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1. Kapitel Nur nicht die Nerven verlieren
ОглавлениеAnthony Newton wurde im Weltkrieg mit sechzehn Jahren Soldat, und mit sechsundzwanzig war er ein armer Kerl, der von der Gunst anderer Leute abhing. Geduldig wartete er in unzähligen Büros und ließ die üblichen Fragen über sich ergehen, die fast überall die gleichen waren.
»Welche Geschäftspraxis hatten Sie bisher?«
»Welches Gehalt beanspruchen Sie?«
Außerdem sollte er noch viele andere, mehr oder weniger wichtige Fragen beantworten, die ihm klarmachten, daß die Erziehung in einer höheren Schule und tadellose Militärpapiere noch lange keine Anwartschaft auf irgendeine Stellung geben, von der man, wenn auch nur notdürftig, leben kann. Mit solchen Voraussetzungen läßt sich nur etwas erreichen, wenn man über große Geldsummen verfügt, um sich eine Teilhaberschaft, einen Sekretärposten oder eine lohnende Vertretung zu erwerben.
Immer wieder hörte Anthony denselben Bescheid.
»Wir haben leider im Augenblick keine Verwendung für Sie, Mr. Newton. Aber wenn Sie uns Ihre Adresse hierlassen wollen, werden wir Ihnen Mitteilung machen, sobald sich etwas für Sie bietet.«
Acht Jahre lang hatte sich nun Anthony Newton in allen möglichen Stellungen herumgeschlagen. Die Abfindungssumme, die er vom Militär erhalten hatte, steckte er in eine Geflügelfarm. Jeder weiß nun, daß es sehr einfach ist, auf diese Weise Geld zu verdienen, das heißt auf dem Papier und in der Theorie, in Wirklichkeit kommt es jedoch gewöhnlich ganz anders. Nach acht Jahren Misserfolg ging er mit sich selbst zu Rate und entschied sich dann nüchtern für eine Art Räuberleben, und zwar ein solches, gegen das die Gesetzesparagraphen weniger anwendbar waren. Schon lange hatte er mit dem Gedanken gespielt, aber eines Morgens verwirklichte er seinen Plan.
Seine Wirtin, Mrs. Cranboyle, überreichte ihm gerade ihre Rechnung und die Kündigung für den Fall, daß er nicht sofort zahlte. An solche Rechnungen war er schon gewöhnt, aber die Kündigung war ihm neu. Er hatte zwar längst damit gerechnet, aber als sie nun tatsächlich kam, war er doch bestürzt.
Er schaute die Frau nachdenklich an, und ein unentschlossener Ausdruck lag auf seinem hübschen Gesicht. Aber für Mrs. Cranboyle, eine gedrungene, kräftige Frau mit harten Augen und großem, energischem Kinn, gab es keinerlei Zweifel über die Sachlage.
Anthony seufzte, und sein Blick wanderte von dem Gesicht seiner Wirtin über all die kleinen Gegenstände des einfachen Zimmers hin, die Bettstelle, die sentimentalen religiösen Bilder an den Wänden, die beiden Porzellanhunde auf dem Kamin, den einfachen Teppich, den blankgeputzten Messingbeschlag am Feuerrost. Dann sah er wieder Mrs. Cranboyle an.
»Sie können doch nicht erwarten, daß ich Sie noch länger hier wohnen lasse, Mr. Newton«, sagte sie mit Nachdruck. Und es war nicht das erste Mal, daß er diese Worte hörte.
»Still!« sagte Anthony. »Ich will nachdenken.«
Mrs. Cranboyle zuckte die Achseln.
»Ich habe sehr hart arbeiten müssen, um das zusammenzubringen, was ich habe«, fuhr sie fort, »und ein junger Mann wie Sie sollte etwas Besseres tun als einer armen Witwe auf der Tasche liegen, die nicht weiß, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten soll ...«
»Sie haben siebenhundertfünfzig Pfund in Kriegsanleihe, zweihundertfünfzig Pfund in Aktien und ein Bankdepot von ungefähr fünfhundert Pfund«, erwiderte Anthony ruhig.
Mrs. Cranboyle war starr vor Staunen.
»Aber wie ... was ...«, stammelte sie.
»Ich habe mir neulich Ihr Bankbuch angesehen«, erklärte Anthony, ohne sich im mindesten zu genieren. »Sie haben es im Wohnzimmer liegenlassen – ich habe mir ganz nett die Zeit damit vertrieben.«
»Na, dazu gehört aber doch eine Dreistigkeit sondergleichen«, rief sie atemlos. »Da hört doch alles auf! Sie räumen noch heute das Zimmer!«
»Wie Sie wollen. Ich werde mir eine andere Wohnung suchen und jemand schicken, der meinen Koffer abholt.«
»Geben Sie dem Mann nur auch die Miete für sechs Wochen mit«, sagte Mrs. Cranboyle ärgerlich, »sonst brauchen Sie sich gar nicht erst die Mühe zu machen, nach Ihren Sachen zu schicken. Wenn Sie glauben, daß ich hier meine Zimmer an Spieler und Taugenichtse umsonst –«
Anthony machte eine abwehrende Handbewegung.
»Vergessen Sie nicht, daß Sie hier zu einem Mann sprechen, der für Ihr Vaterland gekämpft und die Schrecken des Krieges mitgemacht hat«, sagte er stolz. »Sie haben hier ruhig in Ihrem Bett geschlafen, während wir in Schnee und Regen, in Wind, Wetter und Nebel im Schützengraben ausgehalten haben. Denken Sie immer daran, Mrs. Cranboyle! Sie können Leuten wie mir niemals Dank genug wissen.« Er schaute sie scharf an. »Wo würden Sie jetzt sein, wenn die Deutschen gesiegt hätten?«
Mrs. Cranboyle war das Schimpfen vergangen. Sie wollte ihm wieder Vorhaltungen machen, wie er sein Geld vertan habe, aber er sparte ihr die Mühe.
»Sie haben mir eben gesagt, daß ich spiele – nun ja, ich habe im Rennen gesetzt. Das wissen Sie aber nur, weil Sie in meinen Papieren herumgestöbert haben. Ihre Neugierde wird Ihnen noch einmal böse mitspielen.«
Er schaute noch einmal zum Fenster hinaus, dann nahm er seinen Hut. Seine Wirtin konnte nichts weiter sagen; seine durchdringenden Blicke hatten sie vollständig eingeschüchtert.
