Читать книгу 3 a.m. - Edie Calie - Страница 8
Das Universum
ОглавлениеEs war 3 Uhr morgens, als im Schutz der Dunkelheit jemand versuchte, unbemerkt das Haus zu verlassen. »He, das ist doch Jesus!«, schrie einer der Anhänger, die mittlerweile Tag und Nacht vor seiner Unterkunft campierten. Innerhalb weniger Sekunden waren alle auf den Beinen. Erwischt!
Jesus war das Ganze gar nicht recht. Er wollte weg und das möglichst schnell. Er hatte sie nicht darum gebeten so viel Aufheben um seine Person zu veranstalten. Er wollte nicht in Talk Shows gehen, hatte keine Lust mit Journalisten zu reden, oder einfachen Bürgern immer wieder dieselben dämlichen Fragen zu beantworten. Sie verstanden ohnehin nicht, wovon er redete, auch wenn sie ihn mit noch so großen Augen anstarrten.
»Jesus, wo willst du denn hin?«
Dieser ging einfach los, man könnte auch sagen, er flüchtete. Doch so einfach ließ man ihn nicht entkommen, die Anwesenden rafften schnell ihre Sachen zusammen und folgten ihrem Messias.
Sie gingen, die Sonne ging auf. Sie gingen, die Mittagssonne brannte auf sie herunter. Sie gingen, langsam senkte sich die Sonne wieder. Sie gingen, es war Nacht und begann kalt zu werden. Vereinzelt hatten die Leute bereits aufgegeben ihm zu folgen, ohne Rast stundenlang durch die Wüste zu laufen ist nichts für schwache Beine und Nerven. Als Jesus endlich stehen blieb und sein Gefolge anblickte, bestand dieses noch aus 12 Christen, 5 Juden, 3 Moslems – die sich jedoch gedanklich und gegenseitig einredeten, es würde sich um den wiedergekehrten Propheten Mohammed handeln – 1 buddhistischer Mönch, der nur zufällig vorbeigekommen war, als sich der Tross in Bewegung setzte und einen Faible für meditatives Gehen hatte – und 2 Prostituierte, deren Religion sich auf den Glauben ans Geld beschränkte und die sich unter den Männern dauerhafte ‚Geschäftspartner‘ erhofften.
Ohne ein Wort zu sagen, ging Jesus in die Höhle, vor der sie zum Stehen gekommen waren. Man hatte das Gefühl, dass er das Sprechen mittlerweile aus Trotz eingestellt hatte, Perlen vor die Säue und so. Es war sicher interessanter, Uyulàla zu lauschen als den Menschen.
Während sich die einen mit dem Schweigen Jesus’ herumschlugen, versuchten Leute wie Johnny gleich die Probleme der gesamten Menschheit zu lösen. Dieser stand auf einer kleinen Bühne und leitete von einem Rednerpult aus die hitzige Diskussion.
»Was soll das heißen, die letzte Demo war nicht erfolgreich?«
»Mann, Johnny, die Presse wusste nicht mal, ob wir für oder gegen die Revolution sind«, schrie jemand aus der Menge.
»Die Presse. Die haben doch sowieso keine Ahnung. Es waren tausende Menschen da, das ist es, was zählt, nicht was irgendwelche Idioten in der Zeitung schreiben. Wir dürfen jetzt nur nicht aufgeben!«
Die Stimmung im Raum ließ jedoch die notwendige Euphorie vermissen.
»Vielleicht sollten wir uns langsam mal einen anderen Werbeslogan einfallen lassen«, versuchte Johnny die Diskussion wieder etwas ins Rollen zu bringen.
»Was hast du gegen Orwell?«, fragte eine blasse Schwarzhaarige.
»Ich hab’ nichts gegen Orwell! Aber überlegt doch mal, vielleicht sind Orwell, Huxley, Philip K. Dick und die ganzen anderen Verrückten schuld an der ganzen Misere.«
»Woran sollen die denn schuld sein? Die waren sich mit ihren Zukunftsprognosen doch nicht mal einig«, konterte sie.
»Nicht einig? Sie gehen alle von einer totalitären Kontrolle und Steuerung aus, in welchem Punkt sind sie sich bitte uneinig? In Wirklichkeit sind die Kausalzusammenhänge verdreht. Es ist nicht so geworden wie Orwell et al es geschrieben haben, sondern weil Orwell et al es geschrieben haben. Oder was glaubt ihr, warum wir seit den 90ern eine Fernsehsendung namens Big Brother haben? Wir werden schon seit Jahrzehnten darauf konditioniert, dass wir komplett überwacht und kontrolliert werden. Und anstatt was dagegen zu tun, fordern wir das auch noch, zu unserer eigenen Sicherheit.« Johnny war ganz in seinem Element. Etliche Male hatte er Diskussionen wie diese schon geführt und noch immer halfen sie ihm, sich überlegen und gut zu fühlen.
