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2. Menschen und Migrationen

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Die territoriale Entwicklung des römisch-deutschen Reichs sowie Polen-Litauens stabilisierte sich im frühen 16. Jahrhundert und schuf in der deutschpolnischen Kontaktzone Grenzen, die bis ins 18. Jahrhundert unverändert blieben. Dabei verlief die politische Grenze zwischen beiden Verbänden nicht entlang der ethnischen Grenzen: Unter den habsburgischen Herrschern verfestigte sich die Zugehörigkeit Schlesiens zur Krone Böhmen und damit zum Reich, wodurch größere polnischsprachige Bevölkerungsgruppen Schlesiens ebenfalls ins Reich integriert wurden. Zugleich wurde nach der Inkorporation des Königlichen Preußens (1454/66) mit der Säkularisierung des Ordens im Preußenland auch das Herzogtum Preußen zum polnischen Lehnsherzogtum (1525); nach dem Zusammenbruch Altlivlands (1561) fielen schließlich Kur- und Livland an Polen-Litauen. Diese Prozesse hatten zur Folge, dass größere deutschsprachige Gesellschaft en mit Adligen, Geistlichkeit, Bürgertum und – im Falle Preußens – auch deutschsprachigen Bauern Teile Polens wurden.

In der Frühen Neuzeit stößt die Ermittlung der Bevölkerungszahlen und der ethnischen Verhältnisse auf erhebliche Quellenprobleme. Nach Schätzungen lebten in Polen-Litauen an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert 6,7–7 Millionen Menschen. Bis 1580 wuchs die Bevölkerung auf 7,5 Millionen, was eine Bevölkerungsdichte von 9 Personen/km² ergibt. Dabei lebte die Bevölkerungsmehrheit in der Krone Polen (15 Personen/km²), in Litauen dagegen lebten nur 5 Personen/km².19 Die deutschen Länder waren deutlich dichter besiedelt, auch wuchs dort im 16. Jahrhundert die Bevölkerung rascher: Um 1550 sollen im römisch-deutschen Reich 12 Millionen Menschen gelebt haben (29 Personen/km²), bis 1600 wuchs die Bevölkerung auf 16,2 Millionen (33 Personen/km², jeweils ohne Böhmen). Zudem lebten unter den 6,5 Millionen Untertanen der Habsburger außerhalb Österreichs ebenfalls um 1600 nicht ganz 2 Millionen Deutschsprachige in der Krone Böhmen und Westungarn. Die zeitgenössischen Chronisten bemerkten insbesondere einen deutlichen Bevölkerungszuwachs in Bayern, Schwaben und im Rheinland. Der schwäbisch-fränkische Theologe Sebastian Frank beklagte sich in seinem »Germaniae chronicon – Chronica des gantzen Teutschen Lands« (1539), es gebe „aller welt volck genoug […], und ist dennoch allezeit mit solchem überfluss besetzt, dass doerffer und stett zerinnen wellen“.20

Im frühneuzeitlichen Europa ist ein Gefälle in der Bevölkerungsdichte von Süd nach Nord und von West nach Ost zu erkennen, was insbesondere die Migration in die Territorien im östlichen Europa vielversprechend werden ließ, da dort ungenutzte oder nur extensiv ausgebeutete landwirtschaftliche Gebiete zur Verfügung standen. Der Norden dagegen war weniger interessant, auch deshalb, weil die europaweite Abkühlung in der „kleinen Eiszeit“ den Ackerbau in Grenzertragsregionen unattraktiv machte. Da die europäische Bevölkerung im 16. und erneut im 18. Jahrhundert stark wuchs, führte dies auch im deutsch-polnischen Kontext zu einer West-Ost-Migration, die sich erst um 1830/48 – dann auch aus politischen Gründen – in die bis heute vorherrschende Ost-West-Migration umkehrte. Polen wanderten dagegen in der Frühen Neuzeit kaum ins Alte Reich ein, deshalb gab es in den größeren deutschen Städten im Unterschied zum 19. und 20. Jahrhundert keine polnischsprachigen Bevölkerungen oder polnische Viertel. Eine Ausnahme bildeten nur Adlige, die sich zu Bildungsreisen im deutschen Sprachraum aufhielten, sowie konfessionelle Migranten.