»Sie können mir wenigstens noch einen Dienst erweisen, Mrs. Cranboyle. Leihen Sie mir zehn Schilling, ich werde sie Ihnen in einigen Stunden zurückzahlen.«
Nun fand sie plötzlich ihre Sprache wieder.
»Von mir bekommen Sie keinen Penny!«
»Das ist nun der Dank dafür, daß man das Vaterland verteidigt hat«, murmelte Anthony. »Solche Menschen wie Sie machen aus uns früheren Soldaten Anarchisten.«
»Wenn Sie mich hier bedrohen, schicke ich zur Polizei«, schrie Mrs. Cranboyle.
Anthony ging noch einmal zum Waschtisch zurück, bürstete sein Haar sorgfältig und nahm den Hut wieder auf.
»Ich werde heute nachmittag nach meinem Koffer schicken«, sagte er einfach.
Sie schimpfte noch hinter ihm her, als er langsam die Treppe hinunterging. Er wußte, daß es nun kritisch wurde.
Es bedrückte ihn nicht, daß er mit drei Pennies in der Tasche den harten Kampf ums Dasein aufnehmen mußte. Er ging fröhlich und guter Dinge in den hellen Sonnenschein des Tages hinaus und wanderte durch die Straßen der Vorstadt, als ob er nicht die geringsten Sorgen hätte.
Im Kriege war er Leutnant einer Maschinengewehrabteilung gewesen, später Sekretär einer größeren Firma. Aber er trug dem Chef, der ihm gekündigt hatte, keinen Groll nach. Er wußte, daß alle Erwerbsquellen für ihn im Augenblick versiegt waren, und er hatte es satt, sich unter der wartenden Menschenmenge in den Arbeitsbüros herumzudrücken. Die vielen Drehorgelspieler, die mit Kreide ihre militärischen Verdienste auf Schilder geschrieben hatten, die maskierten Sänger aus der Aristokratie, die in den Höfen und Straßen der Vorstädte herumzogen und sich auf diese romantische Weise einen kargen Lebensunterhalt erwarben, die früheren Offiziere, die schöne Aquarellbilder an den Straßenecken im Westen verkauften, und die aggressiveren Leute, die Gastrollen in Banken mit dem Revolver in der Hand gaben, sie alle bewiesen zur Genüge, daß eine höhere Schulbildung und eine militärische Laufbahn nicht ausreichten, Geld zu verdienen und seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.
Anthony stieg auf die nächste Straßenbahn, und als er seinen Fahrschein gelöst hatte, blieb ihm nur noch ein Penny übrig. Er war jetzt mehr als je davon überzeugt, daß seine bisherige Art zu leben keinen Zweck hatte.
Er ging in die Nationalgalerie, wo ihm früher schon immer gute Gedanken gekommen waren. Aber als er um die Mittagszeit wieder auf die Straße trat, war ihm noch nichts Neues eingefallen. Er hatte Hunger, denn er war gesund und jung und hatte zum Frühstück nur zwei harte, dünn mit Butter bestrichene Brotschnitten und eine Tasse Tee bei Mrs. Cranboyle zu sich genommen.
Ein Polizist sah ihn an der Ecke des Trafalger Square stehen und glaubte, irgendeinen Fremden vom Lande oder aus den Kolonien vor sich zu haben, der unentschlossen schien und anscheinend nicht wußte, wohin er gehen sollte. Anthony trug stets große, graue, breitrandige Filzhüte und legte Wert auf eine gute Kleidung.
»Kann ich Ihnen irgendeine Auskunft geben?« fragte der Polizist.
»Ich möchte gern wissen, wo ich hier gut zu Mittag essen könnte«, entgegnete Anthony wahrheitsgetreu.
»Sie sollten in das Pallaterium gehen. Gestern hat mir noch ein Herr gesagt, daß es das beste Lokal in London sei.«
»Danke schön«, erwiderte Anthony liebenswürdig. Es tat ihm mehr leid, daß er diesem freundlichen Mann kein reichliches Trinkgeld geben konnte, als daß er jetzt nicht einmal mehr die nötigen Mittel hatte, ein Essen zu bezahlen. Aber trotzdem ging er in das Pallaterium, denn er hatte einen festen Glauben an sich und vertraute seinem guten Stern.
Sorglos betrat er den großen Vorraum, in dem sich viele Menschen aufhielten. Die meisten warteten auf Gäste oder auf Leute, die sie zu Tisch geladen hatten. Er setzte sich in einen bequemen, tiefen Sessel und streckte die Beine behaglich von sich. Aus der Flügeltür des Restaurants drang der Duft von Braten und guten Speisen zu ihm herüber. Er beobachtete die Menschen und sah, wie sich die einen entschuldigten, daß sie so spät kamen, und wie die anderen ruhig und geduldig warteten. Verwandte und Bekannte trafen sich hier und gingen durch die Glastüren in kleinen Gruppen in das Paradies. Aber es war niemand unter all den Leuten, den er kannte.
Jetzt kamen zwei untersetzte Herren und zwei Damen herein. Sie waren sehr elegant gekleidet und hatten sicherlich die Nacht nicht auf einem harten Lager verbracht und darüber nachgedacht, wie sie sich am nächsten Tage ernähren sollten. Anthony schaute ihnen nach, als auch sie in dem Speisesaal verschwanden, und seufzte.
»Wenn ich doch nur ...« begann er, aber plötzlich kam ihm ein guter Gedanke.
Er wartete noch zehn Minuten, dann erhob er sich langsam, gab seinen Hut in der Garderobe ab und trat in das Lokal. Er sah die vier Leute an einem Tisch am Ende des großen Raumes sitzen. Neben ihnen war noch ein kleiner Tisch unbesetzt. Der ältere der beiden Herren schaute plötzlich auf und sah einen gutgekleideten Herrn von achtunggebietender Größe vor sich stehen.
»Bitte, womit kann ich Ihnen dienen?«
Anthony beugte sich zu ihm nieder und sprach mit leiser Stimme zu ihm, aber doch so, daß alle anderen es auch hören konnten.
»Lord Rothside läßt sagen, es tue ihm sehr leid, daß er nicht hierherkommen könne. Er fragt an, ob Sie nicht statt dessen am Berkeley Square mit ihm essen wollten?«
»Wie meinen Sie?« fragte der Herr verwundert.
»Sind Sie nicht Mr. Steiner?« erwiderte Anthony ganz erstaunt, als ob ihm plötzlich klar würde, daß er sich getäuscht habe.
