Читать книгу Flieh zu den Sternen - Eduard Breimann - Страница 4

Eins

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„Nick! Alte Lebensregel: Wenn du diese Scheißangst hast, dann lauf weg.“

Die Stimme war laut, pochte und klopfte an die Schädeldecke, wiederholte ständig „… dann lauf weg!“. Einen Augenblick lang dachte er, sein Freund stünde neben ihm. Immer wieder beschwor ihn die Stimme und löste doch nichts aus.

Die Beine bewegten sich Schritt für Schritt, führten ihn ohne sein Zutun auf das Tor zu. Die Halle, aus Beton errichtet, sah aus wie ein Bunker; nur das Tor und kleine Fenster, die verschmiert und undurchsichtig im Sonnenlicht lagen, lockerten die Front etwas auf.

Er war noch ein Stück weit weg von dem Bau, schaute auf das Tor und das Dämmerlicht, das dahinter sichtbar wurde, je näher er kam. Er glaubte den Moder zu riechen, der stärker geworden war, seitdem die Arbeiter die Halle verlassen hatten. Schon von weitem sah er die ölig glänzenden Betonplatten, die Schleifspuren, die Bootskiele geritzt hatten, wenn sie von den Slipwagen heruntergezogen wurden.

„Nie mehr! Nie mehr, geh ich da rein – nicht mit diesem Dreckskerl“, hatte er sich vorgenommen und das schwor er nach jedem Mal verzweifelter. Doch dann fühlte er umso schmerzhafter sein Versagen, begriff, dass seine Schwüre nur Luft waren, nichts als ein lauer Wind.

„Eher sterbe ich“, hatte er einmal zu Janosch gesagt. „Das ist kein Scherz.“

„Mach das lieber nicht. Dann fressen dich die Würmer und das macht auch keinen Spaß“, hat Janosch geantwortet und dabei seine langen Haare nach hinten geworfen und gegrinst. „Schlechter als tot sein geht gar nicht. Dann siehste auch nicht mehr so gut aus“.

„Doch, geht wohl! Janosch weiß gar nichts. – Manchmal ist der so kalt, versteht einfach nicht, wie das hier ist“, dachte er. „Ich sehe doch jetzt schon Scheiße aus.“

Er wusste nur zu gut wie er aussah. ‚Dürr’ sagte seine Mutter, ‚Schlackes’ nannten ihn andere Jungen – wenn sie nicht Krüppel sagten. In seinem schmalen Gesicht dominierten die großen wasserblauen Augen; sein aschblondes Haar hing ihm in die Stirn. Für den Friseur gab er nie Geld aus, das machte Janosch kostenlos mit einer Nagelschere. „Bist ein hübscher Junge“, sagte der hinter der Tür immer – und darum fand er sich hässlich.

Er spürte die Sonnenwärme auf dem Kopf und fror doch entsetzlich; Kälteschauer rannen vom Nacken bis zum Gesäß. Noch drei Schritte bis zum Toreingang, bis zum Dämmerlicht, und dann noch einmal gut fünfzig Schritte bis zur Hölle auf Erden.

Er stockte, genau auf der Grenze zwischen Dunkel und Hell, zwischen Leben und Tod, zitterte von der Kopfhaut bis zu den Zehen. Er hasste das alles, diesen Körper, der gegen seinen Willen benutzt wurde.

„Was wäre das schön, wenn man keinen hätte. Keiner könnte dann … Man würde einfach so ein Geist sein. Wofür braucht man den bloß? Für solche Schweine?“

Der Speichel schoss ihm in den Mund. Er bemerkte es nicht, war schon fast körperlos. Als er in die Halle trat, riss er die Augen auf. Er wusste, dass er für Sekunden blind sein würde, schaute hoch zu den Stahlträgern, auf die das Licht aus den hohen Fenstern fiel und an denen Ketten und Drahtseile hingen. Langsam weiteten sich seine Pupillen; schemenhaft sah er die Holzkisten, die leeren Werkbänke, die ringsum an den Wänden standen. Er wusste genau, wie sie aussahen; ihre Arbeitsplatten waren schwarz, verbrannt von Schweißflammen, überall glitzerten Eisenspäne und Riefen zogen sich kreuz und quer über die Platten.

Am anderen Ende der Halle glimmte eine von Staub und Fliegendreck halbblinde Lampe; ihr Licht fiel auf eine Eisentür und eine zweistufige Treppe. Wenn sie brannte, war Er da, der Stinker. Früher war dahinter das Meisterbüro gewesen. Früher! Jetzt war da das Grauen, das ihm die Albträume brachte. Im Raum hinter dieser Tür war Er.

Wenn diese Lampe brannte, dann wartete Er. Er wusste es; es war so sicher wie die Tatsache, dass ihn seine Mutter niemals Nick, sondern nur Nikolaus nannte, obwohl er den Namen hasste – fast so sehr wie den Stiefvater, die Drecksau, die ihm gerade in den Hintern trat.

„Nein, weniger. So viel wie den kann man gar nichts anderes hassen. Doch, kann man. Diesen da im Meisterbüro, den ja. Den noch viel mehr. Bis zum Himmel und zurück zur Hölle. Ich hasse beide. Ich hasse sie!“

„Dann tu was! Schlag die Drecksau tot, wenn sie besoffen ist. Stich den Stinker ab.“

„Oh, nein! Ich kann das nicht.“

„Mach! Los, Nikolaus Bregulla! Lahmer Krüppel!“

Am Anfang hatte er gedacht, der Mann, den er in Gedanken – und auch gegenüber Janosch -– nur ‚Stinker’ nannte, der würde dort wohnen, hinter dieser Tür. Der Mann hinter der Tür war aber nur da, wenn er in diese ehemalige Bootswerkstatt ging – wenn er hinein gehen musste. Nur dann brannte diese Lampe, nur dann war die Tür nicht verschlossen. Das alles hatten Janosch und er längst festgestellt.

Auf der Rückseite des Gebäudes gab es noch eine Tür; sah genau so aus wie diese. Zu der Tür führte ein Weg aus schwarzer Asche; er zweigte von der Straße ab, die von der Unterwarnow kam und vor dem breiten Werkstatttor endete.

Hinter der Halle war Platz für zwei oder drei Autos. Janosch war sicher, dass der Stinker aus Warnemünde oder aus Rostock kam und genau hier sein Auto abstellte. „Bestimmt eine Edelkarosse, die so leise fährt, dass du sie erst hörst, wenn sie dich schon überrollt hat“, sagte Janosch, der diese Kisten angeblich hasste, aber hin und wieder den Wunsch äußerte, damit mal über den Sachsenring zu brettern, bis der Motor kotzen müsste.

Nick schluckte die Spucke herunter und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. In den Oberschenkeln zuckten die Muskeln, in der Leiste spürte er ein Ziehen, das sich bis zu den Pobacken hinzog und in seinen Ohren rauschte das Blut so laut, dass er das Grunzen des Mannes kaum hörte.

„Mach voran! Wachs nich an, Krüppel.“

„Wenn du diese Scheißangst hast, dann lauf weg!“

„Ja, ja. Aber wohin? Ich kann nur zu den Sternen fliehen, nur zu meinen Freunden.“

„Du sollst nicht weglaufen. Tu was! Wehr dich. Oder willst du uns kaputt machen?“

Die Hitze in seinem Kopf war kaum zu ertragen. Er fühlte sie wie die Sonne, dachte, dass sie sein Gehirn verbrennen würde. Er hatte Angst vor der Hitze, wusste nichts damit anzufangen. Er hasste diese Furcht, diese Scheißangst. Davon kam das doch alles.

„Wenn du diese Scheißangst hast, dann lauf weg. Lauf einfach weg. Auch wenn deine Beine nicht wollen. Lauf! Du bist schnell. Hau einfach ab“, sagte Janosch immer wieder; einen anderen Rat konnte der ihm auch nicht geben.

„Abhauen?“, fragte er sich flüchtig und ging trotzdem weiter, lief nicht weg. Wohin denn auch? Er musste es hinnehmen; abhauen war nicht. Wenn der Alte ihn einmal hatte, gab’s kein Entkommen mehr. Janosch hatte gut reden. Der da hinter ihm, der ihn mit den Fäusten durch die Halle trieb, dabei wie ein Schwein grunzte, der ihn Krüppel nannte und mit dem Knie in den Hintern stieß, der hatte hier und zu Hause das Sagen. Da gab’s nichts dran zu mäkeln. Nichts.

Er ging langsam weiter, tat so, als müsse er Ölflecken und Putzwolle ausweichen. Einfach Zeit gewinnen, obschon es ja nichts brachte.

„Zeit! Zeit! Vielleicht haut der Stinker ja ab, weil’s ihm zu lange dauert. Vielleicht fällt ein Flugzeug vom Himmel, direkt auf die Halle. Vielleicht geht die Welt unter. Vielleicht … Langsam, Nick!“

Neben der Tür lagen dicke Taue, aufgerollt, verdreht, ordentlich hoch gestapelt, wie Reifen. Da konnte sich ein dürrer Junge, so einer wie er, durchaus drin verstecken, ohne dass auch nur ein Haarbüschel rausschaute. Daran hat er schon mal gedacht. Flüchtig. Nur für alle Fälle. Neben und hinter den Tauen lagen Flaschenzüge und eine Menge von diesen Holzkisten gab‘s, die überall in der Halle herum standen. Niemand holte die ab, interessierte keinen. War ja auch nur Zeug drin, was keiner gebrauchen konnte: nicht mal Janosch. Lange, grob gezimmerte Kasten waren das, deren Inhalt sie untersucht hatten. Absolut nicht, was sie gebrauchen konnten. Das hieß schon was, denn sie konnten eine Menge gebrauchen. Sachen, die andere einfach wegwarfen: Nägel Schrauben oder gebrauchte Putzlappen.

Stattdessen waren da verbeulte Signalhörner, Ketten, Fallenstopper, verrostete Relingbeschläge, eine zerdepperte rote Positionsleuchte – „für Backbord“, hat Janosch gewusst–, abgenutzte Deckbürsten, Holzkeile und Eisenstangen für die Reling.

Auf der vordersten Kiste, direkt neben dem Gang zur Tür, lag ein Stück Tau. Hatte er selber dort abgelegt, quasi als Prüfmerkmal, ob einer dran gewesen war an der Kiste. In der war allerdings was drin, was schon einer gebrauchen konnte, etwas, was da normal nicht rein gehörte. Nur ein Gegenstand. Den hat er beim letzten Mal dort versteckt, als er mit Janosch hier war, um was über den Stinker zu erfahren. Hatte aber nichts gebracht. Rein gar nichts brachte die Suche nach dem Stinker, es war wie verhext.

Sie haben alles untersucht, nur den Raum am Ende der Halle nicht. Da kamen sie einfach nicht rein, der war durch diese Eisentür abgeschlossen – und innen zusätzlich noch mit Sperrbalken verrammelt. Bei der Tür draußen war’s genau so unmöglich.

„Etwas gibt es aber. Jeder Gangster macht Fehler. Nur finden müssten wir das“, hat Janosch behauptet.

„Beim nächsten Mal, also wenn ich davon weiß, dann flitze ich hinter die Werkstatt und versteck mich. Wenn dort eine Luxuskarre steht, schreib ich die Nummer auf. Dann haben wir das Schwein am Wickel. Wir erpressen den. Entweder der zahlt, oder wir zeigen den an. Der legt glatt eine Million hin, sollst sehen.“

Während Janosch sich mit einem Kettenzug durch die Halle schaukelte und „Störtebecker“ schrie, hat er das Springmesser in diese Kiste gesteckt. Leise, sehr leise, hat er es in den Holzboden der Kiste gedrückt – griffbereit. Mit einem Öllappen hat er es zugedeckt, und das Taustück auf die Kiste gelegt. Wofür? Er hatte keine Ahnung – höchstens ein Gefühl. Wie bei den Taurollen. Für alle Fälle eben.

Er schielte zur Kiste, berührte sie leicht mit der Außenseite des Turnschuhs, zwang sich, geradeaus zu schauen, auf den dreckigen Boden. Der Beton glänzte fettig. Ölschlieren färbten den Boden. Er dachte flüchtig an seine Turnschuhe, die nachher wieder diese elenden Flecken haben würden.

Von der Decke hingen Ketten mit Haken. Eine Laufkatze ohne Motor endete direkt vor der Tür. Der Raum roch nach Öl, altem Fett und geschichtetem Dreck. Er saugte den Geruch tief ein; hinter der Tür würde er nicht mehr atmen. Er verharrte vor der Eisentreppe und blickte auf das Metall der Tür, von dem die Farbe abblätterte. Seine Beine zitterten wie verrückt und im Mund war jetzt keine Spucke mehr.

„Mach! Los! Auf wat warteste?“, sagte der Mann hinter ihm und gab ihm einen Stoß zwischen die Schulterblätter.

Er fiel nach vorne, stützte sich auf der Treppenstufe ab und wollte gerne sterben. Jetzt, sofort. Nichts als tot sein konnte er sich wünschen; der einzig denkbare Ausweg aus dieser Scheiße.

„Sternenfreunde, wo seid ihr. Helft mir!“

„Soll ick dir Beine machen, Krüppel?“

Das Licht der Drahtgitterlampe reichte gerade, um die Tür und die zwei Stufen zu beleuchten. Er wusste, der Raum dahinter war fensterlos, würde noch dunkler sein als die Halle. Seine Hand war gefühllos, als er die Klinke herunter drückte; die Tür schwang lautlos auf. Der Raum war fast völlig dunkel. Die zwei Wandlampen mit roten, sehr dichten Schirmen, drüben an der anderen Wand, konnten die Dunkelheit nicht brechen; sie warfen rötliches Licht auf das Kopfkissen. Das Bett, fast so breit wie der ansonsten leere Raum, war das einzige Möbelstück.

Undeutlich erkannte er den Umriss der anderen Eisentür, direkt neben dem Bett. Diese Tür war abgeschlossen. Beim ersten Mal hat er versucht zu türmen, hat wie irre an der Klinke gerüttelt. Das war, als der Stinker ihn angefasst hat, als er Sachen verlangt hat, die er nicht tun wollte. Er hat es dann doch getan. Aber erst, als er nicht mehr anders konnte, weil er sonst sterben musste. Ihm wurde immer schlecht, richtig übel, so vom Bauch her, wenn er daran dachte.

„Komm her! Du bist spät dran, Kleiner. Hab nicht ewig Zeit.“

„Ich sterbe. Ich kotze. Ich möchte eine kleine Maus sein, eine Schabe, eine Spinne. Weg! Weg!“

„Steche ihm die Finger in die Augen. Mach was!“

„Ich kann nicht.“

Die Stimme von dem Stinker war eigentlich angenehm, nicht laut, hatte Volumen, klang harmonisch. Er hörte sie noch eine ganze Zeit danach und dachte immer, der Mann müsse riesig sein, mit einem Brustkorb, so groß wie ein Fass; nur wegen der Stimme.

Die Luft im Raum war angefüllt mit diesem Geruch; ihm war, als schwimme er darin, als müsse er darin ertrinken. Es war das, was sein Alter, der jetzt draußen vor der Tür stand, ‚Nuttenparfüm’ nannte. Seine Mutter hatte mal so was in der Art drauf gehabt, als sie aus der Stadt kam. Hatte zwar anders gerochen als das hier, aber es hatte ihn genau so benebelt. Dafür hatte sie von ihrem Kerl ordentlich Prügel gekriegt. „Nutte“, hatte der Alte sie genannt und den Geruch deshalb „Nuttenparfüm“ geschimpft.

Ihm war, als könne er ihn anfassen, ihn wegwischen oder wegpusten. Er hüllte ihn ein, drang durch die Nase und in den Rachenraum. Er wusste nicht, dass er diesen Duft in seinem ganzen Leben nicht vergessen würde, wusste nicht, dass die Duftstoffe über Riechepithel, bipolare Rezeptorzellen und Axone in sein Gehirn gelangen und sich dort einlagern würden – für sein ganzes Leben. Er ekelte sich vor dem ‚Gestank’, wie er ihn nur nannte – wie vor dem Mann, der im Dunkeln auf ihn wartete.

Noch nie hat er den gleichen Geruch draußen bemerkt; nicht in ihrer Wohnung und nicht in der Siedlung. Aber er wusste, dass er ihn nie mehr vergessen würde. Nie! Das wusste er so sicher, wie sonst nichts.

„Komm Kleiner, komm. Sei lieb zu mir.“

Er atmete nicht mehr durch die Nase, zog die Luft flach durch den Mund, stakste voran, zögerte, setzte noch einen Schritt vor, wartete. Hinter ihm knallte die Tür zu; der Sperrriegel ratschte über das Blech. Er sah den Stinker nicht, fühlte den Luftzug, als er dicht an seiner linken Seite vorbei ging.

„Gefangen! Keiner da, der mir hilft. Ich bin nicht mehr Nick. Doch! Ich fliehe. Ich geh zu meinen Sternenfreunden, zum Königsstern. Lass den hier machen, was er will. Ich bin nicht mehr hier. Er kann mich nicht festhalten.“

In seinem Kopf tat sich was. Er spürte die heiße Hand, die ihn zog, an seinen Sachen zerrte. Im Kopf tat sich was. Eine Welle, heiß, irre heiß, schoss durch den Schädel.

„Selbstmitleid hilft dir nicht. Du musst dich wehren. Hättest du bloß das Messer genommen, du Feigling. Ich hätte es ihm schon gesteckt.“

„Nein! Ich kann so was nicht. Nicht so was!“

„Tue’s! Verdammt, wir gehen sonst kaputt! Tue’s!“

„Nein! Nein!“

In seinem Kopf war Streit. Die Gedanken tobten wie wild und bewirkten nichts. Er wusste genau, was er tun musste – was. Er mit ihm tun würde. Er atmete nicht mehr.

Das Tageslicht blendete ihn, die Sonne stand schräg am Himmel; es war wohl schon Nachmittag. Sein Stiefvater stand vor der Hallentür; der Schatten fiel lang in den Eingang. Nick hielt die Rechte auf die Brust gepresst, wo er die schlimmsten Schmerzen hatte; es brannte wie Feuer.

„Brenne, brenne, Satan!“, hatte der Stinker gerufen, als er ihm das Kreuz in die Haut geritzt hatte.

„Oh, mein Gott, wie schön“, hatte der Stinker gestöhnt, als das Blut an seinen Seiten herunter lief.

Mit einem messingfarbenen Kreuz, mit gezacktem Querstück, hatte er ihm das Mal auf die Brust geschnitten und es danach bestimmt zehn Mal geküsst. Er hatte so starke Schmerzen gehabt, dass er vom Königsstern herunter kommen musste. Er hatte geglaubt sterben zu müssen und da wollte er lieber dabei sein, wenn’s soweit war.