»Aber wir machen ja was dagegen!« Sie wusste, dass Johnny Widerspruch hasste, aber wofür war eine Diskussion sonst da? »Die da draußen machen nichts und um die geht es doch! Uns wird so viel Angst gemacht, dass wir uns schon beim Aufwachen in die Hose scheißen und das den ganzen Tag lang, bis wir mit Hilfe von Schlaftabletten abends wieder selig einschlummern können. Mit Angst machen sie uns gefügig!«
»Mit Essen und Konsum machen sie uns gefügig!«, mischte sich ein Dritter ein. »Ist doch offensichtlich. Wir alle müssen essen. Und was passiert, wenn man uns die Möglichkeit nimmt, uns gesund und selbstbestimmt zu ernähren? Wir werden fett, träge und depressiv.«
Dieser Diskussionsverlauf war nichts Neues. Früher oder später landeten sie immer bei der Gutheißung von gesundem, veganen Essen und der Verteufelung von allem anderen. Das Thema kam so sicher wie das Amen in der Kirche, (Nicht-)Essen war ihre Religion.
»Und wer profitiert davon? Die da oben! Im Umkreis von meiner Wohnung befinden sich 13 Burgerläden, 10 Pizzadienste und etliche andere Takeaways, aber kein einziger Bio-Supermarkt.«
»Allerdings«, stimmte sie ihm zu. »Sie machen uns zu Komplexhaufen, damit wir ihnen jeden Scheiß abkaufen, der uns angeblich besser fühlen lässt und wir weder Zeit noch Energie haben, ihr Handeln in Frage zu stellen. Vergesst die prophezeiten Drogen im Trinkwasser, der Scheiß, der im Essen schwimmt, ist viel schlimmer! Gesundes Essen aufzutreiben ist schwieriger, als an neue Brüste zu kommen.«
Johnny mochte die Art, mit der sie ‚Brüste‘ gesagt hatte. »Und was können wir, abgesehen von Demos, dagegen tun?«, fragte er direkt an sie gewandt.
»Chaos! Wir müssen das Chaos zu unserer Waffe machen und die muss so mächtig sein, dass all ihre Überwachungs- und Kontrollmechanismen versagen.«
»Chaos«, kritzelte Johnny auf einen Zettel, eine Idee, die er in Zukunft sicher klauen würde.
Verdammter Orwell, hätte er nicht weiterhin über Tiere schreiben können?
27 Jahre zuvor wären Paul harmlose Tiere auch lieber gewesen, aber er hatte es mit einer wildgewordenen Frau zu tun, die er hilflos zu besänftigen versuchte.
»Jetzt beruhig’ dich erstmal wieder und schlaf ’ nochmal eine Nacht drüber. Morgen können wir über alles in Ruhe bereden, aber mach’ nichts Unüberlegtes.«
»Ich bin ruhig, ruhiger als du! Aber wo zur Hölle hab’ ich die große Reisetasche hingeräumt?« Während sie aufgeschreckt durch die Wohnung lief, redete er weiter gebetsmühlenartig auf sie ein.
»Ich bin nicht gegen deinen Entschluss, aber so was muss doch gut überlegt und geplant werden. Ich will nicht, dass du am Ende wegen einer Kurzschlussreaktion alles bereust.«
»Ich will auch nicht, dass ich etwas bereue, deswegen muss ich auch hier weg. Verstehst du denn nicht? Das hier ist das Ende! Die Welt ist kurz davor unterzugehen, es ist jetzt oder nie.«
»Aber du kannst doch nicht wegen irgendeiner blöden Vorahnung Hals über Kopf abhauen und Matthias und mich zurücklassen!« Er hoffte, das Erwähnen ihres Sohnes würde sie wieder zur Vernunft bringen.
»Glaubst du ernsthaft, ich hab’ Lust den Weltuntergang mit dir und einem schreienden Baby, das ich nie wollte, zu verbringen? Wir sind hier nicht bei Melancholia, wo das Ende der Welt Händchen haltend auf einer Wiese erwartet wird. Es sterben sowieso alle und die kurze Zeit, die uns noch bleibt, will ich frei und glücklich sein und mit einem Lächeln auf den Lippen zugrunde gehen. Ich werde mich mit Burgern und Schokolade vollstopfen, mit jedem ficken, der mich nimmt und an all die Orte reisen, die ich schon immer sehen wollte.«
Paul blickte nervös in den Spiegel, während er auf seinen Lippen herumkaute. Verdammt, selbst im Spiegel war die Optik verzerrt.