»Nein«, entgegnete der etwas korpulente Herr. »Mein Name ist Goldheim«, sagte er dann lächelnd. »Ich glaube, Sie irren sich.«
»Das tut mir sehr leid, aber ich habe Mr. Steiner noch nie gesehen. Ich war nur hierhergeschickt, weil er hier speisen wollte und ...« er brach verwirrt ab.
»Bitte sehr, es macht gar nichts«, sagte der andere geschmeichelt. »Ich kenne leider Mr. Steiner nicht, sonst würde ich Ihnen den Herrn zeigen.« Er wandte sich an seine Tischgenossen. »Man hat mich für einen Freund von Lord Rothside gehalten.« Man merkte, wie angenehm ihm dies war.
»Dann muß ich eben noch warten, bis er kommt«, meinte Anthony entschuldigend. »Es tut mir wirklich unendlich leid, daß ich Sie gestört habe.«
Er ließ sich am nächsten Tisch nieder.
»Ich möchte noch nichts bestellen, ich warte noch auf einen Herrn«, sagte er, als der Kellner sich nach seinen Wünschen erkundigte.
Am Nachbartisch aß man weiter. Anthony schaute einige Zeit verzweifelt und ungeduldig nach der Tür. Plötzlich wandte sich einer der Herren vom Nebentisch an ihn.
»Mr. Steiner scheint wohl noch nicht zu kommen?« fragte er unnötigerweise.
Anthony schüttelte den Kopf.
»Ich will warten, aber es ist schrecklich. Ich komme dadurch ganz um mein Essen.«
»Würden Sie nicht bei uns Platz nehmen, Mr. ...?«
»Mein Name ist Newton«, sagte Anthony. »Aber ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen.«
Aber er nahm doch sofort Platz, und fünf Minuten später hatte er schon Gelegenheit, den herrlichen alten Rheinwein zu loben.
»Sie sind wohl der Sekretär von Lord Rothside?«
»Ich bin nicht gerade sein Sekretär«, sagte Anthony mit einem bescheidenen Lächeln und verstand es, dabei den Eindruck hervorzurufen, als ob diese Frage mit seiner Stellung nicht recht in Einklang zu bringen sei, weil er einen weit höheren Rang einnahm. Ungefähr so würde Napoleon in den Tagen des Direktoriums dreingeschaut haben, wenn ihn jemand gefragt hätte, ob er ein Mitglied der Regierung sei.
Die beiden älteren Damen sahen trotz ihrer Jahre sehr gut aus. Sie hatten viel Sinn für Humor, und Anthony wußte sie mit den kleinen Geschichten, die er zum besten gab, glänzend zu unterhalten. Die ganze Tafelrunde amüsierte sich köstlich. Als der Kaffee serviert wurde, hatte Anthony seinen Platz in der Gesellschaft aufs beste behauptet. Mit der Miene eines Kenners und Genießers rauchte er eine der teuersten Zigarren Goldheims.
»Es ist ganz merkwürdig, wie man mitunter in eine so liebenswürdige Gesellschaft gerät«, sagte er nachdenklich. »Ich werde niemals vergessen, wie ich das erste Mal mit dem Herzog von Minford speiste. Ich kam auch ganz zufällig und unerwartet mit ihm zusammen. Ich hatte ihn vorher nie getroffen und war ihm nicht vorgestellt worden.«
Diesmal sprach Anthony die volle Wahrheit, denn er hatte den Herzog in einem Granattrichter an der Somme kennengelernt, und sie hatten zusammen etwas Keks und Schokolade geknabbert.
»Sind Sie in der City tätig, Mr. Newton?«
»Auch das«, sagte Anthony, ohne näher darauf einzugehen. »Ja, ich bin auch in der City tätig. Ich bin aber erst seit kurzem aus Übersee zurückgekehrt.«
Mr. Goldheim lächelte schlau.
»Da haben Sie wohl viel Geld verdient, wie?«
»O ja, ich habe ganz gut verdient.«
»Sie kommen wohl aus Südafrika?«
Nun war es an Anthony, zu lächeln, und er tat es so geheimnisvoll, daß es ebenso Argentinien, Chicago oder Klondike bedeuten konnte.
»Ich kenne London eigentlich noch nicht sehr gut«, gestand er dann.
Die ganze Zeit über wunderte er sich, wer wohl die drei ruhigen Herren am nächsten Tisch sein mochten. Sie sprachen wenig, schienen aber aufmerksam ihrer Unterhaltung zuzuhören. Als er zum erstenmal hinüberschaute, kam ihm zum Bewusstsein, daß sie jedes seiner Worte gehört haben mußten, und er fühlte sich einen Augenblick lang nicht recht wohl. Aber er konnte sich ja auch täuschen. Der Mann mit der gesunden, roten Gesichtsfarbe schien doch ganz in sein Essen vertieft zu sein. Es mochten reiche Leute vom Lande sein, die einen Tag in London zubrachten, vielleicht auch reiche Mühlenbesitzer aus dem Norden.
Bald darauf winkte Mr. Goldheim dem Kellner, um zu bezahlen. Er gab ein außergewöhnlich großes Trinkgeld (Anthony zuckte es in der Hand, eins der Fünfschillingstücke wegzunehmen). Dann gingen sie alle zurück zum Vestibül.
Anthony gab als erster seinen Garderobenzettel ab, und die Garderobiere nahm das Trinkgeld Mr. Goldheims für die ganze Gesellschaft.
»Können wir Sie irgendwo hinbringen?«
»Wenn Sie so liebenswürdig wären, mich bei Ritz-Carlton abzusetzen?« sagte Anthony zögernd. »Das heißt, nur wenn es auf Ihrem Wege liegt.«
Es traf sich gut, daß die anderen den Nachmittag in einem Theater zubringen wollten, das ganz in der Nähe dieses palastartigen Hotels lag. Anthony blieb noch einen Augenblick im Eingang stehen und winkte seinen liebenswürdigen Gastgebern zum Abschied zu, dann trat er in die Empfangshalle.
»Ich möchte ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer haben.«
Er hatte nicht die geringste Absicht gehabt, in das Ritz-Carlton oder irgendein anderes Hotel überzusiedeln, aber im Augenblick kam ihm der Gedanke, daß dies das richtige Hauptquartier für einen Briganten sei, der der ganzen Gesellschaft den Krieg erklärt hatte.