„Gib her, Bursche! Wat hatta dir gegeben, der Arsch?“

Er ging steifbeinig durch die Halle auf den Mann zu, hielt ihm die beiden Scheine hin, die an seiner schweißnassen Hand klebten. Der Mann riss das Geld an sich, hielt es vor die Augen. Schwankend stand er da, zwinkerte mit den Augen, die ihm immer wieder wegrutschten.

„Zzz, Zzz. Zwo Fuffzicher! Na also! Hat sich dat doch überlegt, die Sau, wat ick dem angedroht hab. Hätte dem auch wat erzählt, wenn der nich verdoppelt hätte. Kannst dir ’ne Cola holen. Da.“

Der Mann, der sich sein Vater nannte, rülpste und schwankte, hielt ihm ein Geldstück hin; die Hand pendelte, bewegte sich vor seinem Gesicht hin und her, flatterte im gleichen Rhythmus wie der Stiefvater, der Mühe hatte, senkrecht zu stehen. Nick schlug die geballte Faust unter die Hand, blickte dem Geldstück nicht nach, das mit Lichtblitzen in die Luft flog, drehte weg und sprintete los, raus aus der Werkstatt, auf die ‚Tote Straße’. Die wütenden Schreie hinter ihm verhallten.

Die ‚Tote Straße’. So nannten sie das Asphaltstück, die ehemalige Zufahrtsstraße, die jetzt nirgendwo hin führte und die bei der Bootswerkstatt immer schmaler wurde, weil Gras und Unkräuter sich Jahr für Jahr von den Rändern aus vorarbeiteten und den Asphalt zerbröselten.

Er wurde langsamer, als er die ersten Stiche in der Seite spürte. Er konnte gut laufen, war schnell, weil er so oft auf der Flucht war.

„Wie eine Antilope in Afrika. Kennste die? Die sind auch immer auf der Flucht“, hatte Janosch gesagt, als er gesehen hatte, wie er vor der Drecksau weggelaufen war.

Er schaute sich um, glaubte weit genug weg zu sein. Der Dreckskerl war so besoffen, dass er ihn nicht einholen würde. Langsam setzte er sich auf den sonnenwarmen Bordstein und schaute noch einmal sichernd zurück zur Werkstatt. Von der Drecksau war nichts zu sehen. Weit hinten sah er den Ascheweg, der zum Fluss führte.

Von dort hatten sie früher die Boote hochgezogen. Damals brachten die Eigner sie, wenn sie repariert oder auf Hochglanz gebracht werden sollten, mit Trailern oder Slipwagen von der Unterwarnow zur Werkstatt. In Warnemünde, wo sich die ‚feinen Pinkel aus Berlin’ – so nannte Janosch die – ihre Luxusbuden gebaut hatten, gab’s jede Menge von diesen Jachten. Aber irgendwann war es vorbei gewesen. Sehr plötzlich, keiner hatte vorher was geahnt, wurde die Werkstatt geschlossen. Der Besitzer wurde verhaftet – keiner wusste warum – und die Arbeiter trafen sich ab sofort nur noch auf dem Arbeitsamt, das sie heute Agentur nannten, und machten da ihre Frühstückspause mit Broten, Thermoskanne und Bild-Zeitung. Seit der Zeit waren viele Männer aus der Siedlung arbeitslos. Na ja, und darum trafen sie sich in irgendeiner der Kneipen; meistens im ‚Störtebecker’, dieser versifften Kneipe, draußen im „alten Dorf“, da wo man anschreiben lassen konnte.

Das mit der Schließung war aber schon ein Jahr her und er konnte sich nicht mehr so richtig daran erinnern. Nur Janosch, dessen Vater früher auch hier gearbeitet hatte, der wusste es noch genau; er hatte sogar zugesehen, als sie das letzte Boot rausschleppten.

Nick betrachtete seine alten Turnschuhe, rubbelte sie aneinander, versuchte den Schmutz abzureiben. Es gab Jungs in der Siedlung, die mit ihren Tretern angeben konnten, die damit prahlten, dass sie nie was anderes anziehen würden als diese mit den drei Streifen. Deren Eltern verdienten gut, hatten Jobs in Warnemünde, bei der Werft oder in Restaurants, in denen sie von den Touristen dicke Trinkgelder erhielten. Das war eine andere Liga, mit denen konnte er nie reden; die schauten auf seine Füße und wussten Bescheid.

„Mit wem kann ich denn überhaupt reden?“, dachte er. „Nur mit Janosch, sonst mit niemandem. Auch nicht über meine Schuhe, die langsam auseinander fallen und über diese Scheiße sowieso nicht.“

Am Anfang hatte er überlegt, ob es einen geben könnte, den er um Hilfe bitten, der ihn beschützen könnte. Sogar an die Bullen hatte er kurz gedacht; aber nur ganz kurz. Dann war ihm aber klar geworden, was ihm drohte, wenn er es machen würde, wenn er tatsächlich jemandem von diesem „Pädophilen“, wie Janosch den nannte, erzählen würde; etwa dem Handballer vom Jugendamt. Das hatte ihm die Drecksau klar gemacht, hatte es ihm oft genug gesagt.

„Heim kriegste dann. Heim ist zig Mal schlimmer als Knast. Ick kenn dat!“ Der wusste Bescheid.

„Nie! Nie, werde ich einem was davon sagen können. Nie, nie geh ich ins Heim. Dann lieber das. Nein, das auch nicht. Lieber tot. Nur dem Janosch, dem ja, dem musste ich’s so ungefähr sagen. Dem musste ich’s erzählen. Der wusste es doch sowieso, ganz bestimmt wusste der es“, dachte er und war sicher, dass das gut war.

Nicht alles hatte er ihm sagen können, nein, das nicht. Das konnte und wollte er nicht mal denken. Er schämte sich so schon genug. Das legte er in einen Kasten in seinem Kopf, schloss ihn ab und warf den Schlüssel weg, damit er die Bilder nicht im Tagtraum sehen musste. Trotzdem büchsten die in der Nacht aus, krochen aus dem Kasten und überfluteten ihn.

„Stinker!“, hatte Janosch gesagt und auf den Boden gerotzt, als er genug wusste.

Besonders schlimm war das erste Mal gewesen. Da hat er noch nicht geahnt, was man alles mit ihm machen würde. Gut, seinen Stiefvater hat er da auch schon nicht gemocht – aber wegen anderer Sachen – und ihm fast jeden Scheiß zugetraut.

„Wäre ich damals bloß weggerannt“, hat er zum Janosch gesagt und erzählt, wie ihn die Drecksau, also der Stiefvater, zur Bierbude mitgenommen hat.

„Dann wär’s am nächsten oder übernächsten Tag passiert. Vor so was kannste nicht ewig weglaufen“, hat Janosch mit finsterem Blick gesagt. „Das kannste nur mit Gewalt beenden, wenn du weißt, was ich meine. – Aber erzähl mal. Wie hat der das gemacht?“

„Wie schon! Kriegst ’ne Limo. Kannst dir aussuchen, ob gelb oder grün, sagte der im Treppenhaus zu mir.“

Er hatte es kaum glauben können. Noch nie hatte der ihm was spendiert; auch keine Limo. Überhaupt nichts bekam er von dem – außer den Lederriemen. Aber der kaufte tatsächlich eine gelbe Limo.

„Komm mit nach hinten, hinter die Bude“, hat er zu ihm gesagt, als sie den Kiosk erreichten, wo ein paar dreckige Säufer seinen Stiefvater angrinsten; hinter der Bude war nur Wiese mit wilden Büschen. „Muss nicht jeder sehen, dat ick ne Bierpulle hab. Sonst fangen die an zu betteln, die Arschlöcher.“

Dann, hinter der Rückwand der Bude, als er gerade die Limoflasche in den Mund gesteckt hat, hat er ihn am Kragen gepackt und quer durchs Gebüsch, den ganzen Weg zur alten Bootswerkstatt, vor sich her geschoben; in der einen Hand seinen Nacken, in der anderen ein Handy.

„Meine Limo! Die war noch halbvoll“, hat er gerufen, als die ihm aus den Händen gerutscht und ins Gras gefallen ist.

„Halt dat Maul, Krüppel“, hat sein Stiefvater nur gesagt und eine Nummer ins Handy getippt.

„Bin bald da! Bring aber dat Moos mit. Allet klar!“, hat er ins Handy gequatscht

„Mann! Was hab ich denn gemacht?“, hat er den Stiefvater mit schlechtem Gewissen gefragt, weil er eben immer etwas gemacht hat.

Aber der hat nur gesagt: „Halt die Klappe, Krüppel. Wirst schon sehen. Is allet okayKriegst auch wat dafür. Flenn gefälligst nich. Siehs nich gut aus, wenn de verheult bis, verstehste? Dat mag der nich.“

Nein, das hat er nicht verstanden, überhaupt nichts hat er begriffen. Wen störte es, wenn er verheult war? Deshalb war die Angst in seinem Bauch immer höher gestiegen, bis in seinen Hals hinein. Fast hätte er sich in die Hose gemacht vor Unsicherheit und Furcht. Verdammt, was war das damals für ein Gefühl gewesen. Ein Scheißgefühl eben.

Irgendeinem musste er es danach einfach sagen. Sonst hätte es ihn zerrissen. Also hat er es Janosch erzählt; aber auch nur, weil der das Mal gesehen hat. Janosch sah und verstand alles; fast alles. Er war seit einiger Zeit sein Freund; sein einziger Freund auf dieser Welt. Wenn der nicht gewesen wäre, dann … Obwohl der Janosch manchmal zu ihm Sachen sagte wie ‚Looser’. Das sagte er aber nie um ihn zu ärgern. Das nicht.

„Kleiner, du bist ein Looser“, sagte er zum Beispiel, wenn ihn die von der Gang bei ihrem Völkerballspiel wieder mal als Ball benutzt hatten und ihm alle Rippen weh taten. Dann setzte er nach: „Wenn dir keiner hilft, dann bleibst du einer.“ Trotzdem mochte er Janosch.

Der Pfiff wollte gar nicht aufhören; er glaubte sogar das Quietschen der Bremsen zu hören. Weit hinten, da wo der bleigraue Himmel aufhörte, da war die Bahnlinie, auf der die S-Bahn fuhr. Das Motorgeräusch übertönte das Quietschen der Bremsen, wurde lauter und entfernte sich dann. Er hob den Kopf und schaute zurück, dahin, wo sich die Gebäude der Bootswerkstatt befanden. Er konnte sie von seiner Position aus nicht sehen, sie wurden von Gebüsch und Kiefern verdeckt. Ein weißer Sportwagen fuhr über den Ascheweg in Richtung Unterwarnow. Normalerweise hätte der über die ‚Tote Straße’, also an ihm vorbei, fahren müssen, wenn er nach Neu-Schwatoo wollte. So kam er jedenfalls nicht dorthin, höchstens nach Warnemünde.

„Das ist der Stinker. Das ist der! Jetzt müsste Janosch da im Gebüsch stecken und sich die Nummer von dem merken. Scheiße!“, dachte er und sagte laut „Du beschissener Stinker!“ Besser wurde ihm dabei nicht.

So oft hatten sie schon überlegt, wer das sein könnte, der Kindern missbrauchte und auch das Geld hatte, um die Drecksau zu bezahlen, die ihm die Jungen brachte. Wer hatte schon so viel Geld hier in der Siedlung? Kaum einer. Wenn, dann würde der das höchstens für Schnaps ausgeben – „oder für Addidasschuhe“, hatte er zu Janosch gesagt. Höchstens!

„Mann! Du musst den doch erkennen. So oft haste den schon gesehen, oder nicht? Wie sieht der aus?“, hat Janosch ihn gefragt.

„Fett. – Nein, mehr weiß ich nicht; mehr will ich nicht wissen. Irgendwie riesig und fett ist der.“

Janosch hat ihn ausgefragt, förmlich ausgequetscht, um etwas zu finden, bei dem sie anpacken konnten. Aber er wusste es nicht, wollte es nicht wissen.

„Ein dicker Kerl eben. Klamotten hab ich auch keine bei dem gesehen; der war ja nackt. – Halt! Da ist was! Stinken tut der! Nach etwas, von dem dir schlecht wird. Sauschlecht. Machen doch sonst nur Weiber, oder? Bin jedenfalls froh, dass ich seine Fratze nicht sehen musste. Träum sonst noch von dem.“

„Stinken tut der?“, fragte Janosch mit rollenden Augen. „Ist mehr als nichts. Wer weiß. Jedenfalls nennen wir das Schwein jetzt ‚Stinker’. Einen Namen muss alles haben, über das man reden will. Ich sage dann: ‚He, Nick. Den Stinker kriegen wir auch noch. Okay?“

„Okay“, hat er geantwortet und wenn er danach an diesen Mann dachte, war das Wort ‚Stinker’ in seinem Kopf.

„Hör zu, Kleiner“, hat Janosch beim letzten Mal gesagt. „Hör genau zu. Sei nicht sauer, verstehst du? Ich bin eben so was wie dein großer Bruder. So einer muss manchmal Sachen sagen, die sich nicht so gut anhören. Okay? Pass also auf und sei nicht sauer. – Du bist mein Freund. Okay? Du bist erst dreizehn und ich schon Fünfzehn. Dein Stiefvater ist ein Dreckskerl, der unter die Erde gehört. Okay? Der Typ, der das mit dir macht, dieser Stinker – wer immer das ist –, gehört da auch hin, aber vorher aufgehängt. Okay? Du bist schwach wie ein Mädchen, ohne Muckis und so, und deine Hand … Okay? Gut! Du bist nicht beleidigt? – Also: Wenn das aufhören soll, wenn du das hinter dich bringen willst – du willst doch? Dann brauchst du einen, der dir hilft, der die Scheiße irgendwie beendet. Okay? Ich bin der! Dann musst du aber auch das tun, was ich dir sage. Okay?“

„Mann, Janosch. So viele Sachen auf einmal. Ich hab nur ‚okay’ verstanden.“

„Macht nichts. Hauptsache, du bist mein Freund und machst, was ich dir sage. Okay?“

Mit dem linken Arm wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und legte den Kopf auf die Knie. Die Wunde auf der Brust brannte. Er wusste, dass er alles falsch machte, anders ging’s gar nicht. Janosch hatte schon Recht, wenn er ihm sagte, er müsse was dagegen tun, von alleine käme so was nie in Ordnung. Auch der ‚Andere’, der da in seinem Kopf ständig dieses Schuldgefühl machte, der sagte ihm das auch oft. Ja, er war ein Versager und an dem, was der Stinker mit ihm machte, daran war er auch Schuld, wenigstens teilweise. Anders ging’s gar nicht.

Nach jedem Mal dachte er daran, dass er wieder versagt hatte – und dann war er sicher, dass er die Schuld an dieser Sache hatte. Warum war er denn derjenige und nicht ein anderer Junge? Das kam doch nicht von alleine. Andere Jungs gab’s doch genug in der Siedlung. Solche, die keine Krüppel waren. Solche, denen es vielleicht weniger oder nichts ausmachen würde. Etwa der Dirk oder ein anderer aus der Bad Place Gang. Die heiße Welle schoss vom Hals her in den Kopf, drückte alle Gedanken an die Seite.

„Du hättest es auch tun können. Es wäre die Lösung gewesen. Du bist ein feiger Arsch, bist du. Du verrätst uns.“

„Nein! Dieses verfluchte Messer. Dafür hab ich’s nicht geklaut. Nicht für so was! Warum denke ich‚ uns’?“

Es war wirklich nicht sein Messer. Es stammte von diesem Dirk, der zur Bad Place Gang gehörte. Wahrscheinlich war er sogar ihr Boss. Aber das wusste Nick nicht genau. Die Jungs taten geheimnisvoll und wenn einer zuviel fragte, konnte er was auf die Nase kriegen – oder wurde beim Völkerball als Ball benutzt.

Dieser Dirk hatte damals angegeben wie ein Sack Seife, wie zehn Sack. Keiner sei so treffsicher beim Messerwurf wie er, hat er so laut getönt, dass er es auf der anderen Straßenseite, hinter dem Haltestellenunterstand, hören konnte.

Dieses Messer sei das Beste von der Welt; unter Einsatz des Lebens geklaut, im Waffengeschäft ‚Bresser’ in Warnemünde, hat er erzählt und sich dabei grinsend, Beifall heischend, bei seinen Gangmitgliedern umgeschaut.

„Du Angeberarsch“, hat er gedacht und sich geduckt, damit die ihn nicht entdeckten.

„Auf zehn Meter treffe ich alles, was nicht unsichtbar ist“, hat Dirk geschrien und seine Kumpel dabei angeschaut, als hoffe er, einer würde dagegen halten.

Tat doch nie einer. Oh ja. Dieser Dirk war gefährlich; mit und ohne Messer. Wie üblich standen die damals auf der Treppe am Eingang ihres Wohnsilos. Da kam man nur ungeschoren durch, wenn man erwachsen war oder dickere Arme hatte als dieser Dirk. Aber wer hatte die schon? Er, Nick, schon mal gar nicht. Deshalb ging er oft hinten rein und raus, durch den Fahrradkeller, der auf die Parallelstraße führte. Aber das war halt ein Umweg, wenn er zu seiner Höhle wollte.

Jedenfalls lungerten die Gangmitglieder ständig da rum, verprügelten kleinere und schwächere Jungen und vor allen Dingen begrapschten sie die Mädchen, die im Plattenbau wohnten. Sie kniffen ihnen in die Brüste oder fassten sogar zwischen ihre Beine. Dabei redeten die ein Zeugs, das sie für cool hielten und woraufhin die meisten Mädchen rot wurden und so was wie ‚Säue’ riefen. Aber nicht alle. Da waren auch welche, die das gerne hatten und lachten; die regten sich nicht mal auf, wenn die Jungs sie befummelten.

Er hatte sich an dem Tag im wuchernden Gras gegenüber vom Haus versteckt; genau hinter dem Unterstand der Haltestelle, vor dem mannshohen Brombeergebüsch. Da lag er immer, wenn er darauf wartete, dass sein Alter auf Tour ging und seine Mutter das Signal gab. Dann wusste er genau, dass die Luft rein war und er zur Wohnung hoch konnte. Das Brombeergebüsch, gewölbt geformt, mannshoch gewachsen, war seine Höhle, die ‚Zweitwohnung’ – nicht immer, aber doch sehr oft. Besonders, seitdem ihn sein Alter zu dem Stinker schleppte.

Sein Leben verlief seit damals zweigeteilt. In der Nacht konnte er nach Hause gehen, also in die ‚offizielle’ Wohnung. Nachts war sein Alter relativ harmlos. Er kam meist erst nach Mitternacht, war dann immer besoffen und fiel gleich ins Bett. Sein Schnarchen hatte für Nick inzwischen etwas durchaus Beruhigendes. Nachts gab es auch keine Gefahr, dass der ihn in die Bootswerkstatt schleppen würde. Warum der Stinker immer nur am Tage da war – und zwar immer nachmittags – das war und blieb ihm ein Rätsel.

