Mund weg-genommen; glauben Sie, Mr. Challoner, das kommt alles in die Zeitung?«
»Bestimmt«, sagte der Müller erheitert und Educated Evans stöhnte auf.
»Dieser Mann ist schlimmer als Lucreature Burgia*, die berühmte Giftmischerin«, sagte er, »über die Shakespeare ein Stück geschrieben hat. Er ist eine wahre Schlange. Und glauben Sie doch nicht, ich hätte ihm den Tipp mit ‚Penwiper’ für das Manchester-Rennen im November gegeben! Ebenso wenig hat er mich jemals gefragt, ob ich vielleicht Geld brauche! Mr. Challoner, ich bitte Sie!«
Challoner drehte sich weg und gab es auf.
»Es war dieser Yardley, oder? Ich meine, der Trainer?«
Der Müller schaute ihn vorwurfsvoll an.
»Es kann sein, dass ich allmählich alt werde und mein Gedächtnis nachlässt«, sagte er, »aber ich meine mich zu erinnern, dass du mir letztens den Tipp mit ‚Tellmark’ gegeben hast; dabei erwähntest du, ein persönlicher Freund von Mr. Yardley zu sein. Und die Art und Weise, wie er darauf bestanden haben soll, dass du ihn an etlichen Wochenenden besuchst, nanntest du ein öffentliches Ärgernis.«
Educated Evans zuckte nicht einmal mit der Wimper.
»Das war sein Bruder«, sagte er.
»Dann muss er gelogen haben, als er mir sagte, er habe gar keinen Bruder«, erwiderte der Müller.
»Sie haben sich gestritten«, antwortete Educated Evans unbekümmert. »Tatsächlich hat keiner jemals den Namen des anderen in den Mund genommen. Sehr traurig, wenn Brüder sich streiten, Mr. Challoner. Ich habe mein Bestes versucht, sie wieder zu versöhnen – aber was soll’s! Über ‚Amboya’ hat er kein Wort verloren, stimmt’s?«
»Er sagte nichts, was ich dir erzählen könnte«, war die unbefriedigende Antwort; damit ließ er Evans zurück, sich Mittel und Wege zu überlegen, wie er mit dem Zauberer von Stotford näheren Kontakt aufnehmen könnte.
Was Publicity anging, wurden alle seine Befürchtungen wahr. Eine Abendzeitung titelte:
Durch Tippgeber ruiniert
Ein vormals erfolgreicher Kaufmann muss wegen Diebstahls ins Gefängnis.
Und ein Morgenblatt mag stellvertretend für den Rest der anderen Zeitungen erwähnt werden:
Tippgeber verantwortlich
Die Pest des Turf vernichtet ein Zuhause
Detective-Sergeant Challoneer sprach im Midland Hotel vor, wo er auf Mr. Yardley traf.
»Nein, danke sehr, Sir.« Der Müller blieb fest. Er vergaß nie, dass er als Schuljunge in dem Ruderboot saß, das gegen Eton gewonnen hatte. Auch sonst war er in mancherlei Beziehung etwas eigen.
Also steckte Mr. Yardley den vorbereiteten Fünfer wieder in seine Tasche.
»Ich setze einen Zehner auf alles, was mir gerade einfällt«, sagte er. »Übrigens, wer ist dieser Tippgeber- dieser Kerl, den der Gefangene meinte?«
Der Müller lächelte.
»Educated Evans«, sagte er und fügte eine Beschreibung hinzu. Mr. Yardley nickte.
Auf der Reise nach Lincoln übernachtete er in London und langweilte sich ein bisschen. Er hatte den ‚Racing Calendar’ gelesen, von der Rennliste des laufenden Jahres angefangen bis zur letzten Seite mit dem aktuellen Hindernisrennen. Er hatte geistig die überraschenden Qualitäten von Zuchthengsten verarbeitet, die für 48 und 1 Guineas (ca. 1000 Shilling = ca. 50 Pfund; d.Ü.) versorgt und gepflegt werden und die Liste der Vertragsstrafen von Aaron bis Znosberg hätte er fast schon auswendig hersagen können. Er sehnte sich sehr nach Abwechslung, als endlich ein Hotelpage ihm eine Visitenkarte brachte.
Es handelte sich um eine große Karte, geschmackvoll umbrämt mit pinkfarbenen und grünen Rosen. Hinter seinem goldenen Rand standen diese Worte gedruckt:
J. T. E V A N S
(besser bekannt als »Educated Evans«!)
In der Welt führender Turfratgeber und Renn-Experte
c/o Jockey Club, Newmarket, oder direkt:
81 Bayham Mews, S.W. 1
«Der Mann, der den Tipp für ‘Braxted’ gab!!
Was für ein Prachtexemplar!« siehe PRESSE
Mr. Yardley las den Text und blieb bei den Druckfehlern hängen.
»Page, bringen Sie den Gentleman hinauf«, sagte er.
So trat Educated Evans vor ihn, in würdiger Pose und vor allem entschlossen.
»Ich hoffe, Sie finden mein Geschäft wichtig genug, dass Sie mein Eindringen entschuldigen können.« Mit dieser Einleitung einzutreten hatte er sich vorgenommen.
»Nehmen Sie Platz, Mr. Evans«, sagte Yardley und Educated Evans legte seinen Hut unter den Stuhl und setzte sich.
»Ich denke viel über die Dinge nach in der Abgeschiedenheit meiner Höhle...«, begann Evans nach einem anfänglichen Hüsteln.
»So sind Sie auch noch ein Löwenbändiger?«, fragte der Zauberer von Stotford interessiert.
»Nun, mit dem Wort ‚Höhle’ oder ‚Bau’ meinte ich natürlich mein Arbeitszimmer«, sagte Evans würdevoll. »Um nicht wie die Katze um den heißen Brei zu laufen, wie ein bekanntes Sprichwort sagt, ich habe da von einem Coop gehört.«
»Ein – was?«
»Ein Coop«, sagte Evans
»Also ein Hühnerstall?«, fragte der Zauberer verwirrt.
»Es ist ein französisches Wort und bedeutet Betrug«, sagte Evans.
»Oh, ich verstehe. ‚Coup’ – es wird ‚Ku’ ausgesprochen, Mr. Evans.«
Educated Evans runzelte die Stirn.
»Das ist Jahre her, seit ich in Paris war«, sagte er; »und ich nehme an, dass sich die Bedeutung geändert hat. Es hieß doch immer coop, aber diese Franzosen murksen ständig mit den Wörtern herum.«
»Und wer ist nun mit diesem Betrug beschäftigt?« fragte der Trainer höflich, indem er die alte französische Bedeutung von ‚coup’ übernahm.
»Higgson.«
Educated Evans sprach das Wort absichtlich mit deutlicher Betonung aus. Hinter Higgson verbarg sich ein weiterer geheimnisvoller Trainer. Auch seine Pferde gewannen immer dann, wenn man es am wenigstens erwartete. Und nach einem solchen Sieg versammelten sich immer kleine Grüppchen von Leuten am Sattelplatz und fragten sich gegenseitig, wo die Stewards ihre Augen gehabt hatten und warum man Higgson nicht hinausgeworfen hatte.
»Sie interessieren mich«, sagte der Trainer von ‚Amboy’. »Meinen Sie, dass er mit ‚St. Kats’ gewinnen wird?«
Evans nickte mit noch größerem Nachdruck.
»Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen das zu sagen«, sagte er.
»Meine Informationen«, und mit diesen Worten dämpfte er seine Stimme zu einem Flüstern und blickte zur Tür, ob sie auch geschlossen war, »stammen von dem Jungen, der sich um dieses Pferd kümmert!«
»Du meine Güte!«, sagte Mr. Yardley.
»Ich habe überall meine Gewährsleute«, erzählte Evans geheimnisvoll. »Mein Mann in Stockbridge schickte mir heute Morgen einen Brief (den darf ich Ihnen nicht zeigen), über ein Pferd in diesem Rennen für Zweijährige. Es wird mit aufgestellten Ohren gewinnen.«
Mr. Yardley betrachtete ihn mit halb geschlossenen Augen.
»Mit gespitzten Ohren?«, wiederholte er, sichtlich beeindruckt. »Hat man auch seine Ohren trainiert? Außergewöhnlich! Aber warum sind Sie gekommen, mir etwas über Higgson’s Pferd zu erzählen?«
Educated Evans beugte sich vertraulich vor.
»Weil Sie mir so manchen Dienst erwiesen haben, Sir«, sagte er, »und jetzt möchte ich ein Gleiches tun. Ich habe die Informationen. Ich könnte meinen Mund halten und selbst Millionen verdienen. Ich habe 9000 Kunden, die mir die Wetten bezahlen – aber was bedeutet Geld?«
»Wie wahr«, murmelte Mr. Yardley mit einem Nicken.
»Vielen Dank, Mr. Evans. ‚St. Kats’, glaube ich, sagten Sie?
Nun werde ich mich für Ihre Freundlichkeit mit einem Tipp revanchieren.«
Educated Evans hielt den Atem an. Sein erstaunlich dreister Plan hatte funktioniert.
»Wechseln Sie Ihren Drucker«, sagte Mr. Yardley und erhob sich. »Er hat keine Ahnung von Rechtschreibung. Gute Nacht.«
Evans entfernte sich mit versteinerter Miene und tiefem Groll im Herzen.
Mr. Yardley lief die Treppe hinunter hinter ihm her, sah die armselige Gestalt um die Ecke biegen und so etwas wie Mitleid regte sich in ihm. Schon bald hatte er den gebildeten Mann eingeholt.
»Sie bestehen nur aus Bluff und Schwindel«, sagte er gutgelaunt. »Aber ich gebe Ihnen ein bisschen, ein kleines bisschen auf ‚Amboy’«.
Noch bevor Evans sich dem Wohltäter zu Füßen werfen konnte, war er gegangen.
Der folgende Tag fand einen sehr beschäftigten Educated Evans. Den ganzen Tag über drehte Miss Higgs, die berühmte Sekretärin von der Great College Street, ihren Roneo-Vervielfältiger; und mit jeder Umdrehung des Zylinders, untermalt durch ein Rattern und Klicken, spuckte er den leidenschaftlichen Appell aus, den Educated Evans an Jung und Alt seiner Kundschaft richtete. Er scheute sich nicht, die Wortwahl anderer Werbetexter zu kopieren.
Sie wollen die besten Sieger – ich habe sie!
Wetten Sie mit Evans! Eines Tages – warum nicht jetzt?
Ich habe den Sieger des Lincoln-Rennens!
Was für ein Prachtexemplar!
Was für ein schönes Pferd!
Was für ein schönes Pferd!
Vertraulich! Direkt vom Trainer!
Das ist der Coup der Saison. Bedienen Sie sich!
Niederlage unmöglich!
Dieser bewegende Appell erging an 840 Kunden (das Porto allein kostete schon 35 Shilling).
Am Nachmittag des Rennens schlenderte Educated Evans selbstbewusst bis zum Ende der Tottenham Court Road und wartete dort auf den »Star«. Als die Zeitung endlich geliefert wurde, öffnete er sie mit einem stillen Lächeln. Er lächelte auch noch, als er las.
Tenpenny, 1.
St. Kats, 2.
Ella Glass 3.
Alle Teilnehmer kamen ins Ziel.
‚Tenpenny? – Nie von dem gehört«, wiederholte er verwirrt und zog die Mittagsausgabe aus der Tasche. ‚Tenpenny’ war als zweifelhafter Kandidat markiert.
Er wurde trainiert von – Yardley.
Für einen Augenblick kamen seine Gefühle in Wallung.
»Dieser Mann gehört hinausgeworfen«, sagte er dumpf und schleppte sich auf wehen Füßen zurück zum Stallhof.
Am Morgen kam ein Brief aus Lincoln.
»Sehr geehrter Mr. Evans,
Was halten Sie von meinem Coop?
Mit freundlichen Grüßen, H. Yardley.
Ein angefügtes P.S. lautete:
Anbei noch ein Fünfer für Sie. Ihr Unternehmen hat ihn sich verdient.«
Evans öffnete vorsichtig den Scheck und schüttelte den Kopf.
»Im Grunde«, sagte er schließlich dem heimlich jubilierenden Müller, »können die Kunden nicht erwarten, dass sie jedes Mal gewinnen – ein Turfratgeber hat ein Anrecht auf seine eigenen Coops.«
‚Tenpenny’ startete mit 25 zu 1.
Kapitel 4: Der Spitzel
Samstagnacht in der High Street, Camden Town, die Lichter leuchteten und die Klingel der Straßenbahn hörte sich irgendwie traurig an. An beinahe jedem gasbeleuchteten Stand hielt sich eine Gruppe von trübseligen Zweiflern auf, wohl wissend, dass ein Einkäufer zu dieser späten Stunde nicht unbedingt positiv auf ihr Marktgeschrei reagiert.
