Читать книгу Nullmenschen - E.D.M. Völkel - Страница 6
ОглавлениеProlog
Völkel stand am Klingelschild des kleinen Eckhauses in der Bergstraße Eschborn. Im weitläufigen Garten leuchteten in kräftigen Farben die letzten Blüten der Herbststauden. Karmesinrot blitzten die Hagebutten durch das grüne, dünner werdende Laub der Kletterrosen über dem Eingang des Gartentores. Der Weg am Haus entlang führte in einen mit hellgrauen Natursteinen gepflasterten Hof. Dieser wurde durch die Garage und einen Gartenschuppen zum Nachbargrundstück begrenzt. Hier standen, vor dem kälter werdenden Novemberwind geschützt, die empfindlichen Pflanzen und warteten darauf, in ihr Winterquartier gebracht zu werden. Der sonst weitaufgespannte Sonnenschirm war in seiner Hülle verpackt im Schuppen abgestellt. Dort lagen ebenfalls die Abdeckungen für den Holztisch, die Bank und die Stühle bereit.
Evas Schmerz über den unerwarteten Tod der Eltern, welcher ihre Rückkehr aus Hamburg nach Eschborn auslöste, wurde nach knapp zwei Jahren schwächer. Doch die Erinnerungen an die überaus merkwürdigen Umstände brannten sich unauslöschbar in ihren Kopf. Diese Ereignisse hatten eine gigantische Welle an Änderungen für ihr bisheriges Leben ins Rollen gebracht.
Als Tochter eines Wissenschaftlers war sie im Grunde ihres Wesens neugierig. Sie versuchte mit den bescheidenen Möglichkeiten, welche ihr zur Verfügung standen, die Fakten der abrupten Todesfälle zu klären, um diese vielleicht zu verstehen. Ihre Wertvorstellungen von richtig und falsch gerieten massiv ins Wanken. Letztendlich stürzten sie über ihr zusammen und begruben sie mitsamt ihrem Glauben an die Menschlichkeit unter sich.
Neue Freunde entpuppten sich als heimtückische Feinde, Personen, die unerreichbar schienen, wurden zu engen und geliebten Partnern. Die ungleichen Kumpel Moritz, der Journalist, und Chris, der überaus findige Fachmann am Computer, nahmen sie ohne Vorbehalte in ihre Gemeinschaft auf. Von ihnen lernte sie alles, was zum investigativen Journalismus gehörte. Rasch merkte Eva, das der bisherige Job in der Bank lediglich eine vorübergehende Tätigkeit gewesen war. Die erlebnisreiche Zusammenarbeit mit den beiden gefiel ihr weitaus besser, als sie es jemals für möglich gehalten hätte.
Ihre zögerliche und fast schon ängstliche Haltung in der ersten Recherche verwandelte sich stetig in entdeckerischen Wagemut. Dieser bescherte ihrem neuen Freund Moritz viele schlaflosen Nächte. Die gerade beendeten Nachforschungen, welche in einem spektakulären Artikel ihren Höhepunkt fanden, schlugen hohe Wellen. Die Ausläufer waren auch heute noch spürbar. Ihre Suche führte sie zu den fragwürdigen Machenschaften alteingesessener Aristokratie und als ausgleichendes Gegengewicht zu dem ortsansässigen Rockerclub, Lakota MC. Schmunzelnd bemerkte sie im vergangenen Sommer, dass ihre Vorstellung vom typischen Klischee des Rockers passte. Sie teilte die Männer für sich in drei Gruppen auf. Die drahtigen, die bierbäuchigen, und jene, die sich noch nicht entschieden hatten, zu welcher sie gehören wollten. Glücklicherweise hatte sie bei ihren Besuchen in deren Clubhaus auch Normalos kennengelernt und mit Tina, der Frau des Präsidenten, verband sie eine lockere Freundschaft.
Die gefährlicher werdenden Recherchen bescherten ihr unter anderem eine unfreiwillige Fahrt im Auflieger mit einem alptraumhaften Aufenthalt im Vorderen Orient. Moritz verlangte daraufhin, dass sie niemals mehr während einer laufenden Ermittlung einer Spur folgte, ohne Nachricht, wohin sie gehe.
* * * * * * *
Der November verlängerte den goldenen Oktober mit seinem atemberaubenden Farbenspiel der Natur. Dennoch kam der Herbst; unerbittlich zog er mit großen Schritten über das Land und kündigte den nahenden Winter an. Die Zeit des aus den Wiesen und Feldern aufsteigenden Nebels verwandelte die Landschaft auf geheimnisvolle Art und Weise.
›Jetzt fehlt nur noch der unverkennbare Geruch des Kartoffelfeuers‹, ging es Eva durch den Kopf. Sie seufzte und wandte sich den vertrockneten Stängeln der Stauden zu, die darauf warteten, abgeschnitten zu werden. Moritz kam eilig den Gartenweg entlang auf sie zugelaufen und reichte ihr das Telefon. Er hatte keine Augen für die feinen, schimmernden Tautropfen auf den in bunten Herbstfarben leuchtenden Blätter.
»Kathi ist dran, sie erzählt so viel durcheinander, ich kann damit nichts anfangen«, verdrehte er die graugrünen Augen. Eva warf ihrem ein Meter achtzig großen und muskulösen Freund glücklich strahlend einen Kuss zu.
»Hey Kathi, wo bist Du gestern hin verschwunden? Wir haben Dich gesucht…«, sie strich sich eine aus dem geflochtenen Zopf gelockerte Haarsträhne aus der Stirn.
»Ich musste mal an die frische Luft…«, entgegnete diese ohne Begrüßung, was alles bedeuten konnte.
»Gerade bin ich in der alten Firma. Stell Dir vor, er hat doch tatsächlich versucht, die Inhaber zu überzeugen, mich zu feuern und vor versammelter Mannschaft als unfähig hingestellt!«, drang ihre Stimme schrill und aufgebracht aus dem Hörer.
›Die unglaubliche Geschichte, geht weiter. Hatte der blaublütige, arglistige Vater der unantastbare Herr von Arche seine Tochter jetzt endgültig auf der Abschussliste?! Traute er selbst einer Frau selbst im 21. Jahrhundert nicht die Führung eines Unternehmens wie der Automo-Hessen zu?‹ »Ehrlich, mich wundert gar nichts mehr. Er ist und bleibt ein widerlicher, heimtückischer Fiesling«, kommentierte Eva schneller als gewünscht.
»Sie geben mir eine Chance mit fast unerreichbaren Zielen. Wenn ich es schaffe, den Kunden an Land zu ziehen, kann ich bleiben. Falls ich es verbocke, räum` ich meinen Schreibtisch«, keuchte sie. »Es sei ein Test, ob ich überhaupt fähig wäre einen Teil der Geschäftsleitung zu übernehmen.«
»Er hat auch dort so weitreichende Kontakte? Wo stecken eigentlich seine Finger nicht drin?!«
»Ja und noch sehr viel weiter. Beim letzten Mal hat er gedroht, mir das Leben so schwer wie möglich zu machen. Wenn er will, kann er mich jederzeit auf immer vernichten«, flüsterte sie. »Wie Du selbst erfahren hast, haben die von Arches fast überall die Finger drin, bis ganz nach oben in die Führungsebenen der Politik und Wirtschaft. Genau wie in Deinem Artikel beschrieben. Es macht ihm Spaß mich scheibchenweise zu diskreditieren. Er stellt mir Fallen wo es geht, nur um mir zu zeigen, dass ich keine Chance habe jemals in dem uralten Konstrukt aus Männermacht fußzufassen. Als Frau hast Du in dieser Familie keinerlei Rechte.«
Eva erinnerte sich an die ungeheuren Erkenntnisse. Eingeschworene Gruppen versuchten die neuralgischen Punkte des Staates und der Wirtschaft zu unterwandern, um diese zum geeigneten Zeitpunkt zu übernehmen. Innerlich hoffte sie, dass in Zukunft die Kontrollbehörden, aufgeschreckt der gefundenen Tatsachen, gründlicher arbeiteten. Die Ansicht von Moritz: Die Hintermänner sitzen in so hohen Positionen und haben ihre eigenen Vorstellungen. Außerdem hängt die halbe Politik, Industrie und Wirtschaft dort mit drin. Das Schlimmste, über all dem schwebt die Hand des allmächtigen Geldes und schützt sie; war ihr noch lebhaft im Gedächtnis.
»Kathi, was ganz anderes, Du warst gestern richtig fertig. Was war los? Können wir Dir helfen?«
»Erinnere mich bitte nicht mehr an gestern, ich war schwach und hab mich gehen lassen«, die Worte klangen eher unsicher als selbstbewusst.
»Nein Kathi, Du hast uns um Hilfe gebeten Deine Identität herauszufinden und es ist für uns, Deine Freunde, selbstverständlich, Dich zu unterstützen.«
»Ach Eva, ich habe gestern zu viel getrunken und kann mich fast nicht mehr an euren Besuch erinnern«, versuchte sie abzulenken. Eva runzelte die Stirn, ›was zum Kuckuck war plötzlich in sie gefahren?! Erst macht sie uns rebellisch und jetzt kneift sie? Das ist nicht die Kathi, die ich kenne!‹, stand sofort für sie fest. ›Es musste in der Zwischenzeit etwas passiert sein, das sie veranlasste, einen Rückzieher zu machen. Hing das alles noch mit der dubiosen Familiengeschichte aus, Erpressung, Mord und Totschlag zusammen?‹ Unbewusst schüttelte sie sich, ›gruselig, was dort in den vergangenen Jahrzehnten alles passiert war.‹
»Eva, ich wünsche euch beiden eine gute Zeit und wir sehen uns irgendwann einmal. Grüß Moritz von mir. Ciao.« Perplex starrte Eva auf das Telefon in ihrer Hand.
›Da stimmt was nicht. Nicht nach gestern‹, beunruhigt ging sie rasch den Weg zum Haus. Den spät blühenden Astern und Primeln in den Beeten rechts und links schenkte sie nur einen kurzen, flüchtigen Blick.
Moritz erwartete sie bereits mit einer Tasse voll heißem duftenden Kräutertee in der Küche. Die langen hellbraunen Locken umrahmten sein kantiges Gesicht.
»Was hat sie Dir am Telefon erzählt?!«, überfiel sie ihren Freund und die saphirblauen Augen funkelten. Ein Teil des kastanienfarbenen Haares hatte sich endgültig gelöst und hing wirr um ihr hübsches, rundes Gesicht. Er kniff die Augen zusammen, legte seinen Kopf in den Nacken und dachte einen Moment lang nach.
»Es war allerlei wirres Zeug, ich bin nicht daraus schlau geworden, deshalb habe ich Dir das Gespräch gegeben. Ihr Frauen versteht euch nun mal anders.«
»Also los. Was hat sie gesagt«, bestand Eva auf einer Antwort. »Los, erinnere Dich!«
»Hm… ich habe es erkannt, es ist ein Kopf, seine Bösartigkeit wird noch übertroffen…« Moritz sah zur Decke und überlegte. »Sebastian ist auch einer… und, ich habe es gesehen.« »Was noch?«, sah sie ihn wartend an.
»Das war es. Nichts mehr. Ich konnte ihr nicht folgen und habe sie gebeten einen Moment zu warten. Das ich Dich im Garten suche, weil Du sicherlich mehr mit diesem Kauderwelsch anfangen kannst.«
»Sie hat mich abgewimmelt, da stimmt was nicht.« Eva verzog misstrauisch ihr Gesicht. »Denk an gestern, als wir zu Kathi in die Villa gefahren sind. Denk an ihren fürchterlichen Zustand. Etwas später erzählte sie, wie ihr Vater die Tatsache offenbarte, das sie ein Experiment sei, ein … wie hat sie es ausgedrückt? Bestell-Baby aus dem Reagenzglas-Katalog. Damit wäre sie keine echte von Arche und hätte, nicht nur als Frau sondern auch genetisch, keinerlei Anspruch auf einen Sitz in der Firmenleitung.« Unruhig schritt Eva durch die Küche in die Diele und wieder zurück. Moritz kannte dieses Verhalten, das er selbst ab und an zum Nachdenken an den Tag legte.
»Sie wollte wissen, wer sie ist und woher sie kommt. Dann unser Erstaunen, wir konnten es zu Beginn nicht glauben. Kathi hat noch genickt und ihre Augen waren sehr traurig, als sie bestätigte ganz sicher zu sein. Das gruselige Stöhnen, als sie flüsternd erzählte, dass es ihrem Vater Spaß gemacht hätte sie zu demütigen. Sie habe es ganz deutlich in seinen Augen gesehen. Das boshafte Aufleuchten kurz bevor er zu dem zerschmetternden Schlag ansetzte. Du konntest Dich nicht länger zurückhalten und hast sie gefragt, ob es handfeste Beweise gäbe, die er ihr gezeigt habe, damit sie die Korrektheit seiner Behauptungen prüfen könne.« Eva war stehengeblieben und trank einen großen Schluck ungesüßten Tee.
»Dann ihre Bestätigung, dass sie die Belege angeschaut habe und diese die Krönung seiner Vernichtung gewesen seien. Sie habe es gelesen und schwarz auf weiß mit eigenen Augen gesehen.« Moritz nickte, er konnte sich sehr gut an den gestrigen Tag erinnern.
»Auch dass es Originale gewesen seien, die Möglichkeit einer Fälschung kam für Kathi nicht in Frage. Deine Empörung über diese Bösartigkeit wuchs unaufhaltsam und dein Sinn für Gerechtigkeit rumorte solange in Deinem Inneren, bis Du ihm mit einem Aufschrei durch den ganzen Salon Luft gemacht hast. Unsere Frage, ob er ihr eine Kopie ausgehändigt hätte oder sie den Briefkopf auf den ominösen Beweisen sehen konnte.«
»Genau, Du warst aufgesprungen und zu den hohen Fenstern hinübergegangen. Ich erkannte Deine Abscheu gegen so viel Niedertracht ganz deutlich im Gesicht.«
»Ja, als ich in den Park hinuntersah, dachte ich: Verdammt was nutzt einem das schönste und reichste zu Hause, wenn du dort nicht willkommen bist. Kathi bewohnt einen ganzen, mit allem, was das Herz begehrt, ausgestatteten Flügel der Villa allein. Und jetzt? Jetzt ist sie eine Persona non grata.«
»Mit etwas Glück könnte sie dort wohnen bleiben, doch wie ich diesen niederträchtigen, arglistigen Drecksack einschätze, schmeißt er sie raus. Nur so zum Spaß. Weil er es kann.«
»Ruf sie gleich an«, schlug Moritz pragmatisch vor, »wenn sie jetzt keine Lust oder Zeit hat, mach einen Termin aus, wir treffen uns nochmals.«
»Da stimmt was nicht. Sie bat uns, ihr zu helfen, herauszufinden, wer sie ist«, beharrte Eva.
»Genau. Aber ihre Frage war: ›Auch wenn ich erst einmal nicht alle Fakten offenlegen kann?‹, was meinst Du verheimlicht sie uns noch?«
»Bestimmt sehr vieles, ich will nicht in ihrer Haut stecken. Die von Arches haben es in sich, das ist ein kolossaler Haufen von hinterhältigen und widerwärtigen, Möchtegern-Aristokraten die auf das gemeine Volk hinabblicken und es verachten. Die niederen Wesen können froh sein für den Clan der Hochwohlgeborenen zu arbeiten und haben auch noch die Unverschämtheit, Geld dafür zu verlangen«, erbost über diese Tatsache stemmt Eva ihre Hände in die Hüften.
»Lass uns die Geschehnisse weiter rekapitulieren«, holte Moritz Eva zum Thema zurück. »Nach ihrem dritten Whisky, habe ich die Flasche in den Vitrinen Schrank gestellt. Du hast vorgeschlagen, sie solle versuchen von dem Logo aufzumalen, woran sie sich erinnere. Hast sogar noch in Deiner Handtasche nach einem Papier und Stift gegraben.«
»Hab ich auch gefunden und bin runter in die Küche, auf der Treppe ist mir noch Henry der Butler begegnet, der anbot den Tee zu kochen. Dann klingelte der gnädige Herr und er ist verschwunden. Ich habe alles recht schnell in dieser topmodernen Küche gefunden und bin mit dem Tablett wieder zu euch hoch.«
Moritz nickte wissend. »Ja, ich hatte mich auf das Sofa gesetzt und die Beine ausgestreckt, dann muss ich eingeschlafen sein.«
Eva zog die Augenbrauen bis zum Haaransatz.
»Muss ich eingeschlafen sein?! Du hast tief und fest geknackt, nicht alles, dass Du noch laut geschnarcht hast«, frotzelt sie.
»Ach hör schon auf, die letzten Monate waren echt anstrengend. Dich zu lieben und mit Dir zu leben ist eine echte Herausforderung. Ich hatte viele schlaflose Nächte, bevor Du wieder zu Hause warst«, verteidigte er sich.
»Als ich Dich wachrüttelte, war Kathi schon weg, einfach so, ohne Nachricht, oder hat sie Dir noch etwas gesagt?«
»Nein, wirklich nicht. Sie saß immer noch auf dem Sessel und so viel wie sie intus hatte, war ich der Meinung, dass sie nicht mehr stehen kann, geschweige denn laufen.« Eva hatte den Tee ausgetrunken und füllte erneut ihre Tasse.
»Ich bin felsenfest überzeugt, von gestern auf heute ist was passiert. Zu Beginn unseres Gespräches war sie noch Kathi und plötzlich, von einer Sekunde zur anderen, war sie ganz Geschäftsfrau.«
»Apropos Geschäftsfrau, wo arbeitet sie?«
»Das hat sie mir leider nicht verraten. Aber Chris, der kann es bestimmt herausfinden«, verschwörerisch grinste Eva Moritz an.
»Ja. Is´ schon gut. Aber ich ruf ihn an, schließlich hast Du mich in diese Sache hineingezogen«, schob er als Einwand vor und drückte die Kurzwahltaste auf seinem Handy. Eva knuffte ihn an der Schulter, »vielen Dank Herr Dressler für Ihre unendliche Güte sich herabzulassen, mein Anliegen vorzutragen«, lachte sie und machte eine leichte Verbeugung.
»Du brauchst mich als Bodyguard, à la Kevin Costner, so wie Du von einer Aktion in die nächste stolperst, muss Dich ja einer beschützen.« Eva verstand sehr wohl die Andeutung auf ihr gegebenes Versprechen. Sie setzte sich ihm gegenüber an den Küchentisch, öffnete den zerzausten Zopf und strich sich die langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Ihre Augen blitzten ihn unternehmungslustig an.
»Guude mein Lieber«, begrüßte Moritz seinen besten Freund, den etwas kurz und breit geratenen, kahlköpfigen Chris, der mit seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten die verstecktesten Informationen ausgraben konnte. »Wie geht´s Dir? Hat sich die siebte Etage nach dem Vorfall wieder beruhigt?«
»Moritz, schön von Dir zu hören. Evas Artikel hat sehr viel Staub aufgewirbelt, Respekt. Zwei Kollegen sind immer noch dran und verfolgen die Auswirkungen bis ins kleinste Detail.« Durch das Handy war das Klappern der Tastatur zu hören. »Hau raus Alter, was kann ich für Dich tun?«
»Wir suchen zusätzliche Informationen über eine Katharina von Arche. Sie ist zirka dreißig Jahre alt, plus minus und die Tochter des Automo-Hessen Besitzers.«
»Mehr nicht?! Ist das alles? Moment«, bat er, »so, ich habe hier eine Katharina von Arche, ja sie ist dreißig, die Unternehmertochter der Automo-Hessen, Wohnsitz im Kreis Wiesbaden. Arbeitet bei … Moment mal, hier passt was nicht«, führte Chris eine Art Selbstgespräch. »Ich melde mich«, und legte auf.
Fragend sahen sich Eva und Moritz an.
»Ich wusste, da stimmt was nicht.« Die Sorge um Kathi spiegelte sich in ihren Augen.
»Ja. Du hast Recht«, nickte er, »so wie meistens.«
* * * * * * *
Das diabolische Glühen seiner stahlgrauen Augen steigerte sich zu einem Lodern, befriedigt legte Stephan von Arche den Hörer auf die Gabel. Die letzten Anweisungen waren erteilt und Katharina, die Verräterin der Familiengeheimnisse, würde einen sehr hohen Preis für ihr aussichtsloses Unterfangen bezahlen. Ärgerlich verzog er den Mund, undenkbar, eine Frau an der Führungsspitze! Niemals! Nicht solange er das Sagen hatte und die Geschicke der eigenen Unternehmen lenkte.
Vor dreißig Jahren hatte er sich gegen seine Überzeugung überreden lassen, einen der Bälger aufzunehmen, um ihren Charakter zu formen. Sie entwickelte sich überraschenderweise ausgesprochen gut, erwies sich als sehr intelligent und besaß eine schnelle Auffassung. Sie wuchs zu einer begehrenswerten jungen Frau heran und würde die Verhandlungen mit dem Großindustriellen der Stahl-Branche erleichtern. Sie war sein perfektes Aushängeschild, wie bedeutungsvoll die Veränderung der DNA sein konnte. Sebastian hatte er zu seinem Ebenbild erschaffen lassen und setzte wirklich alles daran, ihn mit absoluter Härte zu dem eigenen, persönlichen Charakter zu formen. Mit Genugtuung stellte Stephan fest, dass sein Sohn ebenfalls die Vorliebe zum Sadismus verinnerlichte und ließ ihm freien Lauf. Empathielose Menschen sind die besseren Führungskräfte. Keine Gefühlsduseleien lenkten sie ab, Mitgefühl und Anteilnahme waren störende Züge, um die notwendige Entscheidungen zu treffen.
Schade, dass Katharina aus einem anderen Experiment stammte und kein männlicher Nachkomme war. Sie übertraf Sebastian an Intelligenz um ein Vielfaches. Immer wieder hatte er die Organisation bedrängt, endlich auch männliche Ausführungen in dieser Versuchsreihe zu erschaffen. Aus für ihn nicht nachvollziehbaren Gründen sei dies angeblich unprofitabel. Die jetzigen Erkenntnisse aus den Experimenten waren bedeutend aber noch nicht hundertprozentig zu ihrer Zufriedenheit. Die Produktion lief auf vollen Touren und bescherte ihnen satte Gewinne. Erst wenn der letzte Baustein zum perfekten, komplikationsfreien Produkt gefunden war, würde seinem Wunsch entsprochen werden.