„Vielleicht ist das so wie bei dem vom Jugendamt, der auch zu festen Terminen kommt“, hatte er überlegt.

Das andere Leben war das Tagesleben. Nach einem hastigen Frühstück, das er zumeist stehend zu sich nahm – Limo und Marmeladenbrot – verschwand er nach draußen. Als er noch zur Schule ging – bis vor ein paar Monaten also –, musste er auch am Tage in die Wohnung zurück. Schließlich konnte er draußen schlecht die Hausarbeiten machen. In dieser Zeit stand er unter Strom, lauschte auf Geräusche aus den anderen Zimmern. Etwa zu dieser Zeit standen seine Alten auf, krakelten sich an, kotzten auch schon mal, wenn sie sehr viel gesoffen hatten, und schlürften Kaffee.

Kamen die schweren Schritte des Mannes in die Nähe seiner Zimmertür, bekam er Magenschmerzen und Übelkeit. Aber eigentlich war das nicht nötig, wusste er. Vielleicht wegen seiner Mutter, wagte es der Mann nie, ihn aus der Wohnung abzuschleppen. Hatte er die Hausarbeiten fertig – oder sie als nicht lösbar erkannt –, stürmte er nach draußen. Im Flur, vor der Haustür, machte er immer Halt, peilte die Lage und entschied, ob er über die Treppe zur Straße oder durch den Fahrradkeller auf der Rückseite raus ging. Hing immer davon ab, wer da draußen auf dem Podest stand.

Der Bromberstrauch! Die Zweitwohnung. Mannshoch, undurchdringlich, stachelbewehrt, und für all anderen uninteressant oder sogar lästig. Nicht für ihn. Mühsam hatte er schon vor Wochen, als die jungen Blätter gerade mal ausgewachsen waren und die ersten weißen Blüten sich zeigten, an einer Stelle mit einem alten Küchenmesser die Ranken knapp über dem Boden abgeschnitten. Danach hat er unten die Dornen abgeschabt. Nur ein Stück, gerade ausreichend für seine Hände. Wer’s nicht wusste, konnte das gar nicht sehen. Wenn er diesen Dornenvorhang an die Seite drückte, öffnete sich eine Höhle, in die man von draußen nicht rein sehen konnte. Selbst bei Regenwetter war es da trocken; das Wasser lief außen über die dicht hängenden Blätter ab und dann rauschte es so schön. Da mochte man gar nicht mehr woanders wohnen. Nur im Winter, da war das wohl vorbei. Würde sich aber erst noch zeigen.

Die Höhle hatte ihm der Zufall – oder besser gesagt ein Igel – geschenkt. Der hat da im Gras gelegen wie ein stacheliger Fußball und er hat der Verlockung nicht widerstehen können und ihn ein wenig getreten. Das hat dem Igel nicht gefallen, denn plötzlich hat er sich aufgerollt und ist losgelaufen, direkt durch die Ranken, rein ins Brombeergebüsch, wo er wahrscheinlich überwintert hat. Er ist ihm nach, hat neugierig die Ranken weggebogen, sich dabei ordentlich verkratzt und ist hineingekrochen.

Da war sie dann, die Höhle, die fast wie ein Eskimoiglu aussah. Eine Menge Laub lag auf dem Boden und der Igel war weg. Seitdem war sie seine Zuflucht, die keiner kannte. Hier versteckte er sich vor den Gangmitgliedern, vor seinem Stiefvater und dem Mann vom Jugendamt.

Es war nicht leicht, die Sache geheim zu halten, denn ständig standen Jungs oben auf dem Treppenpodest herum und etliche Alte, ohne Job und mit viel Langeweile, lagen auf ihren Sofakissen in den Fenstern und beobachteten alles. Zum Glück war direkt davor die Haltestelle mit dem überdachten Unterstand, die eine gewisse Deckung ergab. Deshalb kam er immer geduckt von hinten, da wo der Spielplatz war, auf dem keiner spielte, lief über die Wiese mit ihren Brennnesseln und Disteln.

In der Höhle hat er damals auf die Stimmen der Jungen aus der Gang gelauscht. Er ist erst raus gekrochen, als er die Stimme von Dirk hörte und das mit dem Messer verstanden hat. Als Beweis für seine Werfkunst und Treffsicherheit bot der an, mit dem Messer das Fahrplanschild auf der anderen Straßenseite zu durchbohren. Nein, nicht das Schild, sondern den dort abgebildeten Bus wollte der Angeber durchbohren.

„Wer wettet?“, hat er geschrien, aber keiner wollte. „Feiglinge!“, hat der Dirk verächtlich geschnaubt.

Nick hatte den Pfahl mit dem Schild schräg vor sich, konnte den abgebildeten Bus nicht sehen. Er kannte aber das Bild des Stadtomnibusses mit der Aufschrift: „Uns ist es egal, wie viel Promille Sie haben!“ Das Bild war höchstens zehn Zentimeter groß. Er hat die Chancen abgeschätzt und hätte gegen diesen Angeber gewettet, wenn er Geld gehabt hätte – und Mut.

Die Jungen auf der anderen Seite schlossen keine Wetten ab, wogen aber der Reihe nach das Messer in der Hand und als es mit Ausrufen wie „Ey!“ und „Klasse!“ beurteilt worden war, schleuderte Dirk es mit einem Aufschrei quer über die Straße. Der war gut in so was – auch diesmal. Jedenfalls traf er was. Das Messer knallte an den Pfahl und flog ins Gras, direkt neben seine Füße. Er betrachtet es, erschrocken, und in seinem Bauch verspürte er ein Kribbeln.

„Oha!“, sagte er leise und dachte nach, so schnell es ihm möglich war.

„Du kannst es gebrauchen, Nick. Demnächst bist du nicht mehr wehrlos. Nie mehr!“

„Nein! Nein“

„Nimm es einfach und weg damit. – Weiß doch keiner.“

„Scheiße! Der Wind war Schuld“, rief der Messerwerfer und sprintete los.

Aber er war schneller als der Dirk. Der musste ja auch nie weglaufen. Er packte das Messer und sauste gebückt durchs Unkraut, hinein ins Brombeergebüsch. Er hörte die Flüche von Dirk, vernahm das Rascheln und Getrappel seiner Kumpel, die bei der Suche halfen. Er wartete, bis sie aufgaben, zur Treppe zurückgingen und laut darüber nachdachten, ob das Messer sich im Pfahl versenkt haben könnte. Gebückt lief er los, als es ihm ungefährlich erschien, folgte dem Pfad, auf dem immer Hundescheiße lag, und richtete sich erst auf, als er garantiert außer Sichtweite war.

Manchmal war es gut, dass die Wiese so vom Unkraut bewachsen war, dachte er. Das wucherte überall zwischen den Häusern und selbst auf dem verrottenden Spielplatz, auf dem nicht mal die Kleinsten spielten. Niemand störte sich an dem Wildwuchs, besonders die Ratten liebten die zahlreichen Verstecke. Als die Leute aus der Siedlung im Frühjahr laut protestiert hatten, erzählte ihnen der Bezirksbürgermeister was von ‚exzessiv’ und Geldmangel. Da haben sie’s aufgegeben; wahrscheinlich wegen der bedeutungsschweren Worte, die sie nicht verstanden.

Er hat damals wirklich keinen Plan gehabt, als er das Messer in den Kistenboden steckte. Echt nicht. Nie hat er damit was vorgehabt. Er wollte es weghaben und trotzdem behalten. Er hat so ein komisches Gefühl gehabt, als er den scharf geschliffenen Stahl mit der Fingerspitze berührte. Nein, er hat es nicht mehr weggeben können. Deshalb hat er es sich zuerst mit einem Gummiband und einer Schnur an den rechten Oberschenkel gebunden, unter der Hose. Nachts legte er es unter die Matratze und wenn Janosch morgens im Waschraum war, band er es sich wieder um.

Ängstlich hat er Janosch beobachtet, ob der was merken würde. Immer, wenn er sich bücken musste, spannte nämlich die Hose an der Stelle und das Messer beulte den Stoff. Ständig hat er überlegt, wo er es sicher verstecken konnte. Das mit der Kiste in der Werkstatt war eine Blitzidee gewesen. Er hatte das Gefühl, dass hier die einzig richtige Stelle für das Messer war. Gefühle hatte er oft, jede Menge. Damit kannte er sich aus und wenn er das Gefühl hatte, was tun zu müssen, dann war’s besser, er machte es auch.

Seine Beine zuckten und er streckte sie vorsichtig weit aus. Er fühlte sich krank und schwach, hasste die Gedanken, hasste den Körper, weil er da war, er hasste sich, weil er nie den Mut gehabt hatte, es zu beenden. Ohne Kraft, ohne eine Idee, was er nun machen sollte, hockte er auf dem Bordstein, fühlte den Schweiß im Nacken, roch das Parfüm des Stinkers.

Eigentlich müsste er weiter rennen, das wusste er; aber er konnte sich trotz seiner Angst nicht dazu aufraffen. Die Angst steckte in seinen Beinen – die Angst vor der Drecksau, die ihn verprügeln würde, wenn er ihn erwischte. Wenn er ein Geräusch hörte, wenn ein Vogel aufflog, dann schaute er zur Bootswerkstatt, zum Ascheweg rüber; war immer voller Furcht, sein Stiefvater, die Drecksau, könnte plötzlich von dort kommen.

Die Wunde brannte und schmerzte stark. Durch das Rennen hatte er geschwitzt und darum war es noch schlimmer geworden. Er zog sich das T-Shirt über den Kopf und schaute auf die Brust. Der Querbalken war ganz unten am Längsbalken des eingeschnittenen Kreuzes. Ein umgedrehtes Kreuz! So was hatte er noch nie gesehen. Die Wunde blutete kaum, die Haut hatte sich darüber geschlossen; entlang des Schnittes war sie gerötet. Er dachte an die komischen Sachen, die der Stinker gerufen hatte, als er ihm das da einritzte und es wie verrückt küsste. Das war so schrecklich gewesen, so beängstigend, dass er sich fast beschissen hätte.

„Versuchung der Alptraum meines Willens.– Die Sterne glitzern mit meinem Blut. – Ich rufe bis zu Dir – Ich lehne Deinen Glauben ab. – Lebe im Angesicht der Leere, jetzt. – Du überlebst die Details – Ich umarme Deinen Willen, – Und erhebe Gewalt zu einer heiligen Tat. – Du stattest mich mit Unsterblichkeit aus. – Ich sammle Deine Seele für die Ewigkeit.“

Er war verwirrt, glaubte, dass der Stinker seinen Sternenkönig meinte, dass er ihn bedrohte und verhöhnte. „Woher weiß der von ihm? Habe ich was gesagt, ohne es zu merken? Als ich gerade bei ihm war, oben auf seinem Stern?“

Wenn er nur wüsste, was für ein Geheimnis dieser Stinker hatte, wer er war und warum er ausgerechnet ihn erwählt hat. „Erwählt“ war ein komisches Wort; das hat Janosch mal dazu gesagt, als sie lange über den Stinker nachgedacht hatten.

„Ich komm noch dahinter wer das ist, wer da in der Bude drin steckt und warum der ausgerechnet dich erwählt hat. – Ich finde den Pädo-Arsch“, hat Janosch gesagt, als sie ihre Suche endlich ergebnislos abgebrochen hatten.

„Sag das Wort nicht, Janosch. Bitte!“, hat er gefleht, weil er es sonst nicht mehr aus dem Kopf kriegte.

Janosch! „Ein komischer Name“, hatte er früher gedacht. War aber logisch. Der hieß so, weil er ständig was aus dem Buch von diesem Janosch erzählte, dem einzigen, das er je gelesen hat.

„Oh, wie schön ist Panama“ hieß es. Tatsächlich hätte man ihn Jakob rufen müssen, aber er drohte jedem Prügel an, der ihn so nannte. „Ich platze vor Wut, wenn ich das höre. Ich reiß jedem den Kopf ab, der mich so nennt, Kleiner.“

„Bitte! Sag nicht mehr ‚Kleiner’ zu mir. Das sagt dieser Stinker immer. – Wir sind doch Freunde. Nick. So will ich heißen. Meistens sagt meine Mutter aber Nikolaus. Sonst auch noch Junge, einfach Junge ruft sie! Der Alte sagt nie meinen Namen; höchstens Krüppel – oder Bregulla. So muss ich wegen dem heißen. Sag Nick, ja?“

„Nick? Ey! Das passt! Kommt aus Amerika.“

„Nein, ich glaub nicht. Meine Lehrerin hat mal gesagt, ich wäre so bescheuert wie mein Namenspatron, der Nikolaus, der von der Kirche erfunden worden wäre. Hat die wirklich gesagt. Ich wäre bescheuert. Weil ich so viele Sachen nicht verstehe.“

„Was ist denn am Nikolaus bescheuert? He? Die ist noch aus der alten DDR-Garde. Da mochte man den nicht; war zu sehr was mit Kirche. War mal ein Bischof oder so.“

„Ach so, drum. Weiß nicht. Den gab’s also in echt gar nicht.“

„Doch, den gab’s schon. Dich gibt’s auch!“

„Ja, ich glaub auch.“

„Okay, Nick. Also, sag nie diesen saublöden Namen. Möchtest ja auch nicht Nikolaus genannt werden. Siehste! Nur meine Alten, die sagen den Scheißnamen. Die in der Schule, denen konnte ich’s ja nicht verbieten. Wie sich das anhört! Jakob! So ruft man doch diese verdammten Klauraben. Klauraben! Ha! Jakob! Ich denk, ich spinne.“

Janosch hat wirklich nur dieses Buch gelesen – sagt er selber. Außerdem halt das, was man in der Schule aus den Schulbüchern liest. Für das Janoschbuch hat er ewig lange, ungefähr ein volles Jahr, gebraucht, sagt er wenigstens. Er hat sich das Büchlein in der evangelischen Bücherei ausgeliehen und es einfach nicht zurück gebracht.

„Wollte denen Arbeit sparen. Hatte immer wenig Zeit zum Lesen. Wie oft hätten die das denn verlängern müssen? Na, sag schon? Hätten die nie gemacht oder wären sauer gewesen. Ich musste es ganz lesen, weißt du. Das Beste an einem Buch kennste erst, wenn du das Ende von ihm geschafft hast – hat mal einer gesagt. Weiß nicht wer, aber Recht hat der. Ich musste es behalten. Regel fürs Leben: Buch immer bis zum Ende lesen. Okay?“

„Jedes?“

„Klar. Jedes.“

„Aber du hast doch erst eins gelesen. Wie willst du das wissen?“

„Kluge Leute erkennen das schon beim ersten Mal. Was glaubst denn du, wie viele man lesen müsste, um’s zu wissen? Zehn? Tausend? He? Ich sag dir: Lies eins richtig und du hast verstanden.“

Das war wie immer. Janosch hatte auf alles eine Antwort. Ein Glückspilz, wer den zum Freund hatte. Aber er klaute, der Janosch, das war Mist.

„Eh! Ich hatte kein Geld um eins zu kaufen. Was sollte ich machen?“, hat Janosch gesagt, als er was von ‚Scheißklauerei’ wegen dem Buch gemurmelt hat.

Klauen mochte er einfach nicht. Höchstens manchmal, wie bei dem Messer. In solchen Fällen fand er nichts dabei. Diese Fälle gab’s. Das war auch eine Lebensregel von Janosch.

„Für alles im Leben gibt’s eine Ausnahme, Nick“ hat Janosch erklärt. „Die musste kennen und ausnutzen. – Ey, Mann! Klasse was? Ausnahmen ausnutzen! Muss ich mir merken. Regel fürs Leben: Ausnahmen immer ausnutzen!“

Nick stand auf, zog das T-Shirt über den Hosenbund und ging langsam in Richtung Siedlung, die Hände in den Taschen und den Geruch des Nuttenparfüms in der Nase. Tief sog er die heiße Sommerluft ein, hoffte, den Gestank damit zu vertreiben. Ihm war, als hätte er seit einer Stunde nicht mehr geatmet; er war sogar sicher, dass er nicht ein einziges Mal Luft geholt hatte. Der Gestank blieb. Er vermischte sich mit dem Geruch vom heißen Asphalt und dem Duft von verdorrtem Gras; er verdarb alles. Manchmal glaubte er sogar die Warnow zu riechen. Aber kaum drehte ein leichter Wind den Geruch weg, rüber zum alten Werftgelände, war der Gestank des Parfüms wieder alleine da.

Weiter hinten, vor dem bleigrauen Himmel, sah er die Skyline ihrer Siedlung; bis zu fünfzehn Stockwerke hohe und hunderte Meter lange Hochhäuser – Plattenbauten, wie die Leute verächtlich sagten. Es war ihm egal, wie sie die Dinger nannten, es sagte ihm nichts. Es war so unwichtig; Scheiße waren sie so oder so. Scheiße war alles da hinten – und nicht nur die Häuser. Es war schwül, ein so heißer Junitag, dass sich das Unkraut entlang der Zäune des ehemaligen Werftgeländes bis auf die Erde verbeugte. Die Blüten der Brennnesseln berührten die Steinplatten des Bürgersteigs und Hitzewellen stiegen vom Asphalt hoch.

Er blickte zur Landstraße rüber, die hinter der Wiese, noch vor den Schienen, verlief. Im Sonnenlicht blitzten die Strom-Überlandleitungen und über den Dächern der lautlos flitzenden Autos und Lastwagen flirrte die Luft. Sein Körper brachte sich mit stechenden Schmerzen und Brennen in Erinnerung. Dieser Scheißkörper, den er mehr hasste als die Jungs aus dem Block, die ihn manchmal als Völkerball benutzten.

Ja, er hasste ihn, diesen Körper, der ihm nur Qualen machte. Egal, ob er den Riemen bekam, von diesem Stinker gequält wurde oder in der Schule leiden musste. Für was anderes war er nicht da. Für nichts, was gut war. Immer, wenn er da drin war, in diesem Nuttenparfümraum, dann zauberte er ihn weg, diesen Scheißkörper, floh zu den Sternenfreunden, die ihn trösteten so gut es ging. Meistens klappte das. Dann war er nur noch der Geist Nick, ohne diesen Scheißkörper, den er hasste wie die Pest. Nur manchmal kam der Schmerz so schlimm, dass er wieder in ihn hinein musste. So wie vorhin, als der das Kreuz einritzte; er musste ihn zur Kenntnis nehmen, so wie er war, so voller Schmerzen und Schamwellen, die seine Muskeln zum Zerreißen spannten.

„Denk an was anders. Denk an Amerika“, hat Janosch ihm geraten. Er träumte sich nicht nach Amerika, wie Janosch es ihm gesagt hat. Ihm fehlten die Bilder, die Geräusche und Gerüche. „Wie denn? Weiß ja gar nicht, wie’s da ist“, hat er ihm geantwortet.

