Читать книгу Edgar Wallace - Gesammelte Werke - Edgar Wallace, Edgar Wallace - Страница 86
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Es war so, wie Mr. Smith gesagt hatte. Poltavo war von seinem kurzen Aufenthalt in Great Bradley zurückgekommen, verkehrte wieder in der Gesellschaft und hatte dabei mehr Glück als jemals vorher.
Über seine pekuniäre Lage war man immer im Zweifel gewesen, und vorsichtige Leute hatten gezögert, bevor sie diesen gewandten Mann zu sich einluden. Man wußte auch nicht genau, ob er den Adelstitel mit Recht führte. Im Gothaer Adelskalender waren ungefähr sechs Familien Poltavo aufgeführt, und Graf Ernesto konnte jeder dieser Familien entstammen, denn die polnische Aristokratie war nicht scharf umgrenzt, und es war aus diesem Grunde unmöglich, festzustellen, zu welcher Familie er eigentlich gehörte. Er selbst beantwortete alle Fragen, die in dieser Beziehung an ihn gerichtet wurden, mit einem geheimnisvollen Lächeln, aus dem man alles mögliche entnehmen konnte.
Aber als er jetzt nach kurzer Abwesenheit nach London zurückkehrte, konnte man ihn nicht mehr vom gesellschaftlichen Verkehr ausschließen, weil er nicht das genügende Geld besessen hätte. Am Tage seiner Rückkehr mietete er ein Haus in Burlington Gardens, kaufte zwei Automobile und zahlte eine Extrasumme in bar, damit sie zu einem früheren Termin geliefert würden. Er vergab große Aufträge an viele Geschäfte, um sich selbst und seine Wohnung besser auszustatten. In achtundvierzig Stunden war sein Heim so kostbar eingerichtet, daß man annehmen mußte, der Besitzer hätte stets in dieser Umgebung gelebt.
Poltavo hatte seine Lektion erhalten und viel dabei gelernt. Es war ein unangenehmes Erlebnis gewesen, obwohl er Dr. Fall und Mr. Farrington nicht dafür verantwortlich machen konnte. Aber die Tatsache, daß er dem Tod ins Angesicht geschaut hatte, machte ihn nervös und störte sein Gleichgewicht.
»Sie müssen mir trauen, mein Freund«, sagte er zu sich selbst, als er vor seinem neuen Schreibtisch in seinem neuen Arbeitszimmer saß, in dem es noch nach frischer Farbe roch. »Sie mögen mir trauen, solange ich es für ratsam halte. Aber seien Sie sicher, daß ich niemals wieder zu Ihnen in das ›geheimnisvolle Haus‹ gehen werde.«
Er war mit einer großen Geldsumme zurückgekommen, um die Aufträge und Pläne seines Herrn auszuführend Über das ganze Land waren ungefähr hundert Agenten verteilt, über die Poltavo nun allerhand Aufschlüsse erhalten hatte. Manche von ihnen wußten nicht, um was es sich handelte, andere waren eingeweiht, einige bekleideten hohe Stellungen, viele waren Dienstboten und Angestellte. Zweifellos war »der schlechte Ruf« eine sehr nützliche Einrichtung.
Farrington hatte aus dem Verkauf der Zeitungen nicht viel Gewinn gezogen. In manchen Jahren hatte er sogar mit Verlust gearbeitet. Aber er zahlte ständig sehr gut für Beiträge, die ihm eingesandt wurden, ja er bot Preise, die das sonst übliche Durchschnittshonorar weit überschritten.
Männer und Frauen, die sich an anderen rächen wollten, sandten ihm Berichte ein, die veröffentlicht wurden, wenn der Betreffende nicht ungeheure Schweigesummen zahlte.
Häufig liefen Artikel und Beiträge ein, die man unmöglich drucken konnte. Trotzdem wurden die Einsender reichlich belohnt. Es handelte sich bei solchen Mitteilungen gewöhnlich um Fehltritte im Leben einer Frau oder eines Mannes.
