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KÖNIGIN DER BERGE Vorwort
ОглавлениеFür Bledar Kola
»Es war in Cetinje, im August 1990, als ich erstmals einen
Faden des ›Balkan-Wirrwarrs‹ aufgriff, ohne zu ahnen,
wie tief ich später darin verwickelt sein sollte;
noch weniger kam mir in den Sinn, wie sehr dieser
Wirrwarr schließlich die ganze Welt beeinflussen sollte.«
Edith Durham, 1904
Edith Durham, geboren am 8. April 1863 in London, kam aus einem angesehenen und fortschrittlichen Elternhaus. Der Vater war der Leibarzt von Königin Victoria, die Mutter, eine Schottin, die Tochter von William Ellis, einem Reformpädagogen und Gründer der Birckbeck-Schulen, an denen neben den traditionellen Fächern auch politische Ökonomie unterrichtet wurde. Edith war die Älteste von neun Geschwistern, alle erhielten sie eine hervorragende Ausbildung, auch die Mädchen. Edith, künstlerisch begabt, besuchte zunächst vier Jahre das Bedford College in London und studierte anschließend an der Royal Academy of Art. Ihre Bilder von Reptilien und Fossilien erschienen in The Cambridge Natural History. Sie blieb unverheiratet und lebte im Elternhaus. Als der Vater überraschend 1895 starb, übernahm die 32-Jährige die Pflege der an Tuberkulose erkrankten Mutter. »Die Zukunft, die sich vor mir auftat, bestand aus einer unendlich langen Reihe von Jahren der Monotonie, denen ich unmöglich entrinnen konnte, es war hoffnungslos – vermutlich hätte mir nur noch eine Kugel helfen können.«
Von der Pflege der Mutter erschöpft und inzwischen selbst an Tuberkulose erkrankt, schien die Tochter auf eine handfeste Depression zuzusteuern, und die Ärzte empfahlen dringend einen Orts- und Klimawechsel. Sie fuhr daraufhin aber nicht an die italienische Riviera, wie es »tout London« zu jener Zeit zu tun pflegte, sondern entschied sich für eine Reise in den »Nahen Osten«, wie die Briten die Balkanländer damals nannten.
In Begleitung einer Freundin besteigt sie im August 1900 in Triest einen österreichischen Lloyd-Dampfer, im Gepäck den Baedeker und ein Set mit Malpinseln. Schon unterwegs, schreibt sie später, überkommt sie das Gefühl, »dass das Leben doch der Mühe wert sein könnte, und der Zauber des Nahen Ostens nahm mich gefangen«. In Kotor/Montenegro gingen die Frauen an Land und reisten weiter nach Cetinje, denn »es sei, meinte jeder, Baedeker nicht ausgenommen, geradezu Pflicht, dort hinaufzufahren. Dann konnte man am nächsten Tag wieder herunterfahren und später immer sagen ›Ich habe Montenegro bereist‹.«
Aber Edith Durham kam und blieb. Sie griff einen »Faden des ›Balkan-Wirrwarrs‹« auf, gewann die Herzen der Bewohnerinnen und Bewohner des »Nahen Ostens«, wurde zur Advokatin ihrer Belange und ihres Wunschs nach Unabhängigkeit – und zu einer international anerkannten und einflussreichen Balkan-Expertin. 14 Jahre, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, wird sie Jahr für Jahr in diese brandgefährliche Gegend zurückkehren, wo sich die unterschiedlichsten politischen, ethnischen und kulturellen Interessen immer wieder gewaltsam Bahn brachen – und als Zeitzeugin ihre Erfahrungen und Kenntnisse an die Politiker »zu Hause« weiterreichen und in Zeitungen und Zeitschriften leidenschaftliche Plädoyers halten.
Im Jahr 1900 reist sie durch Montenegro, Bosnien und Herzegowina. Nach London zurückgekehrt, lernt sie Serbisch – später auch Albanisch – und befasst sich intensiv mit der politischen und kulturellen Situation auf dem Balkan. 1901 reist sie nach Albanien, 1902 nach Serbien und Bulgarien, 1903 und 1904 hält sie sich in Mazedonien auf und zieht über Shkodër (früher Skutari) weiter in die abgeschiedenen Dörfer Nordalbaniens – Albanien ist das Land, an das sie ihr Herz verliert und wohin sie immer wieder zurückkehren wird.
