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II. Der vierte Mann
ОглавлениеDer Große hielt seine Hand in der Tasche, als der Detektiv sprach. Beim Betreten der Halle hatte er sich mit einem schnellen Blick einen Überblick über jedes Detail verschafft. Er sah den perlenverzierten Streifen von unbemaltem Holz, das die elektrischen Kabel verdeckte, und er hatte die Gelegenheit benutzt, während der geschwätzige Bruder seine Rede zum Zwecke weiterer Aufklärung hielt. Links neben der Bühne war ein weißes Schaltbrett aus Porzellan angebracht, mit einem halben Dutzend Schaltern. Er schätzte die Entfernung ab und seine Hand mit der Pistole schnellte hoch. Peng! Peng! Glas zersplitterte, mit einem blauen Blitz schlug eine Flamme aus den zerschmetterten Sicherungen – und die Halle war in Dunkel getaucht. Das alles geschah, bevor der Detektiv von seiner Bank aus in die kreischende, schreiende Menge springen konnte – bevor der Polizeibeamte einen Blick von dem Mann erhaschen konnte, der die Schüsse abfeuerte. Im Nu war das totale Chaos entstanden.
»RUHE!«, brüllte Falmouth über das Getöse hinweg. »Ruhe! Seid endlich still, ihr elenden Feiglinge! Brown, Curtis, bringen Sie eine Lampe her – Inspektor, wo sind die Laternen Ihrer Leute?«
Ein Dutzend Blendlaternen schickten ihre Strahlen über das zappelnde Gedränge.
»Machen Sie Ihre Laternen auf!« Und zum schäumenden Pöbel gewandt rief er »RUHE!« Dann erinnerte sich ein aufgeweckter junger Beamter, dass er in dem Raum Gasleuchter gesehen hatte und kämpfte sich durch den heulenden Mob. Schließlich kam er an die Wand und fand die Installation mit seiner Laterne. Mithilfe eines brennenden Streichholzes zündete er das Gas an und die Panik legte sich so schnell wie sie begonnen hatte. Falmouth, kochend vor Wut, warf einen wilden Blick umher. »Bewacht die Tür«, sagte er kurz angebunden; »die Halle ist umstellt und eigentlich können die nicht entkommen.« Zusammen mit zweien seiner Männer durchschritt er rasch den Mittelgang und schwang sich auf die Bühne, von wo er das Publikum betrachtete.
Die Frau von Gratz, totenbleich, stand wie erstarrt, mit einer Hand an den kleinen Tisch gelehnt, die andere Hand an ihrer Kehle. Falmouth gebot Ruhe mit erhobener Hand und die Gesetzesbrecher gehorchten.
»Ich habe kein Problem mit der Roten Hundert«, sagte er. »Das Gesetz dieses Landes erlaubt es, gegenteilige Meinungen und Lehren zu äußern, so unerwünscht sie auch sein mögen – ich bin heute hier, um zwei Männer festzunehmen, die die Gesetze dieses Landes gebrochen haben. Zwei Personen, die zu der Organisation ‚Die Vier Gerechten‘ gehören.«
Während seiner gesamten Ansprache durchsuchte er ständig die Gesichter der Leute vor ihm. Er wusste, dass ihn die Hälfte nicht verstand, und daher diente das anschließende Gemurmel nach seiner Rede der Übersetzung und Erklärung. Die Gesichter, die er suchte, konnte er nicht ausmachen. Er kannte diese Männer nicht und hoffte darauf, dass sie sich durch seine Untersuchung zu einem Fehler hinreißen lassen würden. Es soll vorkommen, dass Kleinigkeiten und Einzelheiten gelegentlich zu enormen Erfolgen führen. Ein schleudernder Bus war am Piccadilly in einen Privat-PKW gedonnert. So wurden drei sich lautstark bemerkbar machende Ausländer entdeckt, die in dem umgestürzten Fahrzeug gefangen waren. Des Weiteren entdeckte man, dass der Fahrer sich in der allgemeinen Verwirrung aus dem Staub gemacht hatte. In der Dunkelheit tauschten die drei Gefangenen ihre Erfahrungen aus und kamen zu dem Schluss, dass nämlich ihre Entführung nichts als die Folge eines geheimnisvollen Briefes war, den jeder von ihnen bekommen hatte. Er trug die Unterschrift Die Vier Gerechten. In ihrer augenblicklichen, durch den Unfall hervorgerufenen Panik verfluchten sie namentlich Die Vier Gerechten und da jene sich nicht gut standen mit der Polizei, wurden diese weiter befragt.