An einer Straßenecke hörte eine dichtgedrängte Menschenmenge wie hypnotisiert einem winzigen, aber faszinierenden Redner zu. Bekleidet war er mit einem rotvioletten Rennjacket über einer voluminösen, aber recht eng gegürteten Reithose.
»...habe ich Ihnen nicht gesagt, dass ‚Benny Eyes’ nicht für das ‚City and Suburban Handicap’ taugt? Habe ich Ihnen nicht gesagt, nicht auf ‚Sommerband’ im ‚Metropolitan’ zu setzen? Habe ich Ihnen nicht letzte Woche an genau dieser Stelle gesagt, und ich bin gewillt, 1000 Pfund dem Temperance Hospital zu stiften, wenn es nicht so war, dass ‚Proud Alec’ auch nach einem Sturz noch das ‚Great Surrey Handicap’ gewinnen könnte? Habe ich nicht...«
Jemand aus der Zuhörerschaft drängte sich seufzend durch die Menge hinaus, stieß dabei gegen einen ruhig aussehenden, breitschultrigen Mann, der an einem Strohhalm kaute und intensiv zuhörte.
»Guten Abend, Mr. Challoner«, sagte Educated Evans.
»N’Abend, Evans,« sagte der Müller. »Sie wollen sich ein paar Tipps holen?«
Ein verächtliches, dennoch fasst mitleidiges Lächeln umspielte die Lippen des gebildeten Evans.
»Von dem?«, fragte er. »Kaufen Sie denn auch Kriminalromane, wie sie in der Zeitung stehen, um dadurch Ihre Polizeiarbeit zu erlernen? Nein, Mr. Challoner – ich stand dort als unparteiischer Beobachter, der die unteren Klassen studierte, mit ihren Begierden und ihrer Leichtgläubigkeit, die mich zu Tränen rührten. Ich würde Holley nie schlagen – ich kenne den Mann. Er nimmt meine Tipps auf und dann geht er hin und verkauft sie an die Leute. Ich beklage mich nicht, solange er nicht meinen Namen benutzt. Aber wenn er sich beim nächsten Mal öffentlich hinstellt und will Educated Evans’ Fünf-Pfund-Specials für vier Pence verkaufen, dann verklage ich ihn.«
Der Müller hatte sich bereits halb abgewendet, als nach einer Sekunde des Zögerns Educated Evans wieder an seiner Seite auftauchte. »Sie haben doch nichts dagegen, Mr. Challoner?«
»Nicht im geringsten, Evans. Wenn ich einen Bekannten treffe, kann ich ihm immer noch erzählen, ich nähme dich zur Wache mit.« Evans zuckte zusammen.
»Tut es deinem Herzen nicht wohl, all diese Leute um dich herum zu sehen, wie sie wieder auf die Beine kommen, wie jeder mit ehrlicher Arbeit sein Geld verdient?«
Evans schniefte. »Sie kennen Ihren eigenen Job am besten«, sagte er sybillinisch.
»Vielleicht sind sie nicht alle bodenständig mit Schwielen an den Händen«, gab der Müller zu; und dann kam ein vertrautes Gesicht in sein Blickfeld.
»Wenn meine Augen mich nicht im Stich lassen, dann sah ich da soeben den alten Solly Risk – wie lange ist der schon wieder draußen?«
Educated Evans wusste es nicht.
»Die Gewohnheiten der kriminellen Kreise«, sagte er, »sind für mich böhmische Dörfer, wie Sokrates schon zu Julius Cäsar sagte*, dem weltbekannten Italiener. Sie werden eingesperrt, kommen wieder raus, kein Mensch weiß es. Solly ist für mich so weit weg wie der berühmte afrikanische* Fluss, der Amazonas, von Stanley im Jahre 1743 entdeckt*. Aber man kann auch zu weit entfernt sein und ‚snouts’ sind nun einmal ‚snouts’...«
»Snouts?«, sagte der Müller, völlig verwirrt, »was ist denn ein snout?«
»Das ist ein Ausdruck, der in der unteren Klasse verwendet wird, und ich kann sehr gut verstehen, dass Sie ihn noch nie gehört haben«, sagte Evans höflich.
»Wenn du mit diesem vulgären Ausdruck eine Person meinst, welche die Polizei mit Informationen über kriminelle Aktivitäten versorgt«, sagte der Müller, der viel besser als Evans die Funktionen eines V-Mannes kannte, »dann muss ich dir sagen, dass man Solly nach klarer Beweislage eingesperrt hat. Bist du arg erkältet, Evans?«
Dies sagte er, weil Evans schon wieder schnaufen musste.
»Als Turfratgeber und Englands führende Autorität in Sportangelegenheiten«, sagte Evans, »bin ich vollauf mit mir selbst beschäftigt, ohne mich um anderer Leute Geschäfte kümmern zu können. Ich werde nichts sagen gegen Ginger Vennett...«
Der Müller hielt an und fixierte seinen Begleiter mit einem seltsamen Blick. »Schlage dir das aus dem Kopf, dass Ginger ein snout sein soll«, sagte er. »Er ist ein hart arbeitender junger Mann – arbeitet mehr als sein Vermieter.«
»Oder seine Vermieterin«, vermutete Evans und dieses Mal war sein Schnaufen furchtbar laut.
»Ich weiß nichts über seine Vermieterin, außer dass sie gut aussieht, hart arbeitet und eigentlich für Lee zu gut ist«, sagte der Müller und Educated Evans lachte dumpf.
»Genau wie Cleopatra, deren berühmte Nadel wir heute noch bewundern können«, sagte er. »Oder so wie Lewdcreature Burgia*, die berühmte Frau von Heinrich VIII.*, die ihn vergiften wollte, indem sie ihm kochendes Blei in das Ohr einflösste*. Oder wie B.(Bloody; d.Ü.) Mary, die die unschuldigen Prinzen in dem berühmten Tower von London ermordete* im Jahre...«
»Wir wollen jetzt nicht alte Geschichten aufrühren«, bat der Müller. »Hast du in letzter Zeit etwas von Lee gesehen? Man sagt mir, er sei wieder ins Pferdemetier eingestiegen?«
Das war eine tödliche Beleidigung, die er Educated Evans damit antat, und niemand wusste das besser als der Müller selbst. Er war tatsächlich dabei, Evans zum Schwatzen zu überreden!
»Sie überraschen mich, Mr. Challoner«, sagte Evans, zutiefst verletzt, und der Müller lachte und ging weiter.
Jedermann liebte »Modder« Lee – den man so nannte, weil er im betrunkenen Zustand die Angewohnheit hatte, die Schlacht am Modder-Fluss (an der er teilgenommen hatte) zu beschreiben. Dabei stellte er die Frontlinie dar, indem er seinen Finger in das nächstbeste Bierglas steckte und dann die Flusslinie auf die Theke malte. Er war ein guter Kerl, ein ruhiger, unauffälliger Bürger, ein mehr als treuer Ehemann und Vater zu der ganz schön zänkischen Xanthippe, die er in einem Augenblick geistiger Umnachtung geheiratet hatte.
Seine einzige Schwäche waren Pferdegeschirre. Der Anblick eines solchen Geschirrs setzte sein Blut in Wallung und ließ ihn allerhand ungesetzliche Dinge tun. Er hatte Karren gestohlen, war mit den Pferden davongegangen und hatte sie an Ort und Stelle genau vor der Nase ihrer Besitzer verkauft, aber das Geschirr war seine Spezialität.
»Es ist ein Hobby«, erzählte er seinem Untermieter, einem großen, gut aussehenden und hitzköpfigen jungen Mann, der für seinen Lebensunterhalt nichts weiter tat, als auf ein paar unsichere Pferde zu wetten und dem Buchmacher nachzulaufen. Er arbeitete normalerweise für eine Firma von Handelsagenten im West End, bis eines Tages unrentable Papiere auftauchten und man entdeckte, dass er auf telegraphischem Wege bei der ehrenwerten italienischen Gesellschaft schnelle Ergebnisse erzielte.
Er war einmal ein Kunde von Educated Evans gewesen; aber nach einem Streit, ob er einen Tipp (die Wette zu 5 sh.) erhalten hatte oder nicht, hatte Educated Evans ihn aus seiner Kundenliste gestrichen. Und dies gab Ginger Anlass zu großem Ärger, denn er setzte immer noch ein geradezu unnatürliches Vertrauen in die Voraussicht des gebildeten Mannes.
»Ich weiß mehr über Pferdegeschirre«, sagte Modder Lee stolz, »als irgendjemand anders in dem Metier. Ich kann die High Street entlanggehen und den Preis von jedem Set nennen, das ich finde, und ich wette, ich bin keine fünf Shilling davon entfernt.«
Eines Nachts brach man in den Stall von Holloway’s Versorgungslagern ein und danach fehlte ein Satz Pony-Geschirre. Zwei Nächte später kam ein dringender Anruf aus Lifton Mews. Ein Satz Gurtwerk für Kutschen, persönliches Eigentum von Lord Lifton, war verschwunden....
Der Müller stellte einige separate Nachforschungen an, traf (nach Absprache und in einer dunklen, kleinen Seitenstraße) einen bestimmten Herrn und stattete der Little Stibbington Street Nr. 930 noch um Mitternacht einen Besuch ab. Dies tat der Müller nicht, um sich nach Lee’s Gesundheit zu erkundigen, auch war es kein Freundschaftsbesuch im engsten Sinn des Wortes. Mrs. Lee war bereits im Bett und öffnete die Tür, bekleidet mit einem Hemd, einem Schal, einer Schürze und sie machte dazu ein sehr überraschtes Gesicht. Etwas später hörten sich ihre Beteuerungen und Schwüre wie die Sprache eines Psalmisten an – denn sie war vorgeblich eine echte und wahre Ehefrau.
»Und wenn ich niemals mehr von dieser Türschwelle wegkomme, Mr. Miller, und ich bin eine gottesfürchtige Frau, die schon viele Jahre zur Presbyter Kirche in der Stibbington Street geht, und wenn ich in dieser Minute tot umfalle, mein guter alter Mann hat wegen seines Rheumas dieses Haus seit drei Tagen nicht verlassen. Ohne zu lügen, er kann sich nicht aus dem Bett bewegen, und Sie wissen doch, Mr. Miller, ich habe Sie noch nie belogen, stimmt’s? Antworten Sie mir – ja oder nein?«
»Lassen Sie mich mit Modder reden«, antwortete der Müller geduldig.
»Der ist so krank, der würde Sie gar nicht erkennen, Mr. Miller«, blieb sie hartnäckig und erregt (bei der Nachbarschaft, die sicherlich zuhörte, wäre sie unten durch gewesen, hätte man ihr diese dem Augenblick angepasste Erregung nicht anmerken können). »Ich hab’ es schon tagelang nicht mehr geschafft, ihm seine Schuhe anzuziehen. Er ist im Delirium, so wahr Gott mein Richter ist! Er kennt niemanden und dazu kommt – er hat die Masern oder so was – und Sie mit Frau und Familie!«
»Ich habe die Masern schon gehabt, aber noch keine Frau oder Familie«, erwiderte der Müller gutmütig.
»Er wird Sie nicht erkennen.« Zögernd öffnete die Tür sich ein wenig.
»Vorsicht, wo Sie gehen – da steht ein Kinderwagen im Durchgang, und der junge Mieter von oben hat da immer etwas Wäsche zum Trocknen hängen...«
Nasse und halb getrocknete Hemden flatterten dem Detektiv durchs Gesicht, als er sich in dem schwachen Licht einer kleinen Öllampe seinen Weg zu dem Hinterzimmer bahnte.
Beim Eintreten hörte er ein tiefes Stöhnen. Und da lag Lee in seinem Bett, mit einem geistesabwesenden, wilden Blick.
»Er erkennt Sie nicht«, sagte Mrs. Lee und wischte sich mit ihrer Schürze das Gesicht ab. Wie zur Unterstützung ihrer Behauptung öffnete Modder den Mund und sprach mit schwacher Stimme. »Bist du es, liebe Mutter?«, stammelte er. »Oder sind es schon die Engel?«
»Das macht er schon seit Tagen so«, sagte Mrs. Lee mit großer Befriedigung.
»Ich höre so eine schöne Musik«, sagte der phantasierende Modder. »Es hört sich an wie eine Harfe!«
»Eine walisische Harfe«, sagte der Müller verächtlich. »Jetzt komm aus deiner Trance heraus, Lee, und folge mir auf die Wache – der Inspektor will mit dir reden.«
Mrs. Lee zitterte.