Es war um die Mitte des 14. Jahrhunderts, als die Türken begannen, mit Macht nach Europa vorzudringen. Hundert Jahre später hatten sie den gesamten Balkan besetzt und islamisierten ihn fast vollständig.
Als Durham einige Jahrhunderte später mit ihren Expeditionen durch die Balkanländer begann, war die Herrschaft der Osmanen jedoch am Bröckeln. Griechenland hatte sich, noch beschränkt auf ein Teilgebiet des heutigen Griechenlands, von 1821 bis 1829 nach blutigen Kriegsjahren die Unabhängigkeit erkämpft. Nach den Russisch-Türkischen Kriegen 1877/78 zogen sich die osmanischen Truppen aus Serbien, Montenegro und Bulgarien zurück. Bosnien-Herzegowina war 1908 von Österreich-Ungarn annektiert worden. Mazedonien, ein Vielvölkerstaat aus Bulgaren, Serben, Griechen und Albanern wehrte sich 1903 in einem blutigen Aufstand gegen die türkischen Besatzer. Es war jedoch nur der Hass auf die Türken, der sie in der Revolte einte, im Übrigen kämpften die verschiedenen Ethnien und Religionen gegeneinander.
Das politische Machtvakuum, das nach dem sukzessiven Rückzug der Osmanen entstand, versuchten vor allem Russland und Österreich-Ungarn zu füllen.
Andere Mächte schienen vor der unübersichtlichen Gemengelage unterschiedlicher sprachlicher, religiöser und kultureller Gruppen und Nationalitäten zurückzuschrecken.
1912 erklärten Serbien, Griechenland, Bulgarien und Montenegro der Regierung des Osmanischen Reichs (Hohe Pforte) den Krieg und vertrieben die Türken endgültig vom Balkan. Im Anschluss an diesen Ersten brach 1913 sofort der Zweite Balkankrieg aus. Dieses Mal bekämpften sich Serbien, Griechenland, Bulgarien und Montenegro untereinander. Leidtragende dieser Auseinandersetzungen waren vor allem die Albaner, auf deren Kosten die Nachbarländer ihre Territorien erweiterten. Plünderungen durch serbische, montenegrinische und griechische Truppenteile und Freischärler führten zu einem unglaublichen Gemetzel, 200 000 albanische Zivilisten sollen ihm zum Opfer gefallen sein.
Im Mai 1903 erlebte Edith Durham selbst die Zerstörung von Shkodër, der Stadt, die sie so sehr liebte und in die sie bei ihren Reisen immer wieder zurückkehrte, durch montenegrinische Truppen.
Durham betätigt sich als humanitäre Helferin. 1904, nach dem blutigen Aufstand in Mazedonien, bei dem Häuser niedergebrannt, Ernten vernichtet, Zivilisten getötet wurden, versorgt sie die Bevölkerung im Auftrag einer britischen Hilfsorganisation mit Nahrungsmitteln, Kleidern, Medikamenten. Nach den Balkankriegen hilft sie Tausenden von Flüchtlingen. Darüber hinaus arbeitet sie als Kriegsreporterin und Balkankorrespondentin für britische Zeitungen. Sie schickt Petitionen an die britische Regierung und informiert ausländische Diplomaten über die Lage auf dem Balkan.
Lange gehörten ihre Sympathien auch dem serbischen Volk, aber das änderte sich mit dem Zweiten Balkankrieg und den Angriffen der Serben auf die albanischen Nachbarn. Albanien fühlte sich bedroht und von den Großmächten im Stich gelassen. In Edith Durham sahen die Menschen in der Region eine Heilsbringerin. Noch in den entlegensten Regionen setzten die Bewohner ihre Hoffnung auf sie, rechneten mit ihrer Hilfe.
Im Oktober 1913 reist sie nach London, um vor dem britischen Parlament die Lage der Albaner zu erläutern. Dass es am 30. Mai 1913 auf Vermittlung der europäischen Mächte Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Russland, Österreich-Ungarn und Italien zum Londoner Vertrag kommt, mit dem die Unabhängigkeit Albaniens (ausgerufen im November 1912) bestätigt wird, ist eindeutig Edith Durhams Verdienst – jedoch nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.