All dies lag viele Jahre zurück, Sebastian war schon siebenundzwanzig Jahre alt und sich jetzt noch einmal mit einem Säugling zu befassen, ihn zu formen und ihm seine grausamen Vorlieben beizubringen, kam für ihn als Vater nicht mehr in Frage. Sein Sohn sollte sich damit auseinandersetzten, auf einen Enkel hatte er immer noch genügend Einfluss, um ihm den rechten Weg zu weisen.
* * * * * * *
Durch den Lärm der Bohrmaschine und den hohen, durchdringenden Laut der Kreissäge war der markante Klingelton von Fritz mobilem Telefon kaum zu hören.
»Dein Handy«, schrie Berti laut, stellte den Strom der Maschine ab und deutete auf die Weste seines Präsidenten. Nickend dankte der drahtig schlanke Mann von mittlerer Größe. Er wischte rasch die mit Holzstaub bedeckten Hände an der Dachdeckerhose ab. Seine schwarze Lederweste mit dem Abzeichen des Lakota Motorradclubs hing über der benachbarten Stuhllehne und geschickt zog das Telefon aus der Innentasche.
»Guude«, begrüßte er den Anrufer herzlich mit seiner sonoren Stimme, »was has´de?« Ein harter Zug um die Mundwinkel zeigte sich auf dem mit tiefen Furchen durchzogenen Gesicht. Schmerzlich dachte er an die vergangenen Monate zurück. Sie hatten dem Lakota MC gravierende Lücken in ihre Reihen gerissen, viele der Brüder waren getötet und einige von ihnen mit schwersten Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die Beerdigungen der, durch die mutwillige Explosion ihres ehemaligen Clubhauses in Eschborn, Getöteten, waren vergangen. Der Trauerflor wehte, als sichtbares Zeichen des Gedenkens an jedem einzelnen Motorrad. Der MC hatte seine eigenen Gesetzte, die Hierarchie war klar abgesteckt und deutlich auf jeder Weste der Rocker erkennbar.
»Danke Mann«, nickte er kurz, legte auf und sah in die Gesichter der anderen.
»Habt ihr was rausgefunne?!«, wartend standen Berti, Hugo und Mike vor ihm. Unerwartet flog polternd die Haustür auf und Kralle, der bärtige Vizepräsident, kam mit zwei Eimern Farbe herein.
»Draußen ist noch mehr im Auto, ihr steht hier und babbelt, los, auf, auf!« Seine unverkennbare, raue und tiefe Stimme, die einem Schauer über den Rücken jagte, drang durch die Eingangshalle. Ein kurzer Blick auf die Brüder genügte, »Was ist passiert?«
»Neuigkeiten«, bestätigte Fritz.
»Ihr habt was, ich seh´s Euch genau an«, Berti schwang sich behände auf die halbfertige Theke, zündete sich eine Zigarette an und blickte erwartungsvoll auf sie.
»Ja, das ist korrekt«, bestätigte Kralle und strich sich mit der Hand durch den Bart. »Wir sagen es heute Abend beim Meeting. Schon mal zur Beruhigung, den Bombenbastler haben wir gefunden.«
»Ha! Ich wussd es!«, rief Hugo. »Bestimmd bis de schon seid Taachen an em dran«, grinste er breit und schlug ihm mit seiner riesigen Hand anerkennend auf die Schulter.
Kralle nickte, baute bedächtig einen Joint, zündete ihn an und zog den Rauch tief in seine Lungen. Dann reichte er ihn weiter, langsam drehte er die Runde und der unverkennbare Geruch des erstklassigen Marihuanas breitete sich im Erdgeschoß aus.
»Wir konnten alte Verbindungen neu aufleben lassen und ham eine Übereinkunft getroffen. Alle Brüder entscheiden heute Abend, ob und wie es weitergeht«, bestätigte er.
»Okay, dann lasst uns weidermache, vielleichd läufd zum Meeting schon des ersde kühle Blonde aus em Zapphahn.« Mike schupste Berti von dem Tresen und warf Hugo den Schraubendreher zu.
»Wie sagte unser Vize vorhin? Los, auf, auf, babbelt ned, es gibt viel zu tun.«
Fritz stellte sich unauffällig zu Kralle und reichte ihm eine Flasche Wasser.
»Bist Du in eigner Sache weitergekomme?«, er sah besorgt, wie dieser den Kopf schüttelte.
»Nein, leider nicht.«
* * * * * * *
Gekonnt hatte Chris eine Recherche gestartet und innerhalb kurzer Zeit lagen die ersten Ergebnisse vor.
Das Unternehmen, für welches Kathi arbeitete, beriet Firmen, die Führungskräfte entsprechend ihren Anforderungen suchten. Geeignete Kandidaten wurden gerne mit unwiderstehlichen Angeboten abgeworben. Dieses Vorgehen bescherte ihnen nicht nur Lob und Anerkennung, sondern ebenfalls unverhohlenen Tadel bis hin zu Drohungen.
Umgehend meldete er sich per Mail mit einigen interessanten Neuigkeiten.
- Hallo ihr beiden, es gibt eine Diskrepanz in Kathis frühster Vergangenheit, die ich beinahe überlesen hätte. Ihr Vorname und das Geburtsdatum wurden am 20. September eingetragen, der Familienname ›von Arche‹ allerdings erst zehn Tage später, am 30. Ich habe etwas weiter gegraben, anscheinend wurde sie kurz nach der Geburt im Waisenhaus aufgenommen. Sowas passiert jedoch nur, wenn sie ein Findelkind war. Das würde auch den nachträglich eingetragenen Familiennamen erklären. Schwieriger wird es, wenn die Mutter selbst sie nicht wollte oder noch viel zu jung war. Oder, sie wurde der Mutter wegen unzureichender Fürsorge durch die Behörden entzogen. In den beiden letzten Fällen wäre allerdings der Familienname vermerkt. Glück im Unglück, als Baby hast du die größten Chancen adoptiert zu werden. Wenn ich etwas Neues gefunden habe, melde ich mich.
Ciao Chris
Post Skriptum, Eva, ich kann es fühlen, es liegt fast greifbar in der Luft. Du bist dem nächsten Skandal auf der Spur.-
»Ich glaube, die Kommissarin Heinzer hatte vor einigen Wochen doch recht mit ihrem Spruch, die Ratten haben sich in ihren Löchern verkrochen.« Moritz stützte seinen Kopf in die Hände und blickte nachdenklich zum Fenster hinaus.
»Jetzt warten sie erst bis die Luft rein ist und zack, sind sie wieder da.«
»Sie sind clever und opfern einen, damit der Clan überlebt«, vervollständigte Eva das Beispiel aus der Fauna. »Ich bin noch nicht überzeugt, dass der hochwohlgeborene von Arche wirklich ein Opfer ist. Ich denke mal, er zieht nach wie vor die Fäden aus dem Hintergrund und sein Sohn Sebastian, der widerliche Sadist, macht, was Papa sagt. Kathi haben sie ganz nach Familienmanier fein säuberlich abserviert.«
»Jetzt verstehe ich das auch, durch ihre Adoption ist sie keine ›genetisch echte‹ von Arche. Sie ist das Bauernopfer, der Herr Graf ist fein raus und Sebastian wird zum Alleinerben.« Moritz war aufgestanden und schüttelte sich bei diesem Gedanken. Eva versuchte zum x-ten Mal Katharina auf dem Handy zu erreichen.
»Apropos Sebastian, habe ich es richtig in Erinnerung? Sagte sie nicht, er ist auch einer? Was ist er? Auch adoptiert oder ebenfalls ein Experiment?« Sie legte enttäuscht das Telefon zur Seite. Alle Bemühungen waren leider erfolglos, aber sie hinterließ mehrere Nachrichten auf der Mailbox mit Bitte um Rückruf.
»Genau, Du hast vollkommen recht«, erhellte sich Moritz bedrücktes Gesicht, »ich schreibe Chris, er soll mal prüfen, ob es bei ihm ebenfalls Diskrepanzen gibt.«
Der Winter zog mit großen, nasskalten Schritten über das Land und vertrieb die letzten warmen Tage des endenden Herbstes. Eine dichte Nebelsuppe schwappte bis in die Straßen und hüllte die Umgebung in sein verschwommenes Gewand. Es roch nach feuchter Erde, nassem Laub und der erste Schnee schien auch nicht mehr weit zu sein.
Tags drauf klingelte unerwartet Evas Handy und flink angelte sie es aus der Dielenschale.
»Kathi!«, rief sie erstaunt und freudig zugleich. »Schön, dass Du Dich meldest.«
»Eva, er hat es tatsächlich geschafft, ich bin raus! Er war höchstpersönlich da und hat mir die Entlassung mitgeteilt. Es hat ihm richtig Spaß gemacht! Seine Augen hatten einen teuflischen Ausdruck und er war wie früher, wenn er mich verprügelte«, hörte sie ihre Worte mit leichtem Zittern in der Stimme.
»Du kannst zu uns kommen, das Gästezimmer ist frei. Klein aber fein.
Du hast die Adresse?!«, reagierte Eva blitzschnell.
»Ist schon gut, ich danke euch. Sei nicht böse, ich habe ein Zimmer im Hotel und suche mir einen neuen Job. Vielleicht ist es besser, da raus zu sein und einen anderen Weg einzuschlagen.«
»Stopp! Kathi. Wo kann ich Dich erreichen?«
»Ja, das ist korrekt. Vielen Dank, auf Wiederhören.«
»Was war das?«, hörte Eva Moritz Stimme direkt neben ihrem Ohr. Er war ganz dicht an sie getreten und hatte das Telefonat mitgehört. Stirnrunzelnd sah er sie an.
»Da stimmt was nicht. Hast Du die Veränderung im letzten Satz gehört?!«, resigniert legte sie das Handy auf den Tisch. »Sie hat mich schon wieder abgewimmelt. Was habe ich falsch gemacht?!«
»Gar nichts. Sie ist eben so. Vielleicht hat sie Dich ein weiteres Mal benutzt?! Wie lange kennst Du sie und wie oft hast Du mit ihr gesprochen?« Fragend sah er sie an. Eva wiegte den Kopf hin und her, Moritz nahm ihr die Antwort ab. »Eben. Sie ist und bleibt eine unbekannte Größe in Deiner Rechnung. Das x, das Du bestimmen musst.«
Die durchdringende Klingel an der Haustür holte Eva in die Realität zurück.
»Ja. Möglicherweise hast Du recht«, seufzte sie. Moritz ging voraus und öffnete.
Der Briefträger mit seiner großen, gutgefüllten Zustellertasche stand vor ihm, lächelte freundlich und hielt ihm einen unfrankierten Umschlag entgegen. Moritz entzifferte etwas mühsam die rasch hingeschmierten Namen, Völkel und Dressler.
»Guten Tag, ich habe einen Brief ohne Porto. Sind Sie bereit die Nachgebühr zu zahlen?«, hörte Eva die ihr bekannte Stimme des Postboten. Bevor Moritz antworten konnte, trat sie rasch zu ihnen, sah neugierig auf den Umschlag und nahm das zerknitterte hastig beschriftete Kuvert in die Hand.
»Er ist an uns beide adressiert. Leider ohne Absender«, sie drehte und wendete ihn mit gemischten Gefühlen.
»Ja, selbstverständlich«, entschied Moritz spontan und zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche und bezahlte. Eva reichte ihm das Kuvert, »mach ihn auf, es bringt nichts, die Entscheidung hinauszuzögern.
Glaub mir, ich spreche aus Erfahrung.«
Vorsichtig schlitzte er den arg mitgenommenen Umschlag auf. In seinem Inneren befand sich lediglich ein Zettel, den Moritz sofort als, das abgerissene Stück der Rechnung wiedererkannte.
»Das ist von Kathi«, stellte er sachlich fest und betrachtete das Papier aus allen Richtungen.
»Zeig her«, forderte Eva und griff nach dem kleinen Blatt.
»Es ist nur Gekritzel darauf, sieh es Dir an und überzeug Dich selbst«, überreichte er ihr den Zettel in der Diele. »Egal wie Du ihn ansiehst, er ergibt keinen Sinn. Was will sie uns damit sagen?«
»Es ging um eine Art Bestellung oder Formular als ich sie aufforderte, das Symbol auf dem Absender zu zeichnen.« Sie drückte Moritz die Zeichnung in die Hand und holte sich eine neue Tasse Tee.
»Du hast recht, aber ich kann trotzdem nichts mit dem Krickelkrakel anfangen, was soll das sein?!« Moritz drehte das Blatt in alle Richtungen, doch die Zeichnung ergab keinen weiteren Hinweis. Kein Symbol, keinen Gegenstand oder eine Andeutung von irgendwas. Eva kam mit einer großen Tasse aus der Küche.
»Halt! Stopp! Nicht bewegen, bleib genau so stehen.« Moritz erstarrte direkt, langsam kam sie näher, »es ist spiegelverkehrt, gegen das Licht betrachtet kannst Du ganz feine Linien sehen, als habe der Stift nicht geschrieben. Es ergibt die Andeutung von einem Gesicht.«
Moritz verdreht erst einmal den Hals, wendete das Blatt letztendlich und hielt es etwas näher gegen die Deckenlampe. »Genau, das könnte ein Kopf sein, oder eine Fratze, möglicherweise auch ein Symbol. Schatz Du hast eine blühende Phantasie«, schüttelte er seinen Kopf.
»Ach was, Du musst nur genauer hinsehen«, sagte sie, schnappte den Zettel und ging in die Küche zurück. Mit dem Bleistift zog sie die kaum sichtbaren Linien nach. Moritz schaute über ihre Schulter.
»Sei mir nicht böse, ich kann immer noch nicht erkennen, was Du gesehen haben willst.«
Eva sah über ihre Schulter und grinste schelmisch.
»Achtung, Abrakadabra, Du verbindest diese Punkte miteinander und bekommst eine Art Kopf. Das hat Kathi auch erkannt und ist wahrscheinlich deswegen unbemerkt von Dir gegangen. Sie sagte doch auf den Unterlagen, die sie gesehen habe, sei etwas in dem oberen Bereich gewesen…«
»Genau, wenn es zum Briefkopf gehört, hat sie es spiegelverkehrt betrachtet und konnte deshalb nichts damit anfangen«, unterbrach Moritz Eva.
»Lass uns gemeinsam zu diesem Kopf recherchieren. Er wird nicht einfach so in der Luft schweben, es muss noch einen Rahmen oder Umrandung dazu geben.«
»Oder einen Schriftzug?!« Moritz sah das bestimmte Lächeln auf Evas Gesicht und die Art und Weise, wie sie ihre Augen blitzten.
»Denk nicht mal dran! Er ist eigentlich im Urlaub und hat nur uns zu liebe recherchiert. Sein Handy ist ausgeschaltet. Nein! Eva, er braucht eine Pause. Er war die letzten Monate durchgängig am Arbeiten.«
* * * * * * *
Jens Schmidt war stinksauer über die indirekte Unterstellung seiner Vorgesetzten, der Hauptkommissarin Melanie Heinzer. Das er vielleicht illoyal sei, kränkte ihn zutiefst.
Im letzten Sommer hatte er seinen verschwunden Halbbruder Julius bei den Rockern des Lakota MC´s wiedererkannt. Dies gefiel ihr überhaupt nicht, zumal sie die Meinung vertrat, dass alle Personen aus der Szene kriminell waren. Aber dass sie nach jahrelanger Zusammenarbeit seinem Wort nicht mehr vertraute, nagte schwer am Selbstbewusstsein.
Damals war sein erstes Gefühl, ›ich habe mich getäuscht‹, doch von diesem Tage an geisterten die alten Geschichten des Erwachsenwerdens immer wieder durch seine Gedanken.
Langsam ließ er das kalte Wasser in die Hände laufen und schüttete es ins Gesicht. Vor wenigen Wochen hatte die Explosion des Clubhauses der Rocker sein Leben verändert. Hartnäckig kehrte diese Erinnerung regelmäßig in seine Träume zurück. Er sah die Trümmer, Steine, Metall, Glas, Holz, der halbverbrannte Bezug eines Sofas und abgerissene menschliche Körperteile.
Der nächste Schwall Wasser landete im Gesicht. Er roch den heißen Staub, versengten Stoff gemischt mit nasser Asche, verbrannter Erde und verkohltes Fleisch. Über allem schwebte der Tod.
›Das Wasser ist nicht kalt genug, es spült die Erinnerung nicht fort.‹ Die zahlreichen Toten und Schwerverletzten hatten ihn bis ins Mark getroffen. Er konnte nicht anders, als ihn anzusprechen. ›Komisch in solchen grauenvollen Situationen finden sich Geschwister, ziehen sich wie Magnete an, sie können sich nicht ignorieren.‹
Dieses Erlebnis kehrte immer und immer wieder, es war wie eine Dauerschleife in seinem Kopf und er fand den Ausschalter nicht.
Bereits als der damals noch Fremde zum ersten Mal mit ihm sprach, hatte er die unverwechselbare Stimme wiedererkannt. Sie hatte ihn durch seine Jugend getragen und ihm Ratschläge von unschätzbarem Wert gegeben. Manches verstand er als Heranwachsender nicht, doch es erwies sich im Nachhinein als richtig. Jens hob kurz den Kopf und blickte in den Spiegel, bevor er ein weiteres Mal die Hände mit dem eiskalten Wasser füllte.
›Sobald ich das Bedürfnis hatte konnte ich ihn anrufen, Julius war immer für mich da. Dann, urplötzlich, hatte er von mir verlangt, sich um unsere Mutter zu kümmern und war abgetaucht. Ausgerechnet als ich in der Polizeiakademie und mitten in meiner Ausbildung steckte.‹
Ruckartig drehte Jens den Wasserhahn zu und zerrte einige Papiertücher aus dem Wandspender. Damals war er sehr verärgert, hatte begonnen ihn zu hassen, ausgerechnet dann, als er ihn am meisten gebrauchte hatte, war er abgehauen. Einfach von der Bildfläche verschwunden und hatte ihm die ganze Verantwortung überlassen. Aggressiv knäulte er die Tücher zusammen und warf sie in den Mülleimer.
Kurz bevor Mutter starb hat sie ihm die Wahrheit über Julius erzählt, der sich heimlich all die Jahre um sie und ihn gekümmert hatte. Dass er den Schlägertrupp von drei Mann aus der Wohnung vertrieben und so die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Alles, um sie beide zu schützen. Bevor Mutter die Hintergründe des Vorfalls erzählen konnte, verstarb sie. Erst aus den Papieren im Nachlass erfuhr er mehr von seinem Bruder und dessen Vater.
Nachdenklich blickte er in den Spiegel und stützte sich auf dem Waschbecken ab. Die Hartnäckigkeit, mit der seine Chefin Melanie versuchte, ihn von Julius Kriminalität zu überzeugen, hatte ihm den Rest gegeben. So konnte und wollte er nicht weitermachen. Er brauchte Abstand und musste nachdenken. Vielleicht war es an der Zeit seine Zukunft neu zu gestalten. Die Vorstellung bis zum Ende aller Zeiten Verbrecher, Mörder und andere kriminelle Individuen zu jagen, hatte ihm schon seit Kindertagen gut gefallen. In der Realität sah es leider ganz anders aus. Allzu oft waren ihnen die Hände gebunden. Der kleinste Fehler genügte, um die Arbeit von Wochen und Monaten durch einen herbeigepfiffenen Anwalt zerrissen und in den Dreck getreten zu bekommen. Verflucht, diese schmierigen Winkeladvokaten, kannten jedes Schlupfloch und uns sind die Hände gebunden. Der eintretende Kollege holte ihn aus den Gedanken, »Morgen«, grüßte Jens kurz und strich sich mit den Fingern durch das blonde, teilweise widerborstig abstehende Haar.
›Ich reiche Urlaub ein, muss dringend mal hier raus‹, nahm der Gedanke Form an. ›Als erstes zum Friseur und runter mit der Wolle bevor es richtig kalt wird. Dann pack ich meine neuen Laufschuhe aus und probiere was sie draufhaben‹, dachte er, ›Wetter hin, Wetter her, völlig egal mein Marathontraining ist viel zu kurz gekommen.‹
Ruckartig wandte er sich um und lief zielstrebig ins Büro. Die Kommissarin Melanie Heinzer hob kurz den Kopf, ihr langer, schwarzer, geflochtener Zopf hing über die linke Schulter und reichte fast bis zur Taille.
»Gut, dass Du kommst, es gibt Arbeit«, sie schob ihm eine Akte zu. »Es wurde eine Frauenleiche nahe dem Bahnübergang im Gewerbegebiet Liederbach gefunden. Die Kollegen warten schon auf uns, los komm…«
»Sie warten nicht auf mich«, entgegnete er härter als beabsichtigt.
Ungläubig richtete sie sich auf und runzelte fragend die Stirn.
»Ich mach` Urlaub. Jetzt sofort. Wenn`s Dir nicht passt, schwärz mich an, schmeiß mich raus, ist mir egal.« Er griff nach seiner Jacke und zog den Autoschlüssel aus der Tasche.
»Jens!« Misstrauisch starrte sie ihn an, »was ist passiert? Kann ich Dir helfen?«
›Verdammt noch mal, ich Idiot hab ihr von meinem Verdacht, es sei jemand in der Wohnung gewesen, erzählt‹, schoss es ihm durch den Kopf. »Nix, ich muss endlich mal raus aus dieser Tretmühle. Mich ausklinken und neu auftanken«, wiegelte er rasch ab. ›Sobald die Tür hinter mir zugeht, lässt sie ihn durch´s System laufen.‹
Argwöhnisch kniff die Kommissarin ihre fast schwarzen, leicht mandelförmigen Augen zusammen und setzte zum Sprechen an. Rasch verkniff sie sich aber gerade noch ihren Kommentar. Die Vermutung, er träfe sich mit seinem Bruder, brannte ihr auf der Zunge, doch sie hatte ihm versprochen sich erst einmal rauszuhalten. Abwartend stand Jens mit beiden Händen in den Taschen vor ihr.