Die Unterschiede waren insbesondere zwischen dem dicht besiedelten Süd- und Westdeutschland, aber auch zwischen Böhmen und Schlesien auf der einen und dem dünner besiedelten Polen-Litauen auf der anderen Seite spürbar. Vor allem zwischen Süd- und Westdeutschland und Südpolen entwickelte sich eine Migration von West nach Ost, die durch die stabilen Rechtsverhältnisse und die lange Friedenszeit in der Krone Polen im späten 15. und 16. Jahrhundert begünstigt wurde. Die deutschen Zuwanderer, darunter auch größere jüdische Gruppen, ließen sich mit Vorliebe in den städtischen Zentren entlang des Handelsweges auf der Nordseite der Karpaten in Richtung Schwarzes Meer nieder. Die Städte auf der Linie Breslau – Krakau – Przemyśl – Lemberg garantierten den Zuwanderern eine schnelle Eingliederung in den Warenaustausch zwischen Westeuropa und dem Schwarzmeerraum. Von Krakaus 20.000–25.000 Einwohnern des 16. Jahrhunderts stammten ca. 20–25 % aus ursprünglich deutschsprachigen Familien.

Große Bedeutung besaß auch der Silber- und Salzbergbau in Böhmen, Oberungarn sowie in den bei Krakau gelegenen Orten Wieliczka und Bochnia. An der Migration in Richtung der polnisch-litauischen Territorien waren vor allem Menschen aus Böhmen, Schlesien, Franken, Schwaben und dem Rheinland beteiligt, das heißt aus den wirtschaftlich entwickelteren deutschen Territorien. Die deutschsprachigen Eliten Krakaus oder Lembergs zu Beginn des 16. Jahrhunderts stammten von hier.21 Dagegen wichen im Norden der deutsch-polnischen Kontaktzone, in Pommern, Brandenburg, im Herzogtum Preußen und in der Neumark, die Lebensverhältnisse nicht von denen in Großpolen oder im Königlichen Preußen ab, im Gegenteil: Oft waren die Territorien auf der deutschen Seite spärlicher bevölkert, wirtschaftlich weniger entwickelt und in geringerem Maße mit Rohstoffen ausgestattet als auf der polnischen Seite. Die Zuwanderung Deutscher blieb relativ schwach und führte zumeist in den dünn besiedelten Grenzstreifen. Unter dem Patriziat und den bedeutendsten Vertretern der Krakauer Bürgerschaft war der Anteil von Zuwanderern aus Brandenburg, Mecklenburg oder Pommern gering. Auf der anderen Seite wanderten in die großen preußischen Städte (Danzig, Elbing, Thorn) Menschen aus den Hansestädten, aus den kleineren preußischen Orten und aus Masowien und Großpolen ein.

Während man die frühneuzeitliche Mobilität von Eliten (Patriziat, Adel, Kunsthandwerker und Künstler) in den Quellen relativ detailliert beschrieben finden kann, sind generalisierende Aussagen über die ethnischen Verhältnisse in der gesamten Bevölkerung kaum zu machen. Für das 16. und den Anfang des 17. Jahrhunderts liegen fiskalische Dokumente vor, für Polen vor allem die Register der Hufensteuer, der Rauchfangsteuer, der Kopfsteuer und der Lustrationen der königlichen Güter. Diese Materialien erlauben jedoch nur in begrenztem Maße Schlüsse über die ethnischen Verhältnisse (mit Ausnahme der jüdischen Gemeinschaft). Oft werden in den Akten Fragen einer Ethnizität überhaupt nicht berührt, da diese damals kaum jemanden interessierten.