Während das Speed Sarah offensichtlich eine Offenbarung geschenkt hatte, sorgte Sarah für seinen Horrortrip. Seine Pupillen waren übernatürlich groß und das Gift in seinem Körper ließ ihn nicht in Ruhe nachdenken, während Sarah unaufhaltsam Sachen zusammenraffte. Matthias fing im Nebenzimmer an lauthals zu schreien, was genauso zur langsam aggressiv werdenden Stimmung beitrug, wie die Hip Hop Musik, die aus der Nachbarwohnung drang.
»Sarah, Liebling. Schau’ mich an! Ich bin es, Paul.« Er hatte Schwierigkeiten seine Beherrschung zu bewahren und liebevoll zu klingen. »Das bist nicht du, das ist das bekackte Speed. Matthias und ich lieben dich, wir sind doch eine Familie. Wenn du mehr reisen willst, können wir doch darüber reden.«
Scheinbar drangen seine Worte zu ihr durch, denn mitten in ihrem Wahn blieb sie plötzlich stehen und starrte ihn an. Doch anstatt sich zu besinnen, packte sie ihn an den Schultern und schüttelte ihn heftig, während sie schrie: »Die beschissene Welt geht unter! Es gibt keine Moral mehr! Du kannst machen, was du willst, verstehst du? Und genau das mache ich. Ich hab’ keine Lust mehr allen etwas vorzuspielen, also hör’ auf mit diesem Scheiß von wegen Liebe und Familie. Jetzt zähl’ nur noch ich!«
Wie vom Blitz getroffen fiel sie plötzlich um und schlug sich den Kopf an der Tischkante auf. Sie war bereits tot, als sie den Boden erreichte. Die Obduktion würde später ‚Herzstillstand auf Grund übermäßiger Ausschüttung von Glückshormonen‘ als Todesursache feststellen.
7 Monate, 8 Tage, 4 Stunden, 1 Minute und 3 Sekunden später entfuhr Paul neben einem Furz auch ein ehrfurchtsvolles: »Sie hatte recht.«
Recht hatte auch Robbie mit seiner Forderung. Der Pinguin, der sich für eine Robbe hielt und deswegen auf diesen Namen hörte, beschwerte sich zum wiederholten Mal, dass er/sie keine Hauptrolle in der Geschichte spielte. Doch was taugen die Identitäts- und Genderkrisen eines Stofftieres, das abwechselnd in einem Schlafzimmer und einer Handtasche lebt, schon als Hauptthema?
Hätte er sich für Jesus gehalten, hätte die Sache anders ausgesehen, doch diese Rolle war bereits an einen Menschen vergeben.
»Jedes Kunstwerk ist eine Zumutung«, stand auf der Treppe und fiel ihr an diesem Morgen zum ersten Mal bewusst auf.
»Ja, weil das meiste langweilig, unnötig und schlecht ist, was hier als ‚Kunst‘ fabriziert wird«, dachte sie, während sie die Stufen in Richtung Hörsaal 5 erklomm. Sie konnte Kunst nicht ausstehen, weshalb sie die Wahl ihrer Studienrichtung als äußert originell empfand.
»He! Was für einen Mist schreibst du denn da? Ich hasse Kunst nicht, mir gefällt nur 99 % von dem nicht, was als Kunst bezeichnet wird.« Sie störte sich am Kunstbegriff.
»Eher an der Gesellschaft, die allen einredet, kreativ und künstlerisch sein zu müssen.«
Bitte, meinetwegen auch das. Eigentlich ist es ja auch egal, es interessiert sich sowieso niemand für deine Meinung über Kunst.
»Aha, und warum schreibst du es dann? Das heißt ja auch, dass sich niemand für deine Geschichte interessiert.«
Stille. Tick tack, tick tack, tick –
»Hallo? Hier ist deine Romanfigur und will mit dir reden!«
Ich aber nicht mit dir. Hier kann doch nicht jeder schizoide Anwandlungen haben, glaub mir, meine psychische Verfassung ist fraglich genug.
»Blödsinn, so schlimm ist es doch gar nicht. Aber ich versteh’ schon, du willst halt auch wichtig und was Besonderes sein.«
Whatever. Und jetzt?
»Jetzt muss die Geschichte weitergehen, aber nicht mit mir. Ich komm’ erst später wieder vor.«
Und mit wem dann?