›Wenn ich nicht zustimme, geht er trotzdem, auch wenn dies eine disziplinarische Maßnahme nach sich zieht. Es hat keinen Zweck, er muss sich zurechtfinden. Je mehr ich versuche ihn zu stoppen, umso hartnäckiger wird er sein Ziel verfolgen.‹ »Also gut«, nickte sie zustimmend, »ich gebe es weiter. Wie lange?«
»Zwei Wochen«, schoss es sofort aus seinem Mund.
»Na schön, erhole Dich gut spann mal aus und lass was von Dir hören. Falls du reden willst, du kannst mich immer erreichen«, gab sie ihm mit auf den Weg.
* * * * * * *
Der Industriesauger dröhnte und beseitigte die letzte Staub- und Schmutzschicht in dem großzügigen Raum gleich neben der Eingangshalle. Der hohe, oval geschwungene Treppenaufgang führte in den ersten Stock und Dachboden. Weit oben leuchteten die Lampenrosette von der stuckverzierten elfenbeinfarbenen Decke, auf die hellgrauen Bodenfliesen. Jeder war froh, dank Bertis Beharrlichkeit seinen Traum zu verwirklichen, so rasch ein neues Clubhaus für den MC und sich selbst gefunden zu haben. Die Blauzeder Villa am Ortsausgang von Königstein, stand schon sehr lange leer und sollte unerwartet verkauft werden. Die Erben der verstorbenen Besitzer hatten kein Interesse mehr an der weiteren Erhaltung des alten Gebäudes. Berti kannte das Haus als Kind war er oft mit seinem Großvater, der als Jäger in dieser Familie das Wild verkaufte, hier ein- und ausgegangen. In genau diesem Haus zu leben, war sein Ziel. Er hatte über Jahre in einer winzigen Absteige gewohnt und jeden Cent zusammengekratzt. Endlich war er in der Lage gewesen die Anzahlung zu leisten, um sich das Vorkaufsrecht eintragen zu lassen. Dass die Brüder des MC´s sein Angebot sofort annahmen, erfüllte ihn mit großem Stolz.
»Prost«, rief Hugo von der fertig gezimmerten Theke herüber, trank genüsslich das Bier aus und zapfte sofort die nächsten.
Pünktlich auf die Minute trafen sich alle Mitglieder des Lakotas MC´s zum Meeting in dem großen Raum. Es war ein ungewohntes Gefühl. Das Wenige, was aus dem Clubhaus übrig geblieben war, hatte bereits einen Platz erhalten und die Bilder der Verstorbenen reihten sich aneinander. Keiner der Anwesenden war hier in den vergangenen Wochen wirklich heimisch geworden. Die gewohnte Umgebung fehlte, aber noch mehr die schmerzlich vermissten Brüder. Es roch nach frisch gestrichenen Wänden, Farben und Lacken. Ihnen fehlte der geliebte Qualm, auf halber Höhe schwebend, nach Zigaretten, Rillos, Zigarren und Marihuana riechend. Bei jedem Luftzug nahm er eine neue Gestalt an und ihre Frauen, liebevoll ›Ol´ Lady‹ genannt, schimpften oft auf ihn. Das war der unverkennbare Geruch von Heimat und Brüdern, einzigartiger Freundschaft, beispiellosem Vertrauen und Freunden für das ganze Leben. Er war aus der zerstörten Halle des alten Clubhauses davongeflogen. Es schmerzte unendlich und jeder sann auf Rache. Diese fraß unaufhaltsam Löcher in ihre Seelen, zermürbte unerbittlich ihre Gemüter und riss erbarmungslos Stücke aus ihren Herzen.
Nichts war wie vor zwei Monaten. Nichts würde jemals wieder so sein. Ausgelöscht, verbrannt, in Staub zerfallen und vom Wind davongetragen. Wer sollte das fast Unmögliche schaffen, die um Haaresbreite zerschlagene Gemeinschaft erneut aufzubauen? Wie konnten sie weiterhin Lakotas sein? Stolze Männer, untrennbare Brüder und respektvolle Weggefährten, die einander nicht im Stich ließen?
Vergeltung! Rache! Für jeden Einzelnen der Ermordeten.
Die beiden großen Räume rechts und links der Eingangshalle waren für die Besucher und Partys gedacht. Der Mittlere mit Ausgang in den hinteren Hof als Meeting Raum und der letzte kleine direkt neben der geräumigen Küche als Vorratsraum.
Fritz als Präsident saß am Kopfende und Kralle, der Vize, gleich zu seiner rechten. Jeder der Anwesenden war mit den eigenen Gedanken beschäftigt und hörte nur mit halbem Ohr zu.
»Brüder«, begann Fritz mit rauer Stimme, »wir gedenke der Verstorbene un sie lebe in uns bis mir selbst einma dem Teufel begegne.« Leises Gemurmel antwortete ihm.
»Männer!«, laut krachend schlug seine Faust auf die Tischplatte. Erschreckt sahen alle auf. »Wolle mir so weiter lebe?« Sieben neugierige Augenpaare blickten ihn an. »Als erbärmlicher Haufe?« Ihr allgemeines Kopfschütteln erfolgte. »Wo is unser Stolz, unsere Ehre, unsere Freundschaft?« Ein aufgeregtes Raunen lief durch die Runde. Bedeutungsvoll sah Fritz zu seinem Vize, ›ich habe ihre Aufmerksamkeit gewonnen, gewinne Du ihren Mut‹, bedeutete er ihm ohne Worte. Kralle nickte, jetzt war der richtige Zeitpunkt sie mit den Ergebnissen ihrer diskreten Nachfragen zu konfrontieren.
»Brüder, jeder von uns hat mindestens einen treuen Freund verloren. Doch die Zeit der Trauer ist jetzt vorbei! Richtet euch auf und hebt die Köpfe, der Tag der Rache ist gekommen!« Kralles unverkennbare Stimme schwoll an, zog die Brüder in seinen Bann und rüttelte an ihrer Ehre. Spontan erhob sich Hugo, sein imposantes Erscheinungsbild zog das Augenmerk der anderen auf sich. Er streckte seine Hand über den Tisch in die Mitte.
»Ich bin debei«, laut und deutlich flogen die Worte wie brennende Pfeile durch den Raum. Berti, Mike, Atze, Spider und die noch neuen Brüder Knox und Dag standen nacheinander auf und folgten Hugos Beispiel. Als letztes legten Kralle und Fritz ihre Hände auf die anderen. Fritz` Blick schweifte durch die Runde, in den Augen spiegelte sich die Bereitschaft und gleichzeitig noch etwas Zweifel. Kralle war seinen gefolgt, auch er bemerkte den Zwiespalt.
»Wir sind noch elf Lakotas. Stolze, ehrenvolle Männer, die ihre Brüder nicht im Stich lassen. Unser Kampf im Clubhaus der Dirty Ghost´s, sie waren uns zahlenmäßig überlegen. Doch unser geschickter Plan, unser Mut und unsere Ehre hat den Sieg davongetragen«, rief er ganz bewusst die Erinnerung mit lauter werdenden Stimme wach. »Reno braucht noch Zeit und Angel ist im Krankenhaus, aber wir sind neun, neun Laktotas, neun Männer mit Stolz und Ehre!«
»Lakotas for ever!«, rief Berti laut, »Fritz un Kralle ham Recht, die Zeit der Trauer, der Untätigkeit, des Zueinander-Finden is endgültig vorbei. Wir sin stark un die Rache lässt uns mächtiger werde denn je.«
»Brüder, mir wisse jetz, wer die Bombebastler sin und wo sich einer von ihnen versteckt hält«, sprach Fritz in die Runde. Sofort bombardierten sie ihn mit Fragen und weiteren Vorschlägen, den Scheißkerl aus seinem stinkenden Loch zu zerren. Kralle übernahm die weiteren Ausführungen.
»Aus Hugos Sportstudio kam ein nützlicher Hinweis. Die scharfe Bardame im ›Violet‹ wusste von einem kleinen Angeber, der sich damit brüstete, das Clubhaus des Lakota MC´s gesprengt und viele von ihnen nach Walhalla geschickt zu haben.« Ihre Ungeduld steigerte sich von Satz zu Satz. »Er versteckt sich momentan in einem drittklassigen Puff in dem schmalen Tal am Ortsrand von Eppstein.« Hugo war aufgestanden er streckte den muskulösen Körper und baute sich bedrohlich zu voller Größe auf.
»Her mit dem Hurnsohn, ich zerquedsch em de Kopp wie e rohes Ei«, geräuschvoll knackte er mit den Fingerknöcheln und öffnete die riesigen Hände.
»Die Begebenheiten vor Ort sind leicht. Es gibt drei Ausgänge und einen alten, ziemlich engen Verbindungstunnel zum Bach«, erklärte Kralle weiter. »Das bedeutet, wir brauchen vier Mann zum Absperren und zwei bis drei für die Durchsuchung der Räume. Hört zu! Hier ist der Plan. Jeder von euch bekommt eine Aufgabe von großer Wichtigkeit. Nur mit unserem perfekten Timing können wir die Übermacht des Gegners bezwingen. Ruhe jetzt hört mit zu.« Mit steigender Spannung folgten sie den Ausführungen ihres Vizes und nickten, jeder begriff sofort die Zusammenhänge und wusste von der Bedeutung seiner Aufgabe.
»Lass uns fahrn, soford! Ich werd ned länger wade«, raunte Mike durchdringend die Worte und sprang abrupt auf. Der Stuhl fiel polternd auf die Steinfliesen. Das laute Geräusch durchbrach die entstandene, hochgradig aufgeladene Anspannung.
Präsident und Vize standen gemeinsam auf, »wer noch eine Waffe braucht, meld sich bei Hugo. Mir treffe uns in zehn Minute drauße.« Sofort brach ein Gewirr aus durcheinanderredenden Stimmen aus.
Kralle steckte sich zwei Rillos an und reichte eine an Fritz weiter. Dann zog er seine Smith & Wesson Modell 686 aus dem Schulterholster, prüfte sie akribisch und öffnete die Trommel. Er kontrollierte die Munition und das typisch metallische Geräusch vom Einrasten bestätigte die Einsatzbereitschaft und steigerte seine Vorfreude.
»Lass uns fahren Bruder. Vielleicht können wir heut mehr als nur eine Angelegenheit klären«, grinste er.
* * * * * * *
Ungeduldig trommelten seine Finger auf der Schreibtischplatte und seine Augen bohrten sich in die alten, vergilbten Blätter der Unterlagen vor ihm. Ruckartig hob er den Hörer ab und wählte die ihm sehr gut bekannte Nummer. Bereits nach dem zweiten Freizeichen hörte er eine männliche Stimme,
»Sanatorium Vita Nova, guten Tag.«
»Stellen Sie mich durch«, befahl Stephan von Arche in gewohnt herablassender Weise.
»Sehr wohl Herr Graf«, antwortete es geflissentlich und eine der nervigen, etwas schiefklingenden Wartemusiken ertönte.
»Stephan«, hörte er kurz darauf die Baritonstimme der Vita Nova – Leitung, »was liegt an?«
»Du musst sie abholen, schnellstens! Sie ist zu neugierig geworden und hat, wie Du sicherlich mitbekommen hast, der Organisation großen Schaden zugefügt.«
»Ja, das ist in Ordnung. Selbstverständlich, Du warst langmütig und sie ist im besten Alter.«
»Schaff sie mir unverzüglich vom Hals, es ist unerträglich sie gleich neben Sebastian in der Firmenleitung zu sehen. Sie muss weg, ich habe genug.«
»Sebastian hat sich zu Deiner Zufriedenheit entwickelt?« »Ja, er ist wohlgeraten, es gibt keinerlei Probleme mit ihm.«
»Das ist gut zu hören. Er wird die Aufgabe zu gegebener Zeit übernehmen?«
»Ja, er brennt darauf und kann es gar nicht mehr abwarten bis er alt genug ist und ich ihm die Vollmacht gebe. Was ist mit Deinem?«
»Leider zeigt er wenig Interesse, ich habe unsere Sucher eingeschaltet und hoffe, er kommt zur Besinnung.«
»Du brauchst nur schlagkräftige Argumente«, lachte von Arche gehässig, »ich habe meinen von Kindesbeinen an auf seine Zukunft vorbereitet. Vielleicht war es doch ein Fehler ihn nicht bei Zeiten zu holen.«
»Ja! Ich denke auch. Es war damals eine Verirrung, aber was macht man nicht alles in jungen Jahren. Man hat die Weisheit mit Löffeln gefressen und ist der Meinung alles besser zu wissen«, Bedauern schwang hörbar in seiner Stimme.
»Bereinige es, je eher, desto besser für uns alle. Greif durch, hart und emotionslos nur auf das höhergesteckte Ziel ausgerichtet. Das wird er verstehen.«
»Bestimmt hast Du recht, ich war zu nachgiebig, er muss jetzt endlich zu seiner Verantwortung stehen.«
»Es ist seine Pflicht der Sache zu dienen, das muss er akzeptieren.« »Stephan, ich kümmere mich um Dein Anliegen«, versprach er. Das Knacken in der Leitung bestätigte die Ausführung des Auftrages. Zufrieden, das Problem Katharina gelöst zu haben, legte er auf. Sogleich zitierte seinen Butler Henry herbei und wandte sich mit auf dem Rücken gehaltenen Armen zum Fenster. Nach einmaligem Klopfen und sich fast lautlosem Öffnen der hohen schweren Holztür zum Arbeitszimmer stand der Diener bereit.
»Packen Sie Katharinas Sachen, sie zieht aus«, befahl er in gewohnter Manier, ohne sich umzudrehen.
»Sehr wohl«, bestätigte Henry und verließ ebenso still und leise das Arbeitszimmer, wie er eingetreten war.
›Die ungeheuerliche Dreistigkeit mich in das Licht der Öffentlichkeit zu zerren wird sie bezahlen. Wie konnte sie es wagen, diesen Schmierfinken der Zeitung Familieninterna zu erzählen! Die Hand zu beißen, welche sie dreißig Jahre lang gefüttert und gekleidet hat.‹ Immer noch erbost über das ungeratene Experiment musste er all seine Willensstärke aufbringen, um nicht doch noch dem ersten spontanen Impuls zu folgen. Es wäre eine Schande, die Flaschen mit den sündhaft teuren Spirituosen an der Wandtäfelung und der schwarzen Marmor Kamineinfassung zu zerschlagen.
›Endlich hatten wir die passende Zusammensetzung und dann entwickeln sich die Versuche daraus zu einer Katastrophe. Zum Teufel auch, eventuell mussten sie sich mit einer Version zufriedengeben.‹
* * * * * * *
Der markante Signalton auf Moritz Laptop signalisierte den Eingang einer neuen Nachricht. Eva sah kurz von ihrer Arbeit auf und suchte mit dem Blick nach ihrem Freund.
»Ich geh schon«, drang aus der Diele in den ersten Stock und einen Moment später, »Chris fragt an, ob Du an einer nahe Bahnübergang Liederbach gefundenen Frauenleiche interessiert wärst.«
Blitzartig sprang sie auf, »Kathi?!«, und rannte die Treppe hinunter ins Wohnzimmer.
»Nein, scheint nicht so sie stammt eher aus dem Osten, blond, ein Meter fünfundsechzig groß, er ist dran. Sobald es etwas Neues gibt, meldet er sich sofort.« Erleichtert atmete sie aus.
›Glücklicherweise ist es nicht Kathi. Wo mochte sie nur stecken?‹ »Schreib ihm bitte, dass ich jetzt die Zeichnung per Kurznachricht verschicke. Es ist wahrscheinlich ein Kopf, der als Teil eines Absenders den Briefkopf schmückte. Und dass Kathi ihn auf den Unterlagen gesehen hat, die der feine Herr Vater ihr unter die Nase hielt.« Ironisch mit viel Verachtung sprach Eva die Worte aus.
»Ist erledigt, er kümmert sich darum. Eva was…«, erstaunt sah er auf. Doch er hörte nur ihre schnellen Schritte auf der Holztreppe mit ihren knarrenden Stufen in den ersten Stock hinauf eilen. Sie betrat ihr kleines Arbeitszimmer unter dem Dach. Der große und sehr alte Massivholz Schreibtisch schimmerte dunkelbraun. Seine Schnitzereien liebte sie schon als Kind. Er war ordentlich aufgeräumt und wartete auf die nächste Belagerung.
›Hier ist es viel zu leer, es wird Zeit, das sich die Recherchen stapeln‹, dachte sie und holte eine neue giftgrüne Mappe aus dem Schrank. Sorgfältig schrieb sie mit einem dicken schwarzen Stift das heutige Datum darauf.
›Die investigative Arbeit ist genau das Richtige für mich. Moritz und Chris sind die besten Lehrmeister. Ihre Erfahrungen und Möglichkeiten sind einfach genial.‹ Unwillkürlich fröstelte es sie.
›Es ist Ende November, schon bald überzieht der erste Frost die Landschaft und zaubert einzigartige Eisblumen auf die Scheiben.‹ Ihr Blick fiel durch das schräge Dachfenster, auf den bleigrauen, wolkenverhangenen Himmel.
›Das ist schon mein zweites Weihnachten und Sylvester hier ohne meine Eltern. Leider war ich zu dumm und dickköpfig, um mich beizeiten mit ihnen auszusöhnen.‹ Bevor die Vergangenheit mit ihren Schrecken sich erneut in ihr ausbreiten konnte, rief sie sich zur Ordnung. In stillen Dank an die Eltern, welche ihr das Häuschen in der Bergstraße Eschborn vererbt hatten, schnappe sie sich den Ordner und kehrte in das Erdgeschoß zurück.
»Hat Chris schon geantwortet?«, erwartungsvoll sah sie ihren Freund an und grinste.
»Was grinst Du so?!«
»Och, nichts«, beeilte sie sich zu sagen, konnte allerdings ihr Schmunzeln nicht unterdrücken.
»Du hast was, ich sehe es ganz genau. Was ist?«, argwöhnisch kam er näher.
»Ich bin glücklich, dass der unglückselige Tom uns nicht auseinanderbringen konnte. Wir sind trotz aller seiner Intrigen immer noch ein Paar.« Eva war dicht zu ihm getreten, stellte sich auf die Zehenspitzen, nahm seinen Kopf in ihre Hände und küsste ihn leidenschaftlich.
»Hm, Dein Schmunzeln und was es mir gerade verspricht ist unwiderstehlich. Das kannst Du ruhig öfter machen«, er zog sie mit ins Wohnzimmer auf die Couch. »Chris ist sowieso im Urlaub und wir beide haben dafür viel Zeit.«
* * * * * * *
Beunruhigt durch Jens Verhalten und seinem vor zwei Wochen geäußertem Verdacht, es sei jemand in der Wohnung gewesen, hatte Hauptkommissarin Heinzer den Bruder mit bürgerlichem Namen Julius Kralleths verdächtigt. Ohne ihren Kollegen zu informieren, durchleuchtet sie ihn gründlich. Allerdings fand sie außer zwei Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens keine weiteren Einträge. Erneut prüfte sie ihre Eingabe und schüttelte verwundert den Kopf.
›Das kann nicht sein. Unmöglich. Der muss was auf dem Kerbholz haben.‹ Die Tatsache, nur Geringfügigkeiten vorzufinden, machte die Kommissarin erst recht neugierig.
›Da stimmt was nicht, wie konnte ein Rocker fast blitzsauber sein. Er hat sich und die anderen gut im Griff, damit sich keiner traut, gegen ihn auszusagen.‹ Oder was überhaupt nicht in ihr Weltbild passte, ›er ist tatsächlich sauber.‹ Verbissen kräuselte sie ihre Lippen, kniff die Augen zusammen und rechnete schnell nach.
›Jens ist sechzehn Jahre jünger, zwischen den beiden liegen Welten, er kann ihn gar nicht kennen oder gar beurteilen. Ich muss dem Kerl mal auf den Zahn fühlen, er kann ruhig wissen, dass ich ihn im Auge behalte.‹ Nachdenklich legte sie ihre Hand auf den Ausdruck.
›Herr von und zu wohnt in Eppenhain, das gehört zum Main-Taunus-Kreis. Das neue Clubhaus ist gleich hinter Königstein im Hochtaunuskreis. Offiziell liegt nichts an, dann kann ich nur privat dort aufkreuzen.‹ Ärgerlich stand sie ruckartig auf.
›Verflucht noch mal, im Dienst kann ich nur hin, wenn ich Jens besuche. Er ist im Urlaub, wie peinlich ist das denn, wenn ich ihm als Vorgesetzte hinter her schnüffel.‹ Sie fluchte in allen ihr bekannten Sprachen.
›Geh ich privat, denkt er womöglich ich lauf ihm nach und kontrolliere ihn. Das bringt noch mehr Misstrauen in unsere sowieso schon angespannte Situation.‹ Wütend gab sie dem Mülleimer einen Tritt, der scheppernd durch das Büro rollte und seinen Inhalt auf dem Boden verteilte. Die Ohnmacht, untätig abwarten zu müssen, war ihr unerträglich.
›Sabine, die beste Innendienstdame und Freundin aller Zeiten, fand bestimmt einen Weg an mehr Informationen zu gelangen.‹
In Gedanken sah sie den rotblonden Lockenkopf mit den strahlenden grünen Augen und der kleinen rundlichen Gestalt vor sich. Energisch rief sie sich zur Ordnung, ›die Frauenleiche in Liederbach.‹ Der Pathologe Doktor Allendorf, seinem Aussehen nach ein Durchschnittsmensch wie aus dem Lehrbuch, wartete auf sie. Als einzige Auffälligkeit überraschte er mit seinen einzigartigen veilchenblauen Augen, die er mit Sicherheit missbilligend rollen würde, weil sie zu spät dran war.
Hastig öffnete sie die Tür zur Pathologie und erkannte sofort, das ihre Vermutung, zutreffend war. Strafend kniff er in gewohnter Manier die Augen zusammen und verdrehte sie kurz. Wippend hielt er einen Aktendeckel in Händen und blickte fragend zur Tür.
»Tschuldigung«, beeilte sich die Kommissarin zu sagen, »ich bin allein, er kommt nicht, braucht etwas Zeit«, schusterte sie Jens Abwesenheit zusammen. Nickend schlug Doktor Allendorf das weiße Tuch, welches die Leiche bedeckte, zurück und Frau Heinzer erschauderte bei dem Anblick des Leichnams vor sich.
»Was haben Sie?«, unwillkürlich schluckte sie.