Bestände, die eine genauere demographische Analyse für Mikrostudien ermöglichen und in denen die konfessionellen Verhältnisse dargelegt werden, das heißt Kirchenbücher über Heiraten, Taufen, Begräbnisse und die Kommunion Empfangende, sind für das 16. Jahrhundert selten. Dies betrifft protestantische Gotteshäuser wie auch katholische Kirchenbücher. In katholischen Pfarreien wurden solche Seelenregister erst deutlich nach den Bestimmungen des Konzils von Trient eingeführt und enthalten keine Angaben über die ethnischen Verhältnisse. Genauere Register stammen erst aus der Teilungszeit im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts. Überliefert sind sowohl polnische Verzeichnisse als auch Quellen der preußischen und österreichischen Teilungsmacht. Deshalb werden häufig Ergebnisse aus dem späten 18. oder frühen 19. Jahrhundert in das 17. oder 18. Jahrhundert extrapoliert. Solche Studien entstanden für konkrete Gegenwartszwecke und sollten ein historisch bedingtes Übergewicht von Deutschen oder Polen belegen, woraus dann wiederum Ansprüche abgeleitet wurden. Derartige Manipulationen oder Versuche, aus Namens- oder Konfessionsregistern beziehungsweise Berichten über die verwendete Sprache Aussagen über die Nationalität von Bevölkerungen zu machen, gehörten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Praxis auch ausgewiesener Wissenschaftler und zwingen heute zu einer umso sorgfältigeren Interpretation.

Während sich in den deutschen Territorien das starke Bevölkerungswachstum des 16. Jahrhunderts dank hoher Geburtenraten vollzog, deuten die Zahlen für die polnischen Städte darauf hin, dass hier vor allem die Landflucht, und darunter auch die Migration aus dem Westen, die Städte wachsen ließ. In Polen trug im 16. Jahrhundert die Einwanderung deutscher Bevölkerung aus den deutschen Territorien sowie aus Böhmen und Ungarn maßgeblich zum Wachstum bei. Dieser Trend hielt, wenn auch mit abgeschwächter Dynamik, bis 1648 an. Er unterlag lediglich einer Konfessionalisierung: Katholiken wanderten in die kleinpolnischen katholischen Städte ein, Lutheraner gingen nach Großpolen und ins polnische Preußen.

Der Dreißigjährige Krieg 1618–1648 bedeutete einen Einschnitt, denn er beendete das demographische Wachstum in Deutschland. Die Verluste durch unmittelbare Kriegshandlungen, Seuchen und Hungersnöte werden auf 25–49 % der Bevölkerung geschätzt. Man nimmt an, dass die deutsche Bevölkerung von über 17 Millionen auf zehn Millionen Menschen zurückging.22 In diese Verluste eingeschlossen sind auch Abwanderungen eines Teils der deutschen Bevölkerung nach Polen infolge der Kriegsnöte und des Drucks der Gegenreformation. Protestantische Böhmen und Schlesier wichen vor Krieg und Katholizismus über die Grenze nach Großpolen aus und gründeten dort, angelockt von günstigen Privilegien adliger Grundbesitzer, Städte und Siedlungen wie Rawicz (1638), Unruhstadt/Kargowa (1641) und Zaborowo (1644). Lissa, bereits seit dem 16. Jahrhundert ein Zentrum der Böhmischen Brüder in Großpolen, erlebte durch die Zuwanderung aus Böhmen und Schlesien einen Aufschwung. Die Ansiedlung in Polen wurde auch dadurch gefördert, dass die Grenze leicht überschreitbar und ein Besuch in den Heimatorten oder eine spätere Rückkehr jederzeit möglich waren.23

Daneben wanderten auch protestantische Eliten nach Polen aus: Dichter wie Martin Opitz und Andreas Gryphius gingen nach Thorn und Danzig (→ S. 128). In Danzig schrieben Autoren wie Johannes Mochinger. Königsberg im polnischen Lehnsherzogtum Preußen wurde zu einer Friedensinsel, in der in der Epoche Simon Dachs die Literatur blühte.24

Die Bevölkerung Polen-Litauens erreichte um 1648 mit ca. 10,5–11 Millionen Einwohnern ihren Höhepunkt. Danach wurde der Staatsverband durch die Kosakenaufstände, die Kriege mit Moskau, Schweden und dem Osmanischen Reich und deren tatarischen Verbündeten in vergleichbarem Maße wie das römisch-deutsche Reich im Dreißigjährigen Krieg zerstört. Die Bevölkerungsverluste erreichten 20–30 %. Ähnlich wie in den Kriegen zuvor reagierten die Menschen auch hier mit Abwanderung, nun aber von Ost nach West: Vor und nach dem Niederbrennen des protestantischen Lissa durch katholische Truppen (1656) flohen Polen nach Westen, in die Neumark, nach Brandenburg und Schlesien.