»Ich werde mein Gepäck später schicken. Aber wohlverstanden, ich muß Zimmer haben, von denen aus man die Straße übersehen kann.«
»Darf ich um Ihren Namen bitten?«
Anthony zeichnete sich in bester Stimmung in das Hotelbuch ein, und bevor der Portier erwähnen konnte, daß bei Ritz-Carlton Zimmer für Leute ohne Gepäck nicht reserviert werden, wenn sie nicht eine große Anzahlung machten, fragte Anthony schon, wo die nächste Depositenkasse der Hardware Trustbank von New York sei.
»Wenn Sie herauskommen, gleich rechts, mein Herr. Dann müssen Sie noch einmal nach rechts abbiegen und die Geschäftsräume liegen vor Ihnen. Es ist aber gebräuchlich, daß man ...«
Aber in diesem Augenblick kam eine willkommene Unterbrechung.
Jemand klopfte Anthony auf die Schulter. Er wandte sich um und sah in das Gesicht eines großen, liebenswürdig dreinschauenden Herrn, dessen dunkle Gesichtsfarbe darauf schließen ließ, daß er sein Leben in der frischen Luft verbrachte.
»Sie sind doch Mr. Newton?« fragte er erwartungsvoll.
Anthony trat einen Schritt zurück und streckte dann die Hand aus.
»Ich kann mich wirklich nicht auf Ihren Namen besinnen, aber ich kenne Sie doch so gut?«
»John Frenchan, von der Firma Frenchan und Carter. Sie erinnern sich doch an unser Geschäft in Kapstadt?«
»Aber selbstverständlich«, sagte Anthony begeistert und schüttelte die Hand des anderen kräftig. »Daß ich das vergessen konnte! Wo haben wir uns doch gleich kennengelernt? Aber jetzt weiß ich Ihren Namen. Er war mir früher so geläufig wie mein eigener.«
Er wandte sich von dem Tisch ab, und der Hotelangestellte wagte nicht, die beiden in ihrer Unterhaltung zu stören. Er schrieb mechanisch eine Zimmernummer hinter Mr. Newtons Namen, aber in seine Privatliste trug er ein: »Kein Gepäck.« Und dahinter setzte er ein Fragezeichen, das auch mehr als berechtigt war.
Anthonys neuer Freund führte ihn in den Palmengarten, wo die Herrschaften bei Kaffee und Zigarren saßen. Ein Kellner trat heran und setzte Stühle für sie zurecht.
»Sie haben ja schon gespeist – darf ich Sie vielleicht zu einer Tasse Kaffee einladen?« fragte Mr. Frenchan. »Mit welchem Schiff sind Sie denn herübergekommen?«
»Mit der Balmoral Castle«, antwortete Anthony.
In seiner früheren Stellung hatte er viel mit Schiffen und Schiffsverbindungen zu tun gehabt, und es waren ihm nicht nur die Dampfer der Castle Line geläufig, sondern auch der Name der bekannten Firma Frenchan und Carter, die zu den größten Importeuren von landwirtschaftlichen Maschinen in Kapstadt gehörte. In der Zeitung hatte er gelesen, wann die Balmoral Castle angekommen war.
»Ich habe Sie schon im Pallaterium erkannt«, sagte Frenchan. »Ich war meiner Sache ganz gewiß.«
»Wie?« fragte Anthony und entdeckte plötzlich, daß dieser Mann einer der drei Herren war, von denen er sich während des Mittagessens beobachtet geglaubt hatte. »Aber natürlich, ich habe Sie auch erkannt, ich wußte nur nicht, wo ich Sie unterbringen sollte.«
»Ich glaube, Sie haben auch viel Geld in Südafrika verdient?« Mr. Frenchan schien nach dem Ton seiner Stimme mit dem Erwerb seines eigenen großen Vermögens nicht recht zufrieden zu sein. »Es ist doch so leicht, Geld zu verdienen. Aber ich muß sagen, ich habe mich wohler gefühlt, als ich nur ein Pfund in der Woche hatte. Geld macht nicht glücklich!«
Anthony, der noch niemals so viel Geld besessen hatte, um sich zu einer solchen Auffassung aufzuschwingen, war ein wenig betroffen.
»Ja, ich habe ungefähr zwanzigtausend Pfund verdient.« Er zuckte die Schultern, um anzudeuten, daß eine solche Summe eigentlich nicht recht als Geld bezeichnet werden könne. »Aber ich war ja auch nicht lange in Afrika.«
Mr. Frenchan sah ihn mit neuem Interesse an. Als einen Vertreter der Kapitalisten könnte man Mr. Newton gebrauchen, aber wenn er ein selbständiger Kapitalist war, eröffneten sich ganz neue Möglichkeiten, Geschäfte mit ihm zu machen.
»Kennen Sie die Goldheims sehr gut? Ich sah, daß Sie mit ihnen speisten.«
»Ich kann nicht gerade behaupten, daß ich sie sehr gut kenne«, entgegnete Anthony, der erkannte, daß er in diesem Augenblick nicht lügen durfte. »Ich habe sie eigentlich mehr durch Zufall kennengelernt.«
»Ein tüchtiger Geschäftsmann, dieser Goldheim.« Mr. Frenchan blickte nachdenklich auf seine Zigarre. »Er verdient sein Geld mit Petroleum. Der Mann ist eine Million wert, vielleicht auch zwei.«
»Sehen Sie einmal an!« Und um etwas zu sagen und auch zugleich einige nützliche Nachrichten zu sammeln, fragte Anthony: »Bleiben Sie lange in London?«
»Etwa drei bis vier Monate.« Mr. Frenchan machte ein unzufriedenes Gesicht. »Ich wäre überhaupt nicht hergekommen, wenn mein armer, verrückter Bruder nicht gestorben wäre.«
Anthony war gespannt, ob es die Armut oder die Verschrobenheit des verstorbenen Mr. Frenchan war, über die sich sein neuer Freund so aufregte. Sicherlich ärgerte er sich über eins von beiden, denn seine Züge verfinsterten sich.
»Ein Mann hat kein Recht«, explodierte er plötzlich, »die Mildtätigkeit bis zur Verrücktheit zu treiben. Wenn jemand sein Testament macht, soll er so über sein Vermögen disponieren, daß er seine Verwandten nicht lächerlich macht. Man soll sie beneiden, ja – aber nicht die Achseln über sie zucken.«
Anthony gab das ohne weiteres zu.