»Sie ist zirka fünfundzwanzig Jahre alt, gut ernährt und gepflegt.« »Todesursache?«
»Schwer zu sagen, es fehlt zu viel.« Langsam beugte sich die Beamtin näher. »Was ist mit ihr?«, sie deutete auf die Augen.
»Sie wurden fachmännisch entfernt, ebenso die Organe und alles weitere Verwertbare wie Knochen, Venen, Gewebe und große Teile der Haut.« Unbeeindruckt dieser Tatsache fuhr er fort. »Sie hat erst vor kurzem ein Kind geboren. Der Uterus fehlt zwar, aber alles andere, wie die gedehnte Bauchdecke und die Werte bestätigt dies eindeutig.«
Die Beamtin hatte schon vieles gesehen, dies war etwas völlig Neues, noch niemals da gewesenes. Unwillkürlich schüttelte sie sich.
»Wer das«, er deutete auf die Leiche, »alles entfernte, muss Übung, eine entsprechende Ausbildung und Ausstattung besitzen. Das schafft keiner in einer Lagerhalle oder Keller.«
»Wie lange ist sie schon tot?«
»Hm, zirka vierundzwanzig bis sechsundzwanzig Stunden und der Fundort ist definitiv nicht der Tatort«, abschließend klappte er den Aktendeckel zu. »Der Bericht ist per Mail an Sie raus. Ein, zwei Laborergebnisse fehlen noch, die schicke ich, sobald sie vorliegen.«
Die Kommissarin bedankte sich und verließ eilig den kalten und sterilen Raum.
›Welche Ursache könnte ihren Tod ausgelöst haben? War sie während der Entbindung gestorben und hatte einen Organspende Ausweis? Dann müsste sie im Zentralregister gemeldet worden sein. Wo war das Baby? Sabine, sie hatte vielleicht die Möglichkeit einiges zu klären, oder wir irgendwie an weitere Informationen kommen.‹
* * * * * * *
Fritz` ehemalige Entscheidung mit einem MC vor Ort den Deal abzuschließen, um erstklassige Ware direkt einzukaufen und nicht über Zwischenhändler, hatte seine Wahl auf den Eiderha MC in Istanbul fallen lassen. Seit diesem Zeitpunkt standen beide MC`s in Verbindung. Sie achten und respektieren sich, was die unerlässliche Grundlage für alle weiteren Geschäfte darstellte.
Jahrelang lief alles wie geschmiert. Doch letzten Sommer verschwieg Andreas, ein neuer Anwärter für den Eintritt in den
Lakota MC, ein seiner Familie bekanntes Versteck aus dem Zweiten Weltkrieg. Leider hatte er kein besonders großes Interesse, sein Wissen mit dem MC zu teilen und versuchte, es im Alleingang zu räumen. Sein Pech, dass er die Brüder unterschätzte und erwischt wurde. Das brachte ihm erhebliche Schwierigkeiten ein, die er letztendlich nicht überlebte. Die gefundenen Substanzen erwiesen sich als bemerkenswerter Verkaufsschlager und riefen die benachbarten Motorrad-Rocker des Dirty Ghost und Scrollo MC´s auf den Plan. Sie waren der Meinung, ihnen stände ein Stück des Kuchens zu und mischten sich in ihre Geschäfte ein. Als sie später noch Goldbarren aus alten Nazibeständen fanden, mussten sie die Reißleine ziehen, bevor es zur Eskalation in der Szene kam. Nur die am Fund beteiligten Brüder, Kralle, Hugo, Reno, Berti und er selbst, wussten davon. Die fünf schworen den Eid als Lakota, dieses Wissen mit ihrem Leben zu verteidigen und es keinesfalls preiszugeben. Glücklicher weise hatten sie noch die Gelegenheit den Fund rechtzeitig fortzuschaffen. Im abzweigenden Schacht des Brunnens hinter der Villa wurde er versteckt, bevor sich die Situation verselbstständigte und zur Katastrophe führte.
Kralle holte Fritz aus seinen Erinnerungen.
»Die Frankfurter waren bestens über unsern momentanen Status informiert«, sagte er bedeutungsvoll, verzog das Gesicht und eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn.
»Kleiner Pisser, schickt höchsdens seine Leud denn selbst traud er sich ned an uns ran«, Fritz warf einen raschen Blick auf die Brüder. »Sin sie schon bereid?«, besorgt kniff er die Lippen zu kaum sichtbaren Linien zusammen. »Sie solle ned meinedwege in den…«
»Heh Mann, Bro, ich führe sie. Halt Dich da raus. Du darfst auf keinen Fall mit unserer heutigen Aktion in Verbindung gebracht werden«, Kralle umarmte seinen Präsi. »Ich als Vize bin entscheidungsberechtigt. Egal, was Dir gleich passiert, komm nicht nach!«, fügte er eindringlich flüsternd hinzu. »Vertrau mir«, und stieg zu Hugo in den Van. Irritiert sah dieser von einem zum anderen und verzog fragend sein Gesicht. Kralle schüttelte verneinend den Kopf,
»Fahr los, wir wollen die Brüder nicht verlieren.«
»Und…«, deutete er rückwärts auf Fritz, der sich plötzlich zusammenkrümmte und die Arme um seinen Körper schlang. »Was…«
»Fahr schon, Tina ist gleich da«, befahl er einsilbig und deutete auf das kleine silberne Auto, welches rasch den Waldweg auf sie zukam.
»Du…«, zog er in die Länge, dann begriff Hugo den Zusammenhang, »…willst ihn ned dabei ham«, flüsterte er, damit die hinter ihm Sitzenden es nicht hörten.
»Was is mit Fritz?«, vernahmen sie Berti sofort besorgt fragen. »Er hat die Frikadelle ned vertrage«, entgegnete Kralle spontan. »Wir ham alle davon gegesse un ham nix«, konterte Mike sofort. »Oder habt ihr was?«
»Fahr, die anderen warten bestimmt am Parkplatz und wundern sich, wieso wir ned auftauchen«, befahl Kralle hart und beendete die Diskussion.
Tina fuhr mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu, Hugo lenkte den Van automatisch zur Seite und ließ sie durch. Kralle nickte nur und grüßte Tina durch das Beifahrerfenster.
»Wo will die hie?«, überrascht sah Hugo ihr hinterher.
»Ins Krankenhaus«, erklärte Kralle kurz.
»Aber…Fritz?«, Berti sah entgeistert die Brüder an.
»Is morgen wieder fit«, beruhigte Kralle ihn. »Los jetzt. Wollen wir uns den Bombenbauer schnappe oder ned?!« Dieser Satz wirkte Wunder, sofort schlug die Besorgnis in Tatkraft der Rache um. Atze und Spider dachten laut über die Art der weiteren Behandlung ihres Gastes nach und steigerten ihre Ideen bis zum langsamen Haut in Streifen abziehen.
Blitzschnell hatten sie ihren geschmiedeten Plan in die Tat umgesetzt und den kräftemäßig überlegenen Gegner in dem drittklassigen Puff überrumpelt. Reibungslos und präzise wie ein Uhrwerk hatte jeder Lakota seinen Part geleistet und so den entscheidenden Vorteil zum Ergreifen der gesuchten Ratte bewirkt.
Berti hatte nicht eine Sekunde beim Anblick des prallen Dekolletees gezögert und die männliche Bardame niedergeschlagen, bevor diese den Alarm auslösen konnte. Atze und Spider brachten den riesigen Sascha auf der steilen Treppe zu Fall, stachen ihm die Spritze bis zum Anschlag in den Hals und injizierten ihm die klare Substanz. Schlaff sank er auf den Stufen in sich zusammen. Aufgeschreckt durch diesen Tumult erschien Sergej ein zwei Meter Hüne im engen Flur, der zu den Privaträumen führte. Hugos gezielter Schlag á la Klitschko und der zerborstene Baseballschläger auf seinem Schädel knockten ihn endgültig aus.
Alarmiert vom Gepolter und Sergej`s wütenden Aufschrei verdrückte sich die gesuchte Ratte in den Entwässerungsgraben, wo sie auch hingehörte. Die aufgestellten Wachposten ergriffen ihn in null Komma nichts und schleiften ihn zum Haus zurück.
Der üble, widerliche Geruch nach Gülle verbreitete sich unaufhaltsam im Gastraum und stieg den Anwesenden ekelerregend in ihre Nasen. Angewidert verzog Hugo das Gesicht.
»So transportiert die Sau keiner von uns«, beschwerte er sich und spukte dem Ghost vor die Füße.
»Der kleine Bach, wo wir ihn geschnappt ham, hat gerad genug Wasser. Entweder wir ersäufe ihn, oder er muss sich wasche«, schlug Mike böse grinsend vor.
»Genau so machen wir es«, bestätigte Kralle. »Ein kaltes Bad wird seine Erinnerungen beleben.«
Gemeinsam stiefelten sie in Reih und Glied den verschneiten Pfad entlang und versammelten sich an dem teilweise zugefrorenen Rinnsal. Ihr Atem stieg als kleine weiße Wolken dem Himmel entgegen.
»Ausziehn«, befahl Berti unbarmherzig. Irritiert sah der Mann ihn ungläubig an. Anscheinend hatte er den Vorschlag als Finte bewertet, um ihm Angst zu machen. Der Stoß in seinen Rücken belehrte ihn eines Besseren.
»Ausziehn«, scharf hörte er aufs Neue den Befehl, begann mit zitternden Händen und steifen Fingern die Kleidung abzulegen. Schlotternd stand er kurz darauf nackt vor ihnen.
»Geh bade!«, befahl Hugo, »wirds bald? Oder soll ich nachhelfe?« Bedrohlich mit in die Hüften gestemmten Händen kam er auf den Nackten zu. Dieser wich automatisch zurück, stolperte und rutschte über die gefrorenen Steine in den niedrigen Wasserlauf. Nach Luft schnappend ruderte er mit den Armen. Er versuchte Halt zu finden manövrierte sich aber nur noch tiefer in den eiskalten Bach. Mike trat nahe ans Ufer, drückte mit seinem Stiefel den Kopf unter.
»Wasche, ham mir gesachd. So stinkend wie Du bisd, ersäufe wir Dich lieber, als in den Kofferraum zu stecke.«
Bevor er ohnmächtig in sich zusammensackte, zog Hugo ihn an den Haaren über die Wasseroberfläche. Japsend schnappe er nach Atem, seine Lippen waren bereits blau angelaufen. Gehorsam wusch er sich die Haare und den zitternden Körper. Berti trat näher, hörbar zog er die Luft durch die Nase ein.
»So ist es besser. Los komm raus und lauf.«
Mit blau gefrorenen Händen konnte dieser kaum den wenigen Halt in der Böschung greifen. Immer wieder rutschte er mit den blanken Füßen auf dem festgetretenen Schnee aus und schlug der Länge nach hin. Hörbar klapperte er mit den Zähnen, der Nackte, schon blau angelaufene Rocker bekam einen extra großen Müllsack.
»Hier zieh über un piss mir ja ned in den Kofferraum«, drohend hob Mike die Faust, »Sonst…« Berti zog sein Messer, schlitze den Sack an drei Stellen auf und stülpte diesen dem Bewegungsunfähigen über.
»Rein da«, befahl Hugo und öffnete den Kofferraumdeckel. Erstarrt, der Ohnmacht nahe spürte er den festen Griff des Muskelpaketes, der ihn rigoros packte, in den Kofferraum steckte und nachdrücklich den Deckel zuschlug.
* * * * * * *
Konzentriert arbeitete Eva an den Recherchen doch die eingehende Kurznachricht ließ sie aufhorchen. Schnell zog sie das Handy aus der Tasche.
»Chris hat geantwortet«, rief sie laut durch den oberen Stock und die Treppe hinunter. Sofort hörte sie das Rumpeln des umgefallenen Gehstocks und Moritz genervtes Schimpfen. Die nasskalten Tage verschlechterten den Zustand seines halbsteifen Knies und die ständig wiederkehrenden Schmerzen ließen ihn zeitweise unleidig werden. Der Unfall war jetzt knapp ein Jahr her und er hatte sich mit der Beeinträchtigung abgefunden.
»Bleib unten, ich komme«, flink lief sie die Stufen hinab. »Er hat uns eine Mail geschickt, sieh mal nach, ich stell uns den Kessel auf.«
»Ich habe sie, es ist tatsächlich ein Kopf, kein richtiger, eher ein Symbol«, hörte sie seine Stimme aus dem Wohnzimmer. »Das ist unglaublich«, Empörung schwang in den Worten mit. Ungeduldig goss sie den Tee über und betrat mit zwei vollen Tassen erwartungsvoll den Raum. »Das musst Du lesen«, erschüttert drehte er Eva den Laptop zu.
»Die ›Heil des rechten Weges‹ ist eine seit 1820 bestehende Organisation. Sie kümmern sich um die Belange von in Not geratenen jungen Frauen«, las Eva und runzelte die Stirn. Die Bedeutung der Worte kam schlagartig in ihrem Gehirn an. »Unfassbar! In Not geratene! Das bedeutet nichts Anderes als ungewollt schwanger werden. Zu dieser Zeit waren es gefallene Mädchen«, empörte sie sich.
»Lies weiter, es kommt noch schlimmer«, prophezeite er. Wut, Schmerz und Traurigkeit stiegen unaufhaltsam in Eva hoch. Vor knapp zweihundert Jahren war es Gang und Gäbe diese Mädchen einzusperren und zur Bestrafung Frondienste verrichten zu lassen. Ihre Kinder wurden sofort nach der Geburt in die, der Organisation angehörenden, Heime gebracht. Sobald sie groß genug waren mussten von morgens bis abends schuften, um die Schuld ihrer bloßen Existenz zu bereinigen. Sie schliefen in provisorischen Betten und trugen eher Lumpen als Kleidung. Chris hatte einen Bericht von 1850 ausgegraben, der die Erziehungsmethoden der gefallenen Mädchen in den Besserungsanstalten beschrieb. Als Anlage waren zwei Fotos von arbeitenden Kindern beigefügt. Tränen rollten Eva über das Gesicht. Der Gedanke, Kinder für ihr ›geboren werden‹ zu bestrafen und die ohnehin schon gebrandmarkten Mädchen derartig zu behandeln, war für sie unerträglich. Moritz legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie tröstend an sich.
»Geht es wieder?«, fragte er fürsorglich. Sie nickte und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht.
»Es geht noch weiter. Bist Du bereit?« Zornig blitzen ihre Augen, die erste Bestürzung über das Leid der Betroffenen entfachten ihren Gerechtigkeitssinn. Sie war bereit den Kampf aufzunehmen.
»Chris hat ein Namensverzeichnis gefunden, doch nur wenige von diesen sind zu einem späteren Zeitpunkt wiederaufgetaucht. Er sucht noch weiter, aber es hat den Anschein, dass die meisten verschwunden sind. Wohin, das ist die große Frage. Vermutlich als billige Arbeitskräfte verkauft und wenn eine gestorben ist, wurde sie in einem Armengrab vor der Stadt verscharrt.«
Empört las sie weiter. Anfang 1900 und in den nachfolgenden Jahren gab es eine erstaunlich hohe Zahl an Totgeburten in dem Entbindungsheim. Viele der Mädchen verstarben im Wochenbett. Eva kniff ihre Augen zusammen.
»Das ist ungewöhnlich, sieh Dir mal diese Aufstellung an. Das Heim hat, trotz der verstorbenen Kinder und Wöchnerinnen, eine leicht steigende Zahl an Essensrationen. Was, wenn die Babys gar keine Totgeburten waren?! Den Müttern dies nur gesagt wurde, damit sie es glaubten und nicht ihre endlich aufsteigenden Rechte einforderten?«
»Wohin sind diese Kinder verschwunden? Du meinst auch als Arbeitskräfte verkauft?«
»Das wäre immerhin möglich. Und wo sind die Totenscheine der Frauen, die angeblich im Wochenbett gestorben sind? Hat Chris was zu denen gefunden?«
»Nein, die Listen sind lückenhaft und unordentlich geführt. Nichts stimmt überein, egal wie Du es rechnest, es passt überhaupt nichts zusammen.«
»Und wenn das ganz genau die Absicht war? Was ist wenn diese Schlamperei der Verschleierung diente? Wenn nicht nur die Kinder, sondern auch ihre Mütter verkauft wurden? Die Kolonien hatten Hochkonjunktur und brauchten Arbeitskräfte überall.«
»Das wäre auch jetzt noch nach über 100 Jahren ein handfester Skandal.«
»Du brauchst nur zu rechnen, diese merkwürdigen Differenzen begannen zirka 1900. Es ist ungeheuerlich, die Ungereimtheiten ziehen sich über die ganze Zeitspanne bis fast 1970!«, empörte sie sich. »Wollte das niemand sehen, oder gehörten die zusammen und haben absichtlich nicht richtig hingeschaut?«
»Das wäre der Hammer. Menschenhandel mitten in Deutschland.«
»Sieh dir mal das Idealbild der Frau von damals an. Jede Familie, die auch nur etwas auf sich hielt, hätte sich von ihrer missratenen Tochter distanziert. Besser keine als eine schlechte, oder gar gefallene. Im Grunde waren sie froh die Ungeratenen los zu sein. Es wurde eine Geschichte erfunden, wieso die Tochter plötzlich nicht mehr im Haushalt lebte.«
»Du meinst nach dem Motto: wo kein Kläger, da kein Richter?!«
»Genau. Ich möchte nicht wissen wie viele der Mädchen aus den Heimen an ein Freudenhaus verkauft wurden. Vom Regen in die Traufe, ein Maul weniger zu füttern und die eigenen Taschen vollstopfen«, nachdenklich lehnte Eva sich zurück. ›Hoffentlich hatte Kathi nichts mit denen zu schaffen.‹
»Hier sieh mal, Chris hat eine neue Mail geschickt«, riss Moritz sie aus den Gedanken. »Die gefundene Leiche hatte gerade ein Baby geboren, ihr fehlen die Organe und alles Verwertbare inklusive der Augen.«
»Wie bitte?! Das ist ja schrecklich«, fuhr Eva erschrocken hoch.
»Fundort ist nicht Tatort. Es wurde präzise und fachmännische gearbeitet, wer dies ausführte, wusste genau wie und was er tat«, las er weiter vor.
»Aber das kann nicht einfach so in einer Küche gemacht werden, dazu wird doch ein Operationsraum gebraucht.« Entgeistert starrte sie auf den Bildschirm und las selbst noch einmal Chris` Nachricht. »Was ist mit dem Baby? Hausgeburt oder doch eine Praxis, vielleicht ein Krankenhaus? Ist sie vorher verstorben oder bei der Geburt?«, bombardierte sie Moritz. »Schreib ihn an, ob er noch mehr Einzelheiten ausgraben kann.«
»Ja, ich bin doch schon daran.«
»Kathi, wo bist du nur hineingeraten«, sprach Eva laut ihren Gedanken aus.
* * * * * * *
Zügig füllten sich die beiden unterschiedlichen Anfragebücher. Die Nachfrage der perfekten Reproduktionen und die Zurückgewinnung der Gesundheit war größer als je zuvor. Nur extra ausgewählte Mitarbeiter versorgten die neu eingetroffenen Frauen. Sie kümmerten sich um alle notwendigen Untersuchungen, wie: Blutentnahmen, Bestimmung und Dosierung der unterschiedlich benötigten Medikamente sowie die Vorbereitungen zur Unterbringung in den folgenden Monaten. Farbige Bändchen mit Blutgruppe und Status der Anwendung wurden den Frauen um das rechte Handgelenke gebunden und mit einem sicheren Clip verschlossen.
Es durfte keinesfalls eine Verwechslung geben um die per Vorkasse geleisteten Bezahlungen zurückzufordern. Undenkbar, dass ihr Image der absoluten Zufriedenheit beschmutzt wurde oder gar der überaus respektable Ruf Schaden erlitt.
Der Doktor befand sich allerdings in einem Interessenkonflikt. Schon vor sehr vielen Jahren hatte er begriffen, dass ihm alle Wege der Forschung offenstanden, solange er regelmäßig die gewünschten Bestellungen und Aufträge vorbildlich ausführte. Doch die ständigen Unterbrechungen dieser für ihn übergeordneten Forschung schürten die inneren Konflikte bis zur Unerträglichkeit.
Sein Perfektionismus erlaubte nur erstklassige Arbeit und er stand kurz vor der Vervollkommnung um eine große Geißel der Menschheit beseitigen zu können. Doch gerade diese hundertprozentige Leistung erlaubte ihm nicht, sich mit den erreichten neunundneunzig Prozent zufriedenzugeben. Das Drängen der Partner wischte er mit seiner Aussage, wie sich das zahlungskräftige Klientel wohl fühlen würde, wenn es erführe, nur die eins B Variante zu bekommen, vom Tisch. Zähneknirschend gewährten sie ihm weitere Zeit. Allerdings nur unter der Voraussetzung mit den vorhandenen Möglichkeiten fortzufahren, um die dringend benötigte Versorgung aufrecht zu halten. Die Erfolge im Zweig der Reproduktion als auch im Gesundheitssektor dem waren einzigartig! Viele zufriedene Menschen und deren Angehörige zeigten ihre Dankbarkeit in großzügigen Spenden. Dies sollte auch weiterhin so bleiben.
Es wurde Zeit, dass er Unterstützung von seinem Sohn bekam. Der sich seit zwei Jahren auf die Einführung in diese Materie vorbereiten sollte, allerdings keinerlei Interesse zeigte. Weder an der Familie noch an der übergeordneten Sache. Der momentan ausgeübte Druck, sein Desinteresse zu überdenken, war augenscheinlich nicht groß genug und musste unerfreulicher weise erhöht werden.
* * * * * * *
Zügig fuhren sie im einsetzenden Schneegestöber auf den kleinen Platz hinter der Villa.
»Die Ratte sperrn wir solang in de alde Zwinger, da kommd se ned raus.«
»Mach das und gib ihm eine von den alten Decken, er darf uns nicht erfrieren, bevor wir die Antworten haben.«
Nachdem alle Brüder des Lakota MC´s wieder in der Blauzeder Villa eingetroffen waren, beauftragte Kralle Dag,
»hol ihn raus und bringt ihn hinter das Haus.«
Schlotternd, vor Kälte halb tot, stand der Mann im frischgefallenen Schnee vor den Mitgliedern des Lakota MC.
