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Vorwort – Brief an meine autistische Tochter

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Meine liebe Mirjam,

es ist, als ob mich die schwül-heißen Augusttage dieses Jahres – Dein Geburtsmonat – daran erinnerten, dass ich Deinen Auftrag noch nicht erfüllt habe. Denn ganz sicher hatte Dein Erscheinen in meinem Leben einen tieferen Sinn, den zu entschlüsseln ich mich zwar stets, aber doch mit wechselndem Erfolg bemühte.

Du warst einmal ein entzückendes kleines Mädchen, das alle in seiner Umgebung verzauberte, und gleichzeitig verbargst Du Dich hinter einer gläsernen Mauer, die den Namen Autismus trug.

Damals in den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts gelang es schließlich einer jungen Assistenzärztin, nach unserer dreijährigen Odyssee von einer Kinderarztpraxis zur anderen, Dein Verhalten als autistisch zu bezeichnen. Ein Kind, das stundenlang im Zustand der Verzückung Zeitungspapier zerreißt, dass beim Surren der elektrischen Kaffeemaschine in panischer Erregung die Flucht ergreift, das musste doch autistisch sein.

Man definierte Autismus als Wahrnehmungsstörung. Ein intuitiver amerikanischer Arzt, Dr. Delacato, bezeichnete Autisten als „Fremdlinge“ in dieser Welt und kam der Wahrheit damit schon ein ganzes Stück näher.

Obwohl zwischen uns die gläserne Wand stand, warst Du mir näher als alle Menschen, die ich schon vorher geliebt hatte. Ich wollte aber nicht nur Deine zarte, elfenhafte Schönheit bewundern, sondern Deine scheue Seele erreichen. Medikamente lehnten wir ab, wir glaubten an die Macht bedingungsloser Liebe. Dass Du Dich mir in den letzten Jahren Deines Lebens vorbehaltlos anvertrauen konntest, wenn wir schweigend, eng aneinander geschmiegt, am Abend Musik von Mozart und Bach hörten, das war der Sieg der Liebe.

Aber ich wollte Dich nicht nur lieben, ich wollte Dich verstehen. Ich wollte wissen, warum Du plötzlich mit eineinhalb Jahren zu sprechen aufgehört hattest. Warum? Heute weiß ich, dass Du mir damals stillschweigend den Auftrag erteiltest, selber nach einer umfassenden Lösung zu suchen.

So machte ich mich auf den Weg. Wer liebt, begnügt sich nicht mit halben Sachen: Ich wollte zunächst eine Wunderheilung, nichts weniger als das. So kam ich nach Indien und dort in Kontakt mit der jahrtausendealten Weisheitslehre, ohne zu ahnen, dass ich so später einen ganz anderen Zugang zum Verständnis des Phänomens Autismus finden würde.

Nach Deinem Tod hatte ich schließlich viel Zeit, Autobiographien von Autisten zu lesen. Ihre Verzweiflung, ihre Nöte, ihre entwaffnende Offenheit, die detaillierte Darstellung ihrer Idiosynkrasien, ihr skurriler Humor haben mich sehr berührt. Sie haben mir am meisten geholfen, Dich besser zu verstehen.

Erst jetzt, spät genug, Jahre nach Deinem Weggang aus dieser Welt, will und kann ich Deinen Auftrag ausführen. Ich muss nur die Erfahrungen mit Dir, die Berichte anderer Autisten und mein langjähriges Studium indischer Weisheitstexte miteinander verknüpfen, um zu einer ganz neuen befriedigenden Deutung von Autismus zu kommen.

Es scheint nämlich nichts anderes zu sein als eine Stufe des Bewusstseins, das sich nicht mehr auf dem involutionären Bogen, sondern auf dem evolutionären befindet. Einfacher ausgedrückt, es handelt sich bei autistischen Menschen um fortgeschrittene Seelen, die sich gar nicht mehr vollständig in die Physis, die dichte Welt der Materie, inkarnieren wollen und ihr Bewusstsein auf der nächst höheren, feinstofflichen Ebene verankert haben. Sie sind tatsächlich Fremdlinge in dieser Welt der festen Materie mit ihren harten Konturen. Ihre Wahrnehmung hat sich erweitert, verfeinert, ihre Gefühle lassen sich kaum durch die Sprache des Körpers ausdrücken, denn Ihr Körper ist ohne „Anwesenheit“, wie es Axel Brauns in seiner Autobiographie ausdrückt. (1)

Dein Erscheinen in meinem Leben, liebe Mirjam, hat mich viel gelehrt. Nicht, dass der Zauber und die Schönheit der äußeren Welt mich nun nicht mehr locken könnte, das gewiss nicht, aber Du hast mich hinter die Fassaden des äußeren Lebens schauen lassen. Heute weiß ich, dass Autismus keine Krankheit ist, dass es sich letztlich um eine sensible Entwicklungsstufe handelt, und dass die Pathologisierung dieser Gruppe aufhören muss.

Ob der Rückzug der Seele versehentlich geschieht, ob er durch hemmende Faktoren ausgelöst wird (Medikamente, Anästhesie), bleibt offen. Vielleicht ist es sogar eine Hürde, die noch kurz vor dem Ziel genommen werden muss.

Als Du 5 Jahre alt warst, ließ ich ein damals – und heute – recht bekanntes Medium ins Haus kommen (2), der in einem Satz zusammenfasste, was heute eine Gewissheit für mich ist: Er meinte, Du habest Dir einen Körper gewählt, mit dem Du „gerade noch“ auf der Erde existieren könntest. Aber Dein Bewusstsein, Deine Seele lebe auf einer höheren Ebene.

Ich bin Dir, meine liebe Mirjam, von Herzen dankbar, dass ich Dich lieben durfte und endlich auch verstehen kann.

Deine Mutter

Autismus - Erfahren und gedeutet

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