Während in den deutschen Territorien die Bevölkerungseinbußen des Dreißigjährigen Krieges bis zum Ende des 17. Jahrhunderts wieder aufgeholt wurden, erlitt Polen-Litauen im Großen Nordischen Krieg (1700–1721), außerdem durch eine verheerende Pestepidemie 1708–1712, erneut hohe Verluste, die bis zu einem Drittel der Einwohnerzahl betrugen.25 Betroffen war auch das östliche Preußen, in das anschließend Menschen aus Masowien sowie Salzburger einwanderten. In Polen-Litauen wurde die Bevölkerungszahl von 1648 erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder erreicht (1771: 12,1 Millionen Menschen). Ein Ergebnis dieser demographischen Verluste und der Migration lag in der Veränderung der Sozial- und Religionsstruktur. Während im Vergleich zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Protestanten zu einer kleinen Minderheit zusammenschmolzen, wuchs der Anteil der jüdischen Bevölkerung. Nach den Bevölkerungslisten von 1764/65 lebten in Polen-Litauen nun 750.000 Juden, ca. 8–10 % der gesamten Bevölkerung.

Nach dem ältesten Register jüdischer Bevölkerungen bildete in der Krone Polen Krakau das größte jüdische Zentrum; allerdings machten sich auch hier bereits die Privilegien de non tolerandis Judaeis bemerkbar, die Krakauer Juden wichen 1494 unter dem zunehmenden Druck in die Vorstadt Kazimierz aus. Zugleich fanden jüdische Bevölkerungen, die aus Böhmen und Schlesien verdrängt wurden, in Polen Zuflucht. Größere jüdische Siedlungen befanden sich in Posen, Gnesen, Lissa, Lemberg und Lublin, von Bedeutung waren auch die großpolnischen Gemeinden in Meseritz (Międzyrzecz), Inowrocław und Kalisz, im kleinpolnischen Sandomierz sowie in Chełm und Szczebrzeszyn in Rotreußen. Die raschen Urbanisierungsprozesse in Rotreußen, der Ukraine und Podolien führten dazu, dass in den dortigen Städten im 16. und 17. Jahrhundert umfangreiche jüdische Siedlungen entstanden, die vor Ort mit den ruthenischen Bevölkerungen und den auf den Handel spezialisierten Armeniern konkurrierten. Gehemmt wurde dieser Prozess durch die Aufstände der Kosaken (beginnend im Jahr 1648), die in zahllose Pogrome mündeten, da die Kosaken in den Juden wirtschaftliche Gegner, vor allem aber Verbündete des polnischen Adels sahen.26 Juden wanderten daraufh in stärker nach Litauen ab.

Nach dem Kopfsteuerregister von 1588 lebten in der Krone Polen mindestens 75.000 Juden, konzentriert vor allem in den Städten Groß- und Kleinpolens. In ganz Polen-Litauen wird die jüdische Bevölkerung Ende des 16. Jahrhunderts auf mindestens 150.000, manchmal auch auf 200.000 Menschen geschätzt. Ihre Zahl wuchs bis 1764/65 auf ca. 750.000 Menschen an.27 Das deutlich höhere Wachstum der jüdischen Bevölkerung wird auf bessere hygienische Verhältnisse und eine geringere Kindersterblichkeit sowie auf eine Verheiratung bereits in jugendlichem Alter zurückgeführt.28

Gerade in den auch deutsch besiedelten Regionen blieb der Anteil jüdischer Bevölkerung allerdings niedrig. Dies ist eine Folge der besagten Landesund Stadtprivilegien, keine jüdischen Bevölkerungen dulden zu müssen, mit denen die deutschen Stadtbürger die jüdische Konkurrenz zurückdrängten.29 Im Königlichen Preußen und im Ermland lebten nur wenige Juden, da sie sich dort lediglich in adligen Gütern ansiedeln durften. Jüdische Kaufleute wurden in Danzig und den anderen preußischen Städten allein zu Zeiten der Jahrmärkte geduldet und mussten sich gesonderte Geleitbriefe erkaufen. Dauerhaft konnten sie sich in den preußischen Städten erst nach den Teilungen Polens ansiedeln.

Deutsche und jüdische Stadtbürger erfüllten ähnliche Aufgaben: Sie waren in der handwerklichen Produktion tätig, vertrieben Textilien und Gewerbeprodukte und arbeiteten als Zwischenhändler.