»Wie is Dein Name?« Berti trat dicht an ihn heran und schob die den steifen Fingern entglittene Decke mit dem Fuß zur Seite.
»Wo is euer hinterhäldiger Präsidend un die annern von euerm Pack?« Hugo baute sich vor dem verbissen Schweigenden auf, »los red, letzde Chance«, ließ er die Knöchel seiner beeindruckenden Hände knacken.
Trotz klirrender Kälte, rasten seine Gedanken.
›Hab ich tatsächlich eine Chance? Lassen die mich wirklich laufen wenn ich die anderen verrate oder machen sie mich doch zum Sündenbock?‹
»Also?! Werds bald?!« Der Kreis um ihn zog sich immer enger.
»Bis´de en Mann odder en Feichling?«
»Wenn ich´s euch sag, lasst ihr mich gehn?«, stotterte er vor Kälte.
Lauter Gelächter antwortete ihm.
»Was is en des für einer? Ich glaubs ja ned!« »Jetz red erst ma, dann gugge me was werd.«
»Des bedeut, ich bin praktisch eh schon tot, mein Lebe is kein Pfifferling mehr wert. Also warum sollt ich hier noch quatsche?« Die Antwort ging fast im lauten klappern seiner Zähne unter.
»Du bestimmst was Sache is, schnell oder langsam«, gab Berti ihm zu bedenken und verpasste ihm einen heftigen Faustschlag mitten ins Gesicht. Das Brechen der Nase war deutlich hörbar, er wankte bedrohlich und sackte halb ohnmächtig auf die Knie. Sofort rann das Blut über den Mund, das Kinn herunter und tropfte zu Boden. Es hinterließ leuchtend rote, gezackte Kreise in der dicker werdenden Schneeschicht.
»Ganz wie Du willst«, schaltete sich Kralle mit verständnisvoller Stimme ein. »Schade, ich finde, Du hast es anders verdient. Hast gut gekämpft«, nickte er extra betont zur Bestätigung. »Euer Präsi Devolo hat alle verraten und opfert lieber euch, um seine Haut zu retten. Er sollte hier sein und uns Rede und Antwort stehen. Nicht Du!«, und zog ihn auf die Beine. Sein Bedauern war echt, das merkte der Ghost augenblicklich.
»Pfaffe. Mein Name is Pfaffe«, reagierte er auf Kralles Angebot. Er kannte den Vize, dessen Ruf immer das Wort zu halten, eilte ihm voraus und war in der Szene bekannt.
Das kurze Aufleuchten seiner Augen registrierte Kralle sofort,
›ich bin auf dem richtigen Weg.‹ Er bückte sich, hob die Decke auf und reichte diese Pfaffe. Mit der Geste hatte er nicht gerechnet,
›der ist tatsächlich wie erzählt wird.‹ Er versuchte sie zu packen, doch seine erstarrten Finger konnten sie nicht greifen. Die Füße und Unterschenkel spürte er schon nicht mehr. Das vorher nasse Haar war steifgefroren und stand wirr von seinem Kopf ab.
»Devolo hat sich mit dem Auto der Probemitglieder aus em Staub gemachd, es wurd verlasse an de Kiesgrub in Langen gefunde. Vielleicht is er bei seiner Ex-Schnalle Silke in Walldorf unnergetaucht.« Seine Stimme wurde immer schwächer, »wir ham ihn dort gesucht, aber er sei ned da, hat sie gesacht.« ›Gleich werde ich ohnmächtig, ich kann nicht mehr, ich fühle nichts mehr‹, wankend versuchte er sich aufrecht zu halten. Unerwartet spürte er einen Stuhl unter sich geschoben und sank kraftlos darauf. Kralle legte ihm die Decke um seine Schultern, zog sie vorne fest zusammen und steckte die Enden unter Paffes Beine.
»Was noch?«
»Sei ehemalige Firma in Frankfurt. Die ham en große Fuhrpark mit eigner Werkstatt«, flüsterte er. ›Kralle, er hilft mir, ihm bin ich nicht egal.‹
»Weiter«, hörte er dicht an seinem Ohr und spürte den warmen Atem auf der Haut. Geduldig wartend steckte Kralle sich einen Joint an und reichte ihn den Brüdern.
»Der Silvio vom Scrollo MC. Ich glaub, er hat ihn sich abgegriffe.« ›Jetzt sinke ich vom Stuhl, ich spüre Garnichts mehr.‹
Skeptisch verzog Kralle das Gesicht, nahm einen tiefen Zug und blies Pfaffe den Rauch entgegen.
»Wo? Im Loch?«, hakte er bedächtig nach. Dieser zog begierig den Dampf ein,
»Nee, es gibt noch einen zweiten Raum«, ›Habe ich die Worte gesagt oder nur gedacht?‹
Kralle steckte Pfaffe den restlichen, fast aufgerauchten Joint zwischen die blaugefrorenen, tauben Lippen.
»Wo?«
Die Brüder standen im Kreis, in ihrer Mitte Kralle und der auf dem Stuhl sitzende, in die Decke gewickelte Pfaffe. Sie wussten, das ihr Vize eine ganz spezielle Art der Befragung hatte. Zeig Verständnis für ihn, gib ihm etwas, reich ihm die Hand, sei sein Freund, bis er anfängt, dir zu vertrauen. Dann holst du alles aus ihm raus. Verdammt, er hatte es wahrhaftig drauf.
Pfaffe beschrieb den kleinen fensterlosen Raum, versteckt unter dem Treppenaufgang.
»Deine Brüder warten bestimmt auf Dich, wo trefft ihr euch?« Einschmeichelnd drangen die Worte in seine Gedanken.
›Die Brüder, sie wundern sich, dass ich nicht komme.‹ »Die Eule«, flutschte es aus dem Mund, ohne jede Chance die Worte zurückzuholen.
»Danke Pfaffe«, Kralle legte die Hand auf seine Schulter und nickte den Brüdern zu. Der Sitzende fühlte die Decke nicht mehr von den Armen gleiten, spürte nicht mehr den weichen, lockeren, frisch gefallenen Schnee, in den sein Körper glitt und hörte ebenfalls die nachfolgenden Worte nicht mehr.
»Wickelt ihn ein und legt ihn der aufgestiegenen Großschnauze, Präsident Silvio, als Adventsgeschenk vor die Tür. Mal sehen, ob er darauf anspringt.«
In dieser Nacht deckte das heftige Schneegestöber mit fünfzehn Zentimeter Neuschnee alle Spuren zu. Knox und Dag räumten in Windeseile die Zufahrt, nachdem der Anruf von Fritz alle aus dem Schlaf gerissen hatte. Sie begrüßten ihn mit großem Hallo und freuten sich über seine schnelle Genesung.
»Unkraut vergeht ned«, griente Hugo und informierte ihn sofort über die Ereignisse der letzten Nacht. Er schmückte diese noch etwas aus und stellte das Handeln der Brüder als vorbildlich, entschlossen und tatkräftig dar. Zufrieden nickte Fritz und sah sich suchend um. Die Männer verzogen sich zum Frühstück in die Küche. Hugo folgte seinem Blick,
»er is schon gestern Nachd weg, müsse noch was klärn«, und sah ihn von der Seite an. ›Was mochte er gemacht haben, um derartig in Schwierigkeiten zu geraten, dass sein bester Freund und Vize ihn absichtlich aus dem Verkehr zieht um ihn aus der Schusslinie zu bringen?!‹
Als könne Fritz Gedanken lesen sah er Hugo an.
»Sobald er da is, ham wir ein Meeting. Ruf alle zusamme, er wird gleich hier sein.«
›Was war hier im Busch? Es musste verdammt wichtig sein. Ein Meeting außer der Reihe bedeutete nichts Gutes.‹ »Okay, ich kümmer mich drum«, bestätigte er und betrat die Küche in der es nach starkem Kaffee und Rührei mit Speck roch.
»Esst auf, wir ham ein Meeting.« Erstaunt blickten ihn sechs Augenpaare an.
»Was is passiert?«, kauend mit halbvollem Mund schenkte Berti sich Kaffee nach.
»Das fragste besser Fritz, irgend ebbes stimmt da ned.«
»Die Frikadellen warn aber top«, schaltete sich Mike ein. Atze und Spider zogen es vor, sich nicht an der Unterhaltung zu beteiligen, und Knox räumte mit Dag zusammen den Tisch ab.
Das Knarzen der Haustür bestätigte Fritz Aussage. Kralle putze sich den Schnee von den Stiefeln und betrat den Eingangsbereich. Zielstrebig ging er auf den halbfertig renovierten Meeting Raum zu und schloss die Tür hinter sich.
»Auf, auf, ihr faule Säcke, los, der letzte hat Küchendienst«, drohte Hugo und brachte Bewegung in die Frühstücksrunde. Nacheinander betraten sie den Meeting Raum und Dag schloss leise und bedächtig die Tür. Fritz saß am Kopfende, Kralle stand am Fenster mit dem Rücken zu ihnen. Jeder Anwesende spürte sofort die knisternde Spannung, kaum hörbar nahmen sie Platz. Keiner wagte, ein Wort zu sagen, sie warteten gespannt darauf, was gleich geschehen würde.
Abrupt drehte sich Kralle um, stellte sich hinter seinen Präsidenten und legte ihm beide Hände auf die Schultern.
»Brüder, als erstes, Angel ist auf dem Weg der Besserung, er wird, so wie es momentan aussieht, vor Weihnachten wieder in unsrer Mitte sein. Der Teufel hat ihn nicht bekommen.« Lautes Klopfen auf der Tischplatte und begeisterte Rufe folgten den Worten. »Als Zweites, wir haben euch heut zusammen gerufen, um über mein Handeln von gestern abzustimmen. Ich habe unsern Präsi absichtlich außer Gefecht gesetzt, das ist meinem Amt als Vize-Präsident unwürdig. Ich verlasse jetzt den Raum und ihr entscheidet.« Mit diesen Worten ging er festentschlossen, geradewegs auf die Tür zu.
»Stopp!«, Hugo war von dem Stuhl aufgesprungen, »des is nur die halb Geschicht«, erhob er Einspruch. »Wie solle mir abstimme, wenn wir ned die Ganze kenne?« Aufgebracht blickte er in die Runde. »Was is mit euch?«, runzelte er seine Stirn, »mir könne nix übers Knie breche. Wollt ihr ned die Hintergründ erfahrn? Vielleichd stecke beide unner einer Deck un mir müsse beide rauswerfe, un was des bedeud, wisse mer all!«
Ein Raunen lief durch den Raum, zustimmendes Gemurmel steigerte sich, bis Berti aufstand.
»Ich schließ mich Hugo an. Bevor ich jetzt abstimm, will ich den Durchblick ham un uf Nummer sicher gehn.«
Mike erhob sich ebenfalls, nach kurzem Zögern folgten Atze und Spider. Die Mehrheit hatte entschieden. Fritz holte tief Luft, steckte sich eine Zigarette an und erzählte ausführlich von dem Vorfall in Frankfurt, mit der anschließenden Auseinandersetzung und den angedrohten Konsequenzen ihn zum Abschuss freizugeben. Er durfte sich nicht noch einmal in die Angelegenheiten der neu Aufstrebenden einmischen.
Jeder im Raum wusste, das nach ihrem Weggang aus Eschborn die Machtverhältnisse neu verteilt wurden, zumal sich ein weiterer MC aufgelöst hatte. Das Machtvakuum der Szene füllte sich, so sicher, wie morgens die Sonne aufging. Nur wer schnell und gnadenlos agierte und dabei wortwörtlich über Leichen ging, übernahm die Führung. Der drittklassige Puff im Lorsbachtal, wo sie Pfaffe eingefangen hatten, gehörte leider auch zu der neuen Frankfurter Gruppe.
»Also gut, raus mit Dir«, übernahm Hugo die Führung, »mir wolle uns bespreche un abstimme.« Ohne ein weiteres Wort verließ der Vize den Meeting Raum, stieg die breite geschwungene Treppe in den ersten Stock und begann das Büro zu ordnen. Die Lieferung der restlichen Materialien für Bertis Zweitbeschäftigung war eingetroffen und sie konnten die kleine Goldschmiedewerkstatt einrichten. Die versteckten Goldbarren warteten darauf eingeschmolzen zu werden, um in Form von Ringen, Armreifen, Anhängern oder sonstige Schmuckstücken in den Verkauf zu gelangen.
Kurze Zeit später betrat Fritz das Büro.
»Sie diskutiern die vor un Nachdeile der neue Machtverhältnisse, ich denk, des wird noch dauern. Komm, lass uns unde an der Bar en Schobbe trinke«, nahm er Kralle den Ordner aus der Hand und schob ihn zur Tür hinaus.
Gemeinsam tranken und rauchten sie, unterhielten sich gedämpft. »Wir leben eh schon in einer Grauzone und die Frankfurter sind gefährlich, zumal wir so wenige geworden sind«, Kralle betrachtete die Zigarre und rollte sie zwischen den Fingern.
»Hier. Gugg genau hin«, Fritz hielt seine Hand mit dem Verband hoch, wo der Arzt die Infusion angelegt hatte. »Was zum Teufel has´de mer ins Esse gemixt? Ich dachd, es zerreißd mich innerlich.«
»Ich konnte nicht zulassen, das Du mitfährst. Nichts und niemand hätte Dich im Auto halten können«, eine dicke Rauchwolke hüllte beide ein.
»Da has´de verdammd nochma rechd«, bestätigte Fritz und schlug Kralle hart auf den Oberschenkel, als dieser antwortete, »Deine Tina hätte mich höchst persönlich umgebracht«, ein verunglücktes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Stell Dir mal vor, ich lebe ausgesprochen gern und häng daran, auch wenn es manchmal echt beschissen is.«
»Danke Bruder. Du hast genau richtid gehandeld. Abber gestern hätt ich Dich am liebsde eigenhändich erwürgd«, schmerzhaft verzog Fritz die Mundwinkel. Leise waren die Brüder aus dem Meeting Raum getreten und standen in der Tür. Sie hörten das Gespräch und es bestätigte ihren Entschluss. Kralle und Fritz hatten sich selbstlos für Schwächere einsetzten, auch wenn es als Konsequenz Nachteile für ihre Person brachte. Hugo, der als Sprecher ausgewählt war, verkündete die Entscheidung.
»Kralle, Du bleibsd ein Bruder, Du hasd Dich an Dei Verspreche gehalde un Fritz vor einer unbedachde Handlung bewahd, auch wenn die Mittel ›schmerzhaft‹ für ihn warn. Wir ham abgestimmd, Du sollsd unser Vize bleibe, wenn Fritz damid Einverstanne is.«
Kralle erhob sich, »ich danke für euer Vertrauen und werde es niemals missbrauchen. Ich schwöre es als Lakota«, hob er seine rechte Hand. Fritz stellte sich neben ihn.
»Ich bin damid einverstanne, das Du mein Vize bleibsd«, und reichte ihm das Glas. »Bruder auf ewig«, stieß er mit ihm an.
»Bruder bis in den Tod«, antwortete Kralle.
Ein leises Murmeln lief durch die Reihe der übrigen. Nach diesem Schwur verstanden sie, was Freundschaft, Treue und Vertrauen zwischen den beiden bedeutete.
* * * * * * *
Der Notruf des Busfahrers ging um 0: 35 Uhr ein. Seine Fahrt zum Depot in Hofheim sollte für heute Abend den Dienst beenden. Während dem kurzen Geplauder und mit der Tasse heißen Kaffee´s aus der Thermoskanne des Wachmanns in der Hand, blickte er über das Gelände. Der halbgeöffnete Deckel des Müllcontainers zog seine Aufmerksamkeit unwillkürlich an. Neugierig, wieso dieser nicht geschlossen war, um die eingewanderten Waschbären abzuhalten ihn zu plündern, gingen sie näher zu ihm. Sofort entdeckten sie einen schwarzen Sack, der teilweise über den Rand des Containers ragte. Fluchend und schimpfend, wer hier ein weiteres Mal illegal seinen Müll entsorgt hatte, öffneten sie den schweren Sack, um Hinweise auf den Missetäter zu erhalten. Mit einem Aufschrei wichen sie zu Tode entsetzt zurück, als das nackte Bein einer Frau sichtbar wurde. Mit zitternden Händen wählte der Fahrer den Notruf.
Die eintreffende Polizei sperrte umgehend das Areal und vernahm eindringlich die beiden Männer. Auf der Stirn des zuständigen Pathologen Doktor Allendorf bildete sich eine steile Falte. Vor ihm hing eine weitere Frauenleiche über den Rand des Containers, die, gleich der ersten, regelrecht ausgeschlachtet worden war. Die Kollegen der Spurensicherung fanden lediglich die Fingerabdrücke der Mitarbeiter sowie des Wach- und Reinigungspersonales. Kommissarin Heinzer fluchte, was das Zeug hielt, innerhalb weniger Tage gleich die zweite Tote war eine Katastrophe. Die minimalen Hinweise zur Ersten bildeten kaum einen Ermittlungsansatz und sie bezweifelte, dass es jetzt besser werden würde.
»Morgen weiß ich mehr«, stoppte der Doktor die Frageflut der Beamtin.
* * * * * * *
Jens konnte seinen Urlaub nicht so genießen, wie er sich das vorgestellt hatte. Es war bereits Dezember und an immer mehr Tagen tanzten die Schneeflocken im eiskalten Nordostwind. Auch das Marathontraining lenkte ihn nicht ab, so wie er sich das gewünscht hätte, denn automatisch kehrten seine Gedanken zu Julius zurück. Wie es gelaufen wäre, wenn er damals ihn und ihre Mutter nicht verlassen hätte. Hinund hergerissen zwischen dem Wunsch ihn kennenzulernen und dem Impuls ihn wieder aus seinem Leben zu verbannen, fand er keine Ruhe. Den Kopf in den Sand zu stecken und zu tun als sei nie was gewesen, konnte er auch nicht. Sein Leben hatte sich zu sehr verändert und er war nicht bereit so weiterzumachen wie bisher.
›Heute Abend fahre ich zu denen ins Clubhaus und kläre das. So wie es momentan ist, geht´s definitiv nicht weiter. Ich muss das endlich für mich bereinigen. Ist mir völlig schnuppe, ob er mich mag oder nicht. Er soll mir reinen Wein einschenken dann weiß ich wenigstens woran ich bin.‹
Festentschlossen fuhr er die kurze Strecke nach Königstein. Sein Auto parkte er auf dem kleinen, mittlerweile gut besuchten Stellplatz in der Kurve gleich nach dem Ortsausgangsschild. Das letzte Stück lief er zu Fuß durch den winterlich anmutenden Wald. Zu jedem anderen Anlass hätte er sich die bezaubernden, teilweise abstrakt gestalteten Bäume auf seinem Weg durch die offene Schranke amüsiert angesehen. Einige Wagen überholten ihn und beleuchteten die Strecke zwischen den einzelnen Laternen, die als Wegweiser zum Clubhaus führten. Auf dem freien Platz vor der etwas heruntergekommenen Villa stand eine Feuertonne, welche mit ihrem rotglühenden Funkenschein der Umgebung einen abenteuerlichen Anstrich gab. Aus dem Inneren drang ein lautstarker Mix aus Rockmusik, Lachen und Gesprächsfetzen. Zielstrebig zog er die Haustür auf und fand sich überrascht in einer geräumigen Eingangshalle wieder, die in ein hohes, oval geschwungenes Treppenhaus überging. Fast alle Türen zu den übrigen Räumen im Erdgeschoß standen offen. Rocker von unterschiedlichen MC´s sahen ihn argwöhnisch an. Er legte seinen Kopf in den Nacken und blickte zur gewölbten Decke hinauf, als er hinter sich laut, »ah, die Kribbo is auch da«, vernahm.
›Wieso hatte ich gedacht, unerkannt hier rein zu kommen?‹
»Was willste?«, baute sich ein muskelbepackter Hüne vor ihm auf und verschränkte demonstrativ seine starken Arme vor der Brust. Provozierend grinste er, nur auf eine Gelegenheit wartend mit den furchteinflößenden Händen auszuteilen. Neben ihm erschien ein weiterer Mann, schlank, drahtig, mittelgroß und Jens erkannte sofort Fritz, den Präsidenten des MC´s.
»Danke Bruder, ich übernehm ihn«, sprach er leise mit tiefer Stimme und wandte sich dem Kommissar zu. Das Schwergewicht verschwand in dem großen Raum aus dem laute Gespräche und das geschäftige Treiben einer Theke drangen.
»Was wills´de?«, wurde er zum zweiten Mal gefragt.
»Mit Ju…., ich mein Kralle sprechen.« Der Rocker kniff seine stechenden Augen misstrauisch zusammen und kam etwas näher.
»Privat, ich bin privat hier«, beeilte sich Jens zu sagen und versuchte einen entspannten Eindruck zu vermitteln. Bei der großen Anzahl an feindselig blickenden Rockern fiel ihm das nicht so leicht.
»Ward hier«, befahl Fritz, zog sein Handy aus der Weste und ging ein Stück beiseite. Leise telefonierte er. Jens verstand nicht, was er sagte, sah ihn nur nicken und einen raschen Blick über die Schulter auf ihn werfen. Einen Augenblick stand er regungslos da, steckte sich eine Zigarette an, zog den Rauch tief in seine Lunge und drehte sich zu ihm um. Sein ausdrucksloser Gesichtsausdruck verriet nicht, was in ihm vorging. Die erhaltene Antwort schien Fritz nicht zu passen, abschätzend betrachtete er sein Gegenüber von Kopf bis Fuß. Letztendlich nickte er,
»geh raus, Du wirst abgeholt.«
Demonstrativ blieb er vor ihm stehen, Jens sah ihn nochmal an.
›Eindeutig, sie lassen mich nicht weiter.‹ »Danke«, er wandte sich ab und verließ die Villa. Draußen sah er sich um, hier und da standen Gäste und sprachen miteinander. Ein Flatterband begrenzte den freien Vorplatz und im Halbdunkeln erkannte er mehrere geparkte Motorräder. Ein Schatten löste sich von der Hauswand und kam auf ihn zu.
›Julius‹, schoss es ihm sofort durch den Kopf. ›Warum bin ich hier? Was will ich von ihm? Verflucht, wieso habe ich mich nach der Explosion zu dieser blödsinnigen Spontanhandlung hinreißen lassen? Sie hat mir nur Schwierigkeiten eingebracht. So wie alles, was mit diesem verdammten Bruder zusammenhing.‹ Seine Gedanken rasten, am liebsten hätte er einen Rückzieher gemacht und die Kurve gekratzt. Dafür war es jetzt zu spät und diese Blöße wollte er sich nicht geben.