Am Ende raste Falmouth in den Osten Londons, wo er in der Middlesex Street einen Gruppe Polizisten antraf, die dorthin beordert worden waren. Dort sah er sich in derselben misslichen Lage, die er immer schon kannte – er wusste von den Vier Gerechten immer nur die Namen, Symbole einer flüchtigen, aber unbarmherzigen Macht, die in Sekundenschnelle und präzise zuschlug – und das war es für ihn.
Zwei oder drei der Anführer der Roten Hundert hatten sich abgesondert und drängten näher zur Bühne.
»Wir kennen leider keinen«, sagte François, der Franzose, der in fehlerlosem Englisch für seine Leute sprach, »der Leute, die Sie suchen, aber da sie keine Brüder unserer Gesellschaft sind und darüber hinaus« – hier fand er fast keine Worte für die unglaubliche Situation – »uns bedroht, uns alle bedroht haben«, wiederholte er in tiefer Bestürzung, »haben Sie bei allem unsere volle Unterstützung.« Der Detektiv ergriff die günstige Gelegenheit.
»Gut!«, sagte er und umriss einen schnellen Plan. Die zwei Männer konnten nicht aus der Halle entwichen sein. Es gab da eine kleine Tür neben der Bühne, er hatte sie gesehen wie auch die beiden Männer, die er suchte. Da schien eine Flucht möglich; sie hatten wohl ebenso gedacht. Aber Falmouth wusste, dass die Tür, die von dem kleinen Raum nach draußen führte, durch zwei Polizisten bewacht wurde.
Das hatten die beiden Gesuchten aber auch herausgefunden. Er wandte sich schnell an François. »Ich will, dass jede Person in der Halle einen Bürgen bekommt«, sagt er schnell. »Jemand muss jeden Mann identifizieren und der Identifizierte muss sich auch bestätigen lassen.« Die entsprechenden Vorbereitungen wurden mit Lichtgeschwindigkeit durchgeführt. Die Anführer der Roten Hundert erklärten den Plan von der Bühne aus in Französisch, Deutsch und Jiddisch. Dann bildete die Polizei eine Reihe und die Leute schritten hindurch, einer nach dem anderen. Eingeschüchtert, misstrauisch oder selbstbewusst, je nach persönlicher Verfassung passierten sie die Polizisten. »Das ist Simon Czech aus Budapest.« »Wer kann ihn identifizieren?« »Ich« – kam es von einem Dutzend Stimmen.« Weitergehen.« »Das ist Michael Ranekov aus Odessa.«
Und so ging es Name für Name weiter, bis schließlich:
»Es scheint viel einfacher zu gehen, als ich mir vorgestellt habe.« Ein großer Mann mit gestutztem Bart sprach es mit kehliger Stimme aus, der man weder Deutsch noch Jiddisch anhören konnte. Er hatte die Untersuchung amüsiert beobachtet.
»Mit aller Macht die Spreu vom Weizen trennen«, sagte er mit einem schwachen Lächeln und sein wortkarger Kumpel nickte dazu. Dann fragte er: »Glauben Sie, dass irgendjemand von diesen Leuten Sie als den Schützen wiedererkennt?«
Der Große schüttelte entschieden den Kopf. »Sie hatten nur die Polizei im Blick – und außerdem kam mein Schuss zu schnell. Niemand hat mich gesehen, außer...« »Die Frau von Gratz?«, fragte der andere ungerührt. »Die Frau von Gratz«, sagte George Manfred. Sie reihten sich in die Schlange ein, die sich allmählich Richtung Polizei bewegte. »Ich fürchte«, sagte Manfred, »wir werden zu einer Flucht nach der Brechstangen-Methode gezwungen, die ich aus Prinzip und noch nie habe leiden können.« Die ganze Zeit über hatten sie sich in diesem harten, kehligen Ton unterhalten, was sich für die Umstehenden recht verwirrend und völlig fremd für ihre Revolutionskreise anhörte.