»Wollen Sie wirklich einen Sterbenden aus seinem Bett holen?«, fragte sie bitter. »Wollen Sie nachlesen, wie Sie im ‚John Bull’ bloßgestellt werden?«
»Gott bewahre!«, sagte der Müller und zog mit einer geschickten Handbewegung dem Invaliden die Bettdecke weg. Er war vollständig bekleidet, einschließlich der Stiefel, und zwischen seinen Hosenbeinen lag ein Satz Pferdegeschirr von unschätzbarem Wert.
»Das ist unsere Polizei«, sagte Lee und stand ohne fremde Hilfe auf. »Hier gibt es einen Spitzel in der Nachbarschaft«, sagte er leidenschaftslos. »Wenn ich den je finden sollte, reiße ich ihm die Leber raus. Und die Lunge«, fügte er hinzu, als er sich ganz kurz an solch wichtige Organe erinnerte.
Es war sein neunter Gesetzesverstoß und Lee wusste, dass er für einen Platz in jenem Landhaus in Devon nahe des Dart-Flusses und den Golfplätzen von Tavistock vorgemerkt war.
Nachdem sie ihre Position als wahre und treue Ehegefährtin verteidigt hatte, kehrte Mrs. Modder Lee zu dem ehrbaren Status der anständigen Frau zurück. Der Müller sah sie mit dem rothaarigen Untermieter aus einem Kino kommen und sie trippelte schüchtern auf ihn zu, mit einem Lächeln auf ihrem zweifellos attraktiven Gesicht. Der Müller sagte immer, wenn sie das Gespür hätte, im richtigen Moment den Mund zu halten, hätte man sie für eine Französin halten können. Er präzisierte seine Anschauung von einer Französin, aber die Beschreibung kann nicht in einem Buch gedruckt werden, das auch von Jugendlichen gelesen wird.
»Oh, Mr. Challoner, ich schulde Ihnen in der Tat noch eine Entschuldigung für all die unfreundlichen Dinge, die ich gesagt habe«, meinte sie mit ihrer affektierten Stimme; »aber eine Ehefrau muss zu ihrem Mann halten, wo kämen wir denn sonst hin, wenn ich so sagen darf?«
»Ist schon gut, Mrs. Lee«, lächelte der Müller und schaute zu ihrer Begleitung. »Wie ich sehe, kümmert sich Vennett um Sie.«
Mrs. Lee begann mit einer Lobeshymne. »Er ist ja immer schon so gut zu mir und den Kindern gewesen«, sagte sie. »Er hat ein bisschen Geld und hat auch nichts dagegen es auszugeben – Sie glauben ja gar nicht, wie gut er zu mir gewesen ist, Mr. Challoner!«
»Ich kann es mir vorstellen«, sagte der Müller.
Der Müller war ein Philosoph. Im Rahmen seiner beruflichen Möglichkeiten konnte er durchaus eine Situation verstehen, die ihn wahrhaftig krank machte, wenn er darüber nachdachte. Eines Morgens traf er Educated Evans an der Ecke Bayham Street und dieser gebildete Mann trug einen Ausdruck des Friedens und der Zufriedenheit zur Schau, der so gar nicht zu seinem Ruf als der Welt erster Turfratgeber passen wollte. Denn Educated Evans hatte seinen Kunden Tipps für drei Pferde geschickt, von denen zwei als Vierter und Fünfter und das dritte sogar als absolut letzter eingekommen waren; soweit des Müllers Informationsstand.
»Es hat keinen Zweck, mit mir zu reden, Mr. Challoner«, sagte Educated Evans bestimmt. »Meine Information besagte, dass ‚Rhineland’ auch im Rückwärtslaufen gewinnen konnte. Er wurde schlecht geritten, den Sportberichten nach, und meine eigene Meinung dazu ist, dass der Jockey überhaupt nichts versucht hat.«
»Wenn ‚Statesman’ nicht gewinnt...« begann der Müller drohend und Evans’ Gesicht verfärbte sich.
»Sie wetten doch nicht auf ‚Statesman’, oder?«
»Ich habe schon«, sagte der Müller und Evans stöhnte auf.
»Dann haben Sie Ihr Geld verloren«, erwiderte er resigniert.
Der Müller runzelte die Stirn.
»Ich traf Ginger Vennett und er sagte mir, du habest ihm den Tipp gegeben als den besten dieses Jahrhunderts; weiter hast du ihm gesagt, dass du den Tipp von seinem Besitzer habest und er, Ginger, solle jeden Farthing (¼-Penny; d.Ü.),den er auftreiben könnte, auf dieses Pferd setzen. Was steckt dahinter, Evans?«
»Dahinter steckt«, antwortete Evans betont und mit sehr bewegter Stimme, »dass ich diesen Spitzel dahin kriegen will, wo er hingehört – in die Gosse!«
Der Müller schnappte nach Luft.
»Du willst mir also sagen, dass du ihn eingewickelt hast.«
»Jawohl«, antwortete Evans wild. »Er hat seine gesamten Ersparnisse auf ‚Statesman’ gesetzt, der seit einem Monat keinen Galopp mehr hingekriegt hat. Wenn Sie nun mit ihm zusammen in der Falle sitzen, tut mir das sehr leid, Mr. Challoner; aber ich habe für Sie einen Tipp für Samstag, der nicht verlieren kann, es sei denn, man zieht ein Seil quer über die Strecke, um ihn zu Fall zu bringen.«
Der Müller rannte zum nächsten Telefon und rief Mr. Isaacheim an.
»Challoner spricht, Isaacheim«, sagte er. »Diese Wette, die Sie für ‚Statesman’ angenommen haben – ich denke, die wird annulliert.«
»In Ordnung, Mr. Challoner«, sagte Isaacheim verbindlich. »Ich selbst halte auch nicht viel von ihm: das Pferd ist einen Monat lang nicht mehr galoppiert und Educated Evans sagte mir...«
»Ich weiß, was der Ihnen erzählt hat«, sagte der Müller; »aber wir verstehen uns dahin, dass diese Wette vom Tisch ist.«
Am späten Nachmittag kaufte der Müller eine Abendzeitung und suchte dort die letzten Meldungen. Und das erste, was er sah: »Statesman« hatte gewonnen!
Als er später am Abend den Preis von 25 : 1 erfuhr, suchte er Educated Evans auf und fand einen traurigen Mann vor, der dem Weinen nahe war.
»Ich habe mein Bestes versucht. Es hat keinen Zweck, mit mir einen Streit anzufangen, Mr. Challoner«, sagte er.
»Ginger war soeben hier und gratulierte mir, erzählte aber nicht, dass er etwa vergessen hatte zu wetten, und das ist so ziemlich das Letzte, was ich ertragen kann. Das einzige, was ich Ihnen jetzt sagen kann, setzen Sie nicht auf ‚Blazing Heavens, in dem Rennen morgen um 14.30 Uhr. Weil ich den Tipp an Ginger gebe, und ich bat ihn, als Mann und Sportsmann, niemand davon zu erzählen und das letzte Hemd auf das Pferd zu setzen. Rache«, so fuhr er fort, »widerstrebt eigentlich meiner Natur. Aber ein Spitzel bleibt nun mal ein Spitzel, und wenn ich Ginger nicht fertigmache, dann bin ich ein ungebildeter Mensch – der ich selbstverständlich nicht bin«, fügte er bescheiden hinzu.
Seinen Instruktionen folgend, nahm der Müller davon Abstand, auf ‚Blazing Heavens’ zu wetten und unter keinen Umständen einen roten Heller in ein Pferd zu investieren, das um 21 Pfund schlechter dran war als »Lazy Loo«. Und »Blazing Heavens« gewann das Rennen. Sein Preis belief sich auf 100 zu 6. Ginger schickte einen Botenjungen mit einem Zehn-Shilling-Schein zu Educated Evans und bat gleichzeitig um dessen Fünf-Pfund-Special für den nächsten Tag.
Educated Evans saß bis tief in die Nacht, analysierte und prüfte das Programm des folgenden Tages und entdeckte endlich ein Rennpferd, das nicht nur 14 Pfund mehr zu tragen hatte. Vielmehr freute ihn, dass Sportreporter, die für gewöhnlich immer etwas Positives über jedes Pferd sagten, es mit der Zeile abtaten: »Er hat im Tilbury Verkaufsrennen keine Chance.«
Dazu sah er noch einen Absatz in der folgenden Morgenzeitung, wonach »Star of Sachem« – so lautete der hochtrabende Name für diesen pferdeähnlich behaarten Körper – zu Fuß zum Meeting geführt wurde, weil sein Besitzer meinte, er sei den Transport per Bahn nicht wert.
Ginger kam auf einen Besuch bei Evans vorbei; er trug eine neue Goldkette und zwei erstklassige, diamantenähnliche Ringe, einen neuen Hut und eine neue Krawatte in schreienden Farben.
»Morgen, Evans«, sagte er munter beim Eintreten. »Ich dachte, ich komme Sie mal besuchen. Ich und mein Schatz fahren an die See wie jedes Jahr.« »Ha-ha«, machte Evans.
«Sie haben mir einen richtigen Gefallen getan, alter Junge.« Der Spitzel legte seine große Hand sanft auf Evans’ Schulter. »Aber ich hätte es gerne noch etwas besser. Geben Sie mir einen hundertprozentigen Tipp, ich setze dann jedes Pfund, das ich habe, und Sie sind mit einem Fünfer dabei. Ist das fair?«
»Das ist fair«, sagte Evans, innerlich etwas Hoffnung schöpfend.
»Wenn wir gewinnen, kaufe ich mir ein kleines Gasthaus in Kensington«, sagte Ginger. »Mein Schatz lässt sich von ihrem Mann wegen seelischer Grausamkeit und böswilligem Verlassen scheiden; außerdem hat er etwas mit dem Mädchen in dem Süßwarenladen; die beiden Kinder kommen in ein Heim und das war’s dann. Sie sehen also, Evans, Sie tragen ein bisschen Verantwortung mit.«
»So ist es«, sagte Evans tapfer; »als Mann mit großer und langer Erfahrung stimme ich zu und in der Sprache des Lord Wellington bei der Schlacht von Waterloo tue ich nur meine Pflicht – ‚Star of Sachem’«, sagte er langsam, bedächtig und mit angemessener Betonung, »kann heute Nachmittag im Tilbury Handicap nicht geschlagen werden. Wenn man dieses Pferd mit der Axt erschlagen wollte, könnte es immer noch schneller kriechen als andere rennen. Ich habe den Tipp von dem Pfleger, der sich um ihn kümmert. Man hat ihn mit der Stoppuhr getestet und er ist trotz 21 Pfund besser als ‚Ormonde’. Er ist auf die Meile gesehen ein klein wenig schneller und er hält durch. Wenn Sie nichts dagegen haben, nehme ich die fünf Pfund als Vorschuss, weil ich einen verlässlichen Buchmacher kenne und Sie würden vielleicht ihren Gewinn nicht ausgezahlt bekommen.«
Mr. Vennett handelte ihn bis auf drei Pfund zehn Shilling herunter; und so wundersam es schien, ‚Star of Sachem’ riss aus dem Feld aus und gewann mit drei Längen. Gestartet war er mit 20 zu 1.
Im dritten Rennen setzte Educated Evans seinen Fünfer. Er hatte ihn von einem Mann erhalten, der den Eigentümer eines Gasthauses kannte, wo der Besitzer stets sein Mittagessen einnahm, das ihm grundsätzlich in einem Humpen serviert wurde. Es ging auf das Wochenende zu, als Mrs. Lee bei der Polizeiwache vorsprach und das Glück hatte, den Müller beim Verlassen des Gebäudes anzutreffen. Ihre Augen waren rot unterlaufen und sie zitterte in echter Entrüstung.
»Dieser Kerl, Ginger Vennett«, begann sie ohne Einleitung, »ist mit dem Mädchen aus dem Süßwarenladen durchgebrannt und ich will, dass er geschnappt wird, weil er für sie meinen Ehering geklaut hat. Von allen schmutzigen, verlogenen, falschen, meineidigen Hunden ist er der schlimmste! Er ist ein Zinker, ein Spitzel – Müller, Sie wissen das! Hat er mir nicht erzählt, er habe Modder verzinkt? Ich darf nicht daran denken, dass ich sozusagen eine Viper an meinem Busen genährt habe – wenn Sie diesen Ausdruck entschuldigen wollen; aber jetzt ist nicht die Zeit für falsche Bescheidenheit! Dieser Gedanke daran, was ich alles für diesen Mann getan habe, wie ich ihm mein eigenes Zimmer überlassen habe, ihm das beste Essen gegeben habe, wenn er pleite war. Und mein armer, lieber Ehemann im Devon-Moor, dem es wegen seiner lieben armen Frau und der lieben unschuldigen Kinder das Herz zerreißt...«
Die wenigen Worte, die der Müller einflechten konnte, führten lediglich dazu, dass Mrs. Lee jetzt erst recht an den Rand der Hysterie geriet. Educated Evans war in keineswegs besserer Verfassung, als der Müller ihn traf.