1914 schreibt sie: »Es gibt noch keine Lösung für den Balkan.«
Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs kehrt sie aus Albanien nach England zurück. England hat an der Seite von Serbien und Russland Deutschland den Krieg erklärt, in Albanien ist Edith Durham persona non grata.
In England setzt mit Beginn des Ersten Weltkriegs eine ProSerbien-Stimmung ein. Auf dem Balkan hält Serbien zusammen mit Griechenland, Italien, Frankreich, Montenegro und Österreich-Ungarn bis 1918 Albanien besetzt.
Durham lässt sich davon nicht beirren, mischt sich weiter ein. Denn zwar wird nach dem Ende des Weltkriegs Albaniens Unabhängigkeit auf der Pariser Friedenskonferenz von 1919/1920 anerkannt, aber bis 1921 halten Serben, Kroaten und Slowenen nordalbanische Orte besetzt und boykottieren die Regierung in Tirana. Dem Einsatz Großbritanniens – und damit wohl auch Edith Durhams – ist es zu verdanken, dass die Unabhängigkeit des Landes von der Pariser Konferenz im November 1921 bestätigt wird.
1921 reist Durham noch einmal nach Albanien. Von Durrës fährt sie mit einer Gruppe junger Amerikaner in einem Wagen des Roten Kreuzes nach Tirana. »Mit Fremden ist Albanien nicht mehr Albanien«, schreibt sie in ihr Tagebuch. Und: »Bin müde. Habe das Gefühl, als gäbe es mein Albanien nicht mehr.«
Wenig später heißt es: »Bin überwältigt von der großen Gastfreundschaft. Plötzlich schreiben sie mir alle eine Bedeutung und eine Macht zu, ich kann damit nicht umgehen. Ich habe gehört, dass sie in einigen Städten jetzt sogar Straßen nach mir benennen.«
Noch Jahre später, 1939, da ist sie 76 Jahre alt, demonstriert sie in London auf der Straße gegen die Okkupation Albaniens durch Italien. (1943 werden die Italiener von der deutschen Wehrmacht abgelöst.) Sie ist krank, kann das Haus bald nicht mehr verlassen. Im Januar 1943 notiert sie: »Ich habe den Albanern versprochen, sie in ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit zu unterstützten. Es war ein langer Weg. Einige tapfere Männer, sehr viel jünger als ich, sind auf der Strecke geblieben.«
Am 15. November 1944 stirbt sie in ihrem Haus in London. Im Dezember 1944 ziehen sich die Deutschen aus Albanien zurück. Albanien ist wieder frei. Vorerst. (Am 11. Januar 1946 ruft Ministerpräsident Enver Hoxha die Volksrepublik Albanien aus.)
Ahmet Zogu, von 1925 bis 1928 Präsident Albaniens und von 1928 bis 1939 König der Albaner, würdigt Edith Durham in einem Nachruf:
»Sie hat ihr ganzes Leben Albanien gewidmet. Sie hat uns ihr Herz geschenkt – und die Menschen aus den Bergen haben sie ins Herz geschlossen … Wir Albaner haben – und werden – die englische Lady nie vergessen. In den Bergen, in denen sie sich so gut auskannte, schallt das Echo ihres Todes von Berg zu Berg.«
Edith Durham hat sieben Bücher publiziert, in denen sie über ihre Reisen durch den Balkan berichtet. Ihr erfolgreichstes Buch, das immer wieder nachgedruckt wurde, ist High Albania, das unter dem Titel Brot, Salz und unsre Herzen. Durch Albaniens rauen Norden nun in einer schönen neuen Übersetzung durch Christel Dormagen vorliegt. Es beschreibt ihre Reise durch die Region Malësia e Madhe, die sich vom Skutarisee und von Rjoll im Westen entlang der montenegrinischen Grenze über das Kir-Tal zum Vermosh-Tal erstreckt und im Süden an den Dukagjin mit dem malerischen Thet-Tal grenzt.
Es beginnt mit ihrem Aufbruch in Shkodër am 8. Mai 1908, wohin sie Ende Juli desselben Jahres zurückkehrt. Es gab Gerüchte über eine neue Verfassung, und Durham, vielleicht getrieben von der Hoffnung, dass diese der albanischen Bevölkerung mehr Mitbestimmung bringen könnte, wollte rechtzeitig in der Bezirkshauptstadt zurück sein. Das Dekret, das dort am 2. August bekannt gegeben wurde, sollte den Übergang von einer absoluten zu einer parlamentarischen Monarchie festschreiben – jedoch unter osmanischer Regie, es handelte sich also um reine Augenwischerei.