Er wünschte sich tot zu sein, richtig tot. Er weinte, weil er es nicht war und keine Ahnung hatte, wie er es werden könnte. Alle anderen Menschen waren nur ein böser Traum, dachte er manchmal, wenn er in der Nacht nicht schlafen konnte. Sie gab’s gar nicht in Echt. Nur er und Janosch, sie waren real. Diese Frau, seine Mutter, war ein schlechter Traum; die Drecksau, sein Stiefvater, war ein Horrortraum – und der Stinker, der war ein ganz besonderer Albtraum.

Er ging langsam, atmete flach; ab und zu wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. Er wusste nicht wie spät es war, aber er musste lange hier auf der ‚Toten Straße’ gesessen haben, denn die Sonne rutschte bereits hinter die Dächer der Plattenbauten, die den Horizont säumten. Die Hitze war immer noch da. Der Asphalt federte und gab unter dem Absatz seiner Turnschuhe nach, ein schwacher Abdruck – wie eine Mondsichel – blieb zurück. Er betrachtete das Sohlenmuster und Old Shatterhand fiel ihm ein, von dem die Jungen aus seiner Klasse schwärmten. Er war froh, dass er hier draußen alleine war und es bald dunkel sein würde. Damit niemand in seinem Gesicht sehen konnte, was der Stinker mit ihm gemacht hatte. Jeder konnte es nämlich in seinem Gesicht lesen, wenn’s gerade passiert war, dass wusste er, und er würde vor Scham sterben, wenn ihn einer so sehen würde.

Wenn er sich vorstellte, dass Pat ihn so sehen würde, dann wurde ihm schlecht. Er hörte sie fragen: „He, Nick. Wie biste dahin gekommen? Sag bloß, du bist jetzt bei den Strichern am Bahnhof gelandet?“ Wenn das passieren würde, müsste er sich doch vor die S-Bahn schmeißen.

Wenn er bei dem Stinker gewesen war, musste er sich mit der Bürste den ganzen Körper, das Gesicht und den Mund schrubben; musste ihn scheuern, bis die Haut und der Mund wie Feuer brannten. Dann erst war er sicher, dass es weg war, das verräterische Zeichen – oder wenigstens nicht ganz so auffällig. Wer genau hinguckte, wie der Janosch, der sah’s trotzdem. Manchmal, wenn er zu heftig rubbelte, musste er Blut spucken, was vom kaputten Zahnfleisch kam. Egal, völlig egal, war ihm das. In die Nase steckte er sich manchmal Zwiebelstücke, atmete tief den scharfen Geruch ein, bis das Wasser aus den Augen lief. Dann erst war er sicher, dass er den Geruch vergessen konnte – bis zum nächsten Mal.

Nur unter die Dusche gehen, den ganzen Körper hart bürsten und bestrafen, das ging nicht immer. Dazu hätte er in die Wohnung gemusst. Aber erstens hätte seine Mutter ihn für verrückt erklärt, wenn er sich einfach mal so duschen wollte, und außerdem war vielleicht der Dreckskerl da. Den wollte er nicht sehen, danach noch weniger als sonst. Nackt konnte er dem nicht begegnen; lieber wäre er tot.

Deshalb säuberte er den Körper am Wasserkran im Jannickland mit kaltem Wasser. Aber auch nur, wenn Janosch nicht gerade im Land war. So irre abreiben konnte er sich nur, wenn er ganz alleine war. Keiner durfte ihn ansehen – nicht danach.

Es gab nur einen wichtigen Menschen in seinem Leben, zu dem er Vertrauen hatte, der ihn nie verraten würde. Ihm konnte er alles sagen – fast alles. Nein, nicht alles durfte Janosch wissen; etwas gehörte nur ihm. Dieses Etwas war ihm so wichtig wie … Der Vergleich fehlte ihm. „Besonders wichtig, eben“, dachte er.

Trotzdem: Zum Glück gab es den Janosch. Janosch wusste fast alles, was fürs Überleben wichtig war. Durch Janosch gab’s eben auch das Jannickland. Weil Janosch so viel Verstand hat, hat er mit ihm drüber gesprochen, hat es erzählt; das von seinem Alten und von dem Kerl da hinten in der ehemaligen Bootswerkstatt. Janosch hat es sowieso in seinem Gesicht gelesen, als er zum ersten Mal zu dem da rein gemusst hat. Deshalb wusste er jetzt, dass man es am Gesicht sehen kann.

Er hat damals geweint, als er hinter der Haltestelle auf dem Boden saß. Genau gegenüber vom Plattenbau war das; die Brombeerhöhle kannte er noch nicht. In die Armbeuge hat er den Kopf gelegt und geheult – vor Schmerz und Scham – und weil alles kaputt und vorbei war, was er jemals geträumt hatte. Plötzlich ist Janosch da gewesen, hat den Arm auf seine Schultern gelegt und lange nichts gesagt. Er hat den Arm nicht weggestoßen, hat aufgehört mit dem Heulen und den Jungen angesehen. Der hat ihn auch angeschaut, auch lange, und dann genickt, als er das Mal in seinem Gesicht gesehen und alles verstanden hat.

„Okay. Alles klar. Dein Alter, das Schwein, hat dich zu einem Pädoschwein gebracht – stimmt’s, Kleiner?“, hat er gefragt und er hat nur heulen können.

„Bist nicht der erste Junge. Hat er schon mal mit einem von hier gemacht. War zwar nur so ‘n Gerücht, aber wird schon was dran sein. Jedenfalls hat sich keiner drum gekümmert. Scheißerwachsene! Jeder für sich selber, sagen die sich. Kommt alles davon, dass wir so lange DDR waren.“

„Und der Junge? Lebt der noch?“

„Weiß ich doch nicht. Die Leute sind weggezogen; der war wohl so alt wie du. Der Alte von dem hat Arbeit in Rostock gekriegt. – Dein Alter, wo ist der her? Ist er dein richtiger Vater?“

„Oh, Mann! Nein. Nur der Mann von meiner Mutter. Kommt aus Berlin oder so. – Ist doch egal.“

„Mann! Ich würde dem das Brotmesser zwischen die Rippen stecken, da kannst du drauf an. Verprügeln? Okay, das ist zwar auch große Scheiße, scheint aber normal zu sein. Aber einen Jungen an einen Pädo-Arsch zu …“

„Sag das Wort nicht, Janosch!“

Okay. Also, seinen Jungen an so einen Stinker verkaufen, das macht man nicht. Wer das tut, muss mit allem rechnen – auch mit einem Messer im Bauch.“

„Sagt der ‚Andere’ auch immer. Ich soll zustechen.“

„Der Andere? Wer ist das denn?“

„Ach, vergiss es. War nur Quatsch.“

Janosch wohnte im selben Block, in der elften Etage. Er selber – eigentlich seine Mutter und ihr Kerl – wohnten in der neunten. Er wohnte da nicht wirklich mehr, das heißt, irgendwie doch. „Offiziell wohnste hier, sozusagen“, hat seine Mutter gesagt, als sie mal fast nüchtern war. „Merk dir dat! Kannst dich draußen rumtreiben, soviel de willst, kannst pennen, wo de willst, kannst essen, bei wem de willst. Aber wenn die kommen, biste hier. Dann wohnste gefälligst bei mir.“

„Wie soll ich das wissen?“

„Wat?“

„Na, wann die kommen, die von diesen Ämtern.“

„Ich mach die Gardinen weg am Wohnzimmer. Du kannst dat von deinem Karnickelloch ja sehen. Wenn die weg sind, kannste auch sonst immer kommen. Dann is hier auch keine dicke Luft, wenn de weißt, wat ich mein. – Wenn die weg is, also, dann biste gefälligst hier! Klar?“

„Mann, das ist ja wie im Krieg. Mit Flaggen und Geheimzeichen.“

„Wat weißt du denn davon? Aber stimmt schon. Wir sind im Krieg. Verstehste? Et geht ums Überleben, irgendwie. Wirste noch begreifen. – Musst eben ab und zu rauf gucken. Wirste ja wohl können. Die kommen entweder nach zehn morgens oder nach drei am Nachmittag.“

„Du hast mich gesehen da unten? Am Brombeerbusch? Sagst du’s deinem Mann?“

„Quatsch! Hast Angst vor dem, wa? Von dem könntest ne Menge lernen, Nikolaus.“

„Nick!“

„Nikolaus! Werde wohl wissen, wie de heißt. Ich heiß ja auch nich Anne sondern Annegret.“

„Woher weißt du, wann die kommen, Annegret?“, fragte er mit Wut im Bauch.

„Werd mir nich frech, Junge. Ich bin deine Mutter. Merk dir dat!“

„Klar. – Also, woher weißt du?“

„Geht dich nix an. Mach’s und fertig.“

Also, wenn die vom Jugendamt oder vom Sozialamt kamen und nach ihm fragten, wissen wollten, warum er wieder mal nicht zur Schule ging oder wenn sie bloß nachsehen wollten, ob es ihm gut ging, dann wohnte er da oben.

„Wenn die vom Jugendamt kommen und mich was fragen? Zum Beispiel, was dein Mann so mit mir macht. Was dann?“

„Dann sachste nix. Klar? Machste einfach auf bockig. Kennste doch. Bloß wegen der Schule, dat is deine Sache. Dat ist dein Problem. Du gehst oft nicht da hin. Meinste, ich weiß dat nich? Ausreden musste selber erfinden. Bist ja nich ganz blöde, also lass dir wat einfallen. Durchfall oder sonst wat. Mach mir bloß keine Schwierigkeiten.“

Wenn er also nicht offiziell zu Hause wohnte, dann lungerte er draußen rum, da wo gerade die anderen Jungs aus dem Bau nicht waren. Er kannte sich aus, wusste, wo er blitzschnell verschwinden konnte. Er konnte rennen! Seine Beine waren okay. Beide!

Die Siedlung gab ja nicht viel her. Die ewig langen Plattenbauten lagen an parallel verlaufenden Straßen, die alle gleich aussahen. Janosch hat mal gesagt, dass die Leute auch alle gleich aussehen würden, so wie diese Häuser.

„Schau dir die Alte da an; die mit dem dicken Bauch und dem Dackelgesicht. Ja, genau die. Wie sieht die aus? Wie die Alte aus dem Parallelblock, die immer im Sperrmüll wühlt. Stimmt’s? – Warte mal! Oder vertue ich mich? Ist die das nicht sogar? Siehste! Alle gleich. Der Alte da vorne, der torkelt, als wenn er besoffen wäre. – Er ist besoffen! Hat tausend Falten im Gesicht; einen krummen Puckel, schlürft beim Gehen und die Hose schlabbert. Da zeig ich dir hundert, die genau so aussehen. Du hältst die nicht auseinander. Schau mal nach oben. Guck dir die Kerle und Weiber an, die ihre Arme auf den Kissen liegen haben und runter glotzen. Die Kerle: Unterhemd, Haare ungewaschen und fette Oberarme. Die Weiber Kittel vom Aldi, Haare auch ungewaschen. Alle haben lange Augen und noch längere Ohren – und lachen, lachen tun die nie. Außer, wenn einer besoffen vom Rad fällt oder wenn die so einen Scheißwitz hören. Na? Wie viele verschiedene Typen sind’s? Drei? Vier? Oder sind das nur Figuren aus Plastik? Aus dem Großlager vom Kleidershop ausgeliehen? Alle gleich.“

„Ach, Janosch. Mir wird schwindelig bei dem, was du sagst. Meinst du wirklich?“

„Kannste einen drauf lassen.“

Zwischen den Reihen der Bauten hatten sie Platz gelassen für ein paar kahle Plätze, an denen es Kindergärten, Supermärkte, Post, Kioske, die sie Schnapsbuden nannten, und Kneipen gab. Sogar eine katholische Kirche hatte er entdeckt, zufällig. Die sah nicht so aus, wie eine Kirche auszusehen hatte. Die hatten einfach einen ehemaligen Supermarkt, der Pleite gegangen war, dazu umgebaut. Wer die nicht kannte, fand die nicht. Glocken gab’s auch keine; nur ein Schild, auf dem stand: „Kath. Kirche – Kirche der barmherzigen Brüder“.

Die Schaufenster hatten sie einfach zugemauert. Das Glas in der Tür war mit Plakaten verklebt; da stand was drauf von einem Jesus, der alle erwecken würde. Wäre das Schild nicht, hätte man glatt denken können, das wäre ein Lager oder so was.

Aber das war eh egal, da gingen keine Leute aus der Siedlung hin. Auch zwei Banken gab es, die aber nur Renten, Arbeitslosengeld und Löhne auszahlten. Leute, die Kredite bekommen würden oder Reiche, die so viel Geld hatten, dass sie’s zur Bank bringen mussten, die gab’s auf Kilometer in allen Richtungen nicht.

Im alten Dorf Schwatoo, nach dem auch ihre Siedlung benannt worden war – Neu-Schwatoo –, das ein Stück weit hinter dem letzten Plattenbau lag, sah man schon von weitem den spitzen Turm der richtigen Kirche – einer evangelischen natürlich. Die hatte Glocken.

Er lief manchmal bis in die Stadt, nach Warnemünde. – Oder er fuhr mit dem Bus, schwarz natürlich, suchte nach Gemüseständen, kaufte sich eine Zwiebel für die Nase. Stundenlang strich er dann durch die kleinen, verwinkelten Gassen des alten Fischerortes, schaute durch die niedrigen Fenster in die luxuriös umgebauten ehemaligen Fischerkaten. Meist waren sie unbewohnt; die Leute aus Berlin, denen sie gehörten, kamen nur am Wochenende und in den Ferien. Er hockte sich am Kai auf die Brücke, betrachtete die Touristen, die alle reich aussahen, die Kleider und Andenken kauften, und mit Ausflugsschiffen den Hafen besichtigten. Hier am Kai gefiel es ihm am besten. Da waren die Plattenbauten von Neu-Schwatoo so weit weg wie der Mond. Musik war an allen Ecken zu hören, die Leute sahen zufrieden und glücklich aus, nicht so wie die muffig blickenden Plattenbaubewohner. Jeder sah anders aus als ein anderer; schick, gepflegt und zufrieden. Sie lachten! Oft, sehr oft, lachten sie laut und fröhlich. Sie grölten nicht, sie brüllten nicht über sauige Witze. Das machten die aus dem Plattenbau, wenn sie an Sommerabenden auf den Treppen saßen und sich dabei auf die Schenkel schlugen, dass es nur so knallte; stießen ihre Bierflaschen zusammen und schrien. Die Leute am Kai, die konnte man mit denen aus der Siedlung gar nicht vergleichen.

Bevor Janosch in sein Leben kam, hatte er niemanden gehabt, mit dem er über so was reden konnte. Er musste doch über seine Sorgen sprechen, musste fragen, warum es diese Unterschiede gab. Manchmal dachte er, die Leute in Warnemünde kämen von einem anderen Stern. Von so einem, auf dem seine Freunde wohnten. Die Sternenfreunde und ihr König.

Für seine Mutter wollte er in keinem Fall eine Last sein. Sie hasste es, wenn er erzählte, wenn er sie fragte. Sie hasste es ganz besonders, wenn sie etwas nicht wusste. Sie wusste viele Sachen nicht. „Hab mir mit dir wat aufgehalst, Junge. Frag nicht ständig Dinge, die ich auch nich weiß. Bin doch kein Lexikon. Gehst mir echt auf’n Keks“, brüllte sie dann.

Mehr hasste sie nur, wenn er Probleme machte, was leider immer wieder vorkam: „Mach mir bloß keine Probleme. Sonst schick ich dich zu deinem Erzeuger“, sagte sie.

Einmal hat er geantwortet: „Versuchs doch. Du kennst den ja gar nicht.“ Das hat ihm eine Ohrfeige eingebracht und ihr einen ewig dauernden Heulanfall. „Wat ich allet für dich tue!“, hat sie zwischendurch geschrien und dann wieder Rotz und Wasser geheult.

Ihm ging es doch immer gut, sagte jedenfalls sie, die es irgendwie schaffte, immer dann, wenn die Leute von der Stadt vor der Tür standen, ordentlich auszusehen und ziemlich nüchtern zu sein. Vielleicht bekam sie ja einen Tipp. Oder die kamen wirklich wie die von der Müllabfuhr, immer an den gleichen Tagen, zur gleichen Zeit. Konnte aber auch sein, dass dieser eine Typ es ihr sagte; der vom Jugendamt, dem er keinen Namen geben konnte, außer ‚Handballer’.

„Der pennt bestimmt mit deiner Alten“, hat Janosch einmal gemeint und er mochte das schon glauben; so wie die sich anglotzten, so geil und alles.

Wie das alles ablief, warum man ihn nicht mit Gewalt zur Schule schleppte, warum keiner seine Alten verhörte, interessierte ihn nicht. Er hatte sich noch nie darum gekümmert, alles einfach so hingenommen. „Es kommt so oder so. Egal“, dachte er, wenn es ihm mal durch den Kopf ging.

Die Wohnung war sauber, wenn die von der Stadt kamen, wenigstens ziemlich sauber. Okay, die Flaschen waren im Kleiderschrank, der Müll unter dem Waschbecken. Die Wäsche von ein paar Wochen, die häufte sich im Keller, neben einer Waschmaschine.

Bald gab es Ferien, sechs Wochen lang keine Schule. Obschon er ja fast immer Ferien hatte. Trotzdem erlebte er diese Ferien; irgendwie fühlte er sich dann leichter, ohne Schuld. Ein schlechtes Gewissen hatte er schon, wenn er nicht da hin ging. Klar, er müsste eigentlich täglich zur Schule. Er besuchte die siebte Klasse der Hauptschule. Die würde er wiederholen müssen, hat sein Klassenlehrer, der Horst Völpel, gesagt. Der hat ihm im Frühjahr eine Ohrfeige verpasst, weil er nach der großen Pause verspätet in die Klasse gekommen ist. „Wo warst du, he? Warum sind deine Haare nass? Hast du geduscht?“, hat der geschrien und als er nichts gesagt hat, hat er ihm eine geklatscht.

Seitdem ging er überhaupt nicht mehr hin. Aber nicht nur deswegen. Er würde dem nicht sagen, warum er damals so nass gewesen war. Was hätte das gebracht? Nichts! Es war ja ganz einfach: er wollte das alles nicht noch einmal mitmachen. Seine Alten störte das alles nicht, denen war’s egal, was er machte, ob er da hin ging oder nicht. Zeugnisse waren für die „Quatsch und Blabla.“

„Wat willste mit dem Scheiß? He? Hab ich wat davon, dat ich ganz gut war inne Schule? Nee! Interessiert doch keine Sau. Malochen musse können, dat is allet. Nen Job musste kriegen. Die fragen dich nich, ob de rechnen kannst, die wollen deine Muckis sehen“, hatte Mutters Mann – also die Drecksau – ihn belehrt, nachdem er den dritten Brief von der Schule gelesen hatte.