Eine langfristige sozioökonomische Entwicklung führte in der Frühen Neuzeit zu einer Verdichtung und Intensivierung der ländlichen Besiedlung. Hier kamen mehrere Faktoren zusammen: Grundherren versuchten, durch eine „Peuplierung“ der eigenen Güter ihre Einnahmen zu erhöhen. Gerade jüngere Kinder aus Bauernfamilien oder an die Scholle gebundene Bauern suchten freien erblichen Besitz („Bauernflucht“). Lokatoren organisierten und förderten solche Siedlungsprozesse. Zu einem Thema einer deutsch-polnischen Verflechtungsgeschichte wird dieser Prozess, weil in der deutsch-polnischen Kontaktzone polnischsprachige Grundherren deutschsprachige Bauern ansiedelten, wie auch deutschsprachige Grundherren um polnischsprachige Bauern warben.

Eine Ansiedlung wurde durch entsprechende Bedingungen unterstützt, das heißt durch einen günstigen Rechtsstatus der Neusiedler, durch lange Freijahre, religiöse Freiheiten und niedrige Zinsleistungen. Dies betraf auch anderskonfessionelle Gruppen und kann beispielhaft vorgestellt werden. 1777 verkündete der Starost von Konin, Józef Mycielski: „Thue jedermänniglich kund und zu wissen, insonderheit, wem daran gelegen: dass es schon längst mein Wunsch und Wille gewesen, meine Erb-Stadt Sambter in einen besseren Stand zu setzen. Um so viel mehr aber, da Gott dieselbe durchs Feuer in einen Ruin gesetzet, veranstallte ich die Verbesserung derselben durch Aufnahme unterschiedlicher Kauff- und Handels-Leute wie auch Proffessionisten.

1tens. Ein jeder Glaubens-Genosse soll die Freyheit seiner Religion laut eingeführter Reichs Constitution sich zu erfreuen und zu genießen haben, ohne einige Hindernis. […]

8tens. Die gantze Synagoge befreye ich von der Zins-Abgabe, welches aufs Jahr zwey tausend pohlnische Gulden beträgt. Und dieses auf drey Jahr, und fängt an von dem Jahre 1776 von dem Tage St. Martini des Bischofs.

9tens. Ein jeder Wirth, welcher sich in meiner Synagoge etablirt, der soll im Stande seyn, ein von mir aufgebauttes Haus ohne Schulden zu erkauffen, oder eines zu erbauen, dabey aber im voraus noch ein gewisses haben, wodurch er seinen Unterhalt sich erwerben kann.“30

Solche Patente und Ansiedlungsbestimmungen in lateinischer, polnischer und deutscher Sprache finden sich in der Frühen Neuzeit zu Hunderten, sie enthalten verschiedene Erleichterungen für die Neusiedler und beschreiben oft auch Selbstverwaltungsrechte. Bemerkenswert ist, dass es im vorliegenden Fall dem Grundherrn gleichgültig war, welcher Religion und sicher auch Nation (daran dachte er gar nicht) die Ansiedler waren. In solche Siedlungsprozesse einbezogen waren – wie in dem gezeigten Beispiel – auch Juden.

Es gibt ethnologische Zeugnisse, die die Motive für die Auswanderung ins östliche Europa beschreiben. Pfälzische und württembergische Auswanderer dichteten im 18. Jahrhundert: „Jetzund ist es ausgemacht,/daß der Marsch geht nacher Polen; […] tretet eure Reise an, /in das Polnisch Canaan. /Allhir ist es nimmer gut, /dort in Polen ist es besser, /fasset einen neuen Muth, /dort gibt es auch volle Fässer; /bey dem Bier und Branden-Wein /kann man auch vergnüget seyn. […] Drum so hebe auf die Füß, /Springe über Stein und Erden, /In das Polnisch Canaan, /Wo man Honig gnug trifft an.“31 Gerade aus den dicht bevölkerten ländlichen Gegenden Württembergs und aus der Pfalz wanderten im 18. Jahrhundert Bauern nach Groß- und Zentralpolen aus.