»Jens«, hörte er seinen Namen in der ihm vertrauten und so verhassten Stimme. Die jahrelang unterdrückten Gefühle überschwemmten ihn schlagartig und er hatte den Eindruck in ihnen zu ertrinken.
›So habe ich mir das nicht vorgestellt.‹ Freude, Wut, Verzweiflung mischten sich zu einem nicht beherrschbaren Chaos in ihm, das sich auf seinem Gesicht widerspiegelte. Kralle deutete mit dem Kopf Richtung Waldrand in die Dunkelheit der alten Bäume.
›Er könnte mir einfach so den Hals umdrehen und keinen würde es interessieren‹, war sein erster spontaner Gedanke. ›Wieso glaubte ich, er bekenne sich vor den anderen zu mir? Er ist und bleibt ein Gesetzloser, wer weiß schon wie viel er auf dem Kerbholz hat? Außerdem steht er auf der falschen Seite.‹ Resigniert nickte er, ›ich sollte gehen‹, überlegte er kurz, doch dann entschied er, ihm zu folgen.
Kaum hatte die Finsternis der dicht gewachsenen Bäume sie verschluckt, fühlte er starke Arme, die ihn umschlangen, an einen breiten Brustkorb zogen und kurz ihn festhielten. Ein unterdrückter Schrei bahnte sich den Weg und kam als lautes Aufstöhnen aus seinem Mund.
»Warum?« Ruckartig löste er sich und stieß Kralle fort.
Das kurze Aufleuchten einer Zigarettenglut im Dunkeln sagte ihm, dass sie nicht allein waren. Hier konnten überall noch andere Lakotas stehen und sie beobachten.
»Feigling!«, schrie er enttäuscht. Fluchtartig rannte er zurück über den Platz und verschwand auf dem wenig beleuchteten Weg durch den Wald. Auf halber Strecke blieb er stehen, ballte zornig die Fäuste und brüllte seine Wut und Enttäuschung in die Finsternis heraus. Der tanzende Lichtkegel eines näherkommenden Motorrades brachte ihn zur Besinnung.
›Welcher Teufel hat mich gerade eben geritten? Soll ich zurückgehen?‹
Fritz trat neben Kralle.
»Die Vergangeheid, sie hold uns alle irgendwann widder ein«, murmelte er und sah dem aufgebrachten Besucher hinterher.
»Ja, das ist so«, bestätigte dieser und nahm den angebotenen Zigarillo. Sie hörten das Brüllen und die darin mitschwingenden Emotionen.
»Du solltesd hinner her.«
»Es ist seine Entscheidung.«
»Wie de meinst.« Gemeinsam traten sie in den äußeren Feuerschein der Tonne und rauchten schweigend. Sie brauchten nicht vielen Worte um den anderen zu verstehen. Die vergangenen dreißig Jahre hatten sie zusammengeschweißt und eine Verbundenheit der ganz besonderen Art geschaffen.
»Sieh«, Kralle deutete mit dem Kopf zum Weg, auf dem Jens schemenhaft im Lichtkreis der Lampe erschein.
»Bro«, Fritz nickte, legte seine Hand auf Kralles Schulter und verschwand im Dunkeln hinter dem Haus.
›Soll ich ihm entgegen gehen?‹, überlegte er und entschied, ›nein, er muss es wirklich wollen. Sobald ich einen Schritt mache, ist es nicht mehr seine Entscheidung.‹ Wartend blieb Kralle stehen, hörte das Knistern und Knacken der brennenden Holzscheite und sah in die Nacht.
Kurz darauf spürte er die Nähe seines Bruders neben sich. Wortlos, ohne hinüber zu sehen, reichte er den halbgerauchten Zigarillo weiter.
»Danke«, und bevor Jens weitersprechen konnte, erschien Fritz lautlos, mit zwei heißen Äpplern. Er drückte ihnen die dickwandigen Gläser in die Hände und verschwand ebenso leise. Kralle warf neues Holz in die Tonne und verließ den Lichtkreis des wärmenden Feuers. Jens sah rasch in das Halbdunkel, sie waren allein, alle anderen hatten sich in das Haus verzogen.
»Komm, wir gehen ein paar Schritte«, schlug Kralle vor und betrat einen Trampelpfad durch den Wald.
»Warum?! Warum hast Du uns im Stich gelassen?«, er fühlte erneut Zorn in sich. Kralle folgte schweigend dem schmalen Weg. Jens bekam später die Antwort, jetzt sollte er erst einmal seinen ganzen Frust und die Fragen aussprechen.
»Du warst eigentlich ständig weg, von Dir gab es immer nur kurzen Besuche. Meistens war ich dann in der Schule oder bei Freunden«, warf er ihm vor. »Du erschienst so alt, so unerreichbar.«
Kralle wartete, mit Sicherheit kam noch sehr viel mehr, was sich in den Jahren angesammelt hatte.
»Alles lief wie geschmiert. Das Auswahlverfahren, alles perfekt. Ausgerechnet wo ich gerade mal ein Jahr in der Akademie war, da entscheidest Du ganz von der Bildfläche zu verschwinden. Hast mir die komplette Verantwortung aufgedrückt.« Sein Vorwurf sprach deutlich aus diesen Worten. »Das mit den drei Schlägertypen habe ich Mutter nie geglaubt. Für mich war es eine Schutzbehauptung, um Dich gut dastehen zu lassen.« Bitterkeit sprach aus ihm.
»Deine Forderung, mich um sie zu kümmern, hat meine Meinung über Dich endgültig besiegelt. Verdammt, es war eine harte Zeit für mich.« Er zögert kurz, die Erinnerungen hatten ihn im Handumdrehen eingeholt.
»Wo warst Du?! Was fällt Dir ein einfach abzutauchen und alles hinter sich zulassen ohne zu fragen, was ich will.« Er schüttelte den Kopf, »das ist nichts weiter als nur feige und verantwortungslos.« Aufgebracht starrte er ihn durch die Dunkelheit an. »Los sag schon, wo zum Teufel warst Du?!« Wütend trat er einen Ast vom Pfad, der knacksend im Unterholz landete. Der Mond tauchte zwischen den Baumkronen auf und warf sein fahles Licht auf sie herunter. Rasch sah Jens sich um, sie hatten eine kleine Lichtung erreicht. Er starrte Kralle finster an, die Szene hatte etwas gespenstiges.
»Mein Abschluss hat Dich auch nicht interessiert und im Jahr später wurde Mutter krank. Sie quälte sich, die Krankheit hat sie aufgefressen und kein Arzt konnte ihr helfen. Scheinbar hat sie die Medikamente nicht vertragen, denn manchmal sagte sie, Du seist bei ihr gewesen.« Der Schmerz schrie aus seinen Augen.
»Ich habe Dich viele Jahre lang gehasst! Mutter erzählte mir erst kurz bevor sie starb einige Hintergründe und etwas mehr habe ich dann später aus ihrem Nachlass erfahren. Wieso verflucht noch mal hast Du mich allein gelassen?« Er trat ganz dicht vor Kralle, um seine Mimik genau zu sehen.
»Wieso?! Und selbst jetzt, Jahre später siehst Du keinen Grund Dich zu melden? Deine Telefonnummer war einige Zeit nach meinem Abschluss nicht mehr erreichbar. Da hast Du uns ganz allein gelassen.« Kopfschüttelnd wandte er sich ab. »Jetzt stehst Du hier, keine Reaktion, kein Wort, nichts! Hast Du mir tatsächlich nichts zu sagen?«
Kralle zündete sich routiniert eine neue Zigarre an.
»Ich wollte Dir Zeit geben, mir all Deinen Zorn, Enttäuschung und Frust überzukippen. Ich bin bereit, Deine Fragen zu beantworten, soweit es mir möglich ist.«
»Ach komm schon, kaum machst Du den Mund auf, kommen die nächsten Ausflüchte. Ich habe es so satt, hingehalten zu werden.«
»Ich halte Dich nicht hin, manches weiß ich selbst nicht, das kann ich Dir logischerweise auch nicht sagen.« Jens wollte erneut protestieren, doch er überlegte es sich anders und nickte nur.
»Was Mutter Dir erzählt und Du aus den Unterlagen erfahren hast, weiß ich nicht, deshalb fang ich vorn an. Konstantin Kralleths vom schwarzen See hat, gegen die strickten Anweisungen seiner Familie, die damals achtzehnjährige, im sechsten Monat schwangere, Sylvia Hubert geheiratet. Daraufhin hat der Familienclan ihm den Titel entzogen und er wurde zu einem ganz normalen bürgerlichen Mann. Drei Monate später wurde ich geboren. Wir waren eine glückliche kleine Familie und ich hätte so gerne noch weitere Geschwister gehabt. Aus welchem Grund auch immer, erfüllte sich mein Wunsch nicht. 1971, ich war fünf Jahre alt, verschwand mein Vater. Von jetzt auf gleich, sein Auto stand vor der Firma, aber er war einfach weg. Mutter hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt um ihn zu finden. Polizei, Vermisstenanzeige, Suchdienst, selbst einen Detektiv hat sie angeheuert. Nichts, er war nicht auffindbar.« Er rollte die Zigarre zwischen den Fingern und betrachtete ihre Glut.
»Eine Woche nach seinem Verschwinden erhielt sie ein Paket. In diesen befanden sich verschieden Akten und der Schriftverkehr zwischen Konstantin als Gutachter und einer Aufsichtsbehörde zur Organtransplantation. Vater war einem riesigen Skandal auf der Spur, konnte allerdings noch keine stichhaltigen Beweise vorlegen. Auf einem Zettel stand, sie solle alles besonders gut verstecken und auf gar keinen Fall an jemanden herausgeben. Der Stempel auf dem Paket war der Tag seines Verschwindens. Mutter war hin- und hergerissen diese Unterlagen weiterzugeben, um vielleicht doch ihren Mann wiederzubekommen. Monate und Jahre vergingen, kein Lebenszeichen von ihm, nichts, gerade so, als habe er niemals existiert. Das Schlimmste waren die regelmäßigen Einbrüche, bei denen alles durchsucht und teilweise verwüstet, aber nichts gestohlen wurde. Die Polizei war machtlos. Kein einziges mal konnten der oder die Täter ermittelt werden. Es war schon auffällig, wie oft ausgerechnet in unserem zu Hause eingebrochen wurde.«
Jens runzelte die Stirn und sah Kralle fragend an.
»Ich habe diesen Karton in Verwahrung«, bestätigte er und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Du wohnst immer noch dort.« Er holte tief Luft, »Jahre später lernte sie Deinen Vater Klaus Schmidt kennen. Sie passten gut zusammen und er gab sich große Mühe mit mir. Zehn Jahre später 1981 hat sie Konstantin für tot erklären lassen. Eines Tages kam sie schmunzelnd zu mir und erzählte, das sich jetzt mein lang ersehnter Wunsch erfülle.« Schmerzlich senkte er den Blick, riss sich kurz später aus der Erinnerung und erzählte weiter.
»Vater! Rief ich laut, wo ist er? Dann sah ich in ihren Augen die Trauer und gleichzeitig ein Strahlen. Sie nahm mich in den Arm und sagte mir, das sie schwanger sei und ich eine Schwester oder Bruder bekäme.«
Jens sah ihn mit großen Augen an und Kralle nickte,
»Ja, Dich. Du warst so winzig und ich wollte Vater zurück. Zwei Jahre später, ich bereitete mich auf das Abitur vor, kam die Nachricht, dass Dein Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Mutter sagte ständig, es sei ihre Schuld. Drei Jahre später offenbarte sie, das auch Dein Vater nicht an die Version des Verschwindens von Konstantin glaubte und eigene Nachforschungen angestellt hatte.« Er warf den Zigarrenstummel zu Boden und sah die dunkelrote Glut langsam im Schnee verlöschen.
»Das war zu viel, ich nahm den Karton an mich und verschwand mit viel Getöse aus eurem Leben. Die Nachbarn hingen an den Fenstern und bekamen meinen Auszug hautnah mit. Schlagartig hörten die Einbrüche auf, dafür wurde ich zeitweise beschattet. Sporadisch kam ich heimlich, um nach euch zu sehen, unsere Mutter zu unterstützen und die heranwachsende Nervensäge im Zaum zu halten«, grinste er zu ersten Mal. »Im Lauf der Jahre verflog Dein Interesse an mir, was prima war, je weniger Du mich mochtest, desto sicherer wart ihr. Gut, das Du mich hasst, dann waren Deine Gefühle wenigstens echt und die Besucher von Mutter konnten sich davon überzeugen.«
»Besucher von Mutter?«, fragend sah Jens über den Glasrand.
»Onkel Ignatz und August?! Das waren nicht die Brüder oder Schwäger Deines Vaters.«
»Nein, aber ich dachte die besten Freunde und dass sie uns unterstützen, weil Du abgehauen bist.« Kralles ironisches Auflachen flog durch die Nacht.
»Wann haben die Besuche aufgehört?«
Jens überlegte, »als ich meinen Abschluss bestanden hatte«, stellte er fest.
»Hast Du Dich niemals gefragt warum?«
»Na, weil ich jetzt fertig war und mein eigenes Geld verdiente.«
»Nein, weil Du ab diesem Zeitpunkt ungehinderten Zugang zu den Datenbanken hattest und beharrlich Dein Ziel verfolgtest den gehobenen Dienst anzustreben.«
»Woher weißt Du das alles?!«, erstaunt kam er näher, »hat Mutter Dir das erzählt?«
»Nein. Ich weiß immer, wo ihr seid und wie es euch geht. An jedem Tag, über all die Jahre hinweg«, offenbarte er sich. »Und der Schlägertrupp, den gab es tatsächlich. Das war der vorerst letzte Versuch Mutter einzuschüchtern und sie zum Reden zu bringen.«
Schlagartig wurde Jens bewusst, dass er die Wahrheit schon lange kannte, sie allerdings durch seine persönlichen Empfindungen verdrängt und zurechtgebogen hatte. Julius zog die Aufmerksamkeit auf sich und schützte Mutter und ihn selbst vor den Übergriffen. Kralle las in seinem Gesicht wie in einem offenen Buch.
»War seit Mutters Tod niemand mehr da?«
»Doch aber erst letzte Woche. Da hatte ich den Eindruck, es sei jemand bei mir gewesen. Es hat nichts gefehlt, aber einige Sachen standen nicht an ihrem Platz«, gab er zu.
»Das war, nachdem Du Deiner Kommissarin gesagt hast, dass wir Brüder sind«, stellte Kralle trocken fest.
»Ja. Und sie hatte sofort Dich in Verdacht«, bestätigte er, »ich kläre das noch mit ihr«, versprach er.
Sie redeten die halbe Nacht, die aufziehende Kälte mit ihren Minusgraden schien den beiden nichts auszumachen. Der Mond verschwand langsam hinter den Wipfeln der Tannen und sie beschlossen, den Rückweg anzutreten.
Niemand bemerkte die Gestalt, welche sich im Dunkeln zwischen den Bäumen bewegte. Mit dem Nachtsichtgerät beobachtete sie die Umgebung der Blauzeder Villa, die Umrisse der beiden Männer, wie sie den Weg zur Lichtung einschlugen und lange Zeit dort miteinander redeten. Geduldig verharrte sie in der kälter werdenden Nacht, ihr Atem schwebte als Wolke zwischen den immergrünen Ästen der Tannen und Fichten. Erst als der Morgen nahte und die Morgendämmerung den neuen Tag ankündigte, verschwand sie fast lautlos.
* * * * * * *
Der giftgrüne Ordner füllte sich zügig. Ausgedruckte Artikel, diverse Untersuchungsergebnisse und Berichterstattungen sowie Zeugenaussagen stapelten sich aufeinander. Eva hatte diese sorgsam chronologisch sortiert. Sie zog eine Strickjacke über den Pullover und goss sich einen neuaufgebrühten Tee ein. Die Zeilen lösten eine unaufhaltsame Kälte in ihr und je mehr sie las, desto schlimmer wurde es.
›Es ist schon komisch, zu Beginn konnte ich mir die Tragweite überhaupt nicht vorstellen. Mit jeder weiteren Information nimmt das Ganze barbarische Formen an. Erschreckend, wie selbst in der heutigen Zeit noch mit Kindern und jungen Heranwachsenden umgegangen wird. Mädchen und Buben behandelt wie Sklaven. Mit unvorstellbaren Methoden unterworfen, ihren Willen gebrochen, um sie gehorsam zu halten.‹ Unbewusst schüttelte sie sich und las die Zeugenaussagen von jetzt Erwachsenen zu ihrer Zeit im Erziehungsheim. Sofort viel ihr das Grundgesetz ein, die Würde des Menschen ist unantastbar!
›Waren Kinder keine Menschen? Wieso galt dies nicht für Kinder? Warum wurden Misshandlungen nicht härter bestraft als bei einem Erwachsenen?‹ Schmerz, der sich in Zorn wandelte, stieg in ihr auf. Das Martyrium der gequälten und geschundenen Kinder wurden fleißig verharmlost, klein gehalten und sollte im Grunde genommen überhaupt nicht unter dem Deckel hervor an die Öffentlichkeit gelangen. Viele der Misshandlungen waren verjährt, sie wurden lediglich moralisch und nicht mehr strafrechtlich geahndet. Ein neuer böser Verdacht erhärtete sich in ihr.
›Wo waren all diese Kinder geblieben? Chris, ich muss dringend mit ihm sprechen, er hat die besten Möglichkeiten herauszufinden, wo sie stecken.‹ Noch mit dem Gedanken beschäftigt, hörte sie Moritz auf der Treppe poldern und gleich darauf sein schimpfen und fluchen.
»Ach, zum Teufel auch, wieso sind diese Blätter so glitschig und rutschen immer auseinander?!«
»Bist Du okay oder braucht Du Hilfe?«
»Nein, alles gut, ich hab Dir Chris´ neuste Nachrichten ausgedruckt. Die waren jetzt der Meinung, sie müssten mal ausprobieren, wie weit sie die Stufen hinuntersegeln können«, vernahm sie seine ironische Antwort.
»Soll ich Dir helfen?«
»Noch habe ich zwei Beine, auch wenn das eine nicht so will, wie ich«, entgegnete er frustriert. Wortlos stand sie auf und sah die Treppe hinunter.
»Das ist alles von Chris?!«, ungläubig sah sie auf die bis ins Erdgeschoß verteilten Seiten.
»Ja. Er hat unheimlich viel ausgegraben. Da reiht sich eine Tragödie an die anderen. Das Allerschlimmste ist eine erstaunlich hohe Sterberate, die sich bis in die heutige Zeit zieht.«
Rasch eilte Eva die Stufen hinunter, sammelte die Blätter ein und gab Moritz einen dicken Kuss.
»Ich danke Dir. Komm, wir gehen runter.«
»Danke nicht mir, ich bin lediglich dein hilfreicher Bote.« »Woran sind sie verstorben?«
»Laut den Totenscheinen ist alles dabei. Vom Selbstmord bis zum multiplen Organversagen. Such Dir was aus, es ist hundertprozentig auf mindestens einem Totenschein zu finden.«
»Jede Seite ist eine Person?« Ungläubig riss sie die Augen auf.
»Ja. Vorn stehen die Daten, auf der Rückseite ist der vom Arzt ausgestellt Totenschein.« Gemeinsam betraten sie die Wohnküche. Eva breitete die Seiten auf dem Küchentisch aus und begann diese neu zu sortieren.
»Was machst Du?«, verwundert trat Moritz neben sie.
»Ich sehe mir die unterschiedlichen Einrichtungen an, um eine Übersicht zu bekommen. Sieh mal, da steht fast immer dieselbe Unterschrift. Naja, es ist zwar mehr ein Gekritzel beziehungsweise ein Kürzel, ähnelt sich allerdings extrem. Die Örtlichkeiten sind andere, aber alle scheinen ein und denselben Arzt zu haben.«
»Meine Ortskenntnisse sind zwar nicht die allerbesten, aber nach den Postleitzahlen liegen die über fast ganz Deutschland verstreut.«
»Die Ausstelldaten sind schon alt, es ist kein einziges aktuelles dabei. Sind diese Einrichtungen denn überhaupt noch offen?«
»Warte einen Moment, ich sehe im Internet nach«, Moritz holte seinen Laptop und setzte sich zu Eva an den Küchentisch. Rasch suchte er nach Hinweisen zu den angegebenen Namen.
»Das Erste wurde nach einem Skandal 1980 geschlossen. Dann folgen 84 und 87 die beiden nächsten. 92 das letzte«, enttäuscht sah er auf, »die gibt es alle nicht mehr.«
»Was wurde aus den Häusern und Grundstücken?«
»Hm, kein Eintrag, warte mal, ich sehe mir die Satellitenansicht zu den Adressen an. Häuser stehen dort, wie alt die sind kann ich nicht erkennen.«
»Hier, Chris hat das Kleingedruckte unterstrichen. Sieh Dir mal die Namen der Träger dieser Heime an.« Eva las die Namen, stutzte und begann von neuem. Erneut hielt sie inne. »Es sind immer dieselben«, innerhalb kürzester Zeit hatte sie den Zusammenhang erkannt. »Hier, es besteht kein Zweifel, sie sind unterschiedlich lang, aber alle aus den gleichen Buchstaben gebildet. Da ist kein Zufall, dahinter steckt eine Methode.« Moritz wusste, spätestens jetzt gab es für Eva kein Halten mehr, sie hatte eine Spur gefunden und verfolgte diese, manches Mal auch bis zum bitteren und bösen Ende.
»Ich bitte Chris herauszufinden, was oder wer sich jetzt auf den angegebenen Adressen befindet.«
»Und er hat mit Sicherheit die Kontakte, um an eine Statistik heranzukommen, wie hoch die Sterberaten zu der damaligen Zeit in den Heimen war. Diese komischen Übereinstimmungen der Namen finde ich recht merkwürdig, und die auffallend hohe Quote an Verstorbene? Da stimmt was nicht.«
* * * * * * *
Sorgfältig verpackte er das Nachtsichtgerät, klopfte die vertrockneten Tannennadeln aus der Kleidung und schenkte sich bereits die dritte Tasse Kaffee ein. Aus welchem Grund auch immer, die eisige Kälte der vergangenen Nacht saß in seinen Gliedern und wollte partout nicht weichen. Niemals rechnete er damit, dass die Zielpersonen derartig lange miteinander sprechen würden. Innerlich hatte er sich das Ende herbeigesehnt, doch die beiden Männer sprachen bis zum Morgengrauen miteinander. Trotz der hervorragenden Ausrüstung war sein Beschattungsauftrag erheblich aufwendiger als im Voraus beschrieben.