Meistens warteten die Einsender solcher Angaben, die sie mit viel Mühe zusammengestellt hatten, umsonst auf deren Veröffentlichung. Aber die unglücklichen Opfer dieser Verrätereien erhielten ein oder zwei Tage später von dem geheimnisvollen Mr. Montague Fallock einen Brief, der ihnen zu ihrem Schrecken Sünden vorhielt, die ihrer Meinung nach nur ihnen selbst bekannt waren. Es kam ihnen natürlich nicht in den Sinn, das kleine unbedeutende Blättchen, das manchmal Eingang in die Zimmer der Dienstboten fand, mit den außerordentlich hohen Forderungen dieses Erpresserkönigs in Verbindung zu bringen. In den meisten Fällen zahlten sie denn auch.
Aber nicht nur Dienstboten versorgten Montague Fallock mit Material für seine heimtückische Arbeit. Heruntergekommene Männer und Frauen fanden hier Gelegenheit, sich an begünstigteren Mitmenschen zu rächen, von denen sie einmal direkt oder indirekt beleidigt worden waren. Manchmal kamen auch anonyme Mitteilungen an die Redaktion. Wenn die angegebenen Tatsachen genügend Erfolg versprachen, schickte Fallock einen seiner Spürhunde aus, um nachzuforschen, wieweit sie auf Wahrheit beruhten. Dann folgte ein liebenswürdiger Brief, es wurde eine Verständigung vorgeschlagen, und der Unglückliche mußte zahlen und litt außerdem Schaden an seiner Gesundheit.
Denn dieser völlig skrupellose Mann zerstörte mehr als nur sichtbares Vermögen – er handelte mit menschlichem Lebensglück. Fast ein halbes Dutzend Selbstmorde wurden von Scotland Yard auf Briefe zurückgeführt, die die bedauernswerten Opfer am Morgen erhielten und in ihrer Verzweiflung verbrannten, bevor sie ihrem Leben ein Ende machten.
Das Büro dieser kleinen Zeitung lag im obersten Geschoß eines großen Geschäftshauses in der Fleet Street. Ein Hinterzimmer enthielt die ganze Redaktion, und ein verschlossener Mann bildete das ganze Personal. Er hatte die Pflicht, die Korrespondenz in Empfang zu nehmen und im Gepäckraum eines Londoner Bahnhofs abzugeben. Eine Stunde später wurde sie dort von einem anderen Boten abgeholt und zu einem weiteren Bahnhof gebracht. Dann kam sie in den Besitz des Mannes, der für den Inhalt des Blattes verantwortlich war. Manche der Briefe enthielten Beiträge einwandfreier Art, die von mehr oder weniger bekannten Schriftstellern verfaßt waren. Fallock oder Farrington brauchte diese Artikel, nicht nur um der Zeitung den Anschein der Wohlanständigkeit zu geben, sondern auch um ihre Spalten zu füllen.
Er selbst schrieb stets zwei Seiten klug zusammengestellte Informationen über die große Gesellschaft, die harmlos waren.
In jedem Paket von Briefen fanden sich gewöhnlich ein oder zwei Schreiben, die dem Erpresser die Möglichkeit gaben, die Leute zu schädigen, die von ihren Dienstboten oder Freunden verleumdet wurden. Eine ständige Annonce in der Zeitung versprach allen, die brauchbares Material einsandten, eine Belohnung von fünf Pfund. Und die Tatsache, daß Farrington manchmal fast tausend Pfund in der Woche für solche Informationen zahlte, sprach für die moralischen Qualitäten gewisser Menschen. Farrington konnte mit seiner Wahl zufrieden sein. Poltavo war ein gelehriger Schüler, er war schlau und gewandt in solchen Dingen. In seinem großen Arbeitszimmer sortierte er hinter verschlossenen Türen die Korrespondenz und hing dabei seinen eigenen Gedanken nach.
Wenn er seine Rolle gut spielte, war seine Zukunft gesichert. Die Folgen seiner jetzigen Beschäftigung, das Elend, das er über viele unschuldige Menschen brachte, machten ihm keine großen Gewissensbisse. Er war mit seiner Stellung äußerst zufrieden. Er hatte einen guten, wenig gefährlichen Beruf gefunden, der noch große Summen abzuwerfen versprach. Während seines kurzen Aufenthaltes in dem »geheimnisvollen Haus« war er von Farrington auf die Notwendigkeit hingewiesen worden, jede Kleinigkeit zu beachten.