Die Migranten brachten vielfach Praktiken mit, die in die Neusiedlungsregionen transferiert wurden, etwa die Dorfverfassung mit einem Schulzen an der Spitze, die auch in polnische Dorfgemeinschaft en übertragen wurde. Dies erfolgte nach dem Grundsatz „Das gute Recht verdrängt das schlechte Recht“: Polnischsprachige Bauern forderten im Kontext einer Ansiedlung deutschsprachiger Migranten von den Grundherren eine Besserstellung ein. Zudem wurden durch die Migration auch Neuerungen in der Agrartechnik übertragen.

Einen besonderen Fall bilden die so genannten „Holländer“ oder „Holländereien“. Hierbei handelte es sich um besondere Rechtsformen einer Ansiedlung von Bauern vor allem in wassertechnisch schwer beherrschbaren, aber potentiell fruchtbaren sumpfi gen Niederungsregionen. Die Bezeichnung rührt daher, dass im 16. Jahrhundert auch niederländische Glaubensflüchtlinge (vor allem Mennoniten) Ansiedlungskontrakte unterzeichneten. „Holländer“ (polnisch olędrzy), im Deutschen oft volksetymologisch zu „Hauländern“ umgeformt, waren Bauern, die sich (mit Freijahren und gegen Zinszahlung) vor allem entlang der Flüsse Weichsel und Bug niederließen. Dahinter verbirgt sich also keine ethnische Bezeichnung, „Holländer“ konnten niederländisch-, niederdeutsch- oder polnischsprachig sein. Sie brachten vor allem Entwässerungstechniken durch Mühlenanlagen sowie Erfahrungen im Dammbau mit.

Eine stärkere polnischsprachige Einwanderung fand im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit statt, vor allem im südlichen Preußenland (Ostpreußen), und führte dazu, dass die Region immer stärker polnischsprachig wurde. Die polnischen Ansiedler kamen vor allem aus Masowien und wurden „Masowier“ (Mazurzy) genannt. Im Deutschen wurden daraus die „Masuren“, die ganze Region erhielt jedoch erst im 19. Jahrhundert die Benennung „Masuren“ oder „die masurischen Kreise“.

Die zentralen Migrationsrichtungen blieben bis zu den Teilungen Polens unverändert. Im Jahre 1772 lebten in Polen-Litauen über 12 Millionen Menschen auf ca. 733.000 km². Im römisch-deutschen Reich lebten zu diesem Zeitpunkt 22 Millionen und in Preußen 8,7 Millionen Menschen. Durch die drei Teilungen 1772, 1793 und 1795 erhielt Preußen 141.000 km² mit ca. 2,6 Millionen Einwohnern, die Habsburger erhielten 135.000 km² mit ca. 3,8 Millionen Menschen; der flächenmäßig (aber nicht hinsichtlich der Bevölkerungszahl) mit Abstand größte Anteil fiel an das Russländische Reich. Die deutschen Teilungsmächte gliederten nur im Königlichen Preußen und im Ermland deutschsprachige Bevölkerungen in ihre Staatsverbände ein, vor allem in den großen Städten Danzig, Elbing und Thorn und den sie umgebenden Landgebieten. Es gibt keine Möglichkeiten – wie bei den Juden –, die Größe der deutschen Bevölkerung in Polen-Litauen vor den Teilungen oder unmittelbar danach zu fassen, dasselbe gilt für die polnische Bevölkerung im Alten Reich.

Möglich ist dies nur für die großen Städte im Königlichen Preußen: Auf der Basis von aggregierten Daten aus Danziger Kirchenbüchern lässt sich ermitteln, dass dort 1691–1695 im Schnitt 63 200 Menschen lebten, 1696–1700 63 700.32 Es handelt sich dabei um die Bevölkerung innerhalb der Stadt, hinzuzählen muss man noch 5000–7000 Einwohner der Vorstädte und der Danziger Dörfer, so dass dort um 1700 an die 70.000, weitgehend deutschsprachige, Einwohner lebten. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts war Danzig nicht nur die größte Stadt Polen-Litauens, sondern auch die größte Metropole Mitteleuropas überhaupt, größer als Köln, Augsburg oder Prag.33