Endlich klingelte sein Handy. Rasch stellte er die Kaffeetasse auf den Tisch und meldete sich.
Die frostige Stimme am anderen Ende vertrieb das bisschen vorhandene Wärme aus ihm und seiner Umgebung. Er hatte den Eindruck die Zimmertemperatur war unter null Grad gefallen.
›Mann, reiß dich zusammen‹, dachte er und berichtete gehorsam vom Treffen zwischen Julius Kralleths und Jens Schmidt. Der spontanen Flucht, der Rückkehr und dem nachfolgenden, extrem langen Gespräch auf der Lichtung. Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen, dann hörte er die Anweisung, sich für einen neuen Auftrag bereit zu halten.
›Aber gerne doch, so lange die Bezahlung ebenso fürstlich ist, steh ich dem Kerl jederzeit zur Verfügung. Diesen Bonus lass ich mir doch nicht durch die Lappen gehen.‹
* * * * * * *
›Seit ich bei Julius war hat sich alles umgekrempelt. Liegt das an mir? Habe ich mich verändert?‹ Jens sah sich unauffällig um. ›Verdammt, lass dich von Melanie nicht anstecken. Er ist nicht so. Außerdem habe ich die Ergebnisse meiner eigenen Nachforschungen. Da gibt es derart große Lücken, es stinkt zum Himmel und ist Meilen weit zu sehen. Aber niemand hat sich jemals darum gekümmert!‹
Unvermittelt blieb er auf seiner Laufstrecke stehen, schraubte die extra für Läufer geformte Trinkflasche auf und nahm einen Schluck. Dabei dreht er sich wie zufällig um die eigene Achse und begutachtete die Umgebung. Der Raureif hatte bizarre Muster an den Zweigen der Büsche und Ästen der Bäume mit ihrem trockenen Laub gebildet. Gab es um diese frühe Uhrzeit im Halbdunkeln und bei Minusgraden noch andere Läufer oder Radfahrer? Vielleicht Spaziergänger oder gar Kinder? Immer wieder beschäftigte ihn der Abend mit seinem Bruder auf der Lichtung im Wald nahe dem Clubhaus. Erneut schweiften die Gedanken zu den Schuldzuweisungen der Vergangenheit ab.
›Er wusste immer über uns Bescheid, ich habe ihm Unrecht getan‹, lies es ihn seit Tagen nicht mehr los.
Das unbestimmte Gefühl, es sei jemand in seiner Wohnung gewesen, hatte die Probe aufs Exempel bestätigt. Der hauchdünne Faden zwischen Wohnungstür und Wand war zerrissen, als er vom Training nach Hause kam. Den prüfenden Blick durch die Zimmer konnte er sich nicht verkneifen, obwohl er bereits wusste, dass nichts fehlte. Was bezweckten sie damit? Sollte ihn dieses Vorgehen verunsichern, mürbemachen oder ihm aufzeigen, dass niemand sicher war? Dass es immer Mittel und Wege gab in die Privatsphäre einzudringen und die persönlichsten Geheimnisse anzusehen?! In dieser Drei-Zimmer-Wohnung waren er und Julius großgeworden, hier war sein zu Hause. Unvermittelt blieb er stehen. Mutters Bild lag mit dem Foto nach unten auf der Kommode in seinem Arbeitszimmer. Anscheinend hatte die nächste Stufe der Verunsicherung begonnen. Unwillkürlich sah er sich um.
›Hören sie mich vielleicht ab? Sollte ich Melanie oder einen der Kollegen aus der Kriminaltechnik anrufen und um ein Prüfgerät bitten? Sie besser nicht. Das bestätigt ihre Bedenken nur und hilft mir momentan nicht weiter. Dann nimmt sie Julius ganz auseinander und ich glaube ihm. Mag er sein, wie er will, seine Erklärungen bestätigten meinen seit Jahren gewachsenen Verdacht. Bei den Kollegen habe ich sicherlich die größere Chance und muss nicht irgendwelche Begründungen erfinden.‹ Sein Blick auf die Uhr bestätigte, dass er heute nicht weiterkam und bis Montag warten musste. Sein spezieller Freund hatte dieses Wochenende keine Bereitschaft.
Missmutig klappte Melanie den Aktenordner zu. Genau wie sie es befürchtet hatte, gab es zu der zweiten Frauenleiche ebenfalls keine brauchbaren Spuren. Ihr wurden professionell die Organe und alles Verwertbare entnommen, der nicht zu verwertende Rest einfach in einen Müllsack gesteckt und entsorgt. Der einzige Unterschied, sie hatte vor mehreren Monaten ein Kind geboren. Es war zum Auswachsen, keine Vermisstenanzeige passte auf die beiden.
Sabine hatte den ungeheuren Verdacht, dass die Frauen als illegale Leihmütter engagiert wurden und klärte momentan, welche Praxen und Kliniken dafür in Frage kamen. Genügend Interessenten gab es, zumal die Leihmutterschaft in Deutschland verboten war. Dennoch blieb die Frage: Wer zum Teufel weidet diese Frauen aus, anstatt sie nach der Geburt in die Heimat zu entlassen? Welcher geisteskranke Irre war hier am Werk?
Jens war schon seit einer Woche im Urlaub, weggefahren war er nicht und hatte sich auch kein einziges Mal gemeldet.
›Wieso sollte er dies auch tun? Ich bin nicht seine Mutter, er ist ein erwachsener Mann und für sich selbst verantwortlich. Ach verdammt, aber er ist mein Freund und ich mach mir Sorgen um ihn mit seinem allerneusten Bruderkomplex. Soll ich ihn anrufen und einfach mal Hallo sagen, oder empfindet er das sofort als Einmischung?!‹
Unentschlossen klappte sie die Akten zu, schloss ihren Schreibtisch ab und griff den Mantel vom Kleiderständer.
›Ich geh in unser Stamm Bistro, mal sehen, vielleicht ist er ja dort.‹ Die Besitzerin des Charles Bistro & Café begrüßte sie herzlich und sah sie fragend an.
»Wo bleibt der gutaussehenden Kerl, den Sie Ihren Kollegen nennen? Ist er krank vor Liebeskummer?«, frotzelte sie. »Seit er das letzte Mal die hübsche Blondine abgeschleppt hat, war er nicht mehr hier«, grinste sie vielsagend. Die Kommissarin zuckte mit den Schultern,
›Nun gut, das ist schon Wochen her, hier war er also auch nicht.‹ Melanie trank ihr Radler und drehte das Handy immer noch unentschlossen zwischen den Fingern.
›Er ist zwar ein Beziehungschaot, aber der beste Kollege, den ich bisher hatte. Lass ihn in Ruhe, verdirb eure Freundschaft nicht‹, ermahnte sie sich, trank aus und verabschiedete sich.
* * * * * * *
Das Handy klingelte bereits zum fünften Mal.
›Moritz geh dran‹, hoffte Eva inständig, stand vom Schreibtisch auf und betrat den Treppenabsatz.
»Guude mein Lieber«, hörte sie seine Stimme aus der Diele heraufdringen. »Eva!«, rief er laut, »Dein Handy ist wieder aus oder nicht geladen. Chris für Dich, es gibt Neuigkeiten.«
Flink rannte sie die Stufen herab, warf ihrem Freund einen Kuss zu und schnappt sich das mobile Telefon.
»Chris…«,
»Eva, wie zum Kuckuck soll ich Dich über das Neuste vom Neuen informieren, wenn Du nicht erreichbar bist«, beschwerte er sich mit einem Anflug von Ärger. »Sag Moritz einen schönen Gruß, er soll Dir endlich mal ein brauchbares Handy besorgen«, grummelte er.
»Es ist mein Fehler, ich leg es in die Dielenschale und vergesse es dort. Tut mir echt leid. Bitte kannst Du mir verzeihen?« Rasch überlegte sie, mit welchem leckeren Essen sie ihn bestechen und aussöhnen konnte.
»Es gab eine zweite Leiche ohne alles, professionell zerlegt.« Er versuchte, seine normale Stimmlage zu behalten, doch das Schaudern konnte er nicht vollkommen unterdrücken. »Diesmal in Hofheim, auch sie hat vor längerem ein Kind geboren, ist Mitte zwanzig und stammt aus Osteuropa. Verdammt Eva, welcher Irre schlachtet diese Frauen ab und vor allem wieso?«
»Gab es früher schon mal solche Fälle?«
»Ich dachte mir, dass Du danach fragen würdest, habe allerdings nichts Vergleichbares gefunden. Die Vermisstenanzeigen ergaben auch keinen Treffer.«
»Junge Frauen, die aus Osteuropa kommen und ein Baby geboren haben. Jetzt wurden sie tot und ohne Organe gefunden.« Eva sprach mehr zu sich, ihr Gehirn lief auf Hochtouren. »Könnten das auch schiefgegangene Leihmutterschaften gewesen sein?«
»Hm, in sehr weitem Sinne schon, aber wieso mussten sie sterben und wurden ausgeweidet? Das passt doch nicht, sie sind noch jung und können bestimmt noch mehr Babys bekommen oder ist das falsch? Eva, Du als Frau weißt besser darüber Bescheid«, machte er einen Rückzieher aus dem Thema.
»Kannst Du in Erfahrung bringen ob es Praxen oder Ähnliches gibt, welche die Voraussetzungen besitzen, um die befruchteten Eizellen den Leihmüttern einzusetzen?«
»Ich kümmere mich darum, muss mich aber erstmal ins Thema einlesen. Was ganz anderes, ich bin bei den Trägern der Heime auf den Namen ›Vita Nova‹ gestoßen. Da gibt es ein Sanatorium, welches eine Art Mütter und Kinder Erholungsheim ist.«
Eva horchte auf, ein Alarmsignal schrillte in ihrem Kopf.
»Nur gestoßen oder gehören die zusammen? Eine Art Nachfolger vielleicht? Mütter und Kinder! Das schreit regelrecht nach Übereinstimmung!«
»Eva, ich kümmere mich darum und Du Dich um Deine Erreichbarkeit«, konnte er sich den kleinen Seitenhieb nicht verkneifen.
»Jawohl! Wird erledigt«, bestätigte sie. »Danke mein Lieber, ohne Dich wären wir aufgeschmissen.«
* * * * * * *
»Stellen sie mich sofort durch«, schnaubte Stephan von Arche erbost und trank einen großen Schluck Cognac aus dem handgeschliffenen und dickbauchigen Glas.
»Stephan«, begrüßte ihn eine besorgte Stimme am anderen Ende der Leitung. »Wir haben alle Vorbereitungen getroffen und führen Deinen Auftrag in Kürze aus.«
»Was zum Teufel ist bei euch los?«, fauchte er ungehalten. »Mein Kontakt berichtet, es ist bereits die zweite Frauenleiche aufgetaucht. Wie konnte das passieren?!«
»Die Security ist ausgewechselt, ich habe umgehend neues Personal eingestellt und bin mir sicher, dass die Lücke geschlossen ist«, rechtfertigte sich der Doktor.
»Das will ich hoffen, die anderen sind überaus beunruhigt. Es wurde zwar noch nichts veröffentlicht, aber wie ich diese Schmierfinken kenne, steckt einer seine Nase rein und zerrt alles hervor. Du musst härter durchgreifen! Sei nicht so weich und zimperlich. Verdammt noch mal, fast denke ich, Dein Sohn hat mehr Mumm in den Knochen als Du.«
›Dieser aufgeblasene Fatzke mischt sich in sämtliche Belange. Steig lieber von Deinem hohen Ross und arbeite für Deine vierteljährlichen Ausschüttungen.‹ »Stephan, sie verlangen mehr Geld, das habe ich abgelehnt und der Hof hat einen neuen Leiter. Den mussten wir erst auf Kurs bringen, aber jetzt arbeitet er sehr gut. Es ist alles bereinigt«, beschwichtigte er ihn.
»Mach bei dem missratenen Balg ja nicht diese Fehler, sie ist vom Weg abgewichen und zu allem fähig. Hast Du verstanden?!«
»Ja! Selbstverständlich! Alles wird zu Deiner Zufriedenheit ausgeführt. Du kannst Dich darauf verlassen.«
»Enttäusche mich nicht, es wäre Dein Ende!«, drohte er unmissverständlich und legte grußlos auf.
›Hoffentlich war es mir möglich, das Leck tatsächlich schließen. Erst einmal habe ich mir etwas Zeit verschafft. Meine spontan durchgeführte Kontrolle war nicht zufriedenstellend. Es war zum Auswachsen, bis auf den einen Körper, den er für seine Zwecke benötigt hatte, fehlten weitere, deren Verbleib nicht geklärt werden konnte.‹ Mit dem Handrücken wischte er sich über die Stirn, sein Entschluss erneut den Sucher einzusetzen, war die richtige Entscheidung.
* * * * * * *
Innerlich, mit allen ihm bekannten Schimpfworten fluchend, stand für Kralle fest, dass die Zusendungen kein Ende haben würden. Die erhaltenen Briefe hatte er, bis auf den ersten, postwendend an die Kanzlei in Frankfurt zurückgeschickt. Der Vermerk ›Annahme verweigert‹, war für ihn eine unmissverständliche Antwort. Für den Absender anscheinend nicht.
Als er an diesem Abend müde und erschöpft das Haus in Eppenhain betrat, warteten bereits drei, in schwarzen Anzügen gekleidete Muskelpakete im Treppenhaus auf ihn. Schonungslos vermittelten sie ihm, dass er den Erhalt des heutigen Briefes nicht vergaß und dies mit seiner Unterschrift bestätigte. Der hinterhältige Treffer in die Nieren machte ihm sehr zu schaffen. Diese Männer wussten haargenau, wo sie zuschlagen mussten, um größtmögliche Schmerzen und wenig sichtbaren Spuren zu hinterlassen.
›Verflucht noch eins, ich habe kein Interesse.‹ Den ungeöffneten Umschlag warf er auf den kleinen runden Tisch nahe dem unbequemen Sessel. Seine Devise, niemals zu lange an einem Ort zu verweilen, hatte ihm, so glaubte er zumindest, bisher gute Dienste geleistet. Die Stiefel stellte er sorgfältig auf der Fußmatte ab und hängte die Jacke mit Weste auf den Kleiderbügel. Danach goss er sich eines der bauchigen Gläser halbvoll mit seinem bevorzugten Whisky. Das Glas leicht schwenkend, trat er an die Terrassentür und sah in die Nacht hinaus. Der Schnee hatte eine kleine weiße Mauer auf dem Geländer errichtet. Die Äste der Nadelbäume knacksten unter der winterlichen Last und das gelblich warme Licht der Straßenlaterne gegenüber tauchte die Szene in eine unwirkliche Harmonie. Die Geräusche vor dem Haus drangen nur gedämpft zu ihm herauf.
›Heute ist einer der Tage, die ich am liebsten ersatzlos streichen würde. Schon am Morgen dachte ich, es könne nicht schlimmer kommen, doch das Schicksal legt noch mal eine Schippe oben drauf. Verflixt, sie haben echt gute Kontakte.‹
Im leicht verschwommenen Spiegelbild des Fensters sah er sein Gesicht. Das vergangene Jahr hatte deutliche Spuren hinterlassen und er wusste nicht, wie lange dieses perfide Spiel weitergehen würde. Mit einen tiefen Seufzer riss er sich von der nächtlichen Szenerie los. Ruhig trank einen Schluck der warm schimmernden, bernsteinfarbenen Flüssigkeit und steckte sich eine Zigarre an.
Die Erinnerung an den ersten Brief stieg gnadenlos in ihm auf, ohne dass er sie abwehren konnte. Er fühlte jetzt noch den Schock, wie ihm vor zwei Jahren die Knie weich wurden und er sich auf der Mauer zur Einfahrt abstützen musste.
›Alles Lügen. Diese Art der gefühllosen fast schon befehlenden Kommunikation konnte unmöglich von seinem verschwundenen Vater stammen. Nein! Ausgeschlossen! So hatte er ihn nicht in Erinnerung.‹ Ruckartig schloss ich damals etwas zu hart den Briefkasten. Getrieben von aufsteigenden Gefühlen, ging ich rasch ins Haus zurück. Ich sah vor meinen inneren Augen die großen, gepflegten Hände des Vaters. Zärtlich strichen sie mir über den Kopf, nur um eine Sekunde später mein Haar zu verwuscheln. Mich durchzukitzeln, hochzuheben und liebevoll an seine breite Brust zu drücken. Dann sah ich auf, in die gütigen Augen und ein sanftes Lächeln umspielte seinen Mund. Er drückte mir einen dicken Kuss auf die Halsbeuge und ich quietschte vor lauter Freude auf. Wir lachten überschwänglich, Mutter kam in das Zimmer und tadelte uns beide mit gespieltem Ernst. Sie schimpfte, was wir hier für einen Lärm veranstalteten, nur um uns kurz darauf zu umarmen und in unser Lachen einzustimmen. Es war die schönste und glücklichste Zeit in meinem Leben.‹
Mit dem Glas in der einen und der Zigarre in der anderen Hand, ging er zum Sessel hinüber und setzte sich.
›Ich drückte meine Stirn an die kühle Wand im kleinen quadratischen Flur und schloss die Augen. Die nächsten emporkriechenden Geister der Vergangenheit wollte ich erst gar nicht in meinen Kopf lassen. -Verschwindet, ihr seit nicht real, es sind die verzweifelten Vorstellungen von einem kleinen Jungen, der den Vater schmerzlich vermisst-. Hart schlug meine Faust gegen den Türrahmen, -Ich lass euch nicht mehr in mein Leben. Ihr habt keine Macht mehr über mich-. Kurzentschlossen zerriss ich den Umschlag in kleine Stücke und verbrannte die Schnipsel im gläsernen Aschenbecher auf der Küchenspüle. Die kurz hellauflodernden Flammen verschlangen das Papier und verwandelten es in hauchdünne silberweiße Ascheplättchen. Meine Hände zitterten leicht, als der Wasserstrahl den Inhalt des Aschers in schmutzig graue Pampe verwandelte. Sie suchte sich den Weg in den Abfluss und verschwand. Erleichtert steckte ich mir einen Zigarillo an, ein weiteres Mal hatte ich die quälenden Dämonen besiegt. Doch tief im Inneren wusste ich, das dies nur ein kurzer Sieg war. Schon bald würde der nächste Umschlag im Briefkasten liegen und ein weiteres Stück von meiner Seele auffressen.‹
Entschlossen ergriff er das Kuvert, bestehend aus dem gewohnt edlen Papier mit dem ihm bereits bekannten Absender, und hielt für einen Augenblick inne. ›Das muss ein Ende haben, die Beeinflussung, das Schritt für Schritt in den Wahnsinn treiben und diese Zermürbe Taktik. Sie wissen sehr genau, wie die Psyche eines Menschen zu torpedieren ist, wie sie qualvoll langsam zerstückelt wird, nur um an ihr Ziel zu gelangen. Ich bin stark, die Frage ist, wie lange halte ich diese grausame und unerträglich zehrende Methode aus?‹ Resolut öffnet er den Brief und las die handgeschriebenen Zeilen.
›Lieber Julius, mein Sohn, ich schreibe Dir, um Deine jahrelange Suche nach mir zu beenden.‹ Ein lauter Schrei durchbrach die Stille und hallte in der spartanisch eingerichteten Wohnung wieder.
»Nein! Verschwinde! Du hast keine Macht über mich!« Fest entschlossen, dem Ganzen für heute ein Ende zu bereiten, griff er nach dem Autoschlüssel. Rasch schlüpfte er in die Stiefel, zog die Jacke mit der Weste über und verließ fluchtartig sein zu Hause. ›Zu Hause‹, dachte er grimmig und fuhr geradewegs zum Clubhaus.
›Hier ist mehr mein Heim, als die nur mit dem allernotwendigsten ausgestattete Drei-Zimmer-Wohnung. Vielleicht nehme ich doch das Angebot an und ziehe in die Blauzeder Villa‹, überlegte er. ›Kann ich die Vergangenheit einfach zurücklassen oder klammert sie sich an mich. Klebt wie stinkender Hundescheiß am Stiefel und folgt mir auch ins neue Heim?‹
* * * * * * *
Schon als Katharina die Hotellobby betrat, merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Die Empfangsdame vermied sie anzusehen und begrüßte sie höflich mit, »Guten Tag Frau von Arche«, ungewöhnlich laut. Unauffällig schob sie ihr eine handgeschriebene Nachricht zu und wandte sich sofort dem nächsten Gast entgegen. Verstohlen las Kathi die drei Worte.
›Sie werden beobachtet‹, und musste ihre ganze Willenskraft aufbringen, sich nicht suchend umzusehen. Dezent verschwand der Zettel in ihrer Handtasche.
›Er will mich vernichten, es lässt ihm keine Ruhe, bis ich im Staub vor ihm krieche.‹ Wissend nickte sie und entschied sich die Treppe in den zweiten Stock zu nehmen. Auf dem ersten Treppenabsatz begegnete ihr ein sportlicher, kräftiger Mann mit akkuratem Bürstenhaarschnitt. Er stellte sich ihr in den Weg,
»Bitte, machen Sie keine Schwierigkeiten. Sie werden erwartet«, sagte er kalt und bestimmt. Seine Aufforderung ließ nicht den kleinsten Zweifel, dass er sie notfalls mit Gewalt zum Gehorsam zwang. Rasch schätzte sie ihre Chancen ab, er folgte ihrem Blick und schüttelte den Kopf.
»Bitte nicht.« Seine Stimme nahm an Schärfe zu, die eiskalten Augen sahen sie mitleidlos an. Das Klappen der Treppenhaustür bestätigte ihren Verdacht.