Janosch ging auch nicht mehr in die Schule. Das heißt, er brauchte da nicht mehr hin, weil er schon fünfzehn war. „Hab aber auch früher aufgehört; einfach so. Bin nicht mehr hin gegangen, als ich genug wusste. Schulabbruch“, hat Janosch zu ihm gesagt und fett gegrinst. „Was die mir fürs Leben beibringen wollten, das brauche ich nicht. Okay? Was ich fürs Leben brauche, das wissen die nicht. Fakt! Eine Arbeitsstelle? Mann! Mich will doch keiner, wenigstens nicht als Azubi. Nur für billige Scheißarbeit. Auch Fakt!“

„Hast du nicht genug Muckis?“

„Wozu die? Mann, die haben heute Maschinen, Computer und Automaten. Da brauchste keine Muckis. Wer erzählt so einen Scheiß?“

„So? Was wolltest du denn werden?“

„Bänker. Klasse Job. Kriegst ’nen eigenen Wagen, jede Menge Kohle, bist immer super angezogen und wenn du morgens kommst, reißt dir ein Typ in Uniform die Tür auf. Deine Tussi, also die, die alles für dich schreibt, die sitzt auf deinem Schoß und du brauchst nix zu tun, außer … Na ja, was so eine eben gerne hat.“

„Und? Hast du dich beworben?“

„Na klar! Bei neunundneunzig Banken. Bis nach Frankfurt. Echt! – Okay, nur bei einer. War aber nur einer von vielen, denk ich mal und vielleicht waren da bessere Typen, als ich es bin. Mit Abi und so. Aber nicht mal geantwortet haben die Arschlöcher. Regel fürs Leben: Lernen lohnt nicht.“

„Du redest wie mein Alter“, hat er dem Janosch gesagt. „Nur das mit den Muckis, das weiß der besser.“

„Blödmann! Hab eben meine Erfahrungen. Okay. Kannst immer zu mir kommen, wenn du was nicht weißt. Dein Janosch weiß wirklich alles – also fast alles. Außer bei Mathe und Deutsch kenn ich so ziemlich alles, was mal wichtig werden könnte. Okay?“

Er kannte Janosch jetzt schon lange. Zuerst waren sie keine Freunde; sie wohnten nur im selben Plattenbau. Der grinste ihn immer an, wenn er ihn sah – freundlich – nicht so blöde wie die anderen. Er wusste noch genau, wie er entdeckte, dass er ihn okay fand. Damals hat Janosch einem von der Gang eine Ohrfeige verpasst, weil der einem Mädchen in die Brust gekniffen hat. Der ist danach beleidigt abgezogen und hat Drohungen ausgestoßen. Komisch war, dass die von der Gang den Janosch nicht zusammengedroschen haben. Das wäre nämlich typisch gewesen. Zehn gegen einen, das fanden die ziemlich normal. Der Janosch – damals wusste er noch nicht, dass der so hieß – hat sich zu dem Mädchen umgedreht und nachgedacht. Das hat er sofort gesehen. War ja auch für jeden erkennbar, dass der über was nachdachte. Seine pechschwarzen Augen hat er gerollt und mit beiden Ohren gewackelt. Darüber konnte das Mädchen schon wieder lachen. Janosch hat wohl übers Nachdenken was entdeckt. Er hat in seiner Hosentasche gewühlt und einen langen Kaugummi raus gezogen, dem Mädchen in die Hand gedrückt und „Schmerzpflaster!“ gesagt. Da hat er es gewusst: Der Junge sollte sein Freund werden. Nicht wegen dem Kaugummi. Wegen all dem anderen; den wackelnden Ohren und so. Sein Freund wurde er wirklich. Aber ganz von alleine; als er das Mal bei ihm entdeckt hat.

Wenn Janosch ein Problem hatte, dann dachte er lange darüber nach, immer auf dieselbe Art. Genau so wie damals bei dem Mädchen mit der schmerzenden Brustwarze. Wenn dann die Augen rollten und die recht großen Ohren kreisten, dann könnte er fast lachen. Fast.

Die anderen Jungen aus dem Plattenbau waren alles Drecksäcke. Entweder war man stark und hatte schon mindestens einen verprügelt, hatte richtig geklaut, Bullen mit Steinen beworfen, ein paar Mädchen begrapscht – oder man war eine Null für die.

„Krüppel! Komm sofort her, du Behindi“, riefen sie, wenn sie was von ihm wollten; meistens sollte er dann etwas für sie besorgen, wozu sie selber keine Lust hatten. Oder sie brauchten ihn als Ball. Dann rannte er; so schnell er konnte und ließ sich vorläufig nicht mehr sehen. Mit ihm reden oder spielen wollten sie nie. Als er in die Bad Place Gang aufgenommen werden wollte, haben die sich auf dem Boden gewälzt vor Vergnügen und gegrölt wie die Affen im Zoo. „Sind wir eine Verwahranstalt?“, hat Dirk, ihr Anführer, damals geschrien. „Oder eine Schule für Behinderte? Hau ab du Behindi und lass dich nur noch blicken, wenn wir dich rufen.“

Hat er auch nie mehr gewagt. Was sie mit Krüppel und Behindi meinten, das wusste er, das war klar. Das genau hat seine Lehrerin auch zu ihm gesagt, als er die Rechenaufgaben nicht kapierte. Die Schüler seiner Klasse haben gekreischt und mit den Fäusten auf die Tische gehauen. „Nimm mal deine Finger und zähle bis zehn. Laut! – Ach, ich vergaß! Du kannst ja nur bis acht zählen“, sagte sie und machte es ihm vor, indem sie ihre Hände vor die Augen hielt und zwei Finger wegknickte.

Er wollte nur noch weg. Deshalb und wegen der anderen Sachen, die sie mit ihm machten. Einfach weg. Da draußen unter der Bundesstraßeunterführung sitzen, wo die Luft zitterte, weil die schweren Laster ununterbrochen über den Beton donnerten. Nichts denken, an nichts und an niemanden. Oder eben unter dem Brombeerstrauch hocken. Da konnte er sitzen und ohne Gedanken in den Dreck schauen. Da lachte keiner über ihn. Am liebsten aber floh er einfach zu seinem Königsstern. Da war alles gut.

An dem Tag, als Janosch in seinem Gesicht das Mal gesehen hat, sind sie also Freunde geworden. Er hat es dem Janosch nie gesagt, dass er das schon vorher gewusst hat – wegen dem weinenden Mädchen hat er es gewusst, ganz plötzlich und ganz sicher. Sie wurden Freunde, ohne dass es einer jemals ausgesprochen hätte. Danach hat er Janosch alles gesagt. Sie haben oft drüber geredet, haben überlegt, wie sie es machen sollten. Weg von den Alten, selbst bestimmen, was okay und was Scheiße war. Eigentlich hat hauptsächlich Janosch gesprochen, aber ab und zu konnte er auch was dazu sagen.

„Wenn ich bloß stark wäre“, hat er geklagt und seine dürren Arme betrachtet. „Wenn ich kein Krüppel wäre und alle Finger hätte – so wie du.“

Einmal hat er der Versuchung nicht widerstehen können und dem Janosch davon erzählt, dass da einer in seinem Kopf ist, der ‚Andere’, der ihm Sorgen macht. Aber nur so ungefähr hat er’s ihm gesagt und es gleich bereut. „In meinem Kopf dreht sich immer alles und schlecht ist mir; ich kann gar nichts denken, wenn ich bei dem Dreckskerl war. – Immer öfter sind da Gedanken in meinem Kopf, die nicht mir gehören. Da spricht ein ‚Anderer’ immer Sachen, die ich nicht meine und die ich nicht will.“

„Das sagste besser nicht laut. Versteht jeder falsch. Die stecken dich in Rostock in ein geschlossenes Heim. Da kriegste Pillen. So viele, dass du nicht mehr weißt, ob du ein Junge oder ein Mädchen bist.“

„Ich meine ja nur. War nicht echt so gemeint. Ich meinte … Ach Scheiße. Ich habe immer Angst. Immer.“

„Pass auf!“, hat der Janosch gesagt, seine dunklen Augen gerollt und dermaßen mit den großen Ohren gewackelt, dass Nick lächeln musste. „Also: Im Janoschbuch steht: ‚Wenn man einen Freund hat, braucht man sich vor nichts zu fürchten!’ Du hast jetzt einen. Okay? Wenn du bei diesem Stinker bleibst, bist du bald am Bahnhof. Okay? Dann kriegst du Aids, dann biste weg, kaputt, tot. Okay? Mit zwanzig oder so! Biste so blöd? Nee, biste nicht. Also? Wir müssen was machen.“

„Wir, wir! Was willst du denn dabei machen? Was geht dich das denn an? Dir geht’s doch gut. Keiner bestimmt über dich, keiner verkauft dich, keiner missbraucht dich. Keiner lacht über dich, weil du was Schwieriges nicht verstehst. Also?“

„Okay. Stimmt schon. Aber eigentlich krepier ich hier auch jeden Tag ein Stück, ein ganzes Stück. Ich bin älter als du und ziemlich helle. Ich kapier, wo’s hinläuft, wenn ich nichts mache – und das ist schlimmer, als wenn ich’s gar nicht merken würde. Siehst du nicht, wo die alle landen? Alle die hier in den Blocks leben; dieser Dirk und seine Bad Place Gang. Die Alten mit den Armen auf der Fensterbank. Die sind doch schon tot, bei lebendigem Leibe tot! Die Jungen landen im Knast oder auf dem Müll. Als Leiche! Und ich genau wie die! Kapiert?“, sagte er leise und rollte weder mit den Augen, noch wackelte eines seiner Ohren.

So war die Lage. Deshalb überlegten sie gemeinsam, machten Pläne, über die sie am nächsten Tag den Kopf schüttelten. Trotzdem: Nicht alles wollte er dem Janosch sagen. Etwas gehörte nur ihm und das musste er wie einen Schatz hüten. Er war sicher, dass alles aus war, wenn er es erzählte. Es gab zwei Sachen, die er einfach nicht sagen durfte – nur denken. Das, was er sich wirklich wünschte, was er träumte, was er fühlte, wenn er alleine war und im nachtschwarzen Himmel seine Sternenfreunde suchte, das gehörte nur ihm. Wenn er’s sagen würde, war’s kaputt.

Alles hatte irgendwie mit diesem Stern zu tun. Auch das andere. In ihm zitterte es und er verspürte eine Sehnsucht, die er nicht fassen, nicht in Worte kleiden konnte. Schon vor langer Zeit, an dem Abend, als die aus seiner Klasse das zum ersten Mal mit ihm gemacht haben, da hat er sich auf die verwilderte Wiese gelegt und den Himmel beguckt. Ohne Gedanken, nur traurig und ohne Freude – auf was auch? Da hat er lange gelegen, so lange, bis aus der Dämmerung und dem blassen Himmel eine Nacht und ein tiefschwarzes Gewölbe geworden war. Als hätte sie jemand angeknipst, haben plötzlich unzählige Sterne, kleine und große, blasse und helle, den Nachthimmel gefüllt. Es flackerte und flimmerte, es glitzerte und leuchtete. Tatsächlich, so hat er damals gedacht, hat er die vorher noch nie richtig gesehen. „Hab ja auch noch nie so lange und so platt auf der Wiese gelegen und das da oben angeschaut.“

Zuerst hat er gedankenlos die Sterne betrachtet, hat sich festgeklammert an der Stelle, wo sie am hellsten leuchteten, weil die Straßenlampen sie nicht verblassen ließen. Ganz besonders einer, der flimmerte und blitzte, hat es ihm angetan. Er merkte sich die Position, prägte sich ein, wie die benachbarten Sterne standen und wusste, dass er diesen Stern immer wieder finden würde. Nur dieser Stern wurde ihm wichtig; die anderen dienten nur noch als Suchhilfe.

„Als wenn er mir Signale senden würde. Vielleicht funkt der ja wirklich was. Kann doch sein, dass da oben welche sind, die mich sehen und mir was sagen wollen. Echt möglich. Weiß doch keiner.“

Weil’s keiner wissen konnte, haben sich seine Gedanken auf den Weg gemacht, sind ins All gesaust, haben diesen Stern ausgesucht und sind auf ihm gelandet. Es war der am stärksten leuchtende Stern, und er dachte sich als Geist, der schnell wie ein Gedanke zu ihm fliegen konnte. Er hatte keine Ahnung von Lichtgeschwindigkeit, hatte nie etwas von spezieller oder allgemeiner Relativitätstheorie gehört. Er kannte nicht den Unterschied zwischen Sonnen und Planeten. Alles, was da über ihm hing, war ein mystisches, ein wunderbares Geheimnis. Dort war einfach alles möglich; wirklich alles. So ließ er alles denkbar und wahr sein.

So fiel es ihm immer leicht, sich in die Schwärze zu stürzen, sich auf den Weg zu diesem Stern zu machen, von den geheimnisvollen Wesen zu träumen, die ihn als Botschafter der Erde freudig empfingen. Dazu musste er sie erschaffen, die Wesen, die seine Freunde werden sollten. Wie konnten sie aussehen? Ihm fehlte die Fantasie; er hatte nie Science Fiction Romane gelesen. So dachte er sich die Bewohner seines Sterns als Menschen; nur freundlicher und liebenswerter. Sie waren glücklich, lächelten und lachten wie die Touristen in Warnemünde. Das Beste aber war, dass alle, wirklich alle, so waren wie er: Krüppel. Noch besser: Sie hatten sogar an beiden Händen nur drei Finger – und sie waren trotzdem geschickt. So flink mit ihren sechs Fingern waren die, wie die geschicktesten Jungen auf der Erde – viel besser jedenfalls als er. Sie lachten ihn nicht aus, sahen ihn an, als wäre er einer der ihren.

Eines Tages beschaffte er ihnen einen König. Er musste unbedingt ein guter Herrscher sein und auf einem Thron sitzen. Denn das war mal klar: Ein solcher Stern mit einem so guten Volk, der brauchte einen König. Ein Präsident oder so was, das wäre doch zu blöde; eben ziemlich irdisch, also Scheiße. Könige, von denen hatte er in der Schule gehört, das waren besondere Menschen. Der König, den er immer zuerst besuchte, wenn er zum ‚Königsstern’ floh, zeigte ihm, dass man sogar ein ganzes Sternenvolk regieren konnte wenn man nur sechs Finger hatte – und dass man damit kein Krüppel war.

„Schau! Den kleinen Finger und den Ringfinger – so nennt ihr den doch? – braucht man nicht. Was soll dieser Winzling denn tun, he? Da wir nie heiraten, brauchen wir auch keinen Ringfinger. So ein Quatsch. Heiraten ist bescheuert. Mit dem Zeigefinger drohe ich den Übeltätern und bohre in der Nase.“ Dann hat der König gelacht und es vorgemacht. Da hat er auch lächeln müssen und es ihm gleich getan; hat ja keiner gesehen.

„Mit dem langen Finger male ich, gewinne jeden Wettkampf beim Fingerhakeln und steche zu, wenn wir den Fingerkampf kämpfen. Der Daumen erst! Ha! Damit greife ich, klammere mich fest, drücke auf den Klingelknopf, quetsche Fliegen und Mücken platt und kratze mir den Bart.“ All das zeigte der König, während er sprach und er hat es nachgemacht und sich froh und leicht gefühlt.

„So! Alle drei Finger zusammen können die Gabel, das Messer, den Löffel und den Bleistift halten. Fehlt mir was? Nein! Fehlt dir was? Ach wo! Du hast sogar diese zwei überflüssigen Finger an der rechten Hand. Na ja. Du bist trotzdem ein ganz normaler Königssternfreund.“

So dachte er es sich. Immer länger und intensiver träumte er vom Leben auf dem geheimnisvollen Stern, erfand Fahrzeuge, die lautlos daher rollten, Flugzeuge, die jeder fliegen konnte, wenn er nur wollte. Der König und sein Volk hörten sich an, was er ihnen erzählte, wenn ihn Kummer und Schmerzen quälten. Sie lauschten, nickten voller Verständnis, berieten sich und schlugen ihm was vor, was ihm helfen sollte. Immer, wenn er sie besucht hatte, fühlte er sich leicht wie eine Feder und konnte alles wegstecken, was ihm passiert war. Sogar das, was die in der Schule mit ihm machten und auch das mit dem Stinker. Das besonders.

Die Bewohner sahen eigentlich aus wie die Menschen auf der Erde, das wollte er so. Nur: Die Jungen waren kleiner und schlanker als er, die Erwachsenen lächelten ständig und grüßten ihn freundlich. Die Mädchen waren alle hübsch, sahen aus wie Pat. Alle, wirklich alle, Mädchen waren blond und trugen Pferdeschwänze, die bei jeder Bewegung wippten und sich im Wind auffächerten. Ihre Röcke waren noch kürzer als der von Pat und deshalb konnte er die wunderbar schlanken Beine bis oben hin sehen. Das war schon wichtig, denn er liebte schöne Mädchenbeine, solche, wie Pat sie hatte.

Pat! Sie lebte im gleichen Wohnblock, gehörte keiner Clique an, war so schön, dass ihm kein Wort dafür einfiel, hatte noch nie mit ihm gesprochen und war trotzdem seine Liebe. Aber das wusste nur er; nichts davon ahnte Janosch. Das, genau das, war es, was er – genau wie die Sache mit den Sternenfreunden – dem Janosch nie sagen würde: Er liebte Pat! Die würde er einmal heiraten, hat er gedacht, als er sie zum ersten Mal sah. Das war lange bevor das mit dem Stinker passierte. Seitdem dachte er nicht mehr daran, jemanden zu heiraten, auch nicht Pat. Aber im Kopf blieb sie erhalten, blieb seine Liebe. Seine erste Liebe. Die schöne Pat.

Die Mädchen waren aber nicht das Beste auf diesem Stern. Das Wunderbarste war die Lernmaschine, an die man mit einem Draht angeschlossen wurde. Keiner musste in die Schule gehen; es gab ja nicht mal eine. Alle wussten und konnten alles. Er hatte eine Menge Dinge aufgezählt, die er gerne können und beherrschen würde.

„Null Problem“, sagte der König des Sterns. „Wir machen das schon. Wenn du hier bist, kannst du alles, was da jetzt über den Draht in deinen Kopf schießt. Bloß – und das ist leider so – auf deiner Erde funktioniert das nicht. An dem Problem arbeiten wir noch.“

Über diese Träume würde er nie mit jemandem sprechen, auch nicht mit Janosch. Schon gar nicht würde er jemandem erzählen, dass es da oben Freunde gab, die diesen Draht an seinen Kopf machen konnten. Wenn sie den an die Lernmaschine steckten, brauchte er nur noch ‚Mathe’ sagen und wusste und verstand alles. Sogar fremde Sprachen konnten sie durch den Draht in seinen Kopf senden. Aber das hatte er noch nie probiert.

Wenn er bei diesem Stinker sein musste, dann floh er auf den Stern, erzählte seine Qual. Danach legte er sich oft die ganze Nacht unter dem Sternenhimmel und blieb auf dem Königsstern. Da oben hat er immer Trost gefunden. Er hat ihnen nichts erzählen müssen. Sie haben alles gewusst, wirklich alles.