Der Weg durch die Berge war mühsam, die einzelnen Ortschaften in der zerklüfteten Berglandschaft nur unter größter Anstrengung zu erreichen. Straßen gab es keine. Eselspfade waren wenig hilfreich, wenn sie bis in den Sommer hinein unter meterhohen Schneebergen verschüttet lagen. Das ganze Gebiet war unzugänglich. Auch für die Osmanen, die in dieser Gegend nie Fuß fassen konnten. Aber der »Königin der Berge« war ihr Ruf noch ins hinterste Bergland vorausgeeilt. Die Bergbewohner empfingen die kurzhaarige Frau, die im Herrensattel unterwegs war und ihre Familien, Häuser, Kirchen, Brunnen, Trachten so schön »schreiben« konnte (sie zeichnete sie), mit größter Herzlichkeit. Auch wenn sie nichts hatten, boten sie ihr »Brot, Salz und unsere Herzen«. Durham ihrerseits ging ganz unvoreingenommen auf sie zu und schreckte auch vor »elenden Bruchbuden, ohne Fenster und pechschwarz in den Ecken« nicht zurück, wo »in einer Ecke ein Schaf festgebunden war und ein Schwein frei herumlief«.
Die Zeit schien hier stehen geblieben zu sein. »Christen sind wir, und Christen waren wir seit jeher! Weder können wir unter dem türkischen Gesetz leben. Noch können wir türkische Kleidung anlegen. Wir gehorchen dem Kanun des Leka Dukgjin, dem Gesetz der Berge.«
Der Kanun ist ein mittelalterliches Wertesystem, ein mündlich überlieferter Rechtekatalog, an den sich alle halten. Überwacht wird die Einhaltung von den Hausvorständen der einzelnen Stämme. Gesetzbücher und Richter gibt es nicht. Es gelten das Ehrenwort und die alte Regel, nach der eine Verletzung der Ehre die Blutrache erfordert, und sei es, wie Durham in ihrem Buch drastisch schildert, gegenüber einem Achtjährigen. Das ganze gesellschaftliche Leben regelt der Kanun. »Das Haus des Albaners gehört Gott und dem Gast«, heißt es dort. Allein das Gastrecht konnte das Reisen im Gebirge sichern. Auch das Verhältnis zwischen Frauen und Männern war streng geregelt: Frauen hatten einen Schritt hinter den Männern zu gehen. Eine untreue Frau musste von ihrem Ehemann erschossen werden, die Kugel dafür steckten die Brauteltern ihm schon bei der Vermählung zu. Andererseits konnten Frauen ein Leben als Mann führen, sofern sie, die sogenannten Schwurjungfrauen, vor zwölf (männlichen) Zeugen schworen, bestimmte Regeln einzuhalten. Mit einer solchen Selbstkasteiung setzten sie für sich die gültigen Regeln der täglichen weiblichen Unterwerfung außer Kraft. Diese Frauen, die rauchten, Männerkleider und Waffen trugen, waren berechtigt, Blutrache zu üben.
»In der Wildnis verlangt es mich nie nach Büchern. Sie sind immer langweilig, verglichen mit den Geschichten, die das Leben zwischen den kahlen grauen Felsen inszeniert«, schreibt Durham. Was sie in ihrem Bericht schildert, sind nicht Inszenierungen, sondern wahre Geschichten über Aberglaube, alte Bräuche, Gastfreundschaft, Stammeswesen, Blutfehden, Schwurjungfrauen, Scharmützel zwischen Christen und Moslems und vieles mehr.
Das albanische Hochland, das Durham sich – als erste Ausländerin – Anfang des 20. Jahrhunderts »eroberte«, ist noch immer wild und rau – und wie aus der Zeit gefallen. Wer sich dorthin aufmacht, wird auf seinen Wanderungen eine einzigartig schöne Landschaft kennenlernen, auf die gastfreundlichsten Menschen treffen, den letzten Schwurjungfrauen begegnen und die neuesten Geschichten über Blutrache hören.
Susanne Gretter
Januar 2020