Näher und immer näher kamen sie dem Inquisitor am Ende der Polizeireihe. Vor ihnen drehte sich ein junger Mann hin und wieder um, als suche er einen Freund hinter sich. Es war sein Gesicht, das den kleineren der beiden Männer faszinierte, zu dessen Hobby schon immer das Studium von Gesichtern gehörte. Ein Gesicht von tödlicher Blässe, die durch das dunkle, kurzgeschnittene Haar und die dichten schwarzen Augenbrauen noch betont wurde.
Ein ästhetisches, schön geformtes Gesicht, das Gesicht eines Träumers, dessen ruhelose Augen den Fanatiker offenbarten. Er kam an die Barriere und wurde von einem Dutzend eifriger Männer identifiziert. Nach ihm trat Manfred in aller Ruhe vor. »Heinrich Rossenburg von Raz«, nannte er den unbekannten Namen eines Dorfes in Transsylvanien. »Wer kennt diesen Mann?«, fragte Falmouth mit monotoner Stimme.
Manfred hielt den Atem an, zur Flucht bereit.
»Ich!« Es war der Träumer, der vor ihm hatte passieren können, der Vergeistigte mit dem Gesicht eines Priesters.
»Weitergehen.« Manfred, ruhig und mit einem Lächeln, schlenderte durch die Polizei, bedachte seinen Retter mit einem vertraulichen Kopfnicken. Dann war sein Gefährte an der Reihe. »Rolf Woolfund«, hörte er Poiccarts klare und deutliche Stimme. »Wer kennt diesen Mann?« Wiederum dieses angespannte Abwarten.
»Ich«, erklang eines weiteres Mal die Stimme des jungen Mannes. Dann trat Poiccart auf Manfred zu und sie warteten eine Weile. Aus den Augenwinkeln sah Manfred den jungen Mann, der für sie gebürgt hatte, auf sie zu schlendern. Er kam an ihre Seite, dann sagte er: »Wenn Sie wollen, treffen Sie mich in einer Stunde bei Reggiori, Kings Cross.« Manfred stellte nüchtern fest, dass dieser junge Mann arabisch gesprochen hatte.
Sie gingen durch die Menschenmenge, die sich an der Halle versammelt hatte – die Nachricht von einer Polizeiaktion hatte sich wie ein Lauffeuer im East End verbreitet – und erreichten Aldgate Station, wo Manfred endlich zu sprechen begann: »Das nenne ich mal einen seltsamen Beginn unserer Unternehmung.« Es schien ihm jedoch ziemlich gleichgültig zu sein. »Ich habe immer gedacht, das Arabische sei die sicherste Sprache der Welt, über Geheimnisse zu sprechen – man lernt eben nie aus«, fügte er philosophisch hinzu. Poiccart begutachtete seine gepflegten Fingernägel, als sei das Problem dort zu finden. »Das ist noch nie dagewesen«, sagte er wie zu sich selbst. »Zudem kann er uns in Verlegenheit bringen«, fügte George hinzu; dann: »Warten wir’s ab und sehen, was die kommende Stunde uns bringt.«
Nach dieser Zeit kam der Mann, der ihnen auf so seltsame Weise behilflich gewesen war. Kurz vor ihm kam ein vierter Mann, der leicht hinkte, die beiden Männer aber begrüßte, wenn auch mit einem kläglichen Grinsen.
»Verletzt?«, fragte Manfred. »Nicht der Rede wert«, sagte der andere unbekümmert, »und was soll jetzt Ihre mysteriöse Telefonbotschaft bedeuten?«
Manfred skizzierte kurz die Ereignisse der Nacht und der andere hörte ernst zu.
»Das ist eine seltsame Situation«, begann er, als er einen warnenden Blick von Poiccart auffing. Die Person, um die es in ihrer Unterhaltung ging, war eingetroffen.