„Bei uns“, hat der Sternenkönig gesagt, „bei uns gibt es so etwas nicht. So eine Sauerei macht hier keiner. Hier gibt es nur Freunde, die einander helfen. Du bist unser Freund, darum helfen wir dir.“

Eine Laserpistole haben sie ihm gegeben und ihm erlaubt, den Stinker zu schmoren. Dann hat er ihn gebraten, hat ihn schreien und wimmern lassen. Erbarmungslos! Seine Sternenfreunde nickten dazu sehr ernst und sagten: „Wir sind gegen jede Gewalt. Aber der hat’s verdient.“ Das tat gut und er liebte sie auch dafür.

Ab einem bestimmten Tag hatte er den Wunsch verspürt, eine solche Waffe wirklich zu haben – oder eine andere. Irgendwann würde er sie benutzen. Gegen den Stinker, den Dreckskerl – ja, und auch gegen die in der Schule. Gegen die auch. Ja, er würde sie vielleicht benutzen.

Mit Janosch sprach er über Ziele auf der Erde. Sie hatten sich das weiteste Ziel vorgenommen, es fortan immer vor Augen, egal, was sie sonst so für Ideen hatten. „Ja“, hat er gedacht. „Janosch hat einen Plan und das ist okay. Amerika! Nee, nicht bloß Amerika. Nordamerika, da wo früher die Indianer das Sagen hatten. Da, wo dieser Old Shatterhand gelebt hat. Wo die Prärie ist und kein klebriger Asphalt, keine Wohnsilos mit tausend Leuten drin, die alle meine Feinde sind. Alle.“

Als er eines Abends auf der Wiese lag, die Gräser seinen Nacken kratzten und sein Geist auf dem Stern spazieren ging, fiel ihm etwas ein. Das saß in seinem Kopf, störte ihn unaufhörlich und wurde immer wichtiger. Weil es nicht länger warten konnte, hat er Janosch fragen müssen. Kein Wort darüber, warum er das wissen wollte, das nicht. Es quälte ihn aber so sehr, dass er an einem Abend, als sie beide im Wäldchen lagen und den blassen Himmel beguckten, einfach fragen musste.

„Janosch, sind in Amerika dieselben Sterne da oben? Ich meine, wirklich dieselben?“

„Na klar doch. Eh! Das da oben ist so riesig, da könntest du sonst wo auf der Erde sein und siehst doch immer dieselben Flimmersterne.“

„Meinst du, dass da oben auch wer lebt?“

„Logisch! Glaubst du etwa den Murks, den die uns in der Schule erzählt haben? Mann! Eine Milliarde solcher Sachen wie hier unsere Erde gibt’s da. Kannste glauben. Das von der einen Erde, das hat die Kirche erfunden. Passte denen so in den Kram und darum haben sie’s in die Bibel geschrieben. Bibel! Ha! Alles nur erfundener Quatsch. Okay?“

„Warum leuchten die so? Als wenn es Kerzen wären. Leuchten wir auch?“

Janosch verdrehte die Augen und seufzte. „Ha! Kerzen! Mächtig dicke Kerzen, was Nick? Mensch, du bist ja anerkannter Weise nicht gerade helle, aber das musste doch wissen. Du hast wirklich nichts mitgekriegt in der Schule.“

„Was stimmt denn nicht, Janosch?“

„Nick! Das da oben, was da so flirrt und flimmert, das sind Sonnen. Solche wie unsere da oben. Ziemlich dicke Kerze, was? Unsere Erde ist ein Planet, und Planeten leuchten nicht; also siehste die auch nicht von hier aus. Mann, auf diesen Sonnen kann kein Aas leben.“

„Alles Sonnen? Auf keiner kann man leben? Niemand?“

„Niemand – jedenfalls, so viel ich weiß.“

„Soviel du weißt? Weißt du alles? – Ich glaube das nicht. Weißt du, dass du ein Angeber bist? Du weißt gar nichts! Da oben leben welche; hast du selber gesagt. Du … du warst noch nie da oben und sagst einfach so was. Keiner war da oben! Keiner!“, schrie er und schlug mit der Faust auf den Waldboden. Er wusste, dass sie da waren, seine Sternenfreunde; und von Janosch würde er sich die nicht kaputtmachen lassen.

„Was regst du dich so auf? Ist doch scheißegal, ob da oben welche sind. Ich sag dir nur, was ich weiß – und das ist mehr als du weißt. – Okay. Glaub, was du willst. Kann eh keiner kontrollieren.“

„Ich will nach Amerika. Egal wo da.“

„Egal? Bloß nicht! Nicht Südamerika. Bloß nicht!“

„Aber du sagst doch in Panama …“

„Quatsch mit Soße! Du hast keine Ahnung. Ist doch nur ein Märchenbuch. Tiger, Bären und so was. Hier gibt’s kein Märchen und in Amerika auch nicht. Nee, keine Märchen. Ich will echtes Leben.“

Sie bauten also Luftschlösser, die sich beim leisesten Ostwind auflösten; dachten sich in die Länder der Welt, soweit sie ihre Namen kannten, und mussten immer wieder feststellen, dass es ihnen an allem fehlte, um ihre Ziele auch nur anzupeilen.

„Wir müssen etwas älter sein, besonders du, sonst gibt’s Stress mit den Bullen und dem Jugendamt. Nee, abwarten müssen wir. Außerdem fehlt uns Kleingeld. Wir müssen erst an Kohle kommen. Dann können wir planen. Wenn das alles stimmt, weiß Janosch auch den Weg. Exakt!“

So ging das, bis Janosch sagte: „Okay! Wir mache es anders. Das mit Amerika dauert mir zu lange. Bis dahin bist du am Arsch. Okay? Ich muss dich beschützen. Du musst ganz raus aus deinem Bau, weg von der Drecksau und dem Stinker. Das machen wir zuerst.“

„Aber, ich leb doch schon im Brombeerbusch, mit Sicht auf unser Fenster. Meine Alte sagte, offiziell ginge nur bei ihr. Ich müsste älter sein.“

„Offiziell! Was für ein Quatsch! Das ist doch egal. Wen kümmert das hier eigentlich, frag ich dich? Meinst du, einer hätte mich gefragt, als ich Schulabbruch gemacht hab? Null! Die haben hier so viel am Arsch, das glaubst du nicht. Da können die über offiziell und so bloß dämlich grinsen. Und wenn nicht? Lass deine Alten doch schwitzen, wenn die vom Amt kommen.“

„Die hat was mit dem, sagst du. Wer weiß, was die dem alles sagt.“

„Lass sie. Ist doch nicht deine Sache. Beschützt die Alte dich etwa? Na also! Saufen tut die, mit Kerlen rum machen. Du bist für die ein Unfall auf zwei Beinen. Verstehst du?“

„Nein. Weil ich ein Krüppel bin? Wieso bin gerade ich ein Unfall? Andere etwa nicht? Du nicht?“

„Doch, ein paar andere auch. Ich sicher auch. Meine Alten sind zusammengebumst wie zwei Autos, ohne Sinn und Verstand. Okay. Dann war ich da. Was sollten sie machen? Stell dir vor, du fährst nen Wagen und bumst mit einem Auto zusammen. Was dann? Kannste dann sagen: Wäre ich bloß links herum gefahren? Hätte ich nur gebremst? – Kannste zwar sagen, aber nutzen tut’s nix. Okay. Genau so ist das hier gewesen. Die haben gebumst und Zack war ich da. Rums, warst du da. Konnten’s auch nicht rückgängig machen. Lieben tun die alle so ’nen Unfall – und was da an Beulen heraus kommt – wirklich nicht. Ich bin eine Unfallbeule, du bist eine Unfallbeule. Okay?“, sagte Janosch und wedelte so leicht mit den Ohren, dass Nick es fast nicht gesehen hätte.

„Aber was soll ich machen?“, sagte er und schaute auf die Ohren vom Janosch.

„Du musst da weg. Nicht nur im Sommer. Denk an den Winter. Da funktioniert deine Brombeerhöhle nicht.“

„Und wie? Soll ich unter die Straßenbrücke, oder was? Mit all meinen Klamotten? Bett da unten bauen? Du spinnst!“

„Langsam. Schon wieder Quatsch mit Soße. Wir machen es Schritt für Schritt. Okay? Erst raus bei den Alten, dann sehen wir weiter. Amerika ist weit – und es läuft uns nicht weg. Ich will da hin – mit dir! Später.“

„Aber … Du hast doch ein Zuhause. Wieso …?“

„Meine Alte wäre froh, wenn ich weg wäre; der Alte sowieso. – Unfall, du erinnerst dich? Mein Alter ist für’n Arsch. Kann nur brüllen und schlagen. Gehört für ihn zum Tagesablauf. Ich könnte dir morgens, wenn ich wach werde, schon sagen, wie’s läuft.“

Der Alte vom Janosch war wirklich auch ein Schwein, fast so schlimm wie die Drecksau. Oft genug kam Janosch mit wundem Rücken zu ihm und seine Augen waren nass. Nick sah das zwar, nahm das aber nur zur Kenntnis; richtiges Mitleid hatte er nicht; sein Kummer war größer und er hatte genug mit sich zu tun. Was der Alte von Janosch nicht wusste, das war, dass der längst einen Plan hatte, wie man diesen Schweinen entkommen konnte. Nick wusste es zuerst auch nicht, aber er ahnte was. So, wie Janosch seine Pläne, die er ihm vortrug und die doch eigentlich Klasse waren, ablehnte, musste der was Besseres im Kopf haben.

„Einfach in den Stadtbus und schwarzfahren bis zur Endstation am Bahnhof. Dann aufs nächste Schiff, egal wohin. Und fertig!“, hat er dem Janosch einmal vorgeschlagen, als der wieder nasse Augen hatte.

„Lass, lass sein“, sagte der nur. „Du hast Null Ahnung von so was. Warte ab.“ So was sagte der immer, wenn er mit Vorschlägen kam, wohin sie verschwinden könnten. „Dein Freund macht das schon. Ist bald soweit; muss ja nicht gleich aus der Welt sein“, sagte er im Spätherbst. Der ganze folgende Winter war ein einziger Albtraum. Er war ständig auf der Flucht, reagierte schon panisch, wenn er nur die Stimme der Drecksau hörte. Und doch erwischte der ihn mehrmals.

Dann endlich, an einem Frühlingstag, als er schon wieder in der Brombeerhöhle Zuflucht fand, gab es die Lösung: Janosch hatte in einem leer stehenden Plattenbau einen Keller entdeckt.

Das hundert Meter lange Gebäude, aus dem die Leute schon im Winter alle Fenster, Klos und Waschbecken rausgerissen hatten, stand am Anfang der Siedlung von Neu-Schwatoo, ein Stück weit weg von ihrem Bau und nah beim Wäldchen. Von dort aus konnte man die Bundesstraße sehen – und hören – die nach Rostock führte.

Ein richtiges Wäldchen war das nun eigentlich nicht. Sie sagten nur so. Wie sollte man die fünf windschiefen Kiefern, die ganz oben etwas grau verfärbtes, strohig wirkendes Grün trugen, und die lichtdurchlässige Eiche mit ihren verdrehten Ästen, die angeblich mehr als hundert Jahre alt war, auch anders nennen?

Janosch und er besetzten den Keller, als die Abbrucharbeiten stockten, weil die Firma pleite war und angeblich keiner wusste, wie es weitergehen würde. Dabei hatte es so ausgesehen, als wäre der Abriss des Baus nur der Anfang vom Ende der Plattenbausiedlung.

„Wir kriegen jetzt Westniveau. Bestimmt bauen die was mit Bankengeld, diese Mulimillionäre aus Berlin. Die stellen hier Nobelhütten hin“, haben die Leute auf der Straße gesagt. „Das sind Typen, wie die in Warnemünde. Die mit den teuren Booten, die alle alten Fischerhütten aufgekauft haben – für ’n Appel und ’n Ei. Die kaufen alles auf und machen Villen draus. Da musste schon Millionär sein, um in so einer Bude wohnen zu dürfen.“

Diese Häuser im alten Warnemünde, die kannte er. Waren wirklich gut; da möchte er schon drin wohnen. Die Leute aus der Siedlung hatten tatsächlich das Zittern gekriegt, weil sie dachten, dass sie die Miete für Luxuswohnungen nicht zahlen könnten. Dann haben sie mit Wehmut daran gedacht, dass sie wegziehen müssten, weit weg aufs billigere Land. Gejammert haben sie, wenn sie zusammen standen. Weil sie hier geboren wurden und immer so was wie, „hier ist meine Heimat“ sprachen. Ein paar von ihnen wollten eine Demo machen. „Gegen wen?“, hat dann einer gefragt und weil keiner die Antwort wusste, ließen sie es sein.

„Bald wohnen nur noch Zigeuner und Vietnamesen hier. Dann zieh ich sowieso weg“, sagte einer aus Nicks Bau, der als Nazi bekannt war, zu der Drecksau. „Hab gehört, dass die in unsere Wohnungen rein sollen. Haben die von der Stadt vor. Echt! Wir sollen weg, Richtung Osten.“

Das gab noch mehr Geschrei und Flüche. Gegen diese Zigeuner wollten etliche auf die Straße gehen, weil die ganze Siedlung in Verruf käme. Gegen die konnte man demonstrieren, das machte Sinn.

„Schweine sind das. Die saugen unseren Sozialstaat aus. Die fressen Kinder und machen täglich neue“, riefen die Leute aus den Fenstern, als sich ein paar Neonazis mit Fahnen und Megaphon unten aufgebaut hatten. Die Leute von der Bad Place Gang machten sofort mit. Sie stolzierten hinter der Reichskriegsflagge her und brüllten: „Zigeunerpack raus! Deutschland den Deutschen!“ und andere Sachen. Gab mächtig Beifall aus den Fenstern der Plattenbauten.

Nick hatte sich an dem Frühlingsabend alles angehört. Er lag in seiner Höhle und die Stimmen der Leute waren immer lauter geworden. Dieser Plattenbau war jedenfalls schon leer gewesen, bevor die neuen Besitzer ihn abreißen lassen wollten. Die Arbeitslosigkeit hatte viele Familien vertrieben – trotz Heimatgefühle und so.

„Die gehen nach Westen. ‚Go West’ ist deren Devise. Wie damals in Amerika“, hatte der Lehrer ihnen erklärt. „Könnt mal sehen, gegen was ihr den Kommunismus getauscht habt.“ Jedenfalls habe man im Austausch gegen die alteingesessenen Leute eine Menge Zigeuner bekommen. „Das, liebe Kinder wäre mit Erich nie passiert. Der wusste, wie man den Staat schützt. Das will nur heute keiner hören; spinnen ja nur noch vom Reichtum des Westens.“

Eine Woche lang war der Abbruch des Riesenbaus mit Abrissbirnen und Baggern die Attraktion und willkommene Abwechslung, besonders für die Jugend. Lastwagen, Bagger, Abrissbirnen und die tausend polnischen Hilfsarbeiter verschwanden von einem Tag auf den anderen. Zurück blieb eine Ruine, die aussah wie die Zähne im Mund der Drecksau.

„Schon wieder eine Pleite!“, riefen sich die Leute zu. „Bestimmt ist der Boss mit dem Geld nach Westen getürmt.“ In deren Köpfen türmten immer alle nach Westen. „Osten ist eh Scheiße!“, sagten sie untereinander und keiner widersprach.

Der hintere Teil der Obergeschosse war schon weg, Mauerreste ragten zackig in den Himmel, Tapetenfetzen und Gardinenreste flatterten im Wind, Schuttberge verdeckten Eingänge und Kellertüren. Im vorderen Teil des Blocks war noch manches heil. Die Wohnungstüren und die Fenster fehlten – und natürlich alle Armaturen, Rohre, Leitungen, Klos und Waschbecken. Durch die Fensterhöhlen pfiff der Wind; es war ungemütlich da oben. Aber im Keller, da gab’s Möglichkeiten.

Janosch hat Nick mitgenommen zur ‚Besetzung’, wie er das nannte. Er dachte sich immer was bei solchen Sachen. Als es losging, saß Nick hinter der Bushaltestelle vor dem Brombeerstrauch und hoffte, dass der Alte bald mal wieder raus kommen könnte. Er musste dringend ins Haus. Sehr sogar. Die Pfeife suchen. ‚Schmaucherl’ hatte sein Großvater die genannt.

Der Vater seiner Mutter war schon lange tot. Schon so lange, dass er sich nur mit viel Anstrengung an den Tag erinnern konnte, als es passierte. Geblieben war nur diese Pfeife, in deren Stummelstiel man die Zahnabdrücke vom Großvater sehen konnte. Sonst hatte der wirklich nichts hinterlassen, was seine Mutter oder er gebrauchen konnten.

„Opa Heinrich hat nicht mal so viel hinterlassen, dass wir eine anständige Beerdigungsfeier machen konnten“, klagte seine Mutter immer wieder, wenn die Sprache auf den zerquetschten Großvater kam.

‚Opa’ nannte ihn seine Mutter, oder ‚Opa Heinrich’, wenn sie wütend auf ihn war. War sie oft. Er sagte immer Großvater zu ihm und war nie wütend auf ihn. Kam ihm viel besser vor als Opa. „Weil“, so dachte er, „da steckt Vater drin und groß ist immer gut. Opa! Was für ein Quatsch.“

Als der fremde Mann – er hatte einen grauen Anzug an, die Krawatte war blutrot und der Knoten sah ziemlich gequetscht aus – an der Haustür klingelte, hat Nick die Tür geöffnet. Seine Mutter hat ihn grob an die Seite gedrückt und patzig gesagt: „Wir kaufen nix. An der Tür schon gar nich.“

Er konnte sich nicht mehr an das Gesicht des Mannes erinnern. Nur seinen Mund, der schnell auf und zu ging, der war ihm in Erinnerung geblieben. Aus diesem Mund mit den gelben Zähnen waren die Worte gekommen, die ihn so entsetzt hatten, dass er fast umgefallen wäre.

„Ihr Vater … tot … Unfall … zerquetscht … schrecklich … Bedauern“, und ein paar andere Worte waren in seinem Kopf gelandet.

„Großvater kommt nie mehr zurück!“, nur das hatte er daraus abgeleitet. Seine Mutter hat schrill und laut geheult – „wie ein Hund, dem man auf den Schwanz getreten hat“, hat er gedacht –, ist ins Schlafzimmer gerannt und hat die Tür zugeknallt. Dann hat der Mann sich gebückt, ihn traurig angesehen und der Mund hat sich wieder so komisch bewegt, dass er fast gelacht hätte – aber nur fast. Denn tatsächlich hätte er gerne geweint, aber das klappte gerade nicht. „Der Heinrich, also der Heinrich Bergmann, ist tot. Biste sein Enkel? Ich soll dat ausrichten und meine Beileid soll ich auch sagen“, hat der Mann von der Werftverwaltung ganz schnell gesagt. So als wolle er es möglichst schnell hinter sich bringen. „War ein Unfall, is zwischen Bordwand und Kai gefallen, der Heinrich. War sofort tot. Guck mal nach deiner Mama. Der is wohl nich gut.“

Da hat er dem Mann die Tür vor die Nase geknallt und sich in den Wohnzimmersessel gehockt, bis nach Stunden seine Mutter aus dem Schlafzimmer kam. Auch in dieser langen Zeit hat er nicht weinen können; auch nicht denken.