Mr. Frenchan sah entrüstet aus. Er schob seine Unterlippe vor und machte gerade keinen liebenswürdigen Eindruck.
»Wenn er tausend Pfund dem Waisenhaus, tausend Pfund einem Hospital in London und dann vielleicht noch zehntausend für ein Kinderheim hinterlassen hätte, würde niemand etwas dazu sagen. Persönlich bin ich auf das Geld meines Bruders überhaupt nicht angewiesen, ebensowenig meine Familie.«
Anthony entnahm dieser wegwerfenden Erklärung, daß der verstorbene Mr. Frenchan seinem Bruder überhaupt nichts hinterlassen hatte.
»Zu welcher Religion bekennen Sie sich eigentlich, Mr. Newton?« fragte Frenchan plötzlich und völlig unerwartet.
Anthony war einen Augenblick verdutzt.
»Ich gehöre zu den Altmethodisten«, sagte er dann. Wenn er überhaupt einer besonderen Kirche angehörte, so war es diese Sekte. Als Kind war er jeden Sonntagmorgen in ihre Kirche mitgenommen worden.
Der Eindruck, den diese Nachricht auf Mr. Frenchan machte, war überwältigend. Er lehnte sich weit in seinen Stuhl zurück und sah den jungen Mann lange groß an.
»Was für ein merkwürdiger Zufall«, sagte er dann langsam. »Sie sind der erste Altmethodist, dem ich in diesem Lande begegne.«
Anthony war sehr erstaunt. Er hatte niemals geglaubt, daß die Sekte, der er früher angehörte, einen solchen Eindruck hervorrufen könnte ... und er dachte nun dankbar an die kleine Kapelle zurück, die er in seiner Jugend immer besucht hatte.
Mr. Frenchan erklärte dem jungen Mann, welche besondere Bewandtnis es damit hatte.
»Mein Bruder Walter war ein merkwürdiger Mensch. Ich will damit nicht sagen, daß der Altmethodismus eine merkwürdige Religion ist, aber mein Bruder ging in dieser Beziehung zu weit. Er beschäftigte zweitausend Leute in seinem Geschäft, aber er stellte nur Altmethodisten an. Es ist sicherlich eine gute Religion. Aber mein Bruder war so bigott, daß er alle anderen Bekenntnisse verachtete. Mr. Newton, Sie als ein Mann von Welt werden mir doch zugeben, daß das gerade nicht sehr großzügig von ihm war?«
Anthony stimmte ihm vollkommen bei.
»Und weil er nun diese sonderbaren Ansichten hatte«, fuhr Mr. Frenchan bitter fort, »bin ich in eine sehr unangenehme Lage gekommen. Ich habe zu meinem Rechtsanwalt gesagt: Bin ich denn nun gezwungen, jahrelang hier in London zu sitzen und mich um bedürftige, arme Leute zu kümmern, die zu den Altmethodisten gehören, nur um das Testament meines Bruders auszuführen? Ich wäre verrückt, wenn ich das täte!«
Mr. Frenchan war sehr aufgebracht und trank seine Tasse hastig aus. Es lag ein sonderbarer Ausdruck in seinen Augen, der Anthony zuerst etwas verwirrte, dann aber ermutigte.
»Wollen Sie noch einen Likör haben?« fragte Mr. Frenchan plötzlich.
Anthony nickte.
»Ich möchte, daß Sie meinen Rechtsanwalt kennenlernen«, fuhr Frenchan fort. »Das ist ein Mann, der Ihnen gefallen wird. Ein kluger Mensch, der in die Welt paßt. Ein bißchen argwöhnisch, aber ich glaube, daß das mit seinem Beruf zusammenhängt. Wahrscheinlich kennen Sie die Firma schon – Whipplewhite, Sommers und Soames.«
Anthony nickte wieder. Er hatte zwar niemals von einer solchen Firma gehört, aber der Name klang ganz nach Rechtsanwälten.
Mr. Frenchan sah auf die Uhr.
»Ich glaube, wir könnten ihn jetzt treffen. Sie werden es bestimmt nicht bereuen, seine Bekanntschaft gemacht zu haben. Er ist ein tüchtiger Schotte, aber ein Mann mit einem goldenen Herzen. Er sieht in jedem Menschen eigentlich einen möglichen Verbrecher.« Mr. Frenchan lächelte vor sich hin und schüttelte den Kopf. »Aber schließlich wird ihn ja sein Beruf zu solchen Anschauungen gebracht haben«, meinte er nachdenklich.
»Ich habe bei meinem Rechtsanwalt ähnliche Wahrnehmungen gemacht«, sagte Anthony ruhig. »Im allgemeinen sind Juristen ja vorsichtige Leute, und die erste Folge der Vorsicht ist, daß man zunächst immer das Schlechtere vermutet.«
Mr. Frenchan stand auf.
»Kommen Sie mit. Wir wollen einmal sehen, ob es uns gelingt, ihn zu finden. Am ehesten treffen wir ihn jetzt in der Nähe des Gerichts. Mir liegt sehr viel daran, daß Sie ihn kennenlernen.«
Als sie durch den Empfangsraum gingen, sah ihn der Mann, der das Fremdenbuch führte, durchdringend an, aber Anthony kümmerte sich nicht weiter darum. Es war ihm durchaus nicht erwünscht, daß die Geldfrage in Gegenwart seines neuen, reichen Freundes erörtert wurde. Mr. Frenchan rief einen Wagen an, und nach kurzer Zeit hielten sie vor dem Portal des Zentralgerichtshofes.
»Sehen Sie, dort steht er«, sagte Mr. Frenchan. »Das ist aber ein unerwarteter Glückszufall.«
Ein schmächtiger, bleicher Mann, der düster dreinschaute, stand in nachdenklicher Haltung auf den Stufen der breiten, großen Treppe. Er trug einen tadellosen Zylinder und nickte Mr. Frenchan kurz zu. Man konnte sich leicht vorstellen, daß dieser Mann die ganze Welt von Verbrechern bevölkert glaubte. Er betrachtete die vielen Menschen, die durch die Türen eilten, mit dem Basiliskenblick eines zur Untätigkeit verdammten Henkers.
»Ich möchte Ihnen meinen Freund Newton vorstellen, Whipplewhite«, sagte Frenchan, und der Rechtsanwalt streckte den anderen seine kalte Hand entgegen. »Können Sie uns nicht irgendwohin begleiten – ich möchte Sie gerne sprechen.«
Mr. Whipplewhite schüttelte traurig den Kopf.
