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Der tadellos gekleidete junge Mann, der als Dritter an dem Mittagessen der Howetts teilgenommen hatte, war denn doch älter, als sein rosiges, jugendliches Gesicht vermuten ließ. Valerie hatte das auch gleich angenommen, als ihr Vater ihn ihr vorstellte. Sie interessiere sich zuerst wenig für ihn. Auf ihren Reisen mit ihrem Vater, die ihn auch häufig nach Amerika führten, hatte sie in Chicago und in New York, ja in jeder größeren Stadt der Vereinigten Staaten, die verzogenen Söhne eingebildeter Väter gefunden, junge Leute, die an nichts anderes im Leben dachten, als die Stunden möglichst totzuschlagen, die sie von ihren nächtlichen Abenteuern trennten. Sie kannte nur zu genau die Grenzen ihrer Interessen, die gewöhnlich zwischen ihren schnellen Automobilen und ihren nächtlichen Gelagen schwankten, aber zum erstenmal war sie einem solchen jungen Mann in England begegnet.

In mancher Weise war James Lamotte Featherstone besser als alle anderen, die sie bisher kenngelernt hatte. Sein Leben war zwar auch ohne Ziel und Zweck, aber er besaß den großen Vorzug, sehr gute Manieren zu haben und ihr gegenüber äußerst zurückhaltend zu sein. Er sprach niemals von sich selbst, aber über andere Dinge konnte er sehr unterhaltsam sein.

Valerie hatte ihn zuerst geduldet, weil er viel stattlicher und vornehmer war als der Detektiv, den ihr Vater früher engagiert hatte, um sie auf ihren etwas gefährlichen, einsamen Streifzügen in die Umgebung zu begleiten. Aber schließlich mochte sie ihn ganz gerne trotz seiner übertrieben eleganten Kleidung.

Am Tage nach der Ermordung Creagers sprach er bei ihr vor, um mit ihr in den Park zu gehen.

Als sie in dem sonnigen Park angelangt waren und er einen Stuhl für sie an der Seite des großen Reitweges besorgt hatte, wandte sie sich plötzlich an ihn.

»Ich möchte Sie etwas fragen, und zwar etwas ganz Persönliches.«

»Was tun Sie eigentlich anders, als anständige junge Damen auf ihren Spaziergängen begleiten?«

Er schaute sie scharf an.

»Sie sind sehr anziehend,« sagte er dann ernst. »Sie erinnern mich immer an Beatrice d'Este, die Dame, die Leonardo malte, nur ist Ihr Gesicht noch zarter und Ihre Augen sind viel schöner –«

Sie wurde dunkelrot und unterbrach ihn.

»Mr. Featherstone,« sagte sie ärgerlich, »haben Sie denn nicht gemerkt, daß ich mir einen Scherz erlaubte? Haben Sie denn als Engländer gar keinen Sinn für Humor? Ich sprach doch nicht von mir selbst.«

»Sie kennen aber doch niemand anders, den ich jemals begleitet hätte,« verteidigte er sich und gab dem Gespräch taktvoll eine andere Wendung. »Nein, ich habe sonst nichts zu tun.«

»Sie bügeln nicht einmal Ihre eigenen Beinkleider,« sagte sie streng, denn sie hatte sich über ihn geärgert.

»Nein, das tue ich nicht, ich habe einen Mann dafür angestellt,« gab er zu. »Aber ich bürste meine Haare allein,« fügte er stolz hinzu.

Sie mußte trotz ihrer schlechten Laune lachen, aber plötzlich wurde sie wieder ernst.

»Mr. Featherstone, ich bitte Sie um einen großen Gefallen. Ich weiß selbst nicht, warum ich Sie eben ärgerte. Mein Vater ist ängstlich besorgt um mich, er ist ein wenig altmodisch und bildet sich ein, daß eine junge Dame nicht allein ausgehen dürfte. Er ist sogar auf den Einfall gekommen, einen Detektiv zu engagieren, der mich beschützen soll.«

»Ihr Vater ist ein sehr vernünftiger Mann,« sagte Jimmy Featherstone prompt. Aber das war gerade das, was er nicht hätte sagen sollen.