»Mit Johnny?«
Nein, Johnny ist ein Hipster-Trottel, dem das Müsli aus den Ohren rauskommt. Unter uns gesagt, ich kann ihn nicht ausstehen.
»Du hast ihn erfunden!«
Nein, hab’ ich nicht. Etliche von denen laufen in Echt da draußen rum, die Stadt ist voll von denen. Außerdem muss ich nicht jeden meiner Charaktere mögen, oder?
»Hm, dann schreib über dich.« Das interessiert doch niemanden.
»Mit der Einstellung kannst du gleich wieder mit dem Schreiben aufhören.«
Vielleicht ein andermal.
»Wie wär’s mit einem neuen Kapitel?«
Ich hörte ihr schon gar nicht mehr zu, sondern sah gelangweilt aus dem Fenster. Die Uhr zeigte 3:20, es wäre ohnehin Zeit gewesen ins Bett zu gehen, doch zwei schreienden Katzen im Innenhof erregten meine Aufmerksamkeit. Wenn Katzen schreien, dann klingen sie wie menschliche Babys, erst beim Wurf gegen die Wand zeigen sich Unterschiede.
Offensichtlich hatte die eine keine Lust mehr das dämliche Spiel der Menschen mitzuspielen und hatte sich selbst aus dem Sack gelassen.
Warum man die Katze auch sprichwörtlich aus dem Sack lassen kann, habe ich nie verstanden (und zugegebenermaßen auch nie recherchiert). Vielleicht hat es was mit der im Sack gekauften Katze zu tun. Ist das eigentlich die selbe?
Ich habe generell wenig Verständnis für das Vorkommen von Tieren in Redewendungen, oder für Tiere im Allgemeinen for that matter.
Wahrscheinlich hat meine Abneigung Viechern gegenüber ihren Anfang genommen, als ich zwischen 6 und 8 Jahre alt war und auf dem Schulweg etliche Nacktschnecken zertreten habe, die den Weg bevölkerten, sobald ein Tropfen vom Himmel fiel. Pfitsch. Pfitsch. Das Knirschen unter den Schuhsohlen fand ich schon damals nicht sonderlich sexy und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass andere Tiere besser klingen, wenn sie zermalmt werden.
Wie auch immer, ich wollte eigentlich nicht über mich, sondern über die entlaufene Katze schreiben, die später in der Geschichte noch eine Rolle spielen wird, wenn auch keine große. Hätte diese Katze wenigstens Schrödinger gehört, so wäre sie, in einer Kiste verschlossen, lediglich ein theoretisches Problem geblieben und fünf Männer hätten sich erspart, wie verrückt nach diesem Biest zu suchen. Aber ‚verrückt sein und handeln‘ lag, wie man mittlerweile schon mitbekommen haben müsste, immerhin im Trend und in der Luft.
Die Natur war von dem Aufruhr, der unter den Menschen herrschte, ebenfalls betroffen. Die Blätter und Äste der Bäume hatten plötzlich aufgehört sich zu bewegen. Nicht, weil es windstill war – im Gegenteil, die Medien würden am nächsten Tag von heftigen Stürmen berichten – sondern, weil die Bäume, ähnlich wie die Katze knapp 30 Jahre später, gemeinschaftlich beschlossen hatten, das Spiel nicht mehr mit zu spielen und sich nur noch aus eigener Motivation heraus zu bewegen. Es war 3 Uhr morgens und die Population dieser Stadt würde sich bei Sonnenaufgang um ein paar Prozent verringert haben. Ebenso wie die Bäume, beschlossen nämlich auch die Herzen von Säuglingen aufzuhören, sich zu bewegen. Die Bestattungsunternehmen profitierten davon und verdoppelten ihre Preise für Babysärge. Eine Laune der Natur.
In launiger Stimmung befand sich auch Paul. »Jetzt hör’ mal genau zu. Ich habe gerade meine Frau und mein Kind verloren. Weißt du eigentlich, was das bedeutet? … Was soll das heißen, das ist schon mehr als 24 Stunden her? Ich muss Matthias’ Beerdigung planen. Ich hab’ wirklich Besseres zu tun, als eine bekackte Schlampe zu vögeln, um das neue Zeitalter einzuleiten. … Ich weiß, dass morgen der 30. ist. Ja, ich weiß … Nein, ich will nicht, dass alles umsonst war, aber –« Paul gab auf. »Okay, verdammt, hol mich morgen wie besprochen ab. … Vertraust du mir nicht? Für einen 4° bist du ganz schön frech, du solltest dir mal überlegen, mit wem du gerade redest. … Ist schon okay, manchmal braucht der Bär einen Schlag auf den Kopf. … Mach mit den Vorbereitungen weiter, ich lern’ jetzt den Text und verschieb’ die Beerdigung um zwei Tage. Parvum addas parvo, magnus acervus erit.« Paul legte auf und wählte eine andere Nummer.