›Er ist nicht allein, sie kommen niemals allein. Aber ich gebe nicht kampflos auf, erst müssen sie mich kriegen und ich verkaufe meine Haut so teuer wie möglich.‹ Das Herz pochte ihr bis zum Hals, sie spürte den Adrenalinschub in ihrem Blut. Gehorsam nickte sie, drehte sich um und stieg die Stufen hinunter. Kaum hatte sie den zweiten Mann erreicht, stieß sie ihn urplötzlich zur Seite, duckte sich unter seinen Armen durch und verschwand die Treppe runter in die Tiefgarage. Das laute Fluchen der beiden hörte sie gerade noch, bevor die Brandschutztür geräuschvoll hinter ihr ins Schloss fiel. Blitzschnell sprang sie in ihren Wagen, startete und raste ohne Zögern auf die geschlossene Schranke der Ausfahrt zu. Mit einem lauten Bersten flogen die Plastiksplitter durch die Luft. Das Glas der Windschutzscheibe war in tausend kleine Fragmente zersprungen und lag halb auf ihrem Körper, Beinen und im Fußraum.
›Jetzt bin ich draußen, wohin fahre ich?‹, ihre Gedanken rasten.
›Nach Hause?!‹, bitter lachte sie in den eisigen Wind, der ihr in den Augen brannte, Tränen rollten über ihre Wangen. Verzweifelt blinzelte Kathi und um besser sehen zu können, fummelte sie letztendlich die Sonnenbrille aus der Ablage. Wütendes Hupen unmittelbar neben ihr ließ sie aus ihren Überlegungen schrecken. Nur wenige Zentimeter von ihr rauschte ein anderes Auto vorbei.
›Das hat mir gerade noch gefehlt, ein Unfall wäre mein unweigerliches Ende. Zur Villa kann ich nicht, von dort kommt der Auftrag. Zu Eva nach Eschborn? Sie bekommt durch mich sowieso erhebliche Schwierigkeiten. Wohin also?!‹ Der Gedanke trieb sie unaufhaltsam weiter auf die Autobahn Richtung Frankfurt. Krampfhaft umschlossen ihre zitternden Hände das Lenkrad so fest, bis ihre Knöchel weiß hervortraten.
›Die Redaktion! Das ist die Lösung.‹ In den halb herabhängenden Rückspiegel erkannte sie verzerrt jede Menge Autos. ›Waren dort möglicherweise auch Verfolger, die sie nicht entkommen lassen wollten?‹
Nach einer gefühlten Ewigkeit, eiskalt und durchgefroren mit purpurrotem Gesicht bog sie in die Einfahrt der Redaktion in Frankfurt ab, auf die Schranke des Parkplatzes zu. Kaum hatte sie die Hand nach der Sprechanlage ausgesteckt, wurde sie gepackt und mit brutaler Gewalt aus dem Auto gezerrt. Ein Fausthieb an die Schläfe ließ sie bewusstlos zusammensacken. Innerhalb von Sekunden verschwand sie im offenen Kofferraum eines großen SUV, der rasch Richtung Autobahn davon fuhr.
Der Pförtner hatte den Vorfall gerade noch bemerkt und griff eilig zum Telefon.
›Um diese Uhrzeit sind die meisten bereits nach Hause gegangen. Nur wenige Mitarbeiter, der Chefredakteur und Chris waren bestimmt noch im Büro.‹ Eilig griff er zum Telefon und erzählte dem freundlich grüßenden jungen Mann von dem soeben passierten Vorfall. Der sonst gelassene Chris erschien erstaunlich schnell auf dem Parkplatz und machte Fotos von dem stark beschädigten Wagen. Anschließend fragte er den einzigen Augenzeugen gründlich aus. Danach schoben sie das kleine Auto auf den hinteren, wenig genutzten Stellplatz und er verschwand er ebenso eilig wieder im Fahrstuhl.
Bereits nach wenigen Minuten hatte er über das Kennzeichen den Halter des Autos herausgefunden. Automo-Hessen.
›Was zu Teufel machte ein völlig demolierter Wagen der Automo vor der Schranke zum Parkplatz der Redaktion?‹ Mit aufsteigender Nervosität trommelten seine Finger auf der Schreibtischplatte.
›Wer? Wer konnte in diesem gesessen haben? Eva und Moritz, sie hatten in ihrem letzten Artikel auch über die Automo berichtet. Besonders gut waren die dabei nicht weggekommen.‹ Kurzerhand griff er zu seinem Handy und wählte.
»Hallo Chris, was ist passiert?«, hörte er Eva mit leichter Besorgnis in der Stimme.
»Guten Abend, ist Moritz auch da?«
»Dann muss es heftig sein, warte ich stell Dich auf laut.«
»N´abend, mein Lieber, was gibt es?«, schaltete sich Moritz mit in das Gespräch.
»Ihr habt doch über die Automo berichtet und plötzlich steht ein geschrotteter Firmenwagen von denen bei uns vor der Schranke. Wisst ihr irgendetwas?«
»Welche Farbe und Modell?«, fragte Eva rasch. Ihre Vorahnung warnte sie, ein ungutes Gefühl bemächtigte sich ihrer.
»Rot, ein kräftiges Rot. Das Modell ist eines der alten, wurde bis Anfang 2002 gebaut.«
»Hat es einen Aufkleber in Form einer liegenden Acht an der Windschutzscheibe?«
»Es hat gar keine Scheibe mehr, der Rahmen ist vorn eingedrückt, als wäre jemand damit gegen ein querliegendes Hindernis gefahren.«
Eva wurde kreidebleich, ihre Hand legte sich auf Moritz Arm, »Kathi fährt ein solches Auto. Was ist passiert?« Er spürte ihre eiskalten Finger durch den Pullover.
»Unser halbblinder Pförtner hat nur einen Teil gesehen. Der Wagen hielt und jemand wollte die Sprechanlage drücken. Dann kam schnell ein neuer schwarzer SUV und zwei Männer sprangen heraus. Sie zerrten eine Frau mit halblangem braunen Haar aus dem demolierten Auto, schlugen sie k.o. und sperrten sie in den Kofferraum des Vans. Dann rasten sie Richtung Autobahn davon. Das Nummernschild konnte er nicht erkennen.«
»Kathi, das war Kathi«, rief Eva besorgt. »Wir wussten, das etwas nicht stimmt und haben uns nicht gekümmert!«
»Eva beruhige Dich, wir wissen es nicht genau. Chris, kannst Du mehr auf der Überwachungskamera erkenne?«
»Ich bin schon dran.«
»Schick mir ein Bild, wenn Du was Erkennbares hast.«
»Ja. Kümmere Dich um Eva. Bis später.«
»Moritz, was machen wir jetzt? Sollen wir die Polizei informieren? Kathi, wie können wir sie finden? Dieser widerliche Kerl nennt sich ihr Vater und setzt alles in Bewegung, um sie zu vernichten.«
»Wir haben wichtige Details mein Schatz, lass uns dort weitersuchen. Chris lässt die Tasten glühen und unterstützt uns.«
»Wird die Polizei die Sache verfolgen? Ich glaube nicht. Was haben wir? Ein demoliertes Auto, einen halbblinden Pförtner und einen Vater, der mit Sicherheit alles abstreitet. In der Firma, wo Kathi arbeitet, heißt es, sie habe Urlaub genommen und ist verreist«, brachte sie den Vorgang auf den Punkt.
»Pass auf, auch im Hotel, wo sie gewohnt hat, werden die bestimmt sagen, dass sie ausgecheckt hat. Fertig. Was sollen wir der Polizei berichten?«
»Na gut, aber in drei Tagen müssen die nach ihr suchen. Ich als Freundin werde sie als vermisst melden.«
* * * * * * *
Jens setzte alles daran den Kopf frei zu bekommen. Fast täglich zog er die Laufschuhe an und drehte seine Runden. Unentschlossen, wie es weitergehen sollte, hatte er diverse Zukunftsmodelle erdacht, die dann nach einer Nacht wieder verworfen wurden.
Die erste Urlaubswoche war bereits Vergangenheit und er war keinen, noch so kleinen, Schritt vorangekommen.
›Am besten denke ich beim Laufen‹, dachte er, griff sich den Fitnesstracker, aktualisierte ihn über sein Handy und begann sich umzuziehen. Die Dezembertage waren schnell kälter geworden.
›Wenn das so weitergeht, haben wir weiße Weihnachten.‹ In Gedanken schmunzelte er über den unbändigen Drang der Nachbarskinder, den kürzlich erbauten Schneemann am Leben zu halten. Der Witterung entsprechend zog er eine zusätzliche Jacke über und rückte den Gurt mit der elastischen Handytasche zurecht. Rasch verstaute er noch einen Proteinriegel und nahm die für Läufer geformte Trinkflasche vom Tisch. Am Treppenabsatz sah er die hochschwangere Nachbarin vor der Haustür stehen und nach dem Schlüssel suchen. Hilfsbereit hielt Jens ihr die Tür auf, »Fehlalarm«, übermüdet grinste sie breit und zeigte auf ihren Bauch. »Viel Spaß beim Laufen«, rief sie ihm aufmunternd hinterher, er hob dankend seine Hand und schlug den Weg zur Fichtenstraße ein. Die feinen Schneeflocken hatten eine neue dünne, weiße Schicht auf dem Gehweg hinterlassen. Sofort verselbstständigten sich seine Gedanken.
›Melanie, sie hatte ein klares Ziel vor Augen. Schon vom ersten Tag in der Akademie, wusste sie, wo sie hin wollte und welchen Weg sie dafür vorgesehen hatte. Julius, ihn kenne ich im Grunde genommen überhaupt nicht und trotzdem ist er mir vertraut. Eigenartigerweise fühle ich mich ihm momentan näher als der langjährigen Kollegin. Mit wem kann ich noch darüber sprechen? Die anderen im Präsidium? Nein, eher nicht, jeder von ihnen hat seine Probleme. Hiermit schließt sich der Kreis und ich bin ein weiteres Mal bei Julius angekommen. Ich gebe ihm eine Kopie von meinen persönlichen Recherchen, vielleicht können wir zusammen die so offensichtlichen Unstimmigkeiten klären.‹
Sein Weg führte bergauf am Wiesenbachtal entlang bis zur Bundesstraße. ›So früh morgens ist noch nicht viel Verkehr‹, überquerte diese ohne Probleme. Er folgte dem Weg zu den Hünerberg Wiesen und weiter zum Altkönig. Unwillkürlich schmunzelte er, die Fußspuren vor ihm zeigten in dieselbe Richtung und waren ganz deutlich im Schnee zu sehen. Ein anderer Frühaufsteher war unterwegs. Er oder sie musste sich kurz vor ihm befinden.
›In der Vergangenheit sind mir selten Läufer begegnet, eher Spaziergänger oder Familien mit Kindern, die durch den Wald und über die Wiesen tobten. Ab und an auch mal Radfahrer und Jogger, sehr selten Langstreckenläufer.‹ Die aufkeimende Warnung im Hinterkopf ignorierte er, zu sehr wollte er endlich eine Entscheidung herbeiführen.
›Am Parkplatz in der großen Kurve schicke ich Julius eine Nachricht oder noch besser, ich rufe ihn an und wir verabreden uns.‹ Zufrieden nickte er, ›es fühlt sich gut an einen Bruder zu haben. Ach was soll´s, ich ruf ihn jetzt sofort an.‹ An der nächsten Weggabelung blieb er kurz stehen, fingerte das Handy aus der kleinen Tasche und wählte Julius Festnetznummer an. Bereits nach dem dritten Freizeichen hörte er die unverkennbare Stimme.
»Ja?!«, kurz und knapp antworten.
»Jens hier, hab ich Dich geweckt?!«
»Nein.«
»Hast Du Zeit? Können wir uns treffen?«
»Morgen. Wo?«
»Im Clubhaus? Oder doch besser ein neutraler Ort?«
»Bei Maxy´s, 19 Uhr.«
»Danke Julius, bis morgen«, verabschiedete er sich und freute sich auf das Treffen. Zufrieden verstaute er das Handy, aß den Proteinriegel, nahm noch einen Schluck aus der Flasche und lief weiter.
Schon aus der Entfernung sah er den großen schwarzen SUV auf dem Parkplatz stehen. An ihm abgestürzt eine Frau mit ihrem leuchtend orangenen Oberteil und Pferdeschwanz, die ihre Dehnübungen absolvierte. Mit jedem weiteren Schritt freute er sich mehr auf ihre Begegnung.
›Wow, muss die heißblütig sein. Bei der Kälte, hat sie die Jacke fast bis zum Bauchnabel offen und trägt nur einen der schicken Sport BH‹, grinste er und vergaß sofort die Strapazen des Anstiegs. Rasch überquerte er die Straße, sein Herzschlag erhöhte sich, als sie ihm zuwinkte.
»Hey, Du bist aber früh unterwegs«, flirtete sie unmissverständlich.
»Du aber auch«, grinste er von einem Ohr bis zum anderen. Sie streckte sich und ließ ihre Augen frech über seinen Körper wandern.
»Du bist gut in Form« schmeichelte sie ihm und zog ihn regelrecht mit Blicken aus. Absichtlich beugte sie sich etwas vor, damit er ihr sexy Oberteil unter der Jacke bewundern konnte.
›Oh Mann, das ist eindeutig‹, dachte er und sein Blick saugte sich in ihrem Dekolletee fest. ›Sie friert, ich kann ihre Gänsehaut ganz deutlich sehen. Autsch‹, instinktiv griff er mit der Hand zum Hals. ›Was hat mich gerade gestochen?‹, war sein letzter Gedanke, bevor er bewusstlos zu Boden sank.
Das nächste, was er registrierte, waren Stimmen, die dumpf durch den Nebel in seinem Kopf drangen. Ihm war übel, er versuchte sich zu bewegen, spürte allerdings weder Arme noch Beine, dann schwanden ihm die Sinne und er kehrte in die Bewusstlosigkeit zurück.
Rütteln und holpern verstärkten die rasenden Kopfschmerzen auf ein Maximum. Er würgte und ein widerlicher Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Schwacher Lichtschein drang durch das grobe Gewebe der Kapuze auf dem Gesicht. Er lag gefesselt auf dem Boden in einem Fahrzeug, das langsam über eine schlechte Straße oder gar Feldweg gelenkt wurde.
»Er wird wach.«
»Kein Problem, wir sind gleich da. Sitzt der Sack?!«
»Ja, alles bestens.«
Jens spürte wie der Fahrer ruckartig das Fahrzeug rechts und links lenkte und fühlte den harten Schlag an der Schulter, als das Rad in ein tiefes Schlagloch geriet. Sein Körper schmerzte, die auf den Rücken gefesselten Hände waren eiskalt und die Füße fühlten sich an wie aus Blei. Unvermittelt blieb der Wagen stehen, doch der Fahrer ließ den Motor weiterlaufen. Als sich die Tür öffnete, drang ein leichter Geruch von frisch gesägtem Nadelholz gemischt mit stinkenden Dieselabgase in das Innere des Autos.
›Verdammt noch mal, was war passiert?‹, versuchte er, die Geschehnisse zu erfassen. Mit eisernem Griff packte jemand seine Beine und zerrte ihn rabiat aus dem Fahrzeug. Sein Kopf schlug gegen den Türholm als starke Hände ihn ergriffen und auf die Füße stellten. Deutlich hörbar stöhnte er auf. Der eisige Wind ließ ihn frösteln und Erinnerungsfetzen bahnten sich ihren Weg, doch ergaben sie kein komplettes Bild, sondern eher einen Flickenteppich mit riesigen Löchern. Schwindel und Übelkeit vermischten sich zu einem Cocktail aus Gefühlen. Abrupt blieb er stehen,
›ich will nicht mit ihnen gehen, es muss noch eine Alternative geben.‹ langsam kehrte seine Entschlossenheit zurück.
›Was um alles in der Welt haben die mir gegeben, es ist nur noch Watte in meinem Kopf.‹ Der harte Stoß in seinem Rücken gab ihm die Richtung vor.
»Geh!«, befahl eine kalte, erbarmungslose Stimme direkt neben dem Ohr. »Er will Dich in einem Stück. Mir ist das egal, ich liefere Dich auch scheibchenweise bei ihm ab.«
Sadismus tropfte aus den Worten und die Freude am Quälen und Schmerzen zufügen war deutlich hörbar. Sein Oberarm wurde mit stählernem Griff gepackt, der keinerlei Gegenwehr duldete und ihn unerbittlich vorwärtsdrängte. Reflexartig drehte er sich weg und machte einen abrupten Schritt zur Seite. Jens fühlte zuerst den Schmerz durch seinen Körper rasen, bevor er den gezielten Hieb in den Nieren registrierte und laut aufstöhnte.
›Der Kerl weiß wie es geht‹, dachte er, als sich ein Daumen in die Innenseite des Oberarmes bohrte und präzise den Nerv traf.
»Gib Ruhe und mach, was ich Dir sag! Oder es wird mir ein Vergnügen sein, Dich auseinander zu nehmen«, hörte er deutlich die Vorfreude des Sadisten.
»Ja«, klang seine Stimme dumpf unter der Kapuze hervor. ›Denk nach, los streng dich an‹, befahl er sich. ›Das Handy, es scheint noch da zu sein. Der Tracker ist weg‹, stellte er beunruhigt fest. Wenige Schritte später vernahm er eine neue Stimme, die ihm bekannt vorkam. ›Verflucht, erinnere Dich! An wen erinnerte sie dich?!‹
»Sehr gut, ihr habt ihn gefunden. Bringt unseren Gast in sein Quartier, er soll sich etwas erholen.«
›Die Tonlage, an wen erinnert mich die Tonlage?!‹
»Bewegung, Du hast gehört, was der Chef gesagt hat. Vorwärts.« Eskortiert von zwei Männern wurde er in ein Gebäude gebracht. Feuchter, modriger Geruch stieg ihm in die Nase. Durch den Sack erkannte er weiter nichts als verwischte Umrisse. Gleich darauf stiegen sie eine kurze Treppe mit wenigen Stufen hinunter, es wurde merklich wärmer und von irgendwo her brummte ein Aggregat. Danach hallten ihre Schritte auf dem Steinboden in einem langen Flur wieder. Erneut ging es diesmal achtzehn Treppenstufen hinab, automatisch hatte er mitgezählt. Der neue Gang war deutlich schmaler und mit einem Betonboden ausgestattet, schätze Jens. Nach wenigen Metern blieben sie stehen. Er hörte das metallische Klimpern von Schlüsseln, ein Riegel wurde aufgeschoben und unverkennbar eine Tür geöffnet. Die engen Handfesseln lösten sich ein klein wenig und mit einem kräftigen Stoß im Rücken stolperte er in den Raum. Er find den Sturz so gut es ging mit der Schulter ab, bevor er mit dem Kopf aufschlug. Jens hatte keine Chance zu reagieren, hart schloss sich die Tür. Er hörte die Verriegelung einrasten und ein heißeres hämisches Lachen im Gang.
›Anfänger‹, ärgerte er sich, ›wie konnten sie mich so leicht überrumpeln?‹ Geschickt drehte er seine Hände aus der gelockerten Fessel und setzte sich auf. Eilig zog er sich den Sack vom Kopf und sah sich in dem kleinen Raum um. Unwillkürlich rieb Jens sich dabei die schmerzende Schulter und massierte die Handgelenke. Drei auf drei Meter schätzte er, mit weiß verputzten Wände leider ohne ein Fenster. Das Feldbett mit sauber bezogener Bettdecke und Kopfkissen stand ihm gegenüber an der Wand. Suchend drehte er sich um, es gab weder einen Schrank noch ein Tisch oder einen Stuhl. Dafür entdeckte er ein altertümliches Waschbecken aus weißer Keramik mit einem kurzen silbernen Wasserhahn direkt in der Wand darüber. Skeptisch besah er sich das WC und stellte erleichtert fest, das es ebenfalls blitzsauber war. Der ganze Raum erschien ihm regelrecht klinisch rein, fast schon steril zu sein. Kein Staubflöckchen, oder Fussel, nichts. Eine Glühbirne mit feinem Maschendraht versehene leuchtete von der Decke. Schnell schritt er zur Tür.
›Massivholz mit Kontrollfenster und einer Klappe in der Mitte, wie im Knast vor fünfzig Jahren‹, beendete er die Bestandsaufnahme seiner Unterbringung. Jens griff nach dem Handy unter der Jacke.
›Verflucht noch eins, sie haben es gefunden‹, stellte er ärgerlich fest.
Die Kopfschmerzen hatten endlich nachgelassen, ›ich muss dringend etwas trinken, dann kann ich besser nachdenken, wie meine weiteren Schritte aussehen‹, überlegte er. Rasch drehte er den Wasserhahn auf und sah erstaunt, klares sauberes Wasser heraus fließen. Vorsichtig hielt er seine Hand darunter und roch zur Sicherheit nochmals an ihr, konnte allerdings nichts Ungewöhnliches daran feststellen. Begierig trank er hastig aus der hohlen Hand.
›Nicht zu schnell, lieber langsam und beständig‹, rief er sich zur Ordnung. ›Jetzt denkst du nach, wie das passiert ist‹, befahl er sich. ›Um 5 Uhr bin ich aufgestanden, gegen 5: 30 Uhr habe ich das Haus verlassen und meine übliche Strecke gewählt. Ungefähr 20 Minuten später habe ich die Fußspuren im frisch gefallenen Schnee gesehen. 6: 15 Uhr war mein Anruf bei Julius, wir haben uns für morgen Abend verabredet und kurz später bin ich der heißen Braut begegnet.‹ Jens nickte zur Bestätigung, ›sie war die Falle, in die ich Idiot blindlings getappt bin.‹
Ernüchtert setzte er sich auf das Feldbett.
›Dann fühlte ich den Stich am Hals. Das Nächste an was ich mich erinnere, ist ein Teil der Unterhaltung -da ist er zufrieden. Besser konnte es nicht laufen, Blödmann-.‹ Konzentriert schloss er für einen Augenblick die Augen. ›Dann sind wir hier angekommen, ich wurde bereits erwartet. Es ist eine gezielte Entführung meiner Person. Aber Warum? Was wollen die von mir? Wissen die, dass ich noch einige Tage Urlaub habe und mich niemand im Kommissariat vermissen wird? Was ist mit Julius? Sucht er mich, oder glaubt er, ich habe es mir anders überlegt und ihn versetzt?‹ Egal wie er es drehte und wendete, offiziell würde Melanie erst zu Beginn der nächsten Woche nach ihm suchen lassen.