»Wenn Sie fünf Schilling aus einem Arbeiter herausholen können, so tun Sie es. Wir können auch nicht die kleinsten Summen auslassen.«
Poltavo schenkte deshalb den schlecht und fehlerhaft geschriebenen Briefen aus Ostlondon dieselbe Aufmerksamkeit, die er den meist ebenso schlecht geschriebenen Verleumdungen der Dienstboten aus dem Westen zuwandte, die von einem Fehltritt ihres Herrn auf einem Familienlandsitz im Norden berichteten. Poltavo arbeitete alle Eingänge systematisch durch und legte einen Brief nach links, einen anderen nach rechts. Der linke Stoß enthielt Stoff, der in der Zeitung veröffentlicht werden konnte, der rechte eignete sich zu weiterer Bearbeitung.
Plötzlich hielt er in seiner Beschäftigung inne und schaute zur Decke empor.
»Also, sie muß Frank Doughton innerhalb einer Woche heiraten«, sagte er zu sich selbst.
Farrington hatte darauf bestanden, seine Pläne durchzuführen, da er wußte, daß er die Macht dazu hatte. Und Poltavo hatte dieses Ultimatum in aller Demut angenommen.
»Ich muß meine Nerven verloren haben. In einer Woche soll sie verheiratet sein! Muß ich dieses graziöse, schöne Mädchen wirklich aufgeben? Mit ihrem Vermögen – oder ohne ihr Vermögen?« Er lächelte hämisch. »Nein, mein Freund, ich glaube, Sie sind etwas zu weit gegangen. Sie hängen zu sehr von meiner Ergebenheit ab. Ernesto, du mußt einen schnellen Entschluß fassen, was zwischen heute und Montag geschehen soll.«
Das Telefon neben ihm summte. Er nahm den Hörer ab.
»Hallo?« sagte er, dann erkannte er die Stimme.
»Können Sie mich morgen besuchen?« fragte Doris.
»Ich kann sofort kommen, wenn Sie es wünschen.«
Sie zögerte einen Augenblick.
»Wenn Sie jetzt kommen könnten, würde ich sehr froh sein. Ich bin in großer Aufregung.«
»Hoffentlich haben Sie keine Sorgen?« fragte er ängstlich.
»Ich habe einen Brief von gewisser Seite bekommen«, erwiderte sie bedeutungsvoll.
»Ich verstehe. Jemand wünscht, daß Sie etwas tun sollen, was Ihnen widerstrebt.«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, erklärte sie, aber er hörte Angst aus ihrer Stimme. »Kennen Sie den Inhalt des Briefes?«
»Ja, ich kenne ihn. Ich selbst war der unglückliche Überbringer dieser Mitteilung.«
»Was halten Sie davon?« fragte sie nach einer Pause.
»Sie wissen doch am besten, wie ich darüber denke«, antwortete er leidenschaftlich. »Erwarten Sie denn, daß ich mit dieser Forderung übereinstimmen soll?«
Die Heftigkeit seiner Stimme erschreckte sie, und sie gab sich die größte Mühe, ihn wieder zu beruhigen.
»Kommen Sie morgen«, sagte sie hastig. »Ich würde die Sache gern mit Ihnen besprechen.«
»Ich werde sofort bei Ihnen sein.«
»Es ist vielleicht besser, wenn Sie erst –«, sagte sie zögernd.
»Nein, ich komme sofort.« Er hängte den Hörer wieder an.
In diesem Augenblick lehnte er sich gegen die Tyrannei seines Auftraggebers auf und vergaß alle Gefahren, die ihm von dem »geheimnisvollen Hause« drohten. Er erkannte nur mit dem Instinkt eines wilden Tieres, dem die Beute weggenommen wurde, daß dieser Mann ihm einen unerträglichen Verlust zumutete.
*
Kurze Zeit später war er bei Doris Gray. Sie war bleich, verwirrt und aufgeregt. Schwere, dunkle Schatten lagen unter ihren Augen und zeugten von einer schlaflos verbrachten Nacht.
»Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll«, begann sie. »Ich habe Frank gern – ich kann Ihnen gegenüber doch offen sagen, was ich fühle, Graf Poltavo?«
»Sie können mir unbedingt vertrauen«, erwiderte er ernst.
»Und doch ist er mir nicht so lieb, daß ich ihn heiraten könnte.«
»Warum wollen Sie es dann tun?«
»Wie könnte ich dieser Aufforderung nicht nachkommen?« Sie hielt ihm den Brief hin.
Er nahm ihn lächelnd aus ihrer Hand, ging zu dem Kaminfeuer und warf ihn in die glühenden Kohlen.