„Opa is tot“, hat sie gesagt. „Zerquetscht haben die den; hasse gehört? Wie ’ne Zitrone zerquetscht. Diese Schweine! Nur noch fünf Jahre musste der malochen. Fünf, Nikolaus! Die wollten dem bloß keine Rente zahlen. Wat mach ich jetzt bloß?“

„Warum? Müssen wir aus unserem Haus raus?“ fragte er, aber sie gab keine Antwort. Sie wohnten damals in dem Reihenhaus, das noch aus der Vorkriegszeit stammte; sie oben und Großvater unten. Großvater bezahlte für das ganze Haus die Miete.

„Hab ja sonst keinen“, sagte er einmal zu Nick, als sie am Kai saßen und ins Wasser schauten. „Ihr seid meine Familie. Mama hat uns ja verlassen; gerade, als wir sie besonders gebraucht hätten. War nicht fein von ihr, einfach so zu verschwinden“, sagte er und weinte dann ein bisschen.

Er hatte Großmutter geliebt, aber dass sie ausgerechnet Krebs bekommen hat, als seine Tochter von dem Polen schwanger wurde, das verstand er nicht. Dann hat er ihm über den Kopf gestrichen und gesagt: „Dat kommt von dat! Is immer so im Leben. Aber du sollst et gut haben. Bist schon schwer genug für die Sünde deiner Mutter gestraft.“

Er hat damals nicht sofort verstanden, dass es nun eng werden würde, dass sie die Miete für das Häuschen am Rand von Rostock nicht bezahlen konnten, dass jetzt der Punkt gekommen war, an dem sein und ihr Leben einen Purzelbaum schlagen würde. Einen Salto, bei dem sie auf dem Kopf landeten – er besonders heftig. Verstanden hat er aber, dass sein einziger Freund für immer weg war. Als sie am nächsten Tag einen Plastiksack brachten, in dem die Sachen vom Großvater lagen, da hat er sie an sich genommen, Großvaters geliebte Pfeife, das ‚Schmaucherl’.

Den Sack brachten zwei Kameraden seines Großvaters, die auch einen Blumenstrauß abgaben. Deshalb durften sie rein kommen und die Tür wurde nicht zugeknallt. Es gab Schnaps, etliche Pinnchen, langes Schweigen, ab und zu so was wie. „Tja, war ein prima Kumpel.“ „Wie dem dat passieren konnte!“ Oder auch schon mal: „Hätte jeden von uns erwischen können.“ Am meisten aber „Prost Heinrich!“ Seine Mutter hat immer mit dem gleichen Satz geantwortet: „Die Schweine wollten uns bloß keine Rente zahlen. – Prost.“

„Mehr war nicht im Spind“, sagte der eine Mann schließlich und schüttete den Sack aus. Zum Vorschein kam Großvaters Cordhose, ein Unterhemd, ein Norweger Pullover – es war ja Winter damals –, eine gesteppte Dreivierteljacke und ein paar Schuhe. War alles gleich im Müll gelandet.

„Dat hätten se auch behalten können. Wer weiß, wat da sonst noch drin war im Spind“, hat seine Mutter gemault, während sie die Sachen in den Container warf.

Alles, bis auf die Pfeife. Die hatte der Mann zuletzt, als sie gerade gehen wollten, aus der Tasche gezogen. „Hätte ich fast vergessen. Lag auch im Spind – ohne Tabakdose“, sagte er und das Schmaucherl hat Nick mit schnellem Griff an sich genommen.

Seiner Mutter war’s egal gewesen. Das mit der Tabakdose glaubte er nicht. Er kannte Großvaters Tabakdose so gut wie die Schmaucherl. Wo die eine war, war auch die andere. „Warum sollte Großvater die Pfeife ohne Tabak mit zur Arbeit nehmen? Schweine!“, hatte er wütend gedacht und war rausgerannt.

Na ja, sie war also geklaut worden. In der Wohnung vom Großvater, die seine Mutter nur zum Putzen betreten hatte, war auch nur Schrott – und keine Tabakdose – gewesen. Hatte seine Mutter gesagt und alles zum Sperrmüll rausgestellt, was sie nicht selber brauchen konnte, als sie am nächsten Ersten umzogen. In den Plattenbau, in eine nicht renovierte Wohnung, die nach alten Leuten roch.

Zuerst hat er die Schmaucherl im Schuhkarton unter anderen Sachen versteckt. Weil er noch nicht genau wusste, ob er sie benutzen sollte – und womit. Er wusste ja, wie es ging. Großvater hatte ihn mal ziehen lassen und das war echt ätzend gewesen. Ewig hat er husten müssen. Erst viel später, als dieser Mann schon seine Mutter geheiratet hatte, als sie in dieser Wohnung im Plattenbau hausten, da hat er sie rausgeholt, hat den zerkauten Pfeifenstiel in den Mund genommen, den Geruch tief eingesogen und plötzlich das Gesicht vom Großvater im Kopf gehabt. Das brauchte er gerade; denn schon nach einem Monat mit dem neuen Vater war er auf der Flucht, entdeckte die Schnelligkeit seiner dürren Beine.

Wenn er sie im Mund hatte, sie lässig hängen ließ, so wie Großvater es tat, dann saß er wieder mit ihm auf der Bank vor dem Haus und genoss die Abendsonne. Gemeinsam suchten sie Autos mit fremden Nummernschildern und wer zuerst eins entdeckte, bekam einen Sonderpunkt. Wer dann auch noch wusste, woher das Auto kam, der bekam fünf. Für zehn Sonderpunkte gab’s ein Eis – für ihn – und eine gestopfte Pfeife für den Großvater. Großvater lächelte dann, hatte eine Million Falten, die wie Strahlen seine Augen umschlossen, roch am Tabak und hielt Nick die Stummelpfeife mit dem gebogenen Mundstück vor die Nase.

„Riech mal, Nick. Na? Dat vergisst du nich; dieser Duft nach Brasilien und den Tabakplantagen. Unsere Nasen vergessen nix, Junge. Wat du einmal gerochen has, dat bleibt in deinem Kopf haften. Pass auf, ich steck die jetzt an und du darfst – aber nur einmal – ziehen. So! Na? Wat sagste?“

„Mir ist schlecht“, hat er gestöhnt, gespuckt, geröchelt und gehustet und Großvater hat sich vor Vergnügen auf die Schenkel geschlagen.

„Ja, dat musste noch lernen. Beim nächsten Mal machste die Augen zu und holst dir Bilder von Brasilien in den Kopp. Da gibt’s Mädchen, die kannste dir nicht mal erträumen. Braune, gut gebaute, mit glänzenden Augen. Die halten dir ein Tabakblatt unter die Nase und du genießt; den Tabakduft und dat Mädchen.“ Ja, Großvater war ein echter Freund und diese alte, zerkratzte und nach kaltem Rauch riechende Pfeife, die hat er sich darum als Erbe ausgesucht. Als Andenken an den einzigen Freund, den er damals hatte; Janosch gab’s ja noch nicht.

In den Wochen nach diesem schrecklichen Verlust ist er rum gelaufen, hat jemanden gesucht, der ihm Tabak geben könnte. Schließlich, als er einsehen musste, dass da nichts ging, hat er seiner Mutter fünf Euro aus der Geldbörse geklaut, hat Blut und Wasser geschwitzt, als sie am Abend ihre Barschaft zählte. Aber sie hat nur geknurrt: „Der Saukerl hat schon wieder wat geklaut. Na warte.“

Damals schwor er sich, nie mehr zu klauen; wegen dem furchtbaren Gefühl danach. Das ganze Geld hat er dann in einem Tabakgeschäft in Warnemünde gelassen. „Brasilianischen Tabak soll ich kaufen. Der von Mädchen gemacht wurde, hat Großvater gesagt“, hat er dem freundlichen Mann erklärt. „Fürs ganze Geld.“

„So? Fürs ganze Geld? Von rassigen Schönheiten mit brauner Haut? Ob das was für kleine Jungen ist?“ Aber er hat ihn bekommen. „Sind zwar nur ein paar Gramm, aber für einen Jüngling dürfte das zunächst mal reichen“, sagte der Tabakhändler, kniepte mit den Augen und gab ihm sogar die Hand.

Im Wäldchen, unter der knorrigen Eiche, hat er gesessen, bedächtig geraucht, den Rauch bewusst geschmeckt, an Brasilien gedacht und sich schließlich Bilder vom Großvater in den Kopf geholt; nicht von braunen Mädchen, die interessierten ihn nicht. Lebendige Bilder waren das. So gingen sie zum Beispiel an der Unterwarnow entlang, warfen Steine ins Wasser und Großvater zeigte ihm die Schiffe, erklärte ihre Herkunft, die Namen und welche Fracht sie transportierten.

„Früher, als wir noch keine Kräne hatten“, erzählte er, „mussten wir breite Rücken haben. Die schweren Säcke machten uns krumm und schief. Heute kannste sogar ohne Muckis die Riesenkähne entladen. Brauchst nur aufzupassen, dass du nich selber verladen wirst.“

Oder sie hockten am Kai in Warnemünde, ließen die Beine baumeln und schnupperten die Luft, die von See her ins Land drückte. Sie schwiegen und er hatte keinen Gedanken im Kopf; nur ein Glücksgefühl im Bauch. Viele Bilder mit seinem Großvater waren im Kopf und der Duft, der aus der Pfeife kam, weckte sie, ließ sie lebendig werden. Er musste nicht ein einziges Mal husten. „Siehste Großvater, hab schon gelernt. Kannste nur noch staunen, was?“, hat er ihm gesagt, als die Pfeife langsam erkaltete.

Als der Tabak alle war, versenkte er die Pfeife wieder im Schuhkarton. Das Abschiednehmen war vorbei. Er hatte begriffen, dass Großvater nie mehr mit ihm durch den Tag gehen würde. Die Bilder in seinem Kopf wurden weniger, je länger sie in der neuen Wohnung lebten, je länger seine Mutter mit diesem Mann zusammen war.

Die Pfeife, die der Großvater nie aus dem Mund nahm, außer, wenn er auf der Werft war, wenn er aß oder schlief, geriet langsam in Vergessenheit. Nur selten noch hat er sie rausgeholt, ein paar Mal daran gerochen und dabei an Großvater gedacht. Großvaters Bild war immer blasser geworden und schließlich konnte er sich nicht mehr an seine Stimme erinnern. Er hat sie geliebt, diese Pfeife, mindestens ein Jahr lang. Aber irgendwann hat er sie endgültig weggelegt und vergessen. Vor einigen Tagen, als der Alte auf Sauftour war und seine Mutter irgendwo rum hing, hat er sie zum ersten Mal wieder gesucht. Ohne Erfolg. Sie war nicht mehr im Schuhkarton, in dem nur ein paar Bilder von Fußballern des Vereins Hansa Rostock, ein Tennisball und eine zerfledderte, leider leere, Geldbörse lagen. Er wusste nicht, ob er sie verlegt hatte oder ob seine Alten ihn in den Müllschacht geworfen hatten.

„Komisch“, dachte er, „dass sie mir wieder eingefallen ist. Warum jetzt?“

Seitdem war es wie ein Zwang. Schon mehr als ein Jahr hatte er das ‚Schmaucherl’ nicht angesehen und jetzt wurde sie plötzlich so wichtig wie sonst was.

An dem Tag hat er sich vorgestellt, wie es wäre, wenn er eine Tasche finden würde. Das kam, weil er übers Schmaucherl und über ‚Finden’ nachgedacht hat – und über ‚Verlieren’, was ja damit zu tun hat.

Der Janosch hatte kürzlich festgestellt: „Nie ist was weg. Egal ob Geld oder ein Messer. Es ist nur woanders. Nichts kann sich in Nichts auflösen. He! Regel fürs Leben: Alles bleibt erhalten; nichts kann sich in Nichts auflösen. Das gilt! Das ist Gesetz!“

Darüber hat er lange nachdenken müssen. Das war eine so wichtige Regel, dass er sie von allen Seiten beleuchten musste. Also dachte er auch über die verloren gegangene Pfeife nach. Sie war nur woanders. Aber wo? „Alles, was man verliert, ist nicht wirklich weg. Ist nur im Kopf weg. Meistens ist es da, wo man’s zuletzt hingelegt hat. Ich finde sie. Wer weiß, was noch so alles rum liegt, was einer verlegt hat. Taschen voll Tabak – oder voll Geld.“

Seine Gedanken schlugen, wie so oft, wenn er lange nachgedacht hatte, Purzelbäume. Sie rissen etwas an, wurden vergessen oder er ließ sie als unwichtig ins Gras purzeln und fing neue Sachen an und so fort.

Wie so oft, fingen die Gedanken sich wieder, klammerten sich an einem der gerade gedachten Worte fest und spannen den Faden weiter. Er begriff, dass etwas erst wirklich verloren war, wenn es einer vermisste.

„Was niemand vermisst, kann ja dann nicht verloren sein. Wie viele Dinge sind weg und niemand hat sie jemals vermisst? Wenn ich … Ich könnte ja auch verloren gehen. Einfach so. Kann man? Einfach so? Also … Ja, wie? Verloren gehen? Ich vermisse die Pfeife. Genau. Die ist verloren gegangen. Genau. Mann, dann müsste mich einer vermissen. – Einer könnte mich finden. Egal wer. Zum Fundamt bringen. Dann würden die mich versteigern. Als Fundsache, für die keiner was gibt. Krüppel will keiner. Na ja. Auch nicht toll.“

Dann wollte er schon lieber so weiterleben. Auch, weil er sich vorstellen wollte, wie sie nach Amerika kommen könnten. Plötzlich fiel ihm bei dem Wort ‚Finden’ noch etwas ein: „Ich könnte die Tasche finden, die … Also, die diesem Mann von der Bank gehört. Wenn er sie, nur zum Beispiel, verloren hätte.“

Diese Gedanken ließen ihn nicht mehr los. Er spann den Faden weiter, ließ dem Gedanken freien Lauf.

Die Tasche legte jemand hinter den Brombeerstrauch und er fand sie, als er Brombeeren pflückte. Im Gras lag sie, war feucht und glänzte. Keiner konnte sie von der Straße aus sehen. Eine schwarze Tasche musste es sein. Er hatte sie genau vor Augen, weil genau diese Tasche der Mann von der Bank stets unter dem Arm trug, wenn er Feierabend hatte. Die Volksbank befand in der Marxstraße. Die mündete auf dem Friedrich-Ebert-Platz. Eine Bank für kleine Leute war das, nichts für Reiche. Die gab`s ja hier nicht. Der Banker wohnte nicht im Block. Der doch nicht! Nee, den sah er nur, wenn er abends über den Friedrich-Ebert-Platz stromerte und der Mann gerade die Bankfiliale abschloss. Der ging quer über den Platz, hatte die Tasche unter den rechten Arm und sah sich jede Minute um, als befürchte er, ein Gangster wolle sie ihm stehlen.

So wie der aussah, so stellte er sich Millionäre vor: groß, hager, mit einer scharfen Adlernase, misstrauische Augen, die blonden Haare straff nach hinten gekämmt. Eine Brille mit Goldrand trug der, immer einen grauen Anzug, ein weißes Hemd – nie trug einer aus dem Plattenbau ein weißes Hemd! –, mit dunkler Krawatte und dann noch schwarze Lackschuhe. Das war’s aber nicht alleine. Der ging nicht einfach daher wie, sagen wir mal, der Schlosser Berger aus dem Erdgeschoss oder wie die Drecksau. Nein, der zeigte mit jedem Schritt, dass da jetzt wer kam, der andres war. Reicher. Bedeutender. Der dachte bestimmt noch an die Tussi, die den ganzen Tag auf seinem Schoß saß und zuhörte, was er ihr sagte. Ein Handy hatte der; während er über den Platz lief, fummelte er schon daran rum und sprach lange.

Also die Tasche. Sie hatte ein silbernes Schloss, zu dem natürlich der Schlüssel fehlt. Aber Janosch hatte schon ganz andere Schlösser geknackt – sagte der wenigstens. Das an der Bootswerkstatt, an der rückwärtigen Tür, das hatte er nicht aufgekriegt. „Ist das erste Schloss, das ich nicht knacken kann. Aber das pack ich auch noch“, hat er verlegen gesagt, weil er zuvor was von ‚Kinderspiel’ gemurmelt hatte.

Und dann der Inhalt! Scheine! Braune und grüne Scheine; Bündel mit einem Papierband drum. „Eine Million!“, musste Janosch zu ihm sagen und ihm anerkennend auf die Schulter schlagen. Dann hat er überlegen müssen, was er – und Janosch – mit einer Million anfangen würden. „Flugticket nach Amerika!“, stand als erster Gedanke mal fest.

„Die ganze Siedlung kaufen, alle Plattenbauten. Wir reißen die ab und bauen Villen da hin. Zum Spottpreis für alle. Nur diese Gangleute, die können auf der Müllhalde wohnen“, würde er zu Janosch sagen. Seiner Mutter würde er eine Wohnung in Warnemünde kaufen, eine kleine Wohnung, gerade was für eine Person. Für ihren Mann, diese Drecksau? „Nichts!“, hat er entschieden und in dem Moment hat Janosch ihn gerufen.

Janosch kam aus dem Haus und winkte ihm schon auf der Treppe aufgeregt zu. Der wusste natürlich, dass er hinter den Blechen mit der Reklame saß und das Haus beobachtete. Nick wusste, dass Janosch oft stundenlang verschwunden war, weil er für den ersten Schritt was suchte. Sogar bis in die Dörfer im Umland war er gelaufen. Er ließ ihn das machen, fragte nicht. Er hatte genug damit zu tun, nicht da zu sein, wenn der Alte ihn suchte, oder da zu sein, wenn die von der Stadt kamen.

Janosch war schwer bepackt. Eine aufgerollte DDR-Fahne, einige Meter Stacheldraht, ein verrostetes Schild mit der Aufschrift „Grenzgebiet – Das Betreten und Befahren ist nur mit Sonderausweis gestattet. Für Bürger anderer Staaten (Militär-und Zivilpersonen) verboten!“, trug er unter dem Arm und auf der Schulter. Auf dem Weg zum Abbruchbau las Janosch ihm das vor. „Weil’s dann schneller geht. Oder kannst du’s lesen?“, hat er gefragt.

„Schon. Bin ja nicht total blöde. Aber es dauert“, hat er geantwortet.

