Читать книгу Das Geheimnis der gelben Narzissen - Edgar Wallace, Edgar Wallace - Страница 10
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ОглавлениеDie Londoner Polizeibehörden stehen einem sonderbaren Mord gegenüber, den so merkwürdige Nebenumstände begleiten, daß es nicht übertrieben wäre, dieses Verbrechen als das Geheimnis dieses Jahrhunderts zu bezeichnen. Eine bekannte Erscheinung der Londoner Gesellschaft, Mr. Thornton Lyne, der Chef eines großen Warenhauses, ein nicht unbedeutender Dichter, ein Millionär, der wegen seiner menschenfreundlichen Bestrebungen allgemein bekannt ist, wurde heute in den frühen Morgenstunden in einer Lage aufgefunden, die nicht den geringsten Zweifel darüber läßt, daß er ermordet wurde.
Heute morgen um halb sechs kam Thomas Savage, ein Maurer, auf seinem Weg durch den Hydepark und sah eine Gestalt in der Nähe des Fahrweges liegen. Er eilte hin und entdeckte, daß der Mann schon mehrere Stunden tot sein mußte. Der Tote hatte weder Rock noch Weste an, aber um seine Brust war ein seidenes Kleidungsstück geschlungen, offenbar um die stark blutende Wunde in der linken Seite zu stillen. Die Hände waren auf der Brust gekreuzt.
Am merkwürdigsten ist aber, daß der Mörder die Leiche in dieser besonderen Stellung hingelegt haben muß. Auf der Brust des Toten fand sich auch noch ein Strauß gelber Narzissen. Die Polizei war bald zur Stelle, und nachdem die nötigen Feststellungen gemacht waren, wurde die Leiche entfernt. Die Beamten sind der Ansicht, daß der Mord nicht im Hydepark begangen wurde, sondern daß der Unglückliche an einem anderen Ort getötet und in seinem eigenen Auto in den Park gebracht wurde, denn sein Wagen stand verlassen etwa hundert Meter von dem Fundort. Wie wir hörten, ist die Polizei auf einer sehr wichtigen Spur, und eine Verhaftung steht unmittelbar bevor.«
Mr. J. O. Tarling, früher Mitglied der Geheimpolizei in Schanghai, las diesen kurzen Bericht und wurde sehr nachdenklich.
Lyne war ermordet worden! Es war ein ungewöhnlicher Zufall, daß er gerade vor einigen Tagen mit diesem jungen Mann in Berührung gekommen war.
Tarling selbst wußte eigentlich nichts von Lynes Privatleben. Er vermutete nur nach dem, was er von dessen kurzem Aufenthalt in Schanghai erfahren hatte, daß manche seiner Erlebnisse dunkel waren. Er erinnerte sich jetzt schwach an eine Skandalgeschichte, die mit Lynes Namen verknüpft war, und suchte sich nun wieder alle Einzelheiten ins Gedächtnis zurückzurufen. Er legte die Zeitung nieder. Es tat ihm in diesem Augenblick leid, daß er nicht Beamter von Scotland Yard war. Das wäre ein wunderbarer Fall für ihn gewesen. Hier war ein Geheimnis, für das sich die Öffentlichkeit in hohem Maße interessieren würde und das aufzuklären sich sicher lohnte!
Seine Gedanken wanderten zu Odette Rider. Was würde sie dazu sagen? Gewiß würden sie Entsetzen und Schrecken über diese Untat packen. Es war ihm sehr peinlich, als er daran dachte, daß man sie, wenn auch nur indirekt und entfernt, mit dieser öffentlichen Skandalgeschichte in Verbindung bringen könnte. Wahrscheinlich würden die Zeitungen ihren Namen erwähnen und die Tatsache berichten, daß sie mit dem Toten einen Streit gehabt hatte.
»Ganz unmöglich«, sagte er halblaut vor sich hin. Er ging schnell zur Tür und rief Ling Chu.
Der Chinese kam sofort schweigend herein.
»Höre, der Mann mit dem weißen Gesicht ist tot.«
Ling Chu sah seinen Herrn ruhig an.
»Alle Menschen sterben einmal!« sagte er mit gelassener Stimme. »Dieser Mann starb schnell, das ist besser als langsam sterben.«
»Woher weißt du, daß er schnell gestorben ist?«
»Man spricht über diese Dinge«, sagte Ling Chu, ohne zu zögern.
»Aber die Leute sprechen hier nicht chinesisch«, erwiderte Tarling, »und du sprichst doch nicht englisch.«
»Ich spreche doch ein wenig, Herr«, entgegnete Ling Chu, »und ich habe gehört, wie sich die Leute auf der Straße darüber unterhielten.«
»Ling Chu«, sagte Tarling nach einer Pause, »dieser Mann kam nach Schanghai, während wir dort waren, und damals gab es einen großen Skandal. Einmal wurde er doch aus Wing Fus Teehaus hinausgeworfen, wo er Opium geraucht hatte. Es gab eine Aufregung seinetwegen – erinnerst du dich daran?«
Der Chinese sah ihm gerade in die Augen.
»Ich habe es vergessen«, antwortete er. »Dieser Mann war ein schlechter Mensch. Ich freue mich, daß er tot ist!«
»Hm!« sagte Tarling und entließ Ling Chu mit einem kurzen Nicken.