»Ich fürchte, Sie befolgen die allereinfachsten Vorsichtsmaßregeln und Instruktionen nicht«, meinte er scherzend.
Irgend etwas an seinem Verhalten stieß sie ab. Er dachte also mehr an seine eigene Sicherheit und an seine Verpflichtung Farrington gegenüber als an sie. Es war ein merkwürdig inkonsequenter Gedanke in ihrer augenblicklichen Lage, aber er war ihr nun einmal gekommen, und er hatte Einfluß auf ihre späteren Handlungen.
»Nun hören Sie mir einmal zu«, sagte er mit seinem freundlichen Lächeln. »Sie dürfen sich deswegen keine Sorgen machen. Gehen Sie ruhig Ihren eigenen Weg, und gestatten Sie mir, die Sache mit Farrington in Ordnung zu bringen. Er ist ein starrköpfiger und ehrgeiziger Mann; vielleicht will er Sie aus einem bestimmten Grund mit Doughton verheiraten. Über diesen Punkt werde ich mich noch genauer informieren. In der Zwischenzeit denken Sie nicht mehr daran, überlassen Sie nur alles mir.«
»Ich fürchte, das kann ich nicht. Wenn ich nicht einen zweiten Brief von meinem Vormund erhalte, der den ersten widerruft, muß ich seinem Wunsch nachkommen. Es ist schrecklich, einfach schrecklich, daß ich in eine so entsetzliche Lage gebracht werde!« Sie rang verzweifelt die Hände. »Wie kann ich ihm denn dadurch helfen, daß ich Frank Doughton heirate? Wie kann ich ihn dadurch retten? Können Sie mir das erklären?«
Er schüttelte den Kopf.
»Haben Sie sich schon mit Mr. Doughton in Verbindung gesetzt?«
»Ja, ich habe ihm geschrieben«, erwiderte sie zögernd. »Wollen Sie die Kopie meines Briefes lesen?«
Ein Ausdruck des Unmutes zeigte sich in seinem Gesicht, aber er unterdrückte diese Aufwallung.
»Ich würde sie gern lesen«, sagte er höflich.
Sie reichte ihm ein Blatt Papier.
»Mein lieber Frank«, lautete das Schreiben, »aus einem Grund, den ich Ihnen nicht erklären kann, ist es notwendig, daß die Hochzeit, die mein Onkel so sehr wünscht, im Lauf der nächsten Woche stattfindet. Sie kennen meine Gefühle Ihnen gegenüber, Sie wissen, daß ich Sie nicht liebe und daß ich diese Ehe nicht schließen würde, wenn es nach meinen Wünschen ginge. Aber ich bin nun gezwungen, im Gegensatz zu meinen eigenen Überzeugungen zu handeln. Es fällt mir sehr schwer, Ihnen dies alles zu sagen, aber ich kenne Ihren vornehmen, großzügigen Charakter, Ihre Freundlichkeit und Güte, und ich weiß, daß Sie den Aufruhr der Gefühle verstehen werden, der mich jetzt bestürmt.«
Poltavo legte den Brief auf den Tisch zurück. Er ging im Zimmer auf und ab, ohne ein Wort zu sagen. Dann wandte er sich ihr plötzlich zu.
»Madonna«, sagte er mit weichem, südländischem Akzent (er hatte seine Jugend in Italien verlebt), »wenn ich an Frank Doughtons Stelle wäre, würden Sie dann auch zögern?«
Sie sah ihn bestürzt an, und er erkannte sofort, daß er einen Fehler gemacht hatte. Er hatte ihr Vertrauen und ihre Sympathie mit einem tieferen Gefühl verwechselt, das sie ihm nicht entgegenbrachte. In diesem einen Blick las er mehr, als sie selbst wußte, nämlich, daß sie im Innersten ihres Herzens Frank erwählt hatte. Er hob die Hand, um ihr die Antwort zu ersparen.
»Sie brauchen es mir nicht zu sagen«, meinte er lächelnd. »Vielleicht werden Sie später einmal klar erkennen, daß in der Liebe des Grafen Poltavo die größte Verehrung lag, die Ihnen jemals gezollt wurde, denn Sie sind die große Liebe meines Lebens, die frei ist von Niedrigkeit und anderen Motiven.«
Seine Stimme zitterte, und vielleicht glaubte er im Augenblick selbst an seine Worte. Er hatte ähnlich schon zu anderen Frauen gesprochen, die er längst vergessen hatte.