»Man sagt, er hat 2.200 Pfund von Isaacheim bekommen«, sagte Educated Evans mit zitternder Stimme. »2.200 – du lieber Himmel! Und ich gab ihm den Tipp! Alles, was ich zurückbekam, waren vier Pfund und zehn Shilling davon waren auch noch falsch! Ich bekam heute Morgen von ihm ein Kabel aus Margate und er will wissen, wer den Brighton Cup gewinnen kann.«
»Und ich wage es nicht, ihm den Tipp zu schicken, Mr. Challoner«, sagte er ernst; »ich wage es einfach nicht aus Angst, das verdammte Biest könnte gewinnen! Es gibt da ein Pferd, das würde einen Herzkollaps kriegen, wann das Rennen zu schnell wird; aber wenn ich den Tipp an Ginger schicke, gewinnt es das Rennen ganz allein!«
»Versuch es trotzdem«, sagte der Müller eindringlich. »Diese Frau sagt, er glaubt dermaßen fest an dich, dass er alles tut, was du ihm sagst.«
Also schrieb Evans ein Kabel mit dem Text:
Little Sambo ist im Brighton Cup absolut unschlagbar. Beachten Sie keine anderen Notizen auf dem Markt. Keine Angst; machen Sie Ihr Glück und vergessen Sie Ihren alten Kumpel nicht, Educated Evans.
Um drei Uhr nachmittags, als die Ergebnisse eintrafen, standen der Müller und Evans Seite an Seite an der Ecke der Tottenham Court Road – mitten in des Müllers Zuständigkeits-bereich. Zwei Zeitungsjungen kamen gleichzeitig, Evans schnappte sich den ersten und öffnete in fieberhafter Eile die Zeitung – ‚Little Sambo’ war nicht platziert!
»Erwischt!«, trompetete Evans triumphierend.
Der Müller schaute in seine Zeitung. Er las die ‚Evening News’, Evans hatte den ‚Star’.
»Was meinst du mit erwischt?«, fauchte der Müller und las:
»Alle Teilnehmer waren am Start, außer ‚Little Sambo!’«
Kapitel 5: Mr. Kirz kauft ein Fünf-Pfund-Special
In der innersten Westentasche, zweifach zugeknöpft, verwahrte Mr. Jan Kirz eine Fünf-Pfund-Note.
Später ging er etwas sorgloser damit um und trug sie zusammengefaltet in der äußeren Tasche derselben Weste. Er wäre gut beraten gewesen, den Schein zu verbrennen, da einige der schottischen Buchmacher das Wettgeld ihrer Kunden zu verbrennen pflegen, wenn die Pferde, auf die sie gesetzt hatten, einen großen Preis gewannen. Aber er war knauserig und der Anblick eines verbrennenden Fünfers hätte ihm das Herz gebrochen.
Mr. Jan Kirz war zu seiner Zeit gleichzeitig Amerikaner, Holländer, Schweizer und Russe. Sein Geburtsort war nicht bekannt; aber es stimmte, dass er während des Krieges viele Monate im Alexandra Palace gewohnt hatte, als die Behörden endlich das Geheimnis seiner Herkunft herausfanden. Am Ende wurde er entdeckt und dazu verdonnert, sich in regelmäßigen Abständen bei der nächsten Polizeiwache zu melden.
Während dieser konfliktreichen Zeit wurde fast jede Woche berichtet, dass man ihn im Tower erschossen habe. Einem Fischhändler in der High Street, der wegen seiner sportlichen Verbindungen mit bestimmten Größen im West End auf du und du stand, hatte man (ein Stellvertreter des Kommandeurs der Militärpolizei) eine Patronenhülse mit eingraviertem »Kirz« gezeigt. Als nun Mr. Kirz nach Camden Town kam und keinerlei Anzeichen einer Exekution vorweisen konnte, machte sich allenthalben große Enttäuschung breit.
Immer schon ein reicher Mann, der Besitzer eines schönen Hauses in Mornington Gardens dazu, häufte er mit den Jahren weiteren Reichtum an und war einer der treuesten, gleichzeitig aber auch unzuverlässigsten Kunden des Educated Evans.
Denn eine eigenartige Fügung des Schicksals wollte es so, dass er immer nur auf die Verlierer setzte, die der gebildete Mann ihm als Tipp schickte.
»Ah, mein armer Effens«, meinte Mr. Kirz sorgenvoll, als er den gebildeten Mann einmal traf – Evans hatte sich an der Ecke von Mornington Gardens so aufgestellt, dass man ihn nicht verpassen konnte – »Sie gaben mir den Tipp mit ‚Colly Eyes’ und ich habe es nicht geschafft! Fünf Minuten vor dem Rennen hatte ich noch daran gedacht und es dann glatt vergessen! Ach! Das ist verdammtes Pech! Und danach setzte ich auf zwei von Ihren Verlierern!«
Evans war natürlich leicht verärgert darüber, denn er hatte mit Mr. Kirz eine Vereinbarung getroffen, wonach er ein Pfund von jeder Wette seines Gönners für sich halten durfte.
»Ich will nicht so weit gehen und sagen, dass es eigenes Versäumnis Ihrerseits ist, um einen geläufigen Ausdruck zu verwenden, Mr. Kirz«, sagte er, »aber ich muss auch leben. Und meine Informanten kosten Geld. Ich bekam diesen Tipp von dem Jungen, der ihn versorgt, und das kostet mich eine Stange Geld. Ich habe mein Büro zu unterhalten, habe Werbekosten und dies und jenes...«
»Mein armer Effens!«, sprach Mr. Kirz mitfühlend, ein dicker Mann mit kurzem Haarschnitt und einer starken Neigung zu Asthma, »das ist ja schrecklich! Aber beim nächsten Mal, wenn Sie mir einen Tipp geben, können Sie zwei Pfund von der Wette behalten!«
Und Evans hatte sich zu bescheiden.
Mr. Kirz war Drucker und Schreibwarenhändler von Beruf. Sein Laden war bekannt als »Die preiswerte Old England Druckerei«, womit er in Sachen Sport ein beachtliches Geschäft betrieb, obwohl man seinen Geschäftsstempel nur sehr selten auf seinen Druckerzeugnissen finden konnte. Hamburger und andere Philanthropen aus dem Ausland, welche eifrig bestrebt waren, die britische Öffentlichkeit in einem unglaublichen Ausmaß zu fördern, fanden in ihm einen willfährigen Helfer. Er spezialisierte sich auf Lotterie-Anzeigen und betrügerische Pferdelotterien nebst anderen Dokumenten illegaler Natur und Herkunft.
Jedermann in Camden Town wusste dies ebenso wie auch die Polizei, die in seiner »Old England Druckerei« überraschende Razzien durchführte. Aber zwischen zwei Maschinen, die er zum Drucken benötigte, gab es eine quadratische Öffnung in der Wand, die jeder als einen kleinen Service-Aufzug ansah. Und beim ersten Anzeichen von Ärger, der auf ihn zukam, wurde jedes bedruckte Stück Papier samt seiner Mater in diese Öffnung geworfen und fiel bis zum Keller durch. Dort wartete ein großer Ofen, der Sommer wie Winter zur Warmwasserbereitung unter Dampf gehalten wurde.
Und darüber war die Polizei nicht informiert –tatsächlich wusste es wirklich niemand bis auf drei Schriftsetzer, deren Namen alle auf«ski« endeten (Mr. Kirz produzierte eine russische Zeitung) und drei weitere Buchdrucker, deren Namen seltsamerweise auf »heim« endeten. Und so wurde Mr. Kirz ein reicher Mann, denn zusätzlich hatte er noch einen einträglichen Nebenerwerb:
Eines Morgens meldete sich der Müller bei Mr. Kirz in dessen hübscher und palastähnlicher Residenz, und da er kein Freund vieler Worte war, kam er auch sofort zur Sache.
»Mir Kirz, Sie haben doch des Öfteren Kontakt zu all diesen hinterlistigen Barbaren in London; wer macht eigentlich all dieses Falschgeld?«
Er benutzte den amerikanischen Ausdruck für »Falschmünzerei«, weil Mr. Kirz ursprünglich aus den Vereinigten Staaten kam.
»Falschmünzerei ist ganz schlecht.« Mr. Kirz schüttelte in ernster Besorgnis den Kopf. »Das ist eines der schrecklichsten Dinge, die ein Mensch tun kann. Es nagt an den Wurzeln des gegenseitigen kommerziellen Vertrauens«.
»Wir wollen hier nicht die hohe Finanzpolitik diskutieren«, beschwor der Müller. »Wo kommt das Ganze her? Sie sollten es eigentlich wissen; Sie fabrizieren mehr Fälschungen als jeder andere und haben jede Menge Dreck am Stecken. Der dänische Lotterieprospekt war Ihre letzte Unternehmung. Nun kommen Sie schon raus damit, Kirz! Wer ist der nette Herr, der überall Fünfer Noten mit der Nummer B/70 92533 verteilt?«
»Das weiß der liebe Gott«, sagte Mr. Kirz. »Ich hatte schon öfter den Gedanken, dass Educated Evans so was macht – er hat doch so einen ruhigen Platz in Bayham Mews, nicht? Er geht zum Rennplatz, wo man leicht Geld wechseln...«
»Educated Evans ist nicht der Typ für solche Dinge«, sagte der Müller ruhig; »es muss einer aus dem West End sein. Ist es Podulski?« Er nannte nacheinander verschiedene aus Mr. Kirz’ Bekanntenkreis und jedes Mal schüttelte sein stämmiger Gesprächspartner den Kopf.
»Wenn ich etwas weiß, sage ich Ihnen Bescheid«, meinte er. »Ich würde meine Hände nie mit solchen Schlechtigkeiten besudeln. Und was die Kopenhagen-Lotterie betrifft, damit habe ich nichts zu tun. Sie können mich tags oder auch nachts besuchen kommen. Es ist geradezu skandalös, wie man mich verleumdet.«
Der Müller hatte sich in dieser Gegend keinen großen Erfolg versprochen, obwohl er sicher war, dass Kirz ihm einen Hinweis hätte geben können, da er die gesamte, nicht englisch sprechende Unterwelt kannte.
Absolut diskret, wie er war, verriet der Müller nichts an Evans, dass dessen guter Name auch unter Verdacht gestanden hatte.
Der Müller war mit seinen Problemen nicht allein. Der stellvertretende Polizeichef, etliche Abteilungsleiter teilten sein Unglück mit ihm und die allgemeine Unruhe verbreitete sich auch bis in die Polizeireviere von Whitehall. Es waren noch nie bessere Fälschungen als dieser Schwung von Fünf-Pfund-Noten in Umlauf gekommen und lediglich der Umstand, dass sie alle dieselbe Nummer trugen, ermöglichte ihre Entdeckung.
Das Papier war perfekt, das Wasserzeichen mit seinen versteckten Abtönungen, alles war exakt kopiert worden. Die Blüten fühlten sich gut an, sahen gut aus und waren nicht nur auf dem Kontinent, sondern auch in London selbst verbreitet worden. Es gab keinen Buchmacher, der nicht pro Woche zwei oder drei von diesen Scheinen annahm. Sie wurden an den Banken gewechselt, auf Bahnhöfen, in Theatern, sogar an Postämtern, wo sich der Anbieter einer Fünf-Pfund-Note stets einem gewissen Verdacht ausgesetzt sah.
In solchen kritischen Augenblicken schickt der Innenminister nach dem Polizeichef und sagt: »Das ist eine ernste Angelegenheit«, und deutet an, dass die ganze Verantwortung nun beim Polizeichef liege. Und diese Persönlichkeit reicht den Schwarzen Peter weiter, bis er schließlich bei ziemlich unwichtigen Kriminalbeamten landet.
So kam er auch recht schnell zu Sergeant Challoner, denn die Blüten waren in Camden Town häufiger aufgetaucht als anderswo.
An jenem Abend war er auf der Suche nach dem »In der Welt führenden Turfratgeber und Propheten«.
Der Himmel im Westen war getaucht in Nilgrün und weichem Rosa und Educated Evans lehnte entspannt mit verschränkten Armen über einem steinernen Brückengeländer, das Kinn auf den Ellbogen gelegt, und genoss den herrlichen Sonnenuntergang. Die Themse oder auch das Albert Embankment zogen ihn an wie ein Magnet die Feilspäne.