Er setzte sich an den Tisch und verscheuchte den tänzelnden Kellner, der um ihn herumlungerte.
Zunächst saßen die vier nur da, ohne ein Wort zu sagen, bis der Neuangekommene zu sprechen begann: »Ich heiße Bernard Courtlander«, sagte er einfach, »und Sie sind die Organisation mit Namen ‚Die Vier Gerechten‘«.
Keiner gab ihm eine Antwort.
»Ich sah Sie schießen«, fuhr er gelassen fort, »weil ich Sie von dem Moment an beobachtet habe, wie Sie den Saal betraten; und als die Polizei mit ihrer Erkennungsmethode anfing, beschloss ich, mein Leben zu riskieren und für Sie einzutreten.«
»Das bedeutet«, unterbrach Poiccart ruhig, »Sie beschlossen das Risiko – von uns getötet zu werden?«
»Stimmt genau«, meinte der junge Mann mit einem Kopfnicken, »rein äußerlich betrachtet wäre dies natürlich ein scheußlicher Akt der Undankbarkeit; aber ich muss erkennen, dass eine solche Konsequenz nach meinem Eingreifen völlig logisch wäre.« Er sah, wie Manfred sich in die roten Plüschkissen zurücklehnte. »Sie haben so oft gezeigt, dass das menschliche Leben der am wenigsten berechenbare Faktor in Ihrem Plan war, dazu so deutliche Beweise geliefert für die Einzigartigkeit Ihrer Ziele, dass ich vollauf zufrieden bin, wenn mein Leben – oder das von einem von Ihnen – vor der Erfüllung Ihrer Ziele so enden würde«, dabei schnipste er mit den Fingern.
»Nun?«, sagte Manfred.
»Ich weiß von Ihren Heldentaten«, fuhr der seltsame junge Mann fort, »und wer wüsste das nicht?« Er zog ein Lederetui aus der Tasche, dem er einen Zeitungsausschnitt entnahm. Keiner der drei anderen zeigte das geringste Interesse an dem Papier, das er nun auf dem weißen Tischtuch ausbreitete.
Ihre Augen waren auf sein Gesicht gerichtet. »Hier ist eine Liste von Leuten, die um der Gerechtigkeit willen getötet wurden«, sagte Courtlander, indem er eine zerknitterte Seite des »Megaphone« glättete, »Männer, denen das Gesetz des Landes egal war, Ausbeuter und Lüstlinge, Diebe von öffentlichen Kassen, Verführer von Kindern – Männer, die ‚Gerechtigkeit‘ kauften, so wie Sie und ich Brot kaufen.« Er faltete den Ausschnitt wieder zusammen. »Ich habe zu Gott gebetet, dass ich Sie eines Tages treffen möge.«
»Und nun?«, fragte Manfred ein weiteres Mal. »Ich will bei Ihnen sein, will einer von Ihnen sein, Ihren Feldzug mitmachen und – und«, er zögerte und fügte nüchtern hinzu, »wenn es sein muss, auch den Tod, der Sie erwartet.« Manfred nickte langsam und bedächtig, schaute dann den hinkenden Mann an. »Was sagst du, Gonsalez?«, fragte er. Dieser Leon Gonsalez konnte in Gesichtern lesen wie kein Zweiter – so viel wusste der junge Mann von ihm – und er drehte sich zu ihm um und sah ihm in die prüfenden Augen.
»Enthusiast, Träumer und natürlich intelligent«, sagte Gonsalez langsam; »da ist Zuverlässigkeit – gut; und inneres Gleichgewicht, das ist noch besser; aber...«
»Aber?«, fragte Courtlander ernüchtert.