»Das vermute ich auch.« Valerie unterdrückte mit Mühe eine scharfe Entgegnung. »Aber ... ich möchte offen sein, Ihnen gegenüber. Ich sehne mich danach, allein zu sein. Ich brauche ganze Tage für mich – verstehen Sie, Mr. Featherstone?«

»Ja.«

»Ich kann wirklich nur allein sein, ohne meinen Vater zu ängstigen, wenn er denkt, daß Sie mich irgendwohin begleiten – ins Theater oder ... oder ins Museum.«

»Ich würde Sie niemals dorthin bringen,« widersprach Jimmy, und die gereizte junge Dame seufzte schwer.

»Ich meine etwas anderes – ich will ganz offen zu Ihnen sein. Ich möchte, daß Sie morgen kommen und mich zu einem Spaziergang abholen, mich dann aber allein lassen, so daß mein Wagen da hinfahren kann, wo ich will. Sie können ja ruhig sagen, daß Sie mich zu einer Tagestour mitnehmen – Vielleicht auf den Fluß –«

»Die Jahreszeit ist aber eigentlich schon etwas weit vorgeschritten für eine Partie auf dem Fluß.«

»Also schön, zu irgendeinem anderen Ausflug, der mich den ganzen Tag von Hause fernhält. Mein Vater reist Mittwoch Abend nach Schottland ab –«

»Sie wünschen also von mir, daß ich vorgeben soll, mit Ihnen auszugehen, und dann soll ich Sie sich selbst überlassen?«

Sie seufzte wieder.

»Wie klug Sie sind! Ja, das möchte ich.«

Jimmy Featherstone bohrte mit seinem Spazierstock ein Loch in den Kies.

»Ich will Ihren Wunsch unter einer Bedingung erfüllen,« sagte er dann langsam.

Sie schaute ihn erstaunt an.

»Unter einer Bedingung? Was soll das heißen?

Er hob den Kopf und schaute ihr gerade in die Augen.

»Überlassen Sie die Nachforschungen nach Abel Bellamys Angelegenheiten jemand anders. Das ist keine Aufgabe für eine Dame. Wenn die Polizei die Pflanzung hinter Creagers Haus abgesucht hätte, dann wäre es Ihnen sicher schwer gefallen, Ihre Anwesenheit dort zu erklären, Miß Howett!«

Einen Augenblick starrte Valerie ihren Begleiter sprachlos an. Sie war blaß geworden.

»Ich – ich verstehe Sie nicht, Mr. Featherstone,« stotterte sie.

Der junge Mann wandte sich zu ihr und sah sie lächelnd an, halb belustigt, aber es lag auch eine gewisse Warnung in seinem Blick.

»Miß Howett, Sie haben mir eben den Vorwurf gemacht, daß ich ein zweckloses Leben führe. Ein Müßiggänger hat sehr viel Zeit, Beobachtungen anzustellen. Sie kamen an meiner Wohnung in St. James' Street in einem Mietauto vorbei und fuhren hinter dem Fordwagen Mr. Creagers her.«

»Sie kannten Creager?« fragte sie erstaunt.

»Ich kannte ihn oberflächlich,« sagte Mr. Featherstone, der mit seinem Spazierstock spielte und ihren Blicken auswich. »Ich kenne fast alle Leute oberflächlich,« fügte er dann lächelnd hinzu, »manche allerdings sehr eingehend. Zum Beispiel weiß ich, daß Sie Ihren Wagen am Ende der Field Road entließen und zu Fuß die Straße entlang gingen – bis zu Creagers Haus. Dann schien es so, als ob Sie nicht recht wüßten, was Sie tun sollten. Sie kamen zu dem Eingang eines kleinen Fußpfades, der durch die Pflanzung neben Creagers Garten führt. Sie gehörte ihm nicht, er hatte sie nur gepachtet. Er hatte sich auch nicht die Mühe gegeben, den Hinteren Teil seines Gartens nach der Pflanzung zu mit einem Zaun abzuschließen. Dort haben Sie letzten Abend bis acht Uhr gewartet.«

»Das haben Sie alles nur vermutet,« entgegnete sie scharf. »Mein Vater hat Ihnen erzählt, daß ich zum Abendessen nicht zurückkam –«

»Es ist nicht nur bloße Vermutung,« sagte er ruhig. »Sie haben in der Pflanzung gewartet, weil Sie fürchteten, daß man Ihre Anwesenheit wahrnehmen würde.«

»Von wo aus haben Sie mich denn beobachtet?«

Er lächelte wieder.