Das unbestimmte Gefühl von Unbehaglichkeit, das die zarte Seele eines Genius durchaus zu stören imstande ist, wurde abgemildert bis hin zu einer träumerischen Sehnsucht, die dunklen Gedanken, die Männer mit Schöpfergeist befallen können, wurden von der heiteren Gelassenheit des Augenblicks in alle Winde zerstreut.
Tag für Tag, wenn die Geschäfte nicht so gut liefen oder das Glück all seinen Anstrengungen nur den Rücken zeigte und seine unerklärlichen Fehltipps sein Gemüt am allermeisten verletzt hatten, dann lenkte dieser gebildete Mann instinktiv seine Schritte hin zu dem Trost spendenden, stahlgrauen Fluss, wo er die braun-graue Silhouette Londons sehen konnte. Und hier stand er dann und träumte und beobachtete mit Augen, die nur den Trost sahen, nicht aber den ewig-ruhelosen Verkehr auf dem Fluss.
Wenn es seine beruflichen Verpflichtungen erlaubten, kapselte Sergeant Challoner sich von seinem eigentlichen Metier ab und erfreute sich an einem zweifachen Vergnügen. Denn hier konnte er seinen ästhetischen Sehnsüchten frönen und die Gesellschaft eines Mannes genießen, der auf Grund seiner Gelehrsamkeit und intimen Bekanntschaft mit Vollblütern von der Holloway Road bis hinüber zur Albany Street hohes Ansehen genoss. Es war manchmal von unschätzbarem Wert für ihn zu wissen, dass er Evans zu bestimmten Zeiten an einem bestimmten Ort finden konnte.
Educated Evans sah aus den Augenwinkeln die breitschultrige Gestalt näher kommen, rührte sich jedoch nicht.
»Verfasst du gerade ein Gedicht, Evans?«, sagte der Müller und lehnte sich neben ihn an das Geländer.
»Nein, Mr. Challoner; die Dichtkunst war nie mein Metier – glauben Sie an göttliche Fügung, wenn Sie den Ausdruck gestatten?«
Der Müller war überrascht.
»Ja, ich glaube an göttliche Fügung. Warum fragst du?«
»Schon drei Abende in Folge«, sagte Evans verträumt, »gibt es da einen Tipp am Himmel. Schauen Sie mal! Rosa und grüne Streifen – ‚Solly Joel’ hat zwei im Jubilee-Rennen, und die Frage ist jetzt, welcher? Letzten Monat, als ich an genau dieser Stelle hier stand, sah ich eine schwarze Wolke und eine weiße genau darüber. Und Lord Derby gewann den Liverpool Cup. Ein anderes Mal war es nur gelb und rosa und Lord Rosebery’s Pferd gewann in Warwick. Wenn das keine Winke des Schicksals sind...!«
Der Müller zeigte sich mehr als überrascht – er war sprachlos.
»Ich kann mir einfach nichts Unwahrscheinlicheres vorstellen«, protestierte er, »als dass die Vorsehung ausgerechnet den Sonnenuntergang zugunsten eurer schmutzigen Wettgeschäfte gestaltet.«
Evans schüttelte den Kopf.
»Das weiß man nie«, sagte er. »Es gibt noch viele ungeahnte Dinge in Ihrer Theosophy, wie schon Horatio Bottomley sagte – ich frage mich, wie es dem alten Knaben gehen mag?
Was für ein Kerl! Beschleicht Sie nicht ein feierliches Gefühl, Müller, wenn Sie den Flusslauf beobachten, auf seinem Weg zur See? Stets weiter fließend bis Russland und Arabien und andere fremde Orte, bis er den Golfstrom bildet, der für Sommer und Winter verantwortlich ist. Wie er die Schiffe trägt, die hierhin und dorthin fahren...«
»Hast du getrunken?«, fragte der Müller argwöhnisch.
»Ich könnte ein Glas Bier gar nicht mehr erkennen«, sagte Educated Evans, »es ist schon lange her, seit ich eines gesehen habe. Nein, ich befasse mich mit Hypothesen und Vermutungen. Wer gewann das 15.30 Uhr-Rennen, Mr. Challoner?«
»’Coleborn’«, erwiderte der Müller und Evans seufzte tief und erleichtert auf.
»Das ist schon das zweite Pferd, das ich diese Woche empfohlen habe«, sagte er beinahe fröhlich. »Ich habe einfach nicht gewagt, in die Zeitung zu sehen. Irgendein Preisgeld?«
»Fünf zu zwei«, sagte der Müller. »Ich habe drauf gesetzt.«
Auf Educated Evans’ Gesicht machte sich ein Ausdruck von Frieden und Ruhe breit.
»Was für ein Prachtexemplar!«, murmelte er.
»Da wird es morgen aber traurige Gesichter in der Synagoge geben. Fünf zu zwei. Und ich habe den Tipp über meine Fünf-Pfund-Specials an 143 Kunden geschickt!«
»Wie viele?«
»43 – und alles zahlende Kunden! Bei zehn bin ich mir jedenfalls sicher. Neun, wenn ich Kirz nicht mitzähle; wenn er mich noch einmal unter Druck setzt, fliegt er endgültig aus meiner Liste!«
»Weißt du irgendetwas über Kirz?«, fragte der Müller beiläufig, während er einen Schlepper so scharf fixierte, dass niemand irgendein Interesse an der Antwort vermuten konnte. »Was ist das für ein Mann?«
Evans rümpfte die Nase.
»Es kommt darauf an, ob er etwas Ehrenwertes tut«, sagte er vorsichtig, »ob er also ein gebildeter amerikanischer Gentleman ist oder ein schmutziger Barbar, wenn Sie mir das vulgäre Wort gestatten.«
»Er amüsiert sich ein bisschen im Stillen mit seltsamem Drucken, stimmt’s?«, fragte der Müller und beobachtete immer noch den Schleppdampfer.
»Ich weiß nicht mehr über anderer Leute Geschäfte als über mein eigenes«, sagte Educated Evans mit Betonung. »Wie Looy der 15.* zum Schwarzen Prinzen gesagt haben soll, der übrigens so genannt wurde, weil er als Lord gesagt hat, er schwöre, sich erst dann wieder den Hals zu waschen, wenn Gibraltar endgültig eingenommen sei: ‚Honny swar, sagte er, ‚key mally pence’* (Honi soit qui mal y pense; d. Ü.) – was bedeutet, dass du deine Nase nicht ungefragt irgendwo reinsteckst, damit sie nicht eingeschlagen wird. Wonach, gemäß Pressebehauptungen, er niemals mehr lächelte. Das ist Geschichte.«
»Für mich hört es sich mehr nach ‚Comic Cuts’ an«, sagte der Müller. (Comic Cuts: beliebtes Comic-Buch ab 1893; d.Ü.).
«Und es beantwortet meine Frage nicht. Was hältst du von ihm?«
»Das sage ich Ihnen heute Abend«, sagte Educated Evans vielsagend.
Am Abend zog er seine beste Krawatte aus seinem Schuhkarton, (in dem er seine wertvollsten Preziosen verwahrte, wie zum Beispiel eine Zigarettenkippe, die der Prince of Wales weggeworfen hatte und einen Rennpokal des allmächtigen Bart Snowball) und begab sich eilends zur Mornington Gardens. Mr. Kirz war nicht zuhause. Niemand konnte ihm sagen, wann er zurückkommen würde. Niemand wusste, wo er war. Rumms! Die Tür wurde ihm vor der Nase zugeknallt.
»Sklavenschinder!«, sagte Educated Evans und strebte der Stadt zu.
Mr. Kirz war nicht im »Arts and Graces Club«, ebenso wenig im prächtigen Privatsalon des »White Hart«, auch nicht in der Lounge des »Blue Boar«. Der hartnäckige Fahnder wandte sich in den Westen der Stadt und traf rein zufällig auf Mr. Kirz, der soeben das »Empire« verließ. Der trug festliche Kleidung, mit weißglänzender Hemdbrust und einem seidenen, ebenfalls glänzenden Hut.
»Ah! Meine arrrme Effens!«, begann er.
»Hat sich was mit ‚armer Effens’«, knurrte Evans wütend.
»Sie haben den Tipp am Telefon durchgegeben, als ich noch bei Ihnen war und sofern Isaachheim nicht tot ist, sind Sie dran!«
Mr. Kirz war peinlich berührt; in seiner Begleitung waren zwei weitere Herren und im Hintergrund hielt sich eine Dame auf, in rotem Samt gekleidet, die dermaßen stark glitzerte und glänzte, als sei sie einen Diamanthügel hinabgerutscht und viele der Steine seien hängen geblieben.
»Morrrgen, morrrgen, mein lieber Effens«, flüsterte Mr. Kirz ihm zu. »Ich kann nicht reden über Geschäfte jetzt.«
»Sie schulden mir fünf Pfund«, sagte Evans laut. »Sie haben mich wochenlang an der Nase herumgeführt und auf Trab gehalten und jetzt sind Sie aus meiner Liste gestrichen! Zahlen Sie endlich, was Sie mir schulden, Sie verdammter Hunne oder Sie werden mich nie mehr los!«
»Mein lieberrr gutter Mann...«, begann Mr. Kirz und hob schützend seine Hände vor diesem unerwünschten öffentlichen Aufsehen.
»Und fangen Sie jetzt nicht an, mit mir zu kumpeln, das führt zu nichts. Sie sind schlimmer als Shylock* Holmes, jawohl. Bezahlen – Sie – endlich – was – Sie – mir – schulden!«
Mr. Kirz durchsuchte mit zitternden Händen, hochrot im Gesicht, seine Taschen.
»Da – nämmen Sie!«, zischte er. »Und lassen Sie niemals Ihrre hässliche Gesicht noch einmal blicken! Und Ihrrre Tipps – Sie sind alle hundsmiserrrabel!«
Evans erging sich noch in Beleidigungen, als sein Kunde längst außer Hörweite war, und er hätte noch weiter gemacht, wenn nicht ein Polizist erschienen wäre.
»Schwirr ab!«, sagte der Mann in Blau. Evans entfernte sich.
Er fühlte sich glücklich und strebte hoch erhobenen Hauptes seiner Wohnung zu, war so stolz und in einer solch überheblichen Stimmung, dass er beinahe am Müller vorbeigegangen war, ohne ihn zu bemerken.
»Komm mal auf die Erde zurück, wenn’s recht ist!«, sagte der Müller. »Was ist denn los?«
Evans drehte sich um.
»Ich habe es diesem billigen Ausländer gezeigt«, sagte Evans.
»Und was hast du ihm gezeigt, Evans?«
»Fünf mal ein Pfund.« Evans zog eine zerknitterte Fünf-Pfund-Note hervor. »Es sieht ein bisschen dämlich aus, wenn du auf die Knie gehen musst, um dein Eigentum zu fordern!«, sagte er. »Und daran zu denken, dass ich meine Beziehungen auch noch zu seinen Gunsten eingesetzt habe.«
»Ich kann mich nicht daran erinnern, dich bei der Somme gesehen zu haben«, sagte der Müller, (der dort gewesen war), »oder mit dir bei Toc H. einen getrunken zu haben.«
(Toc H: Talbot House, Poperinge, Belgien, 1. WK; d.Ü.)
»Ich war ein Hilfspolizist«, sagte Evans würdevoll und diese Antwort zauberte ein gezwungenes Lächeln in das Gesicht des Müllers.
»Zeig mir mal den Fünfer«, bat er plötzlich, und nach einer Sekunde des Zögerns händigte Evans sie ihm aus.
»Es gibt keinen zweiten Polizisten auf der Welt, dem ich in Geldangelegenheiten traue«, stieß er hervor.
Der Müller schaute sich den Schein an und pfiff leise.
»Niete!«, sagte er und ein kalter Schauer lief Evans über den Rücken.
»Das meinen Sie nicht wirklich?«, stammelte er.
»Oh ja, – schau dir nur die Nummer an: B/70 92533 – diese Nummer steht auf allen Blüten, die es auf dem Markt gibt. Die möchte ich behalten...«
»Die können Sie behalten!«, schnaubte Evans wütend. »Leide ich etwa unter mangelnder Bildung und Selbstachtung? Diesen Helden namens Kirz werde ich aufsuchen und dann reiße ich ihm sein Herz aus der Brust!«
»Gerede, nichts als Gerede!«, murmelte der Müller.