»Es tut mir leid, das ist nicht möglich«, erwiderte er kurz. »In einer halben Stunde habe ich einen Termin bei Gericht.«
»Ach Unsinn«, rief Mr. Frenchan laut. »Sie haben doch sicherlich einen Vertreter, der für Sie plädieren kann. Kommen Sie mit uns!«
Mr. Whipplewhite zögerte noch.
»Ich möchte es lieber nicht tun«, meinte er dann, als er auf die Uhr sah. »Fünf Minuten habe ich für Sie übrig, aber wir dürfen nicht weit von hier weggehen.«
»Wir werden schon ein Restaurant hier in der Nähe finden, und eine Tasse Tee wird Ihnen auch nicht schaden, Mr. Newton.«
Anthony war zwar so gesättigt, daß er im Augenblick nichts von Essen und Trinken hören wollte, aber er gab selbstverständlich seine Zustimmung, und bald saßen die drei in einem kleinen, nicht allzu hellen Restaurant, in dem Mr. Whipplewhite gewöhnlich verkehrte.
»Diesen Herrn kenne ich sehr gut von Südafrika her. Es ist Mr. Newton, ich habe Ihnen doch schon öfter von ihm erzählt.«
Anthony war über alles höchst verwundert. Es war offensichtlich, daß er mit einem anderen verwechselt wurde, aber er ließ ruhig alles über sich ergehen. Die dringende Frage des Mittagessens war ja nun zur Zufriedenheit gelöst, und ein reichliches Abendessen schien ihm auch zu winken, obwohl er weniger Hunger fühlte als seit langer Zeit. Über eins war er sich klar: er mußte große, wertvolle Gepäckstücke bringen, bevor er den argwöhnischen Portier soweit beruhigen konnte, daß er ihm den Schlüssel zu seinem Zimmer einhändigte. Das war eine Tatsache. Zweitens aber stand fest, daß Mr. Frenchan eine einflußreiche Bekanntschaft für ihn war.
»Mr. Frenchan, ich habe die Höhe des Vermögens Ihres Bruders genau festgestellt. Es beträgt nicht sechshundertvierzigtausend, sondern nur fünfhundertzwölftausend Pfund und sechs Schilling.«
Mr. Frenchan schüttelte nur unwillig den Kopf.
»Ich wünschte, es wären überhaupt nur sechs Schilling«, sagte er böse.
Der Rechtsanwalt wurde ungeduldig.
»Ich weiß, daß Sie mich für närrisch halten«, fuhr Mr. Frenchan fort, »aber Walter und ich waren sehr gute Freunde, und so verrückt auch seine letzten Bestimmungen sein mögen, ich habe die Absicht, sie genau auszuführen.«
»Aber warum übergeben Sie denn nicht das Geld der Kirche und überlassen ihr alles Weitere?« fragte Mr. Whipplewithe. »Das ist die einfachste Lösung, und sie wird Ihnen eine Menge Unannehmlichkeiten ersparen. Bei der Kirchenverwaltung weiß man doch viel besser mit den Verhältnissen der Gemeindemitglieder Bescheid als Sie.«
»Das würde mit den Testamentsbestimmungen meines Bruders nicht übereinstimmen. In seinem letzten Willen steht doch ganz ausdrücklich: Am 1. Januar jedes Jahres soll ein Fünftel meines Vermögens einer vertrauenswürdigen, solventen Persönlichkeit übergeben werden, damit es an bedürftige Mitglieder der altmethodischen Gemeinde verteilt wird.«
»Am 2. Januar«, verbesserte ihn der Rechtsanwalt. »Aber Sie haben den Absatz nicht ganz richtig zitiert, Mr. Frenchan. Es steht dort: Ein Fünftel meines Vermögens soll sofort nach meinem Tode ...«
»Selbstverständlich. Das zweite Fünftel wird dann am nächsten 2. Januar verteilt. So hatte ich es auch gemeint«, erklärte Mr. Frenchan.
Mr. Whipplewhite lehnte sich im Stuhl zurück und spielte mit einem Zahnstocher. Seine Blicke schweiften ins Leere.
»Ich möchte nur wissen«, sagte er langsam, »wo Sie eine achtbare, solvente Persönlichkeit finden wollen, der man so große Geldsummen anvertrauen kann? Es ist ja ganz gut und schön, daß Sie das Geld dem Testament gemäß verteilen wollen. Aber wie wollen Sie denn wissen, ob das Geld nicht in die Hände irgendeines Schwindlers fällt? Ich weiß schon.« Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Sie wollen sagen, daß ich ja hier an Ort und Stelle bin und mich darum kümmern kann, daß das Geld richtig angewandt wird. Aber Sie müssen doch einsehen, daß ich ein sehr beschäftigter Rechtsanwalt bin und unter keinen Umständen die volle Verantwortung dafür übernehmen kann, daß jeder Pfennig des Geldes Ihres Bruders an unterstützungsbedürftige Altmethodisten gezahlt wird. Das kann man doch unmöglich von mir verlangen. Sie brauchen einen vermögenden Mann, dem man restlos vertrauen kann, und der auch eigenes Vermögen hat. Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, würde ich ruhig sagen: Übertragen Sie ihm die ganze Sache und gehen Sie nach Südafrika zurück. Aber sollten Sie einen solchen Mann nicht finden, dann müssen Sie für die nächsten fünf Jahre in England bleiben, mein lieber Frenchan, ob Sie sich nun darüber ärgern oder nicht. Das muß Ihnen doch Ihr eigener Verstand sagen. Dann müssen Sie eben selbst die Verteilung des Geldes überwachen.«
»Das ist ganz ausgeschlossen«, erwiderte Mr. Frenchan nachdrücklich. »Außerdem bin ich doch selbst kein Altmethodist.« Er sah auf Anthony. »Sehen Sie, hier ist ein Mitglied dieser Gemeinde.«
»Sie wollen doch aber nicht damit sagen, daß Sie diese schwere Verantwortung einem jungen Mann übertragen wollen, der erst noch vorwärtskommen will? Der vielleicht nicht einmal die Zeit und die Neigung hat, sich solchen mildtätigen Aufgaben zu widmen?«
Anthony hörte schweigend zu und verstand allmählich die Zusammenhänge.