»Wir müssen nun auf Mr. Doughtons Antwort warten«, sagte er dann kurz.
»Ich habe seine Antwort schon erhalten – er hat mich angerufen.«
Poltavo lächelte.
»Ein typischer Engländer – beinahe ein Amerikaner in seiner Eile. Wann wird denn nun das glückliche Ereignis stattfinden?« fragte er scherzend.
»Bitte, sprechen Sie nicht so« – sie hob ihre Hände und bedeckte ihr Gesicht –, »ich weiß selbst jetzt noch nicht, ob ich die Kraft haben werde, die Wünsche meines Onkels zu erfüllen.«
»Wann?« fragte er noch einmal.
»In drei Tagen – Frank wird eine besondere Genehmigung erhalten. Wir werden –« Sie zögerte. »Wir werden nach Paris gehen«, sagte sie dann und errötete dabei. »Aber Frank wünscht, daß wir –«, sie hielt wieder inne, sprach dann aber beinahe trotzig weiter, »daß wir getrennt leben sollen, obwohl es uns nicht möglich sein wird, diese Tatsache geheimzuhalten.«
»Ich verstehe. In diesem Punkt zeigt Mr. Doughton ein Feingefühl, das ich in hohem Maße anerkennen muß.«
Wieder packte sie ein gewisser Widerwille gegen seine Art. Die väterliche Anmaßung in seinem Ton und seine Einbildung waren durch nichts gerechtfertigt. Daß er Franks Verhalten in dieser selbstherrlichen Weise billigte, empfand sie beinahe als eine Unverschämtheit.
»Haben Sie schon darüber nachgedacht«, fragte er nach einer Weile, »was wohl geschehen würde, wenn Sie Frank Doughton nicht heiraten und den Wunsch Ihres Onkels nicht erfüllen würden? Wissen Sie, welches Unglück ihn dann treffen würde?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie offen. »Ich ahne jetzt dunkel seinen wirklichen Charakter. Ich dachte immer, er sei ein freundlicher und wohlwollender Mann gewesen. Nun weiß ich aber, daß er –« Sie hielt inne, und Poltavo vollendete den Satz, den sie soeben begonnen hatte.
»Sie wissen jetzt, daß er ein Verbrecher ist, ein Mann, der seit Jahren die Furcht und die Leichtgläubigkeit seiner Mitmenschen in der brutalsten Weise ausnützt. Das muß für Sie eine furchtbare Entdeckung gewesen sein, Miss Gray. Aber schließlich werden Sie ihm verzeihen, daß er Ihnen Ihr Vermögen gestohlen hat.«
»Ach, es ist alles so schrecklich – mit jedem Tag wird es mir klarer. Meine Tante, Lady Dinsmore, hatte recht.«
»Lady Dinsmore hat immer recht«, sagte er leichthin. »Das ist ein Vorrecht ihres Alters und ihrer Stellung. Aber inwiefern hatte sie denn recht?«
»Ich glaube nicht, daß es schön von mir ist, Ihnen das zu sagen, aber ich muß es tun. Sie glaubte, daß Mr. Farrington in dunkle Geschäfte verwickelt war. Sie hat mich von Zeit zu Zeit gewarnt.«
»Wirklich eine bewunderungswürdige Frau.« Es lag eine leise Ironie in seinem Ton. »In drei Tagen«, fuhr er dann nachdenklich fort. »Nun, in drei Tagen kann sich noch viel ereignen. Ich muß gestehen, daß ich gerne wissen möchte, was geschieht, wenn diese Heirat nicht stattfindet.«
Er wartete nicht auf ihre Antwort, sondern verließ mit einer kurzen Verbeugung das Zimmer.
»Drei Tage«, wiederholte er, als er nach Hause zurückging. Warum hatte Farrington so große Eile, das Mädchen zu verheiraten, und warum hatte er ausgerechnet diesen armen Journalisten als Gatten für sie ausgewählt?
Dieses Rätsel zu lösen, würde viel Arbeit und Mühe kosten.
*
Zwei der drei Tage waren Frank Doughton wie im Traum vergangen. Er konnte nicht an die Möglichkeit glauben, daß dieses Glück wirklich auf ihn wartete. In seine Freude mischte sich jedoch die bittere Erkenntnis, daß er eine Frau heiratete, die nicht den Wunsch hatte, mit ihm vereinigt zu sein.