»Ich werde von Deutschland Entschädigungen erhalten«, sagte Evans ein wenig ruhiger, »selbst wenn ich seine Taschen persönlich durchsuchen muss, so wie auch der berühmte Lloyd George gesagt hat. Ich werde...«
»Du wirst gar nichts tun. Gib mir diesen Schein. Du bekommst ihn wieder zurück.«
»Den will ich gar nicht zurück haben«, jammerte Evans. »Ich will echtes Geld!«
Es bedurfte langen Zuredens, bis er endlich gehen wollte. Schließlich ging er nach Hause, gebeugt und mit schwarzen Gedanken wegen des Schicksals, das ihm widerfahren war.
Educated Evans wohnte in zwei Zimmern über einem Pferdestall. Man erreichte seine Wohnung von der Gasse aus über mehrere Treppen; und der mit einer Brüstung eingefasste Treppenabsatz bildete eine Art Balkon und vermittelte einen Hauch von Romantik, was Evans in mancher sentimentalen Stimmung immer sehr gefallen hatte.
Er kam herein, knallte die Tür zu und ging sofort zu Bett, ohne die Gasheizung anzuzünden. Dazu gab es auch keinen Anlass, denn er ließ seine Kleidung stets auf dem Fußboden vor dem Bett liegen. Er fiel in einen unruhigen Schlaf und träumte.
Es ging in dem Traum um eine erhabene Person, deren Name zu erwähnen sich nicht geziemt. Er träumte, man habe ihn zum Buckingham Palace bestellt und er sei in einer Staatskutsche dorthin gefahren, wobei er seine Visitenkarten einer jubelnden Menschenmenge aus dem Fenster zuwarf. Am Palast angekommen, war er von einem bärtigen Gentleman in einen langen pinkfarbenen Rock mit grünen Streifen gekleidet worden; der Herr hatte ihm die Hand geschüttelt und darauf bestanden, Evans solle ihn »Solly« nennen, worauf er sodann in eine purpurrote Kammer mit schwarzer Decke und golddurchflochtenem Teppich geleitet wurde. Die erhabene Person bat ihn, sich hinzuknien. Evans ließ sich würdevoll auf ein Knie herab und die vornehme Person sagte dann:
»Erheben Sie sich, Sir Educated Evans, Erster Turfratgeber und Sportautorität. Und vergessen Sie nicht, dass ‚Daydawn’ im Friary Rennen der Zweijährigen der Knüller sein wird.«
Ein donnernder Applaus erscholl. All die kleinen Prinzen klopften mit ihren Absätzen gegen die Holzvertäfelung.
Der Lärm war so stark, dass Sir Educated aufwachte und mittelalterlich fragte: »Wer klopfet an?«
»Machen Sie die Tür auf, Mr. Effens. Hier ist Mr. Kirz – es ist von allerrrgrößerrr Wichtigkeit.«
Evans stand auf, zog sich Hose und Schuhe an und entzündete ein Gaslicht.
»Kommen Sie herein«, sagte er, jetzt vollends wach. »Ich nehme an, Sie wollen wegen des gefälschten Fünfers etwas geraderücken?«
»In derrr Tat!«, antwortete Mr. Kirz. Er sah bleich und niedergeschlagen aus und hielt schon in seiner zitternden Hand eine Fünf-Pfund-Note bereit. Evans nahm sie an sich.
»Es war ein grrroßer Fehlerrr«, sagte Mr. Kirz und streckte seine Hand erwartungsvoll aus. »Ich wusste, dass ich einen schlechten Schein hatte. Und wie ich ihn jetzt suche, sage ich zu mirrr ‚Oh, mein Gott. Ich habe ihn Educated Evans gegeben’! Wo ist er?«
Evans schüßttelte den Kopf.
»Den hat die Polizei«, sagte er.
Mr. Kirz wurde gelb im Gesicht und taumelte gegen die Wand.
»Vorsicht mit dem Waschbecken«, warnte Evans, »es ist neu. Tja, mein Freund, der Müller hat ihn – Mr. Challoner, um es genau zu sagen, und es gibt keinen netteren Mann auf dieser Welt.«
Denn der Müller stand im Türrahmen und als Evans an Kirz vorbeiblickte, drehte dieser sich um.
»Ich brauche Sie, Kirz«, sagte der Müller. »Sie werden mit mir zur Wache kommen und mit dem Inspektor reden, klar?
»Ich wusste nicht, dass diese Note warrr gefälscht«, sagte Mr. Kirz zitternd.
»War sie auch nicht«, erwiderte der Müller kurz und knapp.
»Sie war in Ordnung, nur –Sie haben von diesem Muster die Platten hergestellt – ich fand die Anlage in Ihrem Keller in Mornington Gardens.«
Einer der Hauptbelastungszeugen bestieg den Zeugenstand und küsste inbrünstig die Bibel.
»Wie lautet Ihr Namen und Beruf?«, fragte der Protokollführer.
»Mein Name ist Educated Evans, ich bin gemeinhin bekannt als Englands führender Turfratgeber und das Genie von London Nordwest Drei. Ich gab den Tipp für ‚Braxted’ weiter, ‚Eton Boy’ (was für ein schönes Pferd!), ‚Irish Elegance’, ‚Music Hall’, ‚Granely’ und ‚Sangrail’...«
»Sie haben sich beinahe selbst an den Galgen gebracht«, sagte der Müller, nachdem man die Verhandlung vertagt hatte. »Und, übrigens, ich gebe dir besser einen anderen Fünfer für den, den wir bekommen haben – den werden wir noch als Ausstellungsstück benötigen. Kirz hat dir doch keinen mehr gegeben, oder?«
»Und wenn er es tat«, antwortete Evans diplomatisch, »dann schuldet er mir wieder einen – und noch ein paar mehr!«
Kapitel 6: Micky, der Trickser
Educated Evans saß eines Morgens im Regent’s Park, schaute den Enten zu und wartete auf eine Eingebung. Es war spät im Mai und die Weißdornbüsche standen in voller weißer und rosa Blüte. Die Sonne schien auf die gelblich verfärbten Wege und in der Luft herrschte der Geruch des kommenden Sommers; die Welt war jung und fühlte sich frisch und sauber an. Und die Starterliste zum »Royal Jagd Cup« war allgemein bekannt.
Educated Evans grübelte über das unerklärliche Walten des Schicksals nach, dass durch Vetternwirtschaft ein Pferd zum Derby gebracht werden konnte, welches er sich für sein Fünf-Pfund-Special aufgespart hatte. Da hörte er den ruhigen und festen Schritt einer Person näher kommen und sah im Aufblicken einen breitschultrigen Mann mit einem Strohhalm zwischen den Zähnen.
»Guten Morgen, Mr. Challoner«, sagte er höflich und Sergeant Challoner setzte sich an seine Seite.
»Ich dachte darüber nach, ob ‚Amboya’ zehn Pfund an ‚St. Morden’ verschenken sollte«, sagte Educated Evans.
»Und ich dachte, du wolltest mir etwas über ein neues Verbrechen erzählen«, erwiderte der Müller. »’Amboya’ ist sowieso nichts anderes als ein Klepper, und wenn du glaubst, du könntest Yardley zuvorkommen, ist dir der Ärger sicher.«
Educated Evans schürzte nachdenklich die Lippen.
»Ungewisse Dinge widerstreben mir«, sagte er, »obwohl ich nichts gegen Yardley sagen kann. Die Frage ist nur: Ist es wirklich ‚Amboyas’ Tag? Es wird einiges an Wetten für dieses Ereignis ausgegeben – die Dummen bestürmen die Buchmacher, ohne auf einen Ratschlag von Experten oder Vorhersagen zu hören, mit dem Ergebnis, wonach ‚Amboya’ 6 : 1 gehandelt wird. Aber wird er oder sie auch gewinnen? Ich habe Neuigkeiten gehört über ein gewisses Etwas, das vor allen anderen alleine ins Ziel kommt, wenn man es nur fordert.«
»Nach einem Frühstart?«, vermutete der Müller.
»Nach einem richtigen Start«, verbesserte Evans ernst. »Dieses Pferd könnte zwanzig Längen zurückliegen, dann anhalten um den Starter zu beißen und dann noch gewinnen. Es ist der Knüller des Jahrhunderts. Etliche kluge Männer des Rennsports wetten schon seit Wochen auf ihn – bevor die Gewichte bekannt wurden und bevor die Anmeldungen herauskamen.«
»Kaufe ich«, sagte der Müller interessiert.
»Das ist auch der einzige Weg, wie man daran kommen kann«, stellte Evans entschlossen fest. »Es hat mich manche schlaflose Nacht gekostet. Ich habe den Stall ausgekundschaftet und dieses Pferd beim Training beobachtet, und die Art und Weise, wie es läuft – mit dem Kopf auf der Brust!«
»Entschuldige bitte, wenn ich dumm frage: aber würde es denn nicht genauso gut laufen, wenn sein Kopf am Ende des Halses wäre?«
»Ich meine das doch als Redewendung oder auch Metapher«, sagte Evans und zündete sich eine Zigarre an. Sie sah aus, als habe man heftig darauf herumgetreten und sie dann aufgehoben. »Es ist ‚Catskin’«.
Der Müller schnaufte spöttisch.
»Du hast mal wieder den Zeitungsjungen zugehört«, sagte er mit ätzendem Spott. »’Catskin’ ist wochenlang an allen Straßenecken genannt worden. Und er ist nicht am Start.«
Educated Evans hob die Augenbrauen ein wenig an.
»Tatsache?«, fragte er höflich. »Und wer könnte Ihnen das erzählt haben?«
»Der Besitzer«, antwortete der Müller. »Ich nehme mal an, er weiß darüber nicht ganz so viel wie du, aber möglicherweise hat er Informationen über ‚Catskin’ von dem Burschen, der ihn versorgt. Und er hat ganz den Eindruck, dass ‚Catskin’ sich beim Training einen Nagel eingefangen hat und jetzt lahmt.«
»Er hat unrecht«, sagte Evans betont ruhig. »Das Pferd wird starten und gewinnen. Es ist von der Sorte, dem ein Nagel oder zwei nichts ausmachen.«
»Der Trainer erzählte Mr. Oliver«, sagte der Müller, »dass ‚Catskin’ dieses Jahr nicht wieder starten wird; und der Junge, der ihn betreut, sagt dasselbe«, fügte er clever hinzu.
Das klang in der Tat überzeugend. Der Besitzer kann keine Ahnung haben, der Trainer kann sich unwissentlich irren. Aber der Bursche, der ‚Catskin’ versorgte, war zweifellos ein schlagender Beweis.
»Dieser Mulcay ist großartig!«, sagte Evans, auf den Trainer zurückkommend. Und damit sprach er eine so unanfechtbare Wahrheit aus, dass der Müller ihm nicht widersprechen konnte.
Micky Mulcay kam aus Irland, das uns so viele gute, offene und aufrechte Trainer geschenkt hat.
Seine Freunde hätten ihn bei dieser Beschreibung allerdings nicht sofort wiedererkannt. Wäre er Trainer für die so genannte »Abteilung der Cleveren« gewesen oder gar für dubiose Besitzer, hätte er sich keine zehn Minuten am Turf halten können. Aber er war intelligent genug, in seinen kleinen Stall von Parlhampton ausschließlich die Pferde der angesehensten Personen aufzunehmen, von Männern, deren Namen mit Ehrenhaftigkeit und Gradlinigkeit gleich-zusetzen waren.
Der Raum des Chefstewards war auf das Feinste renoviert worden, als man Evans bat, an jenem hektischen Renntag von Kempton sein Urteil über den Lauf von ‚Cabbage Rose’ zu erklären.
Die Stewards akzeptierten seine Erläuterungen – (»Sie hätten mir dafür ruhig etwas aus der Almosenbüchse geben können«, sagte Educated Evans boshaft) – und danach stellte niemand mehr seine Tätigkeit in Frage. Micky war ein Lebenskünstler, der verstanden hatte, dass das Leben kurz und Geld schwer zu beschaffen war. Über seinem Schreibtisch hing sein Wahlspruch »Schmiede das Eisen, solang es noch heiß ist«. Und danach handelte er, auch dann, wenn das Eisen erkaltet war.
Besitzer, die selbst nicht regelmäßig wetten, sehen ihre Pferde sehr gerne gewinnen, wann immer es möglich ist.
Dazu zählte auch Micky, wenn seine Frau, seine Schwäger und ein paar gute Freude mehr so viele Wetten zu den Wettbüros kabelten, wie das Postamt verarbeiten konnte. Kein Mensch mit Verstand wettete jemals auf ein Pferd aus Mickys Stall, wenn sich Micky nebst Frau, Schwägern und guten Freunden am Rennplatz aufhielten, so zuversichtlich er sich auch gab.