»Mr. Whipplewhite«, sagte Frenchan scharf, »ich kann Ihnen nicht gestatten, daß Sie beleidigend von Mr. Newton sprechen. Sie kennen mich nun schon lange Jahre und wissen, daß ich mich in meinem Urteil über Menschen noch nie getäuscht habe. Ich kenne Mr. Newtons Charakter ebensogut wie den Ihrigen.«
»Ich gebe gern zu, daß Sie gewöhnlich das Richtige treffen«, meinte der Rechtsanwalt zögernd. »Aber hier handelt es sich um ein etwas phantastisches, wenn ich so sagen soll, um ein verrücktes Testament, dessen einzelne Bestimmungen nur von einem –«
»Nur von einem Ehrenmann ausgeführt werden können, so wollten Sie sicher sagen«, unterbrach ihn Mr. Frenchan.
Aber der Rechtsanwalt schüttelte den Kopf.
»Die Ehrenhaftigkeit ist ja gut und schön«, sagte er mürrisch. »Aber vor allen Dingen ist bares Geld notwendig. Wenn dieser Herr uns ein Vermögen von zehntausend Pfund nachweisen kann ...«
Anthony Newton wagte kaum, einen solchen Glückszustand auszudenken. Er war etwas heiser, als er sich jetzt in die Unterhaltung mischte.
»Wenn Sie sich die Mühe machen und zu meiner Bank mitkommen wollen ...« begann er, zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich weiß nicht, ob ich einen solchen Auftrag annehmen kann. Bitte bestehen Sie nicht darauf, Mr. Frenchan. Aber sollten Sie irgendwelchen Zweifel an meinen Vermögensverhältnissen haben, dann begleiten Sie mich bitte zur Bank von England, und sprechen Sie mit einem der Direktoren. Ich zweifle nicht, daß Sie dann in dieser Beziehung beruhigt sein werden.«
»Was habe ich gesagt?« rief Mr. Frenchan triumphierend. »Wollen Sie so liebenswürdig sein und Mr. Newton zur Bank begleiten?«
»Ich habe jetzt nicht die Zeit, nach Burlington Gardens zu gehen«, sagte der Rechtsanwalt. »Ich sagte Ihnen doch schon vorhin, daß ich nachher einen Termin habe.« Bei diesen Worten erhob er sich. »Aber wenn Mr. Newton in der Lage ist, bis heute Abend fünftausend Pfund als sein Vermögen nachzuweisen, dann will ich als Testamentsvollstrecker Ihres Bruders Ihrer Wahl zustimmen.«
»Sie sind aber schrecklich kleinlich. Ich möchte meinen Freund nicht um dergleichen Dinge bitten.«
»Aber das hat ja nichts zu sagen«, entgegnete Anthony höflich. »Ich halte den Einwand, den Mr. Whipplewhite macht, für vollkommen berechtigt. Und wenn Sie mir eine Zeit und einen Ort angeben, dann will ich Ihnen gerne die Summe von fünftausend Pfund bringen. Aber ich kann sie nicht als Bürgschaft hinterlegen.«
»Ich habe ja auch gar nicht die Absicht, das zu verlangen«, erwiderte Mr. Whipplewhite. »Es genügt mir, wenn ich die Summe in Ihrem Besitz sehe.«
Anthony atmete tief.
»Es ist gerade noch genügend Zeit, zur Bank zu gehen. Also wo soll ich Sie wieder treffen?«
»Kommen Sie um halb acht zum Restaurant Cambrai in der Regent Street. Ich bin leider nicht früher fertig. Paßt Ihnen diese Zeit, Frenchan?«
»Ich protestiere eigentlich gegen die ganze Abmachung«, sagte Mr. Frenchan. »Aber wenn Mr. Newton so liebenswürdig ist, auf Ihren Vorschlag einzugehen, der meiner Meinung nach ebenso exzentrisch ist wie das Testament meines Bruders, dann habe ich schließlich gar nichts dagegen.«
Anthony eilte aus dem Café. Er hätte gerne vor den Augen seines neuen Freundes ein Mietauto bestiegen und dem Chauffeur den Auftrag gegeben, zur Bank von England zu fahren, aber er hatte ja nicht einmal mehr das Geld zu einer Autobusfahrt. Er ging also zu Fuß durch den Park und sah sich nach Zeitungen um, die die Leute weggeworfen hatten. Als er einige aufgesammelt hatte, ließ er sich auf einer einsamen Bank nieder und schnitt das Papier mit seinem Taschenmesser in gleichmäßig lange Streifen, legte sie zusammen und steckte sie in seine etwas abgetragene Brieftasche, die dadurch dick und umfangreich wurde.
Er war so eifrig bei seiner Arbeit, daß er nicht bemerkte, wie ein Mann quer über den Rasen auf ihn zukam und ihn aufmerksam betrachtete.
»Sie sammeln wohl Presseausschnitte?«
Anthony schaute auf und war sich über den Beruf des Fremden sofort klar. Er sah aus wie ein Gardefeldwebel in Zivil oder wie ein Detektiv-Sergeant von Scotland Yard in Alltagskleidung.
Anthony nickte vergnügt.
»Sie haben recht geraten.«
»Was haben Sie denn damit vor?« fragte der andere etwas offizieller.
»Jedes dieser Papiere stellt eine Hundertpfundnote vor«, entgegnete Anthony.
Der Detektiv setzte sich neben ihn.
»Es scheint so, als ob wir beide besser miteinander bekannt werden müßten«, meinte er.
»Das ist wohl möglich. Sie sind doch ein Beamter von Scotland Yard?«
»Ganz richtig – aber wie kommen Sie darauf?«
»Arbeiten zur Zeit viele Kautionsschwindler in London?«
»Soviel ich weiß, gibt es vier Banden – ist jemand hinter Ihnen her?«
Anthony nickte.
»Ja, dann müssen wir Sie wohl unter Beobachtung stellen«, sagte der Beamte.
»Um Gottes willen, machen Sie das nicht!« erwiderte Anthony erschrocken. »Sagen Sie mir lieber, wie diese Leute vorgehen.«
»Sie arbeiten alle nach derselben Methode. Gewöhnlich haben sie Geld an Arme und Bedürftige zu verteilen. Jemand hinterläßt zu diesem Zwecke Geld, und sie suchen nach einem ehrenhaften Mann, der sich in guten pekuniären Verhältnissen befindet und nicht allzu schlau ist, so daß man ihm das Geld anvertrauen kann, ohne fürchten zu müssen, daß er es bei Sektgelagen mit Choristinnen und Schauspielerinnen durchbringt.«
»Das ist recht wenig originell«, meinte Anthony lächelnd.