»Ich sehe Leidenschaft, und das ist schlecht«, erfolgte die Abfuhr. »Das ist doch eine Sache von Training«, antwortete der andere ruhig. »Mein Schicksal hat mich unter Leute getrieben, die in Verzückung denken und in Wahnsinn handeln; es ist der Fehler all der Organisationen, die bei unterschiedlichsten Verbrechen nach richtig oder falsch suchen, deren Verstand nur Gefühle sind, die Empfindung zur Sentimentalität herabgewürdigt haben und die Könige mit Königswürde durcheinanderbringen.«
»Sie gehören zu den Roten Hundert?«
»Ja«, sagte der andere, »weil die Roten Hundert mich ein Stück auf dem Weg begleiten, auf dem ich gerne gehen möchte.«
»In welche Richtung?«
»Wer weiß?«, erwiderte der andere. »Es gibt keine direkten Straßen und man kann nicht beurteilen, wo für einen die richtige Bestimmung liegt.«
»Ich kann Ihnen nicht sagen, welches Risiko Sie selbst eingehen«, sagte Manfred, »auch nicht, welche Verantwortung Sie auf sich nehmen wollen. Sie sind wohlhabend?«
»Ja«, sagte Courtlander, »wie das so ist mit dem Reichtum; ich habe große Besitzungen in Ungarn.«
»Ich frage nicht ohne Grund, obwohl es keinen Unterschied machen würde, wenn Sie arm wären«, sagte Manfred. »Sind Sie darauf vorbereitet, Hoheit, all Ihre Ländereien zu verkaufen – Buda-Gratz heißen sie, meine ich?«
Zum ersten Male lächelte der junge Mann. »Ich habe es mir gedacht, dass Sie mich kannten; was meinen Besitz anbelangt, den verkaufe ich ohne zu zögern.«
»Und übergeben mir das Geld zu meiner Verfügung?«
»Ja«, gab er augenblicklich zurück.
»Ohne Vorbehalt?«
»Ohne Vorbehalt.«
»Und«, sagte Manfred langsam, »wenn wir uns veranlasst fühlten, dieses Geld scheinbar für unseren eigenen persönlichen Vorteil zu verwenden, würden Sie Einwendungen erheben?«
»Keine«, sagte der junge Mann ruhig.
»Und als Beweis?«, forderte Poiccart und beugte sich ein wenig vor.
»Das Wort eines Glücks-«
»Genug«, sagte Manfred, »Wir wollen Ihr Geld gar nicht, wenn es auch der wichtigste Test war.« Er dachte eine Weile nach, bevor er weitersprach. »Diese Frau von Gratz«, sagte er unvermittelt, »wenn es zum Schlimmsten kommt, muss sie getötet werden.«
»Es ist schade«, sagte Courtlander ein wenig traurig. Er hatte sich dem finalen Test gestellt, aber das wusste er auch. Eine zu nachgiebige Haltung, sein übereifriges Zustimmen zu der extremen Aussage der »Vier«, irgendetwas, das das Fehlen des von den Vier geforderten genauen Gleichgewichts in seinem Gemüt offenbarte, hatte ihn unumkehrbar ins Abseits gestellt.
»Bringen wir einen anmaßenden Toast aus«, meinte Manfred und rief einen Kellner herbei. Man öffnete den Wein, die Gläser wurden gefüllt und Manfred sprach leise den Trinkspruch. »Auf die Vier, die auf einmal drei waren, auf den Vierten, der starb und den Vierten, der schon geboren ist.« Vor einiger Zeit wurde ein Vierter in einem Café in Bordeaux von Kugeln durchlöchert und auf ihn tranken sie nun.
In der Middlesex Street, in einer fast leer gewordenen Halle, stellte sich Falmouth einer Armee von Reportern.
»Waren das ‚Die Vier Gerechten‘, Mr. Falmouth?«
»Haben Sie sie erkannt?«
»Haben Sie Anhaltspunkte?«
Im Sekundentakt traten weitere Zeitungsreporter auf den Plan, Taxi auf Taxi kam in die anrüchige Straße und die Kette der Autos, die sich vor der Halle stauten, sah wie eine vornehme Versammlung aus.
Die Telefon-Tragödie beherrschte immer noch die Köpfe der Allgemeinheit, und es bedurfte nur der Nennung des magischen Begriffes Die Vier Gerechten, um den Funken des allgemeinen Interesses zu einer Flamme werden zu lassen. Die Abgeordneten der Roten Hundert hatten sich zu einer internen Versammlung in einem verwilderten Vorhof zusammengefunden und wurden von den Journalisten emsig umkreist. Smith vom »Megaphone« und sein jugendlicher Assistent Maynard schlüpften durch die Menge und nahmen sich ein Taxi. Smith rief dem Fahrer das Ziel zu und sank erschöpft schnaufend zurück in den Sitz.