Aber in seinem Optimismus und in dem Überschwang seines starken Gefühls sagte er sich, daß sie es noch lernen werde, ihn zu lieben. Er hatte ein unbegrenztes Zutrauen zu sich selbst und arbeitete hart in diesen Tagen, nicht nur an seinen Zeitungsartikeln, sondern auch an der Verwertung der Tatsachen, die er durch den Brief an den verstorbenen Tollington erfahren hatte. Alle Kirchenbücher hatte er durchgesehen; um die Frauen mit dem Namen Annie zu entdecken, die dort während der fraglichen Zeit eingetragen waren. Seine Nachforschungen wurden sehr erschwert, weil Hunderte solcher Frauen existierten. Dazu kam, daß verheiratete Frauen, die in gedrückten Vermögensverhältnissen lebten, nicht ihren wirklichen Namen angaben. Andererseits gab es Frauen, die in den Listen den Namen Annie führten, in Wirklichkeit aber ganz anders hießen.
Er hatte einen oder zwei Anhaltspunkte, denen er eifrig nachging. Im Augenblick mußte er aber diese Arbeit im Stich lassen und all seine Energie auf die wichtige Tatsache konzentrieren, daß er in Kürze heiraten wollte. Außerdem hatte er eine Serie von Artikeln abzuliefern und mit fieberhaftem Fleiß an ihrer Fertigstellung zu arbeiten.
Zwei Abende vor seiner Hochzeit hatte er den letzten Artikel in die Redaktion am Themseufer gebracht und dem Herausgeber persönlich überreicht.
Dieser gratulierte dem verlegenen jungen Mann lächelnd.
»Ich vermute, daß wir nun lange auf Artikel von Ihnen werden warten müssen?« sagte er beim Abschied.
»Meine Frau wird sehr reich sein«, erwiderte Frank ruhig, »aber das wird keinen Einfluß auf meine Tätigkeit haben. Ich habe nicht die Absicht, einen Pfennig von ihrem Vermögen anzunehmen.«
Der Redakteur klopfte ihm auf die Schulter.
»Da haben Sie recht«, stimmte er ihm zu. »Der Mann, der sich von dem Einkommen seiner Frau ernähren läßt, hat aufgehört zu leben.«
»Das klingt ja fast wie eine Grabschrift«, sagte Frank.
Es war neun Uhr, als er die Treppe des Gebäudes hinunterging. Er hatte noch nicht zu Abend gegessen und wollte in einem Restaurant in Soho noch eine einfache Mahlzeit zu sich nehmen, bevor er sich schlafen legte. Er hatte einen arbeitsreichen Tag hinter sich, und am nächsten Morgen gab es noch mehr für ihn zu tun.
Vor dem Zeitungsgebäude hielt ein hübsches Auto, dessen Lackierung im Licht der elektrischen Lampen glänzte. Frank wollte gerade daran vorbeigehen, als der Chauffeur ihn anrief.
»Entschuldigen Sie, mein Herr«, sagte er und faßte an seine Kappe, »sind Sie Mr. Doughton?«
»Ja, das ist mein Name«, erwiderte Frank erstaunt, da er den Mann nicht kannte.
»Ich habe den Auftrag, Sie abzuholen, mein Herr.«
»Warum denn – und zu wem?« fragte Frank verwundert.
»Zu Sir George Frederick«, sagte der Chauffeur respektvoll.
Frank kannte den Namen dieses Parlamentsmitglieds und versuchte, sich zu besinnen, ob er diesen Mann schon persönlich kennengelernt hätte.
»Aber warum soll ich denn zu Sir George kommen?«
»Er möchte Sie fünf Minuten sprechen.«
Es war kein Grund vorhanden, dieser Bitte nicht nachzukommen. Außerdem brachte ihn das Auto ein gutes Stück Weges, den er doch gehen mußte. Frank öffnete also die Tür des Wagens und stieg ein. Als er sie aber geschlossen hatte, fand er, daß er nicht allein war.
»Was hat das –«, begann er, als eine starke Hand ihn an der Kehle packte und auf den gepolsterten Sitz schleuderte.
Der Wagen fuhr langsam an, beschleunigte seine Geschwindigkeit aber immer mehr, als er am Themseufer mit dem Gefangenen entlangfuhr.