»Ich war auch in der Pflanzung. Es tut mir leid, daß es so war, sonst hätte ich unseren Freund, den Grünen Bogenschützen, wahrscheinlich gesehen.«

»Was haben Sie denn dort zu tun gehabt? Wie dürfen Sie es wagen, hinter mir her zu spionieren, Mr. Featherstone?«

Er zwinkerte mit dem Auge, aber kein Muskel seines Gesichts rührte sich.

»Sie sind inkonsequent, Miß Howett. Noch vor kurzem haben Sie sich darüber beklagt, daß ich nichts täte und nun erzähle ich Ihnen, daß ich Sie auf einer sehr gefährlichen Expedition geschützt habe –«

Sie schüttelte hilflos den Kopf.

»Ich weiß nicht, was ich davon denken soll. Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich, Mr. Featherstone. Wie kamen Sie überhaupt auf den Gedanken, daß ich Creager folgte?«

Nachdenklich nahm er ein goldenes Zigarettenetui aus der Tasche.

»Gestatten Sie, daß ich rauche?« fragte er. Als sie nickte, zündete er sich eine Zigarette an und blies den blauen Rauch in die stille Morgenluft.

»Sie folgten Creager,« sagte er langsam, »weil – das vermute ich allerdings nur – weil Sie dachten, daß er in seinem Groll Bellamy verraten und Ihnen vielleicht die Aufklärung geben würde, nach der Sie nun schon seit Jahren suchten.«

Sie starrte ihn verblüfft an.

»Sie suchen nach einer Frau, die unter merkwürdigen Umstanden verschwand, Miß Howett,« fuhr der elegante junge Mann fort und zeichnete mit der Spitze seines Spazierstocks allerhand Figuren in den Kies. »Und ob es nun richtig ist oder falsch, Sie vermuten, daß Bellamy für das Verschwinden dieser Frau verantwortlich ist. Sie haben schon viel gewagtere Streifzüge unternommen als gerade gestern. Es hat viel Zeit gekostet, bevor ich Ihre Gedankengänge rekonstruieren konnte. Aber Sie dachten wahrscheinlich, daß Bellamy Creager nach seinem Hause folgen würde, und daß Sie dann die Möglichkeit hätten, das Gespräch der beiden zu belauschen. Sie warteten ungefähr zwei Stunden in der Pflanzung – und wollten gerade zu dem Haus gehen, als Sie die Polizei bemerkten.«

Er nahm sein Zigarettenetui und steckte es wieder in die Tasche. Er fand plötzlich keinen Gefallen mehr am Rauchen.

»Ich hätte viel Geld darum gegeben, wenn ich den Grünen Bogenschützen getroffen hätte,« sagte er leise.

»Dann glauben Sie wirklich –?« fragte sie entsetzt.

Er nickte.

»Ich vermute es nicht nur, sondern ich weiß es ganz genau.«

Sie sah ihn mit einem neuen Interesse an, und es wurde ihr manches klar.

»Sie sind doch ein merkwürdiger Mann, Mr. Featherstone! Sie sind schlauer als der Detektiv, den mein Vater anstellen wollte, um mich zu beschützen.«

Er lachte.

»Ich muß Ihnen ein Geständnis machen, Miß Howett. Ich bin nämlich der Detektiv, der diesen Auftrag hat. Ich bin Kapitän Featherstone von Scotland Yard, und ich beobachte Sie schon, seit Sie in London ankamen.«

Der grüne Bogenschütze

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