»Hast du die Kerle über Polizeischutz reden hören?«, fragte er; »all diese verflixten Anarchisten aus der ganzen Welt – und reden wie bei einer Muttertagsversammlung. Wenn man ihnen zuhört, glaubt man, die ehrenwertesten Mitglieder der Gesellschaft vor sich zu haben, die die Welt je gesehen hat. Unsere Zivilisation ist schon eine tolle Einrichtung«, fügte er ironisch hinzu. »Ein Mann«, sagte Maynard, »fragte mich in sehr schlechtem Französisch, ob das Verhalten der Vier Gerechten strafbar sei.«
In diesem Augenblick stellte ein Anführer der Roten Hundert eine Frage an Falmouth und der, ein wenig verärgert, antwortete mit aller Höflichkeit, die er noch aufbringen konnte. »Sie mögen Ihre Versammlungen abhalten«, sagte er mit einiger Schärfe, »so lange Sie nicht durch irgendwelche Äußerungen den Frieden brechen; sie mögen Aufruhr predigen und Anarchie, bis Sie schwarz werden. Ihre englischen Freunde sagen Ihnen schon, wie weit Sie gehen können – und ich könnte sagen, weit genug – Sie können die Ermordung eines Königs gutheißen, so lange sie sich nicht festlegen, welcher das ist; Sie können Verschwörungen gegen Regierungen aushecken und Armeen und große Heerführer brandmarken; tatsächlich können Sie tun, was Sie gerne möchten – weil das Gesetz so ist wie es ist.« –
» Was ist – ein Bruch des Friedens?«, wollte derselbe Fragesteller wissen und hatte Schwierigkeiten, seine Worte zu wiederholen. Ein anderer Detektiv erklärte es ihm. François und Rudolph Starque begleiteten die Frau von Gratz zu ihrem Hotel in Bloomsbury, wo sie übernachtete. Sie diskutierten die Antwort des Detektivs. Dieser Starque war ein großer, kräftiger Mann, mit fleischigem Gesicht und kleinen Tränensäcken unter den Augen. Er stand in dem Ruf, wohlhabend zu sein und sich mit Frauen recht gut zu verstehen. »Also sieht es so aus«, meinte er, »dass wir wohl sagen können, Könige mögen erschlagen werden, aber nicht, der König mag erschlagen werden; ebenfalls können wir den Niedergang von Regierungen predigen, aber wenn wir sagen, gehen wir in dieses Café und sind dem Besitzer gegenüber nicht nett – dann begehen wir einen Friedensbruch, stimmt’s?« –
» Das ist so«, sagte François, »das ist typisch englisch.«
»Es ist eine verrückte Denkweise«, überlegte der andere. Sie waren an der Zimmertür der Dame angekommen. Sie war während des Spazierganges sehr ruhig geblieben, hatte Fragen nur recht einsilbig beantwortet. Die Ereignisse des Abends gaben ihr viel zu denken. François wünschte ihr kurz eine gute Nacht und ging ein paar Meter weiter. Es war zu Starques Privileg geworden, gleich an der Seite der Frau zu gehen. Nun nahm er ihre schlanke Hand in die seine und schaute auf sie herunter. Irgendjemand hat einmal gesagt, dass der Osten in Bukarest anfängt, aber es gibt einen Hauch von Osten in jedem Ungarn, und in deren ganzen Haltung dem Weiblichen gegenüber findet sich eine gewisse Rohheit, von der ein etwas zarter besaiteter Westen nicht sehr erbaut ist. »Gute Nacht, kleine Maria«, sagte er leise. »Eines Tages wirst du etwas freundlicher sein und mich nicht an der Tür stehen lassen.« Sie schaute ihn fest an.
»Das wird nie geschehen«, antwortete sie ohne ein Zittern in der Stimme.