Von Micky stammte der Satz: »Pferde sind keine Maschinen.« Es war Educated Evans, der dazu die historische Ergänzung lieferte: »Es ist für alle Beteiligten nur gut, dass es keine sprechenden Maschinen sind.«
»Dieser Mulcay ist wirklich großartig«, wiederholte Evans, »der kann einen schon begeistern. ‚Catskin’ kann es spielend schaffen. Aber ist Micky etwa pleite?«
Der Müller schüttelte den Kopf.
»Ich traf Lord Claverley beim Midland Rennen – beruflich, versteht sich, obwohl ich jetzt gar nicht weiß, warum ich dir so vertrauliche Informationen gebe«, sagte er. »Und Micky würde seine Lordschaft bestimmt nicht übers Ohr hauen.«
Evans verzog höhnisch die Lippen.
»Micky würde seine eigene junge Lehrerin von der Sonntagsschule übers Ohr hauen«, sagte er.
»Jedes Mal, wenn er am Zoo vorbeikommt, stehen die Schlangen stramm und grüßen ihn voller Ehrfurcht. Dieser Kerl ist dermaßen verschlagen und so geschickt, dass er mit seinen Zehen klauen kann. Es gibt nur einen einzigen Mann, den er nicht stoppen kann – das ist er selbst – der Teufel soll ihn holen!«
Educated Evans sprach diesen Wunsch aber nicht laut aus.
»Ich mag deine Kraftausdrücke nicht«, sagte der Müller und wandte sich zum Gehen. »Jedenfalls, Evans, kannst du ‚Catskin’ vergessen.«
»Wenn der Junge, der ihn versorgt, das sagt, wird es wohl stimmen«, sagte Evans und widmete seine weiteren Gedanken dem Derby Rennen.
Ein paar Tage nach seinem Sieg beim Derby startete ‚Catskin’ beim Midland Rennen und wurde von einem mittelmäßigen Pferd geschlagen. Gestartet war er mit einer Quote von 6 : 4. Seine Quote beim Hunt Cup hatte bei 100 : 6 gelegen und erreichte schließlich 25 : 1.
Evans nahm von der Veränderung keine große Notiz; bis eines Nachmittags, als er die Regent Street entlang spazierte, um in der Nähe der Piccadilly Station zu sein, wo er auf ein Ergebnis des Lingfield Rennens wartete. Da sah er Micky Mulcay und dessen Schwager. Sie gingen langsam am Piccadilly Hotel vorbei und Evans, ständig auf der Suche nach Informationen, überquerte die Straße und kam sehr langsam an die beiden heran, die Augen zu Boden gerichtet, wie wenn er tiefschürfende Gedanken zu wälzen hatte.
Im Überholen hörte er Micky mit seinem unverwechselbaren irischen Akzent sagen: »Ja, sicher...probier es mit Hereford....aber vergewissere dich, Dennis, dass die Post auf Mittwoch geöffnet hat. Einige dieser Postämter auf dem Land....«
Soweit konnte Evans mithören und sein Herz klopfte in Triumph. Hereford... Postamt...Mittwoch!
Instinktiv füllte er die Gesprächslücken aus. Die waren dabei, im Voraus per Kabel auf ‚Catskin’ zu wetten! Innerlich jubelte er bei dem Gedanken, was das alles für ihn bedeutete.
Und dann fasste Evans einen Entschluss zu etwas, das er noch nie in seinem Leben getan hatte. Er fuhr an diesem Abend nach Steynebridge, wo er in fünf Meilen Entfernung von diesem historischen Marktflecken Micky Mulcays Trainingsgelände liegen wusste.
Es ist schon ein bisschen traurig zu wissen, dass Educated Evans niemals zuvor ein Trainingsgelände gesehen hatte, Newmarket und Epsom einmal ausgenommen. Und was das Betreiben von Pferdeställen angeht, so war dies für ihn ein ebensolches Geheimnis wie das Frühstück des Tut-Anch-Amun. Zu seinem Glück konnte er sich ein Zimmer in einem Gasthof in der Nähe der Stallungen besorgen; und noch mehr Glück hatte er, dass er ‚Catskin’ als einziges Pferd der Welt ohne Farben und Nummern erkennen konnte: Es war ein Brauner mit drei weißen Beinen. Aber nur um dieser Erkenntnis willen hätte Evans die Reise nicht unternommen.
Er stand bei Tagesanbruch auf und wanderte durch das Hügelland bis zu der Stelle wo, glaubte man den Ortsangaben, Mr. Mulcay seine Pferde trainierte. Und tatsächlich – kurz nach 5 Uhr erschien in einiger Entfernung eine große Gruppe von Pferden, alle mit Decken und in leichtem Galopp.
Als sie an ihm vorbei gezogen waren, kamen drei weitere Pferde mit einer fürchterlichen Geschwindigkeit, wovon das vorderste unzweifelhaft ‚Catskin’ sein musste. Der Junge auf dem Pferd versuchte, ihn zu stoppen, und einige hundert Yards an Evans vorbei gelang ihm das auch; er kam mit hochrotem Kopf zu Mr. Mulcay zurück, wiederum in vollem Galopp.
»Was zum Teufel soll das blöde Galoppieren, wenn ich leichten Trab befohlen hatte?«, schimpfte Mulcay wütend. Und er schlug dem Jungen seine Peitsche auf die Schulter.
Evans schaute interessiert zu, denn der Junge war Lakes, der Lehrling des Stalles, der für gewöhnlich Mr. Mulcays Pferde reiten durfte, wenn sie nicht so hart trainierten, wie sie sonst taten.
Evans stand immer noch interessiert zuschauend da, als Mulcay sich umdrehte und auf ihn zu schlenderte.
»Wer sind Sie?«, fragte er giftig. »Und was tun Sie hier? Weg von meinem Gelände!«
»Wenn Sie mir erlauben, die Sache mit Ihnen zu erörtern«, sagte Evans würdevoll. »Ich...« Klatsch!
Die Peitsche sauste auf Evans’ Schulter hernieder und für einen Augenblick war er vor Erstaunen und Zorn wie gelähmt. Und dann – mit einem Wutschrei – stürzte er sich auf den Angreifer. Mr. Mulcay mag ein sehr unehrlicher Mann gewesen sein, aber dennoch war er ein ausgezeichneter Reiter und die Peitsche fiel ein weiteres Mal; dieses Mal traf sie einen empfindlicheren Teil an Evans’ Körper.
»Dafür zeige ich Sie an!«, schnaubte Evans. »Ich werde Sie lehren, Sie...«
Es wäre nicht klug, getreulich alles wiederzugeben, was Educated Evans im Zorn des Augenblicks und in der Hitze seines Ärgers sagte.
»Ich erlaube niemandem, meine Pferde auszuspionieren«, sagte Mr. Mulcay mit jenem erhabenem, majestätischen Ausdruck, der bei einem irischen Trainer so charakteristisch ist und bei einem australischen noch viel mehr.
»Sie hauen ab und bleiben für immer weg!«
Evans gehorchte klug und weise. Den gesamten Weg zurück in den Ort beschäftigte ihn diese Erniedrigung durch Mulcay. In seiner Vorstellung sah er den Tyrannen auf der Straße um Brot betteln und wie er achtlos an ihm vorbei ging, ohne ihm eine Münze für den nächsten Tag zu geben. Aber neben seinem aktuellen Problem trug er noch die Erinnerung an etwas anders mit sich herum. Er dachte dabei an die Boshaftigkeit im Gesicht des Master Lakes und die wilde Wut dieses Jungen ließ in Educated Evans’ Natur eine Saite der Sympathie erklingen.
So schnell wie möglich suchte er den Müller auf.
»Dieses Pferd wird gewinnen, Mr. Challoner«, sagte er, »und ich habe es in der Hand, diesem Kerl sein Geschäft zu verderben! Als er mich sah, fiel er beinahe tot um. Schade, dass er’s nicht tat. Er hat das Pferd so weit und wird alle seine Kumpel beim Royal Hunt Cup verladen, so wahr ich Educated Evans und der Welt Erster Turfratgeber bin!«
»Du hättest dich besser von Steynebridge fern gehalten«, sagte der Müller besonnen. »Keiner dieser Trainer kann es leiden, wenn seine Pferde ausspioniert werden.«
»Und ich werde ihn weiter ausspionieren«, zischte Educated Evans, und wenn er einmal verärgert war, was eigentlich selten geschah, dann war er es richtig und doppelt. Seinen Feind in die Knie zu zwingen – dafür würde er sogar Geld ausgeben; was bedeutete denn ein Pfund hier oder da?
Er kannte einen Mann, weniger als Freund, aber von ihm abhängig, der einmal bessere Tage gesehen hatte; ein älterer, rotgesichtiger Mann namens »Old Joe«. Da man ihn noch nie verurteilt hatte, war sein weiterer Name bislang im Dunkeln geblieben. Er rauchte Tabak in einer kurzen Tonpfeife, half beim Kellnern aus und trank Bier. Niemand hat ihn jemals etwas anderes zu sich nehmen sehen.
Ein solcher »Old Joe« ist in Großbritannien in fast jeder Kneipe anzutreffen. Sie sind die Rentner, die jeder Wirt zu seinen Gästen zählt, eine geheimnisvolle Gruppe von rotgesichtigen Wache-Engeln mit schmierigen Hemdkragen, die rücklings an der Wand gelehnt stehen und über die Zeiten nachgrübeln, als es noch Pferdewagen gab und an jeder Kneipe die Pferde mit Futter versorgt werden konnten.
Educated Evans schickte nach Joe und der verließ höchst ungern die selbst gestellte Aufgabe, die Mauern des »White Hart« zu stützen.
»Ich soll rüber nach Hereford!«, schnappte er schockiert nach Luft. »Warum? Ich bin mein Lebtag noch nicht aus London herausgekommen, Mr. Evans.«
»Dann wirst du eben jetzt rauskommen«, sagte Evans bestimmt, »und du wirst tun, was ich dir jetzt erkläre.«
Er erklärte.
»Schick mir ein Kabel zum Sattelplatz von Ascot und zwar in dem Augenblick, wo du die Anzahl der Telegramme sehen kannst, die dieser Lump von einem Schwager abschickt. Er wird sie nicht eher abgeben als eine Viertelstunde vor dem Rennen. Wenn du dann in dem Postamt bist, kannst du sie leicht sehen. Und alles, was ich von dir will ist, mir die Anzahl der Telegramme zu kabeln, die dieser Schwager von Mulcay abschickt.«
Es bedurfte einer Menge Überzeugungsarbeit; aber nachdem Old Joe dabei auch erfahren hatte, dass es in Hereford verschiedene Pubs gab und das Westcountry-Bier von überraschend guter Qualität war, zog er los. Die Reise würde Educated Evans etwa vier Pfund kosten, aber was bedeutete schon Geld?
Oberster Chef des Mulcay-Stalles war Lord Claverley, ein Mann, der nur gelegentlich etwas riskierte und das auch nur auf Anraten seiner Trainer. Wenn Lord Claverley eines vor dem Royal Hunt Cup sicher wusste, dann war es die Tatsache, dass ‚Catskin’ das Rennen nicht gewinnen würde. Dies erzählte er nicht nur seinen Freunden, sondern ebenso seinem Chauffeur und seiner Dienerschaft, wie er es auch in die Ohren illustrer Persönlichkeiten und Potentaten flüsterte.
‚Catskin’ sackte bei den Voraussagen weiter durch, bis er zwischen 40 : 1 oder auch 33 : 1 gelandet war, immer abhängig vom Temperament oder der Ehrlichkeit der Wettkunden.
Educated Evans fuhr sehr selten nach Ascot. Wenn er es tat, hielt er sich konstant vom Sattelplatz fern. Aber bei dieser Gelegenheit beschloss er für sich, dass die Begleitumstände es rechtfertigten, einen Extrageldbetrag zu opfern, und mit einem leichten Stöhnen bezahlte er die horrende Summe, die der Verwaltungsbeamte von Ascot ihm abverlangte. Dafür erhielt er ein kleines, schokoladenbraunes Abzeichen, das er an sein Revers heftete und das ihm gestattete, entweder Tattersall’s oder den Sattelplatz zu betreten.
Der Müller, bekleidet mit Zylinderhut und schickem Ausgehrock, sah die unglückliche Gestalt am Geländer lehnen und ging auf ihn zu.
»Du bist dieses Jahr nicht in der königlichen Loge, Evans?«, fragte er.