»Wenig originell und habgierig. Die Leute spekulieren im allgemeinen auf die Schlechtigkeit und Habgier ihrer Mitmenschen. Will man Sie etwa auch auf die Art und Weise hereinlegen?«
Anthony nickte.
»Ich bin ein junger Mann, der eben aus Südafrika zurückgekommen ist und einiges Geld dort verdient hat«, sagte er einfach. »Heute Abend soll ich ihnen fünftausend Pfund zeigen, um meine Vertrauenswürdigkeit nachzuweisen.«
Der Detektiv sah schmunzelnd auf die Brieftasche.
»Aha, nun verstehe ich«, erwiderte er und wandte sich zum Gehen. »Und sollten Sie Unannehmlichkeiten bekommen, so will ich Ihnen auf alle Fälle meine Karte geben.«
Anthony kam zur verabredeten Zeit zu dem Treffpunkt. Der Rechtsanwalt wartete schon auf ihn. Er war in die Lektüre einer Abendzeitung vertieft und hatte ein Glas Absinth vor sich stehen.
»Ein gefährliches Getränk, Mr. Newton«, meinte er. »Aber es wirkt sehr wohltuend. Ich leide an schlechter Verdauung. Haben Sie inzwischen Mr. Frenchan gesehen?«
Anthony schüttelte den Kopf.
»Ein merkwürdiger Mann, aber durchaus glaubwürdig und ehrlich«, sagte der Rechtsanwalt. »Wie er sich bisher vor Verlusten geschützt hat, mag der Himmel wissen. Er vertraut gleich jedem ersten besten, ich möchte fast sagen, jedem hergelaufenen Kerl auf der Straße. Ich hoffe, daß Sie mir nicht böse sind, Mr. Newton, aber ein Rechtsanwalt muß nun einmal scharf vorgehen.«
»Das begreife ich vollkommen«, entgegnete Anthony.
In diesem Augenblick trat Mr. Frenchan ein. Zuerst sprachen sie über ein Ereignis, von dem in allen Zeitungen und Extrablättern berichtet wurde, dann seufzte Mr. Frenchan plötzlich auf.
»Nun wollen wir zum Geschäft kommen und sehen, daß wir möglichst schnell damit fertig werden.«
Er zog eine stattliche Brieftasche heraus und entnahm ihr einen dicken Stoß Banknoten.
»Aber warum in aller Welt haben Sie denn das mitgebracht?« fragte der Rechtsanwalt.
»Weil ich gar nicht einsehe, warum Mr. Newton uns trauen soll, wenn Sie ihm mißtrauen«, sagte Frenchan mit Nachdruck. »Ich vertraue Mr. Newton blindlings.«
»Aber sprechen Sie doch nicht so laut«, warnte der Rechtsanwalt. »Es ist doch gar kein Grund dazu vorhanden, Spektakel zu machen.«
»Mr. Newton traut mir ebenso«, fuhr Mr. Frenchan etwas ruhiger fort.
»Haben Sie das Geld mitgebracht?« wandte sich der Rechtsanwalt geschäftsmäßig an Anthony.
Mr. Newton zog seine Brieftasche heraus.
»Was habe ich Ihnen gesagt?« rief Frenchan. »Das ist ein Mann von Vermögen, ein Mann von Ehre, Whipplewhite. – Wollen Sie mir einen Gefallen tun?« Er lehnte sich über den Tisch zu Anthony.
»Aber natürlich!«
Mr. Frenchan warf ihm seine Brieftasche in den Schoß.
»Nehmen Sie sie, gehen Sie fünf Minuten hinaus und kommen Sie dann wieder zurück.«
»Aber warum denn?« fragte Anthony.
»Ich will damit nur zeigen, daß ich Ihnen traue. Und ich darf dann voraussetzen, daß Sie mir gleiches Vertrauen entgegenbringen.«
»Ganz bestimmt«, sagte Anthony und nahm die Brieftasche an sich. »Aber sie enthält viel Geld, zählen Sie es bitte hier vor meinen Augen nach.«
»Das ist nicht notwendig«, erwiderte Mr. Frenchan überlegen. Aber trotzdem nahm er Anthony die Tasche aus der Hand, öffnete sie, zog ein Paket Banknoten heraus und drehte die beiden ersten Scheine um. Anthony sah, daß es wirklich Banknoten waren, und zwar Hundertpfundnoten. Darunter würden wahrscheinlich Fälschungen stecken, vermutete er. Aber die beiden obersten waren zweifellos echt.
»Ich tue es nicht gerne«, sagte Anthony, als ihm die Brieftasche wieder gereicht wurde. »Sie kennen mich doch nicht genügend.«
»Es wäre gut, wenn Sie den Vorschlag von Mr. Frenchan annähmen«, entgegnete der Rechtsanwalt höflich.
Anthony ließ also die kleine Ledermappe in seine Tasche gleiten und ging langsam aus dem Restaurant. Es fuhr gerade ein Mietauto vorüber.
»Halten Sie nicht!« rief er dem Chauffeur zu, als er auf den langsam fahrenden Wagen sprang. »Bringen Sie mich zum Victoria-Bahnhof!«
Während der Wagen durch die dunklen Straßen fuhr, nahm er die Tasche heraus und untersuchte den Inhalt. Die beiden Hundertpfundnoten waren tatsächlich echt.
In dem Restaurant warteten Mr. Whipplewhite und Mr. Frenchan auf Anthonys Rückkehr.
»Ein gescheiter Gimpel!« sagte Mr. Frenchan.
»Das sind sie doch alle«, erwiderte der andere verächtlich. »Nur die kann man noch leimen!«
Plötzlich fuhr er in die Höhe und sah einem Herrn von militärischem Aussehen ins Gesicht.
»Nun, warten Sie auf ein Opfer?«
»Ich weiß nicht, was Sie wollen, Sergeant. Wir warten hier auf einen Freund«, entgegnete Frenchan.
»Da werden Sie lange warten können«, meinte Sergeant Maud von Scotland Yard. »Ich habe den jungen Mann schon den ganzen Nachmittag beobachtet.«
Er lachte, daß seine Zähne zu sehen waren, und weidete sich an der Bestürzung und dem Schrecken der beiden anderen.
»Bei einer solchen Gelegenheit, lieber Herr, stehen alle früheren Polizisten im Himmel auf und singen Halleluja!«