Dieser Chinese war der schlaueste aller seiner Spürhunde. Wenn er erst einmal auf eine Fährte gesetzt war, folgte er unweigerlich jedem Verbrecher. Dabei war er einer der anhänglichsten und treuesten von Tarlings Dienern. Aber noch niemals hatte der Detektiv Ling Chus Gedanken so weit ergründet, daß er den Schleier hätte lüften können, mit dem die Eingeborenen ihre eigenen Gefühle und Gedanken verhüllen. Selbst einheimische Verbrecher waren erstaunt über Ling Chus Fähigkeiten, und mancher Mann war sich auf seinem Weg zum Schafott nicht klar darüber, wie es Ling Chu gelungen war, sein Verbrechen aufzudecken.
Tarling ging zum Tisch zurück und nahm die Zeitung auf, aber kaum hatte er wieder zu lesen begonnen, als das Telefon läutete. Er nahm den Hörer ab und erkannte zu seinem Erstaunen die Stimme Cresswells, des Polizeioberinspektors, auf dessen Rat hin er nach England gekommen war.
»Würden Sie so liebenswürdig sein und mich gleich in der Direktion aufsuchen? Ich möchte mit Ihnen über die Ermordung Lynes sprechen.«
»Ich bin in einigen Minuten bei Ihnen«, erwiderte Tarling.
Als er kurz darauf nach Scotland Yard kam, wurde er sofort in das Büro Cresswells geführt. Der weißhaarige Herr erhob sich und ging ihm mit einem befriedigten Lächeln entgegen.
»Ich werde Sie mit der Aufklärung der Sache betrauen lassen, Tarling«, sagte er. »Es sind verschiedene Begleitumstände mit diesem Mord verbunden, die unsere hiesige Polizei nicht versteht, und es ist ja schließlich nicht ungewöhnlich, daß Scotland Yard auswärtige Hilfe zu Rate zieht, besonders wenn es sich um ein Verbrechen wie das vorliegende handelt. Die Tatsachen sind Ihnen ja bekannt.« Er öffnete eine dünne Aktenmappe.
»Hier sind alle dienstlichen Berichte, Sie können sie durchlesen. Thornton Lyne war, um es gelinde auszudrücken, etwas exzentrisch veranlagt. Er hatte manche unliebsame Bekanntschaften, darunter auch einen ausgesprochenen Verbrecher, einen Sträfling, der erst vor einigen Tagen aus dem Gefängnis entlassen wurde.«
»Das ist ja merkwürdig«, erwiderte Tarling und zog die Augenbrauen hoch. »Was hatte er mit diesem Mann zu tun?«
Cresswell zuckte die Schultern.
»Meiner Ansicht nach wollte er nur mit ihm renommieren. Er hatte es gern, wenn man über diesen außergewöhnlichen Fall sprach. Es gab ihm ein besonderes Ansehen bei seinen Freunden.«
»Wer ist dieser Sträfling?«
»Sam Stay, ein Dieb und Einbrecher, ein viel gefährlicherer Bursche, als die Polizeibehörde im allgemeinen annimmt.«
»Glauben Sie denn, daß er –«, begann Tarling.
»Wir können ihn sicher ruhig von der Liste der Leute streichen, die im Verdacht stehen, diesen Mord begangen zu haben. Sam Stay hat zwar wenig Eigenschaften, durch die er sich zu seinem Vorteil vor anderen auszeichnet, aber zweifellos war er Lyne sehr ergeben. Als der Detektiv, der die ersten Erkundigungen einzog, nach Lambeth ging, ihn zu verhören, fand er ihn der Länge nach auf seinem Bett liegen, neben sich eine Zeitung, mit dem Bericht über den Mord. Er war ganz außer sich vor Schmerz und drohte mit wilden Flüchen, daß er den Täter fassen würde. Lyne war in seinen Augen mehr als ein gewöhnlicher Mensch, und ich kann mir vorstellen, daß die einzige edle Regung in seinem Leben die Zuneigung zu diesem Mann war, der ihn gut behandelt hatte. Es mag dahingestellt sein, ob das die richtige und empfehlenswerte Art der Fürsorge für andere Menschen ist. Ich will Ihnen nun ein paar Tatsachen erzählen.«
Cresswell lehnte sich in seinen Stuhl zurück.
»Sie wissen doch, daß um Lynes Brust ein seidenes Nachthemd geschlungen war?«
Tarling nickte.
»Aber darunter fanden sich noch zwei zusammengebauschte Taschentücher, die offenbar das Blut stillen sollten. Der Größe nach waren es Damentaschentücher. Wir müssen also annehmen, daß eine Frau in die Sache verwickelt ist.«
Tarling nickte nachdenklich.
»Nun noch eine andere merkwürdige Tatsache, die glücklicherweise der Aufmerksamkeit derer entgangen ist, die die Leiche zuerst fanden und den Zeitungsberichterstattern die ersten Nachrichten übermittelten. Lyne trug, obgleich er vollkommen bekleidet war, ein Paar dicke Filzpantoffeln. Wir haben festgestellt, daß er sie sich gestern Abend aus seinem Geschäft kommen ließ. Einer seiner Angestellten mußte sie ihm bringen. Lynes Schuhe wurden in seinem Auto gefunden, das in einiger Entfernung vom Fundort stand. – Viertens möchte ich Ihnen mitteilen – und das ist auch der Grund, warum ich Sie zu der Aufklärung des Falles zugezogen habe –, daß Rock und Weste ebenfalls in blutbeflecktem Zustand in seinem Wagen entdeckt wurden. In der rechten Westentasche fand man dies.« Cresswell hatte die letzten Worte langsam und nachdrücklich gesprochen und nahm jetzt aus seiner Schublade ein kleines quadratisches rotes Papier und überreichte es dem Detektiv. Tarling nahm es in die Hand und starrte darauf. In dicken schwarzen Strichen standen vier chinesische Schriftzeichen darauf. ›tzu chao fan nao‹ – ›Er hat es sich selbst zuzuschreiben.‹