Danzig verlor diese Position als größte Stadt Polens erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an die sich dynamisch entwickelnde Hauptstadt Warschau, die um 1750 über 50.000 und um 1790 100.000 Einwohner zählte. Nach den Teilungen sank die Zahl im nun preußischen Warschau 1797/98 auf ca. 75.000 Einwohner. Trotz der preußischen Zählungen zu Beginn des 18. Jahrhunderts ist die Zahl der deutschsprachigen Warschauer nicht bestimmbar. Zu ihnen zählte ein großer Teil der ca. 5000 (1775) und 6133 (1791) in Warschau gemeldeten Protestanten, aber es gab natürlich auch polnischsprachige Protestanten, ebenso deutschsprachige Katholiken.34

Den territorialen Veränderungen im Zuge der Teilungen folgten nach 1772 Versuche einer Ansiedlung deutschsprachiger Kolonisten. Die preußischen, österreichischen wie auch die russischen Behörden bemühten sich, mit dem Ziel einer Verbesserung der Wirtschaftsstruktur, deutschsprachige Siedler anzuwerben. Insbesondere im preußischen Fall sollte damit auch die als unterentwickelt angesehene „polnische Wirtschaft“ angehoben werden (→ S. 104). Insgesamt blieben die Einwandererzahlen jedoch gering: In die von Preußen annektierten Territorien kamen trotz intensiver Anwerbungsversuche zwischen 1772 und 1806 nicht mehr als 30.000 Menschen, eine gleich große Zahl wurde durch die rigide preußische Ordnungspolitik zur Auswanderung genötigt oder abgeschoben (Mennoniten, Juden).35

19 KUKLO, Cezary: Demografi a Rzeczypospolitej przedrozbiorowej, S. 212f.

20 PFISTER, Christian (Hrsg.): Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500– 1800, S. 11.

21 NOGA, Zdzisław (Hrsg.): Elita władzy miasta Krakowa; Noga: Krakowska rada miejska w XVI wieku, S. 166–192; Dmitreva, Marina /Lambrecht, Karen (Hrsg.): Krakau, Prag und Wien.

22 PFISTER, Christian (Hrsg.): Bevölkerungsgeschichte, S. 10.

23 DEVENTER, Jörg: Nicht in die Ferne, nicht in die Fremde? Konfessionsmigration im schlesisch-polnischen Grenzraum im 17. Jahrhundert, in: Bahlcke, Joachim (Hrsg.): Glaubensflüchtlinge, S. 95–118.

24 GARBER, Klaus u.a. (Hrsg.): Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit; Beckmann, Sabine /Garber, Klaus (Hrsg.): Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils.

25 KUKLO, Cezary: Demografia, S. 212–213.

26 STAMPFER, Shaul: Jewish Population Patterns in Pre-Partition Lithuania and Some of Their Implications, in: Scripta Hierosolymitana 38 (1998). Studies in the History of the Jews in Old Poland in honor of Jacob Goldberg, S. 189–223; Stampfer, Shaul: What actually happened to the Jews of Ukraine in 1648?, in: Jewish History 17 (2003), 2, S. 207–227.

27 KUKLO: Demografia, S. 222.

28 HEYDE, Jürgen: Jüdische Eliten in Polen zu Beginn der Frühen Neuzeit.

29 Vgl. das Themenheft des Kwartalnik Historii Żydów, H. 3/2003: Żydzi i mieszczanie w Polsce przedrozbiorowej /Jews and Burghers in the Republic of Nobles.

30 KOSSMANN, Oskar: Deutsche in Polen. Siedlungsurkunden 16.–19. Jahrhundert, Viersen o.J. [1996], S. 270–273.

31 ebd., S. 285.

32 BASZANOWSKI, Jan: Przemiany demograficzne w Gdańsku w latach 1601–1845 w świetle tabel ruchu naturalnego, Gdańsk 1995, S. 142–143, Tab. 2.9.

33 KIZIK, Edmund: Danzig, in: Adam, Wolfgang /Westphal, Siegrid (Hrsg.): Handbuch kultureller Zentren der frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum, Berlin-Boston 2012, Band 1, S. 284f.

34 SZYMKIEWICZ, Samuel: Warszawa na przełomie XVIII i XIX w. w świetle pomiarów i spisów, Warszawa 1959, S. 135, Tab. 18.

35 Bömelburg, Hans-Jürgen: Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat, S. 421–461.

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