»Ich muss die Katze aus dem Sack lassen: 2-BAx2LON-2«, sprach er auf den Anrufbeantworter, um anschließend das Bestattungsunternehmen über die Terminverschiebung zu informieren.
Im Vorbeigehen schniefte er noch schnell eine Line, Schlaf würde ihn ansonsten wertvolle Zeit kosten und schrieb dann auf einen Notizzettel: 5+8=13=4, 5x8x4=160=7, 5-8-4-7=-14=-5.
Das Besondere an dieser einen Nacht im Jahr ist nicht die angeblich alte Hexentradition, die dafür sorgt, dass sich alle ohne schlechtes Gewissen der Leidenschaft hingeben können. Das Besondere ist weder der Ritt zum Blocksberg, noch Goethes romantische Schriften darüber. Das Besondere dieser Nacht ist der Glaube an diese Nacht. Tausende Teenager kommen sich mystisch und verrucht vor, wenn sie bei Kerzenschein ihre Finger über ein Ouija-Board kreisen lassen, dessen historische Geschichte erst 1890 als Gesellschaftsspiel begann. Etliche naturanbetenden Wicca-Leute treffen sich in dieser Nacht, um Hexe zu spielen und im Kreis um ein Lagerfeuer zu hüpfen.
Kurz, von Hausfrau bis Satanist, ist in dieser einen Nacht im Jahr jeder auf dem gleichen, spirituellen Trip und der gemeinschaftliche Glaube macht die Nacht real. Die Energie, die durch die Luft schwirrt, funktioniert, der Boden und die Körper vibrieren, ein Narr, der dies nicht für seine eigenen Zwecke gebraucht.
Und ein Narr auch, wer den Tod seiner Frau und seines Kindes vorschiebt, um nicht daran teilnehmen zu müssen. Paul hatte keine Wahl, es gab wichtigere Dinge an diesem 30. April und trauern könnte er genauso gut später.
Aber kehren wir von der Vergangenheit zurück in die Gegenwart. Dort ließ nämlich ein lauter Knall Monica Catherow zusammenfahren. Vor Schreck erweiterten sich ihre Pupillen und ihr Körper zuckte instinktiv zusammen. Sie hasste dieses Gefühl mehr als alles andere auf der Welt und das ein oder andere »Oh oh« verdeutlichte, dass das ihren Mitarbeiter Innen ebenso bewusst war.
»Cut!«, schrie sie laut, ihr Herz schlug wie wild.
Während sie sich auf die Suche nach der Ursache für den Knall machte, begaben sich Kameramann und Schauspielerinnen wieder auf Anfangsposition, um die Szene von vorne zu drehen. Monicas Herzschlag beruhigte sich zwar langsam, ihre Wut hingegen wuchs.
»Wer zur Hölle war das?« Das umgestoßene Lichtstativ war längst wieder aufgerichtet, nervöse Blicke wurden ausgetauscht, der Schuldige traute sich nicht, sich dazu zu bekennen.
»Valerie?«
»Keine Ahnung. Tut mir leid, ich weiß nicht, wer es war.«
Argwöhnisch schaute sie von einer Person zur anderen, auf der Suche nach verräterischer roter Gesichtsfarbe – alle waren rot im Gesicht vor Anspannung.
»Okay, das nächste Mal verlierst du deinen Job, wenn du nicht weißt, wer es war. Du bist meine Assistentin und es ist dein bekackter Job dafür zu sorgen, dass ich mich in Ruhe konzentrieren kann! Ist das klar?«
Sie nickte eifrig, froh mit einer Verwarnung davongekommen zu sein. Es mochte lächerlich erscheinen, aber wer es wagte, die berühmte Regisseurin Monica Catherow aus ihrer Konzentration zu reißen oder sie zu erschrecken, verlor in der Regel nicht nur seinen Job, sondern bekam eine halbstündige Standpauke mit auf den Weg zum Arbeitsamt.
Dabei war sie gar nicht so eine Furie wie ihr Ruf behauptete, sie litt lediglich unter Ligyrophobie – Angst vor lauten Geräuschen.
»Alles okay?«, fragte der Kameramann, als Monica wieder auf ihrer Position war.
»Ja, ja. Ich hasse es, wenn irgendwas knallt, ich muss mich in Ruhe konzentrieren können.« »Ich weiß.« Der Kameramann hatte bereits so viele Filme abgedreht, er hatte sich daran gewöhnt, dass die meisten Regisseure irgendeine seltsame Eigenart hatten, je berühmter desto schlimmer. Was er für sich behielt war, wie sonderbar er es fand, dass ausgerechnet sie, in deren Filme der Weltuntergang, Meteoriteneinschläge, Aliens und Monster für Krach und Lärm sorgten, so empfindlich auf ein bisschen Gepolter reagierte.
Tja, one woMans dream is another woMans nightmare und umgekehrt.
Aus einem (Alp)traum gerissen wurde sie um 4:19 Uhr. Das Vogelgezwitscher drang laut durchs gekippte Fenster und in ihre Nachtruhe, sodass Schlaf unmöglich wurde. Eine Weile blieb sie im Bett liegen, bevor sie sich erhob, die Vorhänge beiseite zog und hinausstarrte. Der Mond hing noch immer voll und rund am Himmel, bedroht von der Morgendämmerung, die nicht mehr weit sein konnte.
Seth befand sich gerade im Kampf mit der Schlange Apophis um den Sonnenaufgang zu sichern und den Tag zu retten – ein Schauspiel, welches sich Nacht für Nacht wiederholte.
Doch diese Nacht war anders, sie konnte es nicht wirklich benennen, es war mehr ein tiefsitzendes Gefühl. Die Vögel klangen falsch. Die Töne, die sie von sich gaben, waren eher ein Kreischen als Gesang, Aufbruch und Panik schienen in der Luft zu liegen.
Sie schloss das Fenster und setzte sich wieder aufs Bett. Ihre Augen geschlossen versuchte sie, das Schreien der Vögel einzusaugen und deren Panik zu fühlen.
Wasser schwappte über ihre Gedanken, sie konnte Salz riechen und schmecken. Weit entfernt sah sie eine hügelige Landschaft, auf die sie sich wankend zubewegte, obwohl sie saß. Sie fand sich, in einer Decke eingehüllt, auf einem kleinen Boot wieder, das mit ruckartigen Stößen angetrieben wurde. Vor ihr befanden sich sechs Schwerter, die mit der Spitze im Holz steckten und wie Friedhofskreuze aussahen. Hinter ihr stand ein Mann, der mit regelmäßigen Bewegungen einen Stab ins Wasser stach und damit das Boot antrieb. Sie kannte weder den Mann, noch das vor ihr liegende Land und in ihrem Magen machte sich ein mulmiges Gefühl breit. Offensichtlich war sie auf dem Weg zu etwas Neuem, auch wenn ihr das Ziel unbekannt war. Doch als Passagierin hatte sie darauf keinen Einfluss, alles, was sie tun konnte, war vertrauen und abwarten.
Als sie die Augen öffnete, umspielte ein Lächeln ihre Lippen, sie hatte die Szene erkannt. Die 6 Schwerter hatten in ihrer Vergangenheit noch nie etwas Schlechtes bedeutet, im Gegenteil. Alles, was sie tun musste, war loszulassen und sich auf eine neue Reise zu begeben. Sie ging zurück zum Fenster, der Mond verschwand gerade hinter den gegenüberliegenden Häusern, Seth hatte gewonnen. »Ich vertraue euch«, flüsterte sie den Vögeln zu, »Aber es wäre mir trotzdem lieber, ihr würdet nicht so einen Krach machen und mich schlafen lassen.«
Wieder im Bett kuschelte sie sich in ihre Bettdecke, bereit jemand anderen das Steuer übernehmen zu lassen.
Während sie meditierend auf dem Bett saß, konnte auch 1985 km entfernt an der nordenglischen Ostküste jemand nicht schlafen. Kundalini wandelte schlaftrunken, nur mit einem dünnen Nachthemdchen bekleidet, durch das kleine Örtchen Tynemouth. Der Wind blies eine leichte Salzwasserbrise durch die Straßen und der Mond kämpfte am Himmel verzweifelt gegen die Sonne und tauchte die Häuser in ein weiches, traumähnliches Licht.
Sie ging die menschenleere Front Street entlang, an der Kirche, die mittlerweile als Geschenkartikelladen genutzt wurde, und den zahlreichen kleinen Cafès, Pubs und Fish&Chips Ständen vorbei, Richtung Priory. Vögel lärmten am Himmel, Möwen flogen in großen Scharen in Kreisen und Spiralen. Je näher sie der Küste kam, desto bewusster wurden ihr die großen, dunklen Wolken, die bedrohlich vom Meer landeinwärts zogen – ein ungewöhnlicher Anblick, zogen doch normalerweise die Wolken aufs Meer hinaus.
Als sie am Ende der Straße angelangt war, verharrte sie einen Moment und starrte in die Ferne. Zu ihrer Rechten konnte sie die Leuchttürme von Tynemouth und South Shields erkennen, direkt vor ihr lag die Priory, ein zerstörtes Kloster, dessen Ruinen nach wie vor majestätisch auf dem Felsen thronten.
Sie ging links an der Priory vorbei und stieg die zahlreichen Steinstufen zum Strand hinunter. Obwohl die Sonne den Mond immer weiter verdrängte, verdunkelte sich der Himmel zusehends. Die leichte Brise verwandelte sich mit jedem Schritt, den sie dem Meer näher kam, mehr in einen scharfen Wind und die Wolken schienen die aggressive Stimmung der Vögel zu teilen. Während alles landeinwärts zu ziehen schien, ging das Meer den entgegengesetzten Weg und zog sich zurück. Ebbe.
Kundalini spürte den Sand unter ihren bloßen Füßen, kalt und feucht knirschte er laut, während sie auf das Wasser zuging. Über ihr begann es zu donnern und die Wolken schienen sich vortexartig über ihr zusammen zu ziehen. Obwohl sie keine Ahnung hatte, was gerade vor sich ging und warum sie überhaupt mitten in der Nacht zum Strand gekommen war, spürte sie keinen Zweifel.
Es fühlte sich richtig an und sie wusste, dass es einen Sinn und sie, im Grunde genommen, keine Wahl hatte. In dem Moment, als ihre Füße das Wasser berührten, fuhr ein Energiestrom wie ein elektrischer Schlag durch sie hindurch, schoss von den Füßen ausgehend durch ihren ganzen Körper nach oben und weiter darüber hinaus, bis in die Wolken.
Ihr Körper zuckte, während vor ihrem geistigen Auge Bilder in rasender Geschwindigkeit abliefen. Bilder aus ihrem Leben, aus dem Leben davor und davor und davor und davor, bis zu jenem Punkt zurück, der für die menschliche Psyche normalerweise unzugänglich ist. Und sie verstand.
Sie verstand den Grund ihrer Existenz, die Bedeutung ihres Namens, das große Ganze, den Sinn, 42. Keinerlei Emotionen waren mehr in ihr, sie stand über dem Menschlichen.
»Es ist an der Zeit. My time is now!« Sie fing an zu laufen, geradewegs in die Weiten des Meeres hinein.
Räusper. Der prachtvolle Tisch, um den die Herren versammelt waren, wirkte etwas unangebracht, Bierbänke hätten besser zu dem Spektakel gepasst. Die höchsten Vertreter dieser längst überflüssigen Religion wirkten wie Karikaturen ihrer selbst, die sich zur Faschingsfeier versammelt hatten. All that singing and dancing.
»Was machen wir wegen dem verdammten Neger?«
Ach ja, der Typ der sich für Jesus hielt und es mittlerweile zu beträchtlicher Berühmtheit gebracht hatte, war der Grund für diese Zusammenkunft. Schwerfällig hob der Papst seinen Kopf, um ihn sogleich wieder auf den gefalteten Händen, die vor ihm auf dem Tisch ruhten, abzulegen. Die Tatsache, dass er bei solchen Sitzungen nach wie vor anwesend sein musste, machte sein Leben zur Tortur. Wie schön wäre es gewesen, wie alle anderen alten Männer irgendwo in einem tristen Zimmer zu sitzen und mit der Krankenschwester zu flirten. Sie dürfte sogar Papa zu ihm sagen, wie sich das bei einer Audienz gehört.
»Neger!« wiederholte der Sprecher provokant das politisch unkorrekte Wort, um die Konzentration auf das Thema zu lenken und so schnell wie möglich eine Lösung zu finden. »Also?«
»Das ist komplett lächerlich, wir wissen doch alle, dass wir diesen Kerl unmöglich als Jesus anerkennen können.« Hätte es sich bei dem Antwortenden um einen aufrichtigen Christen gehandelt, hätte er noch ein ‚Und wir uns nur zum Wein trinken versammelt haben‘ hinzugefügt, aber um Aufrichtigkeit ging es schon seit Jahrhunderten nicht mehr.
»Ich schlage vor, wir stimmen ab. Ich hab’ wirklich keine Lust auf so ein elendig langes Hickhack wie 2007, als wir die Vorhölle abgeschafft haben,« meldete sich ein Dritter.
Uhhh, damit traf er den wunden Punkt der Versammelten. Obwohl das Gefecht damals an anderer Stelle ausgetragen worden war und keiner der Anwesenden die, extra angefertigte, Streitschrift mit den Pro und Contras gelesen hatte, bevor sie per anonymen Handzeichen abgestimmt hatten, hatten sie alle den Aufwand, der damals betrieben wurde, als furchtbar anstrengend und kostspielig in Erinnerung. Limbo Baby. They just wanted to get it over with. Nach acht Flaschen Rotwein und fünf leeren Schachteln Oblaten (davon zwei mit Vanille und drei mit Schokogeschmack) endete die Abstimmung einstimmig gegen Jesus. »Sonst behauptet irgendwann noch eine Asiatin, Maria, die Mutter Gottes zu sein.« Einvernehmliches Gelächter. Das konnte nun wirklich niemand gebrauchen.
Am nächsten Morgen herrschte Katerstimmung im Vatikan, scheinbar war die Party, äh, Versammlung doch wieder etwas ausgeartet. Während viele die Morgenmesse ausfielen ließen, um sich auszuschlafen, entdeckten andere bereits den Schaden, den sie in der Nacht noch angerichtet hatten. Offensichtlich hatten sie zu irgendeinem Zeitpunkt beschlossen, den Typen, der sich für Jesus hielt, am Kreuz baumeln zu lassen.
Im Prinzip war der Gedankengang gar nicht so unlogisch, schließlich war die Kreuzigung einer der Grundsteine ihrer Religion und in Anbetracht der Sündenanhäufung der letzten Jahrhunderte konnte eine zweite Kreuzigung sicher nicht schaden. Die Tatsache, dass sich niemand mehr an den Beschluss erinnern konnte, machte die Sache allerdings etwas ominös.
Aber es war zu spät, um einen Rückzieher zu machen, ihr Urteil war bereits mitsamt den Unterschriften als offizielles Statement der katholischen Kirche herausgegeben worden, Schadensbegrenzung war angesagt.
Nach dem gemeinsamen Mittagessen wurde das weitere Vorgehen besprochen.
»Können wir nicht behaupten, dass wir das mit der Kreuzigung metaphorisch gemeint haben?«, schlug einer vor.
»Warum? Ich finde die Idee, ihn zu kreuzigen, gar nicht so schlecht.«
»Ich auch nicht.« Zahlreiche Zustimmung.
»Aber ich habe im Radio gehört, dass sie momentan gar nicht wissen, wo er sich aufhält und, dass er abgehauen ist.« Das stellte natürlich ein Problem dar, keine Kreuzigung ohne Jesus.
Schließlich machte einer den Vorschlag, seine Kontakte zum CIA zu reaktivieren, der eine Special Agent würde ihm ohnehin ‚noch einen Gefallen schulden‘. Sollten die sich doch mit der Suche beschäftigten. Ohnehin könnte man dem CIA und der Gesellschaft sicherlich einreden, es würde sich bei dem Typen um einen mutmaßlichen Terroristen mit weit verzweigten Kontakten in dubiose Kreise handeln, der eine große Gefahr darstellte.
Keine Gefahr stellt die Leiche einer jungen Frau dar, die in South Shield an den Strand gespült wurde. Mr. Witter dachte erst, dass sein Golden Retriever Elvis an einem besonders dicken Ast nagte, bis er die Distanz durch den Nebel zurückgelegt hatte und sich der Ast als Frauenbein herausstellte. Kein schöner Anblick. Der Tod entstellt jeden, vor allem in Kombination mit Säure und Wasser. Nicht nur Elvis war wegen dem Fund irritiert – wie soll ein Hund auch verstehen, dass man an einem Ast knabbern darf, an einem Bein aber nicht – sondern auch die örtliche Polizei. Im näheren Umkreis war keine Person, auf die die Beschreibung passte, als abgängig gemeldet worden und man wollte den Menschen nicht das Frühstück versauen, indem man ein Foto der aufgeschwemmten Leiche in der Zeitung abbildet, um Hinweise zu erhalten.
So verschwand der Fall bald, mit einer Nummer versehen, in einem Aktenstapel und die Polizei konnte sich wieder den wirklich wichtigen Dingen widmen: Achtungs- und Verbotsschilder aufstellen, von denen offensichtlich dringend neue gebraucht wurden. Der Anlass war auch mehr als passend: ‚Beware! You could drown in the sea.‘ Alle 23 m ein Schild mit dieser Aufschrift am Strand positioniert, würde zukünftige Gefahrensituationen verhindern.
Die Überlegung, ebenfalls Schilder mit der Aufschrift: ‚Attention, your dog is not allowed to eat corpses‘ aufzustellen, war noch nicht abgeschlossen.
Just in case...