„Bis dahin sind wir in Amerika“, hat Janosch gemeint und es langsam vorgelesen. Das stünde da alles in mehreren Sprachen, sagte er, die er natürlich auch nicht verstehen könne. War ja auch egal, es sah jedenfalls ziemlich offiziell aus.

Noch ein Schild trug Janosch, auf dem stand: „Halt! Grenzgebiet!“ Das hat sogar er schnell gelesen und verstanden. In einer Werkzeugtasche aus Jeansstoff befanden sich außerdem ein Türschloss mit zwei Schlüsseln, ein Hammer und eine Hand voll 8-zöller Nägel.

„Hab was gefunden, Nick.“

„Echt? – Kein Scheiß?“

„Nein, kein Scheiß. Wir gehen ins Abbruchhaus. Da hinten, beim Wäldchen. Es wird ernst“, sagte Janosch.

„Aber da oben war’s uns doch zu nass und windig. Der Keller, hast du gesagt, wäre total versifft.“

„Schon, aber nicht alle Keller. Hab einen gefunden, der okay ist. Warte ab.“

Einen ganzen Tag lang sind sie da unten herum gekrochen, haben einen Raum, der voller Abfälle war, untersucht und alles rausgeschleppt, was da nicht rein gehörte. Durch einen langen Kellergang ohne Licht sind sie in einen Nachbarkeller gelangt. Jemand hatte die Trennwand raus geklopft. „Hat vielleicht einen Tresor da drin gehabt“, vermutete Janosch, als er die Bruchsteine sah. „Oder eine Leiche, die jetzt weg musste, damit sie keiner findet.“

„Echt? Glaubst du?“

„Oh, Mann! Manchmal krieg ich Zustände bei dir. Andererseits … Unmöglich wäre das doch nicht. In Krimis kannste das erleben. Die hier gewohnt haben, waren solche Typen! Na ja.“

Es war eine ‚Sauarbeit’, wie Janosch das alle zwei Minuten nannte. Aber sie gaben nicht auf, räumten und schleppten so lange, bis sie den Kellerraum als „bewohnbar“ beurteilten. Jemand hatte die Holzlatten der ‚Kaninchenställe’, die jedem Mieter zustanden, entfernt. Jetzt war es ein riesiger Kellerraum mit fünf Lochgitterfenstern, durch die nur gesiebtes Tageslicht fiel; hier war immer Dämmerung.

„Wusstest du, dass man Licht sieben kann? Kannste nur mit Licht. Licht in tausend Punkte geteilt, ohne Probleme. Toll, was?“, fragte Janosch.

Lange hat Janosch da gestanden, das Werkzeug in der Hand gehalten, und hat auf die Lichtpunkte auf dem Boden gestarrt. Lichtpunkte, die sich nicht bewegten aber mal schärfer, mal schwächer den staubigen Boden ein Muster gaben.

Nebenan befand sich eine mit Betonboden und Kachelwänden ausgestattete Waschküche. Da gab’s sogar einen Wasserkran, den die Diebe übersehen hatten. Das Beste war: das Wasser lief noch! Sauberes Wasser spritzte auf den Betonboden, nässte ihre Schuhe, als Janosch den Hahn aufdrehte. Sie folgten der Leitung, bis sie durch ein Loch in der Wand verschwand. „Weißt du, was das heißt? Wasserklauer!“, stellte Janosch fest. „War ein Profi dran.“

„Was? Die haben Wasser geklaut?“

„Klar doch. Hatten doch alle wenig Kohle. Wasser und Strom waren denen zu teuer. Kauften sich lieber eine Pulle Schnaps für. Die haben sich heimlich vor den Zählern neue Zugänge gemacht. Gibt richtige Spezialisten für so was; kannste buchen. Strom-und Wasserklauer; das war schon immer normal. Warte mal.“ Er ging in den kleinen Nebenraum der Waschküche, der wie ein Wandschrank aussah aber keine Tür besaß. Nach einer Minute war er wieder draußen. „Wusste ich’s doch! Strom kostenlos und umsonst. Hat der Typ gar nicht schlecht gemacht. Hat einfach ein Kabel durch die Mauer verlegt. Kein Schwein hat was davon gemerkt. Wir machen uns eine Verlängerung in unseren Wohnraum. Kabel gibt’s genug. Dann ist es perfekt.“

„Du glaubst, hier könnten wir …? Könnte ich – offiziell wohnen?“

„Oh, Mann! Nick, hör zu: Hier kannst du dich verkriechen, abtauchen. Okay? Kannst dich verstecken vor allen Blödmännern, die was von offiziell quatschen und vor allen, die was von dir wollen. Immer! Im Sommer und im Winter! Allwetter-Unterkunft. Wenigstens so lange, bis sie es abreißen. Aber das kann dauern. Vielleicht, bestimmt, sind wir dann schon in …“

„Amerika! – Sind wir denn hier alleine? Ist die Bude sicher?“

„Das Wort Bude gefällt mir nicht. – Sicher gibt’s nicht. Nicht in diesem Leben. Die anderen Kelleräume sind voller Schutt, Sperrmüll und Schrott; haste ja gesehen. Wer da durch eines der Fenster oder durch die verschütteten Türen rein kommt, der hat bestimmt ein Problem. Aber sicher? Jedenfalls, bis einer hier ist, muss er ganz schön klettern.“

„Ja, aber die Tür da vorne. Die ist doch offen; da sind wir ja auch rein gekommen. Wie soll das gehen? Kriegste die zu?“

„Ja, das wird sie gleich sein“, sagte Janosch, zog ihn nach draußen, und bat ihn, die DDR-Fahne abzurollen. „Das hier, dieser Keller, das wird unser Land. Unser Terri… Verdammt, wie heißt das noch? Weißt du’s?“

„Weiß nicht, was ein Terri ist.“

„Egal. Unser Staat eben. Wie sollen wir ihn nennen?“

„Weiß nicht. – Vielleicht DDR? Ist doch die Fahne von denen.“

„Quatsch! Die ist kaputt, die DDR meine ich. Außerdem mag die keiner mehr – fast keiner. Warte mal. – Ich hab’s! Wir nennen ihn nach seinen Besetzern: Janosch und Nick. Also? Das gelobte Jan-und Nickland! Das Land Jannick. Das ist irre gut.“

„Oder Amerika?“

„Zweifach blöde! Erstens ist der Name schon vergeben. Zweitens wäre dann unsere Reise zu Ende, bevor sie angefangen hat. Willst du das? – Nicht? Okay. Dann also ‚Jannickland’!“

Er hat etwas nachgedacht und es dann auch gut gefunden. Es war ja auch nicht so einfach, für das hier einen Namen zu finden, der was hergab. Andere Länder hatten ihre Namen schon immer, die hatten es einfach. Vor dem Kellereingang hat Janosch den Holzstab der Fahne in den Rasen gestoßen. Er hat daneben gestanden und daran denken müssen, wie Neil Armstrong nach seiner Landung auf dem Mond die amerikanische Fahne in den Boden gerammt hat. Das haben sie ihnen mit einem Videofilm in der Schule vorgeführt.

„Früher“, hat der Geschichtslehrer Strasser dabei gesagt, „früher haben unsere sowjetischen Freunde immer einen riesigen Vorsprung gehabt, technisch, meine ich. Jetzt sind das da unsere Freunde und die sind vorne. Na ja.“ Dabei hat er so sauer ausgeschaut wie beim Verteilen der benoteten Hausarbeiten und mindestens drei Mal geseufzt.

„Besetzt!“, hat Nick gedacht und den Mond – und eigentlich auch seinen Stern – gemeint.

„Besetzt!“, rief Janosch, als er das schlaff herab hängende Tuch mit dem Arm anhob, damit sie den Ährenkranz sehen konnten und meinte den Keller im abbruchreifen Plattenbau.

„Wenn einer von uns da ist, wird die Fahne aufgehängt. Okay? Ist Pflicht!“

„Und der Stacheldraht? Was machen wir damit? Sperren wir den Zugang ab?“

„Den? Biste bescheuert? Wie sollen wir dann rein kommen? Mit der Kneifzange? – Also, ich sag mal: Symbol!“

„Hä? Was für ein Symbol? Stacheldraht! Rostiger Draht! Spinnst du?“

„Du hast in der Schule gepennt, als die über Symbole gesprochen haben. Ich nicht. Das ist unsere symbolische Grenze. Den legen wir quer vor den Eingang, aber so, dass jeder trotzdem da rein kann, wenn offen ist.“

„Wozu ein Symbol? Sagt mir nichts.“

„Ja, dir vielleicht nicht. Symbole braucht der Mensch. Denk mal an die Pfeife von deinem Opa. Das ist dein Symbol für‘s an Opa denken. Denk an die Nazis, die haben ihre Hakenkreuze und sonstigen Scheiß. Woran glauben die Arschlöcher denn, die diesen Symbolen nachlaufen? Meinste, die hätten was von dem Programm dieser Nazis gelesen? Nie! Aber das Symbol finden die gut und laufen hinterher wie der Hund hinter der Wurst.“

„Du bist so schlau, Janosch. Ich wollte, ich wär’s auch.“

„Wirste noch; ich bring’s dir bei!“

Die beiden Schilder hat Janosch mit den 8-zöller Nägeln an die Mauern neben der Kellertür befestigt. Das sah nicht sauber aus, die Schilder hingen krumm und schief, weil Janosch die Nägel in Risse klopfen musste; anders bekam er sie nicht in den Beton. „Egal! Das reicht. Sind auch Symbole; für unseren Staat. Wenn da einer rein geht, ist das illegal, sozusagen strafbar.“

„Oh! Durch wen wird er denn bestraft?“

„Durch mich. Ich bin der Präsident vom Jannickland – und ich bin gefährlich“, sagte Janosch und als Nick ihn ansah und die rollenden Augen erblickte, glaubte er es ihm sofort.

„Und ich?“, fragte er leise. „Wer bin ich?“

„Du? Na, du bist das Volk. Ohne Volk ist ein Land Scheiße. Ohne Volk ist ein Präsident wie … wie ein Furz. Nämlich nichts.“ Er lachte laut und wackelte so mit den Ohren, dass sogar Nick lachen musste.

Das Volk und sein Präsident hatten eine Menge zu tun, bis alles okay war. Mit Schraubenzieher und Flüchen hat Janosch das alte Schloss ausgebaut, weil sie keinen Schlüssel dafür hatten. Der Einbau des neuen Schlosses ging dann einfach. Janosch verschloss die Tür und gab ihm den Zweitschlüssel. „Für alle Fälle. Wenn du mal alleine abtauchen musst. Ich denk, das wird oft sein. Hier bist du ziemlich sicher.“

„Nur ziemlich?“

„Mann, ich hab’s dir erklärt: Total sicher geht nicht. Dann müsstest du im Knast sitzen. Aber da gäb’s andere Probleme für dich.“

Er musste in der nächsten Zeit oft abtauchen. Wenn sein Stiefvater betrunken war und jemanden brauchte, den er prügeln konnte. Wenn seine Mutter ihn verprügeln wollte, weil ihr Kerl sie verprügelt hatte und sie irgendwie ein Ventil brauchte um nicht zu ersticken -– wie sie hinterher immer zur Entschuldigung sagte –, dann war’s auch besser, sich nicht blicken zu lassen. Wenn der Alte Geld zum Saufen brauchte und ihn abschleppen wollte, dann rannte der durch die Siedlung und fragte alle Kinder nach ihm aus. Dann musste er sich einfach in Luft auflösen. Wenn der Alte ihn dann doch gesehen, ihn auf der Straße abgefangen und zu dem Dreckskerl gebracht hatte, dann brauchte er die Zuflucht, das wunderbare Jannickland besonders. Auch wenn er den Geruch des Nuttenparfüms nicht loswerden konnte, wenn das Mal in seinem Gesicht stand, und wenn ihn niemand sehen durfte, bevor er sich geschrubbt hatte.

Die Wunde auf der Brust brannte nicht mehr; sie juckte nur noch. Das machte der Schweiß, der ihm auch in den Nacken lief. Er würde aufpassen müssen, wenn er sich den Dreck abschrubbte. Sonst gab’s nachher ekelige Flecken im T-Shirt. Das hatte er gerade erst im Waschmaschinenraum des Plattenbaus gewaschen.

Janosch war nicht da, das sah er schon von weitem. Die Fahne hing nicht am Stab. Er schloss auf, holte sie aus dem Flur, hing sie umständlich auf und ging wieder rein, nachdem er sich ein paar Mal umgesehen hatte. In dieser Ecke der Siedlung sah man selten einen Erwachsenen; Kinder schon gar nicht, weil die erstens nicht durften und zweitens Schiss vor Gespenstern und Ratten hatten. Er sah niemanden und atmete auf, als er hinter sich abgeschlossen hatte. Jetzt fühlte er sich sicher; vor Leuten, die sein Mal nicht sehen sollten und vor seinem Alten. In seinem Hals saß das Heulen und in seinem Kopf sprudelten die Gedanken durcheinander, ohne dass er eingriff.

Im Jannickland war es dämmerig wie immer; die Lochgitter der Kellerfenster ließen nur wenig Tageslicht durch. Die Luftlöcher zeichneten Muster auf den dunkelroten Teppich. Den hatten sie sich, wie die zwei durchgesessenen Sessel, die vier Eisenrohrstühle, das geblümte Sofa und den wackeligen Tisch, vom Sperrmüll besorgt. Auf Betten hatten sie umsonst gewartet – zunächst. Janosch hatte tagelang Überlegungen angestellt, warum die Leute ihre alten oder uralten Betten nicht wegwarfen.

Dann hatten sie sich zwei Kinderbettmatratzen aus dem Sperrmüll geholt. Da waren zwar Pissflecken drauf, aber nachdem Janosch sie mit viel Wasser, Seife und der Bürste bearbeitet hat, stanken sie nicht, sahen nur nicht gut aus. Deshalb brauchten sie auch nicht mehr auf den gammeligen Decken zu schlafen, die Janosch beim Metzger gefunden hatte; mit denen deckten sie sich jetzt zu. Ihr größter Schatz war allerdings die Schallplattenanlage – eine uralte.

„Der Idiot!“, hat Janosch gesagt, als sie das auf Antik getrimmte Möbelstück unter Teppichen und Matratzen fanden. „Die denken, das wäre unmodern. Nee, antik ist das. So ein überirdischer Idiot. Kackarsch! Die in den Regen zu stellen.“ Es goss wirklich Bindfäden an dem Tag, an dem der Sperrmüll abgeholt wurde und es gab deshalb keine Konkurrenz. Sonst stromerten regelmäßig Kerle aus den Plattenbauten durch die Straßen der Siedlung, stocherten in den Haufen herum, warfen sie durcheinander und nahmen jedes Stück mit, das noch einigermaßen zu gebrauchen war. Janosch hatte eine Sackkarre organisiert. „Vom Metzger ausgeliehen. Merkt der nicht“, sagte er.

Die Anlage war vollständig – mit eingebauten Boxen. Alt, aber eigentlich noch recht passabel. Bloß, sie konnten sie nicht probieren, weil sie keine Platten hatten.

„Wer hat schon so alte Dinger? Ist Nostalgiescheiße aus der DDR sagen alle. Jetzt haben die Leute CDs und neuerdings noch diese MP3-Player – sogar die Arbeitslosen. Wenn die sich sonst nix leisten, aber Schnaps, Zigaretten und Musik, das muss sein. Schallplatten sind jedenfalls out, megaout sogar. Darum hat ja auch einer diese Anlage auf die Straße gestellt. Sieh dich um. Vielleicht hat einer noch welche und will sie loswerden“, hat Janosch ihm geraten. Aber niemand schien die Dinger los werden zu wollen.

Er ging in die Waschküche und zog sich vollständig aus. Die Rötung an den Wundrändern hatte zugenommen. Bevor er den Hahn aufdrehte, horchte er noch einmal, aber es war still, niemand machte sich an der Tür zu schaffen. Er schrubbte sich die Haut wund, jammerte leise und war trotzdem froh, dass er diesen Körper quälen konnte. Der war ja schließlich Schuld an dem ganzen Mist. Nur den Bereich um die Wunde herum, den sparte er doch lieber aus.

„Du hättest es beenden können, du feige Sau! Lässt sich so ein Kreuz in die Brust schneiden. Bist du ein Mönch? Steck dem das Messer in den Fettbauch und geh nach Hause.

Das wär’s dann – für immer.“

„Nein! Nein! Hör auf! Wer bist du?“

„Verdammt! Wo kommen die Gedanken her? Hab doch früher nicht so was gedacht. Bin ich bescheuert?“, murmelte er, schüttelte alle Gedanken aus dem Kopf und rubbelte sich mit dem Handtuch die Haut heiß. Sie besaßen jeder ein Handtuch, darauf hatte er bestanden. Janosch hat es zuerst nicht glauben wollen, dass er sich nicht an seinem Tuch abtrocknen wollte.

„Meinst du, ich hätte Aids oder so was? Mann, wir sind doch gewaschen. Was soll dann der Scheiß? Da musste mal zu uns kommen. Die Alten und ich benutzen alle ein Handtuch. So lange, bis es steif ist und stinkt. Und? Bin ich davon krank geworden? Du bist ja schlimmer als zehn Mädchen.“

„Dann lieber Mädchen sein. Deshalb riechen die auch so gut.“

„Was weißt du, wie Mädchen riechen?“

„Hab sie gerochen – im Vorbeigehen.“

Schließlich hat Janosch zwei neue Handtücher ‚organisiert’. Das Wort geklaut vermied er meistens, weil Nick immer so komisch guckte. Er und viele andere Jungs und Mädchen hatten Tricks drauf beim Klauen, die keiner kannte. Die klauten nicht nur, was sie brauchen konnten. Nein, einfach alles, was sie sahen und vielleicht veräußern oder tauschen konnten. Er hasste das. Warum, das wusste er nicht. Vielleicht, so hatte er schon mal gedacht, weil die größten Klauer aus der Gang kamen – und das was die machten, hasste er grundsätzlich.

Er schnupperte an seinem Handtuch; es roch etwas muffig. Er würde sich eins aus der Wohnung holen müssen, damit er dieses im Waschsalon waschen lassen konnte. Er rieb sich schnell trocken und zog sich wieder an. Er langweilte sich, vermisste Janosch, trabte kreuz und quer durchs Jannickland, fand einfach keine Ruhe. In den Beinen kribbelte es und in der Nase begann es wieder nach dem Nuttenparfüm zu riechen. Er musste raus.

Als er aus dem Keller auf die Straße trat, sah er, dass sie nass war; ein Gewitterschauer hatte die Luft abgekühlt. Die Abenddämmerung glitt sanft in die von Straßenlaternen und Autoscheinwerfern bekämpfte Nachtschwärze. Von hier waren die Sterne nicht zu sehen, was, wie ihm einfiel, auch daran liegen konnte, dass der Himmel bedeckt