»Nein, Mr. Challoner«, antwortete Evans gelassen. »Die Einladung dazu ist nicht angekommen. Ich hätte Sie beinahe nicht erkannt«, fügte er mit respektvoller Anerkennung hinzu. »Sie sehen wie ein echter Gentleman aus.«
»Ich denke mir mal, diese Lästerung war so nicht gewollt«, sagte der Müller gutmütig, »sonst wäre ich noch beleidigt. Nun, hast du auf deinen ‚Catskin« gesetzt?«
»Jeden einzelnen Penny, den ich auf dieser Welt kriegen konnte«, erwiderte Evans emphatisch. »Ich habe den Tipp an 3240 Kunden verschickt und dafür zwei Nächte durchgearbeitet. Dieser ‚Catskin’ ist nicht nur ein Knüller, er ist dreimal ein Knüller. Er ist bisher der todsicherste Tipp, seitdem es das Hurst Park Rennen gibt – drei echte Rennpferde und ein Herausforderer. Sie wissen, wen ich meine.«
Der Müller schüttelte den Kopf.
»Keiner aus seinem eigenen Stall setzt auf ihn«, sagte er.
»Die sogenannten Leute vom Fach!«, spottete Educated Evans. »Ich könnte Ihnen etwas erzählen, das lässt Ihre Haare zu Berge stehen. Ihnen würden die Augen übergehen! Mr. Miller, ich treffe mich mit Lord Claverley.«
Der Müller starrte ihn an. »Du legst dich selbst herein«, warnte er. Aber diese Drohung zeigte bei Evans keinerlei Wirkung.
Er kannte Lord Claverley vom Ansehen her, von den Porträtaufnahmen der Klatschspalten, und als die Glocke am Sattelplatz den Hunt Cup eröffnete, traf er den Lord für einen Augenblick alleine an und ergriff die günstige Gelegenheit.
»Verzeihen Sie, Mylord«, sagte er und tippte grüßend an seinen Hut. »Sie haben vielleicht schon von mir gehört. Ich bin Educated Evans, der Welt führender Minister des Tippspiels.«
Der Lord schaute ihn mit blinzelnden Augen an. »So, so, das sind Sie wirklich?«, sagte er.
»Ich kann Ihnen leider keine Tipps geben, mein Herr.«
»Ich möchte auch gar keine haben, Mylord.« Evans Stimme klang feierlich und überzeugend. »Ich will Ihnen einen Tipp geben. Setzen Sie auf ‚Catskin’!«
Einen Augenblick lang schaute Lord Claverley ihn an, als wisse er im Moment nicht, ob er einen Polizeibeamten herbeirufen solle, auf dass der ihn auf oder über die Zaunspitzen des Geländes werfe oder sich einfach köstlich amüsieren sollte.
»Sie liegen falsch, mein Freund«, sagte er ruhig. »Kein Mensch hat Lust auf ’Catskin’. Mehr kann ich Ihnen leider nicht mitteilen.«
Noch während er sich wegdrehen wollte, hielt Evans ihn hartnäckig am Arm zurück.
»Mylord«, sagte er aufgeregt, »beachten Sie das Gerede über ‚Catskin’ einfach nicht; er wird gewinnen! Mulcay würde auch noch mit dem Geist seiner Großmutter falsches Spiel treiben! Ich sage Ihnen, das Pferd wird gewinnen und nicht anders wird es kommen!«
Nun war selbst Lord Claverley beeindruckt.
»Sie liegen völlig falsch, Mr. – äh – Evans«, sagte er dennoch. »Aber leider kann ich diese Angelegenheit jetzt nicht weiter mit Ihnen diskutieren.«
Evans schlängelte sich durch die Reihen elegant gekleideter Damen, um die Parade der Starterpferde zu beobachten. »Amboya« war ein heißer Favorit, wohingegen »Catskin« mit Lakes, dem jungen Stallburschen im Sattel, keine herausragende Quote erzielt hatte. Die bloße Anwesenheit eines Stall-Lehrlings statt des etatmäßigen Jockeys, der normalerweise für den Stall im Sattel hockte, reichte aus, um 999 von 1000 Wettern abspringen zu lassen. Aber Evans ließ sich nicht abschrecken. Dieser Mann investierte unerschütterlich seinen letzten Viertelpenny zum besten Preis, den er den Größen von Tattersall’s abringen konnte.
Von einer abgetrennten Rasenfläche aus beobachtete er das Rennen, welches keine besonders detaillierte Beschreibung erforderte. »Catskin« erschien als erstes Pferd oben auf dem Hügel; er blieb durchweg an der Spitze des Feldes und gewann mit sechs Längen Vorsprung, als sei sein Galopp ein Spazierritt. »Amboya« wurde Zweiter.
Educated Evans fühlte sich im siebten Himmel, als er zurück zum Sattelplatz eilte, wo man gerade das Siegerpferd hereinführte. Dabei entdeckte er drei Gesichter, von denen eines Mulcay gehörte und ziemlich grün aussah. Er lief umher, als habe er einen bösen Traum. Lord Claverleys Gesicht erinnerte an ein drohendes Gewitter. Lediglich die jungenhafte Miene des Jockeys strahlte eine Mischung von Glück bis hin zu langsam sich steigernder Ekstase aus.
Der Sieg selbst war nicht besonders populär. Niemand zweifelte daran, dass es wieder einmal eines von Mulcays berüchtigten »cleveren Geschäften« gewesen war.
Lord Claverley sprach nicht mehr mit ihm, aber der ihm zugeworfene Blick ließ den Trainer erschaudern. Und dann kam Educated Evans in das Blickfeld seiner Lordschaft.
»Sie kommen mir gerade recht«, sagte er und zog die armselige Gestalt aus der Menschenmenge an die Seite.
»Nun erzählen Sie mir alles, was Sie über diese Sache wissen. Warum konnten Sie so sicher sein, dass dieses Pferd gewinnen würde?« Nun war er zunächst gezwungen, sich mit viel auferlegter Geduld Evans’ ausgedehnten Bericht über dessen Können und die letzten Erfolge anzuhören. Danach vernahm er endlich, was der Ratgeber ihm wirklich zu sagen hatte.
»Sie wollen behaupten, er habe dieses Pferd schlecht geredet... von Hereford aus? Sind Sie da sicher?«
»Das kann ich Ihnen in einer halben Stunde sagen, Mylord«, sagte Evans wichtig. »Mein Agent in Hereford – ich unterhalte überall Agenten in diesem Geschäft und Spione in jedem Stall...«
»Nun, und was ist nun mit ihm?«, fragte Lord Claverley ungeduldig und ziemlich verärgert.
Eine halbe Stunde später legte ein verdutzter Evans ein Telegramm in die Hände seiner Lordschaft, auf dem stand:
Dreihundert Telegramme eingereicht,
alle enthalten Wetten für »Amboya«...
»Natürlich kann es so sein, wie Sie sagen, Mr. Challoner«, sagte Evans gleichmütig, »und es ist sehr gut möglich, dass Lakes tatsächlich seinen Stall mit diesem Sieg ausgetrickst hat, wo er doch gar nicht hätte angreifen sollen. Ich behaupte auch nicht, dass ich von Lakes meine Informationen habe; wenn doch, würden Sie es mir gar nicht glauben.«
»Würde ich auch nicht«, antwortete der Müller, »denn dann hättest du gelogen.«
»Sehr wahrscheinlich«, bekannte Educated Evans. »Vielleicht wollte Lakes mit ihm abrechnen, so wie ich auch. Und dann stelle man sich vor, dass dieser verkommene Pferdeschinder die ganze Zeit auf ein anderes Pferd gesetzt hat! Das ist unehrlich, wenn Sie so wollen. Ich nenne das eine ausgesprochene Schlechtigkeit! Aber 50 : 1!
Was für ein Prachtexemplar! Und das alles entsprang meinen eigenen Überlegungen. Von Informationen, die ich mit eigenen Augen gesehen und erkannt habe.«
»Micky Mulcay hat eine Menge Gelde verloren«, sagte der Müller, der ebenfalls seine Informationsquellen besaß, wenn auch ein bisschen verlässlicher als jene, die sein Kumpel zuweilen anzapfte.
»Ich wünschte, er hätte alles verloren«, sagte Educated Evans giftig. »Alles außer 18 Pence – damit kann man sich nämlich überall ein paar Yards von einem guten Strick kaufen.«
Kapitel 7: Die Träumerin
Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass gewisse Clubs in London ein Recht auf Turfgeschäfte gepachtet haben.
»Es kommt im Omph Club eine Liste raus«, weiß eine Sportzeitung; »heute Abend wird im Zimp Club das Cambridgeshire-Programm herauskommen«, weiß eine andere. Der Cheese Club in Camden Town wird gar nicht erst erwähnt und bei der Zusammensetzung seiner Mitglieder wird man sich gut vorstellen können, dass jede beliebige Wette genauso unbedeutend wie vernachlässigbar behandelt wurde.
Und dennoch stimmt dies nicht ganz, denn der Cheese Club stellte in der Sportwelt einen wichtigen Faktor dar. Es gab da gewisse große Wetter im Norden, deren Agenten sich niemals weiter südlich als bis zur Euston Road bewegten; einige berühmte andere machten den Cheese Club zu ihrem Hauptquartier und hielten gleichzeitig ihre Agenten bei den pompöseren Clubs.
Denn der Cheese Club hatte sich zu einem lebendigen Umschlagplatz gemausert und sogar solch große Buchmacher wie Notting und Elgin verschmähten diesen Club nicht, wenn es sich um besonders »heiße Kartoffeln« handelte.
Man konnte schier verrückt werden, wenn ein Pferd im Cheese Club hinauf oder heruntergehandelt wurde und man an großen Renntagen dort Männer antreffen konnte, die auch Wetten von 4000 : 500 annahmen.
Trotz allem gab es wie in jedem anderen Club die verschiedensten Mitglieder. Educated Evans war dort Mitglied; Billy Labock, der letzten Herbst einmal 20.000 zu 20 Pfund wettete, war ebenfalls Mitglied; der sehr ehrenwerte Claud Messinger war auch ein Mitglied – so ziemlich das umstrittenste, das je gelebt hatte.
»Mir scheint«, sagte Educated Evans verzagt, »dass ein solcher Artikel über häusliches Glück und einen harmonischen Ehestand zum St. Nimmerleinstag gehört, mit anderen Worten non est, so etwas existiert nicht, wenn Sie die Sprache verstehen, Mr. Challoner? Und dennoch ist Camden Town voll von glücklichen Paaren.«
Detektiv-Sergeant Challoner knabberte gedankenverloren an seinem Strohhalm.
»Um glücklich verheiratet zu sein, das muss ich zugeben«, fuhr der gebildete Mann fort, »muss man nicht nur so großzügig sein wie ein Pastor bei der Tombola, sondern auch die Geduld eines Job* haben – wo wir gerade von job sprechen, so einer läuft in Gatwick heute Nachmittag – der Junge, der sich um das Pferd kümmert, sagt, es könne stürzen, wieder aufstehen und dann noch gewinnen.«
»Doch nicht ‚Toofick’«? Der Müller war augenblicklich alarmiert.
»Doch, es ist ‚Toofick’ – er ist der sicherste Tipp der Renngeschichte seit der Niederlage von Tishy’. Bedienen Sie sich und denken Sie dabei auch an mich.«
»An wen hast du eigentlich gedacht, als du über den Ehestand diskutiertest?«
Educated Evans fischte einen Zigarrenstummel aus seiner Manteltasche und entzündete ein Streichholz an einem Bein seiner schlecht sitzenden Hosen.
»Frauen mögen ja das Stimmrecht haben, aber sie benutzen es nie«, sagte er. »Es ist ein Geschenk.«
»Wenn du jemanden in Camden Town kennst, der glücklich verheiratet ist«, sagte der Müller bedächtig, »dann würde ich gerne seinen oder ihren Namen erfahren.«
»Ich könnte Hunderte nennen«, antwortete Evans und sein trauriges Gesicht wurde bei dem Gedanken noch betrübter, »Tausende sogar. Dabei rede ich gar nicht von der Glückseligkeit von Turteltauben. Wenn ich ein Paar sehe, die sich verhalten, als seien sie nicht verheiratet, dann sind sie es gewöhnlich auch nicht. Ich spreche aus den Tiefen meiner Erfahrungen und Bildung davon, wie die Dichter es beschreiben. Zwei Gedanken, die aber um ein einziges Pferd kreisen, zwei Herzen, die gemeinsam als eines wetten – Tennyson oder Kipling, da bin ich nicht sicher. Ich hab für die Dichtkunst nicht viel Zeit übrig, was bleibt dann für Gespräche mit Besitzern und Jockeys...«
»Bleiben wir lieber bei den Fakten«, unterbrach der Müller. »Wer ist denn nun glücklich verheiratet in deinem ausgedehnten Kreis von damaligen oder aktuellen Opfern?«
Educated Evans stieß einen Laut des Unwillens aus.
»Würden Sie sagen, dass Mr. Joe Bean glücklich verheiratet ist?«
Der Müller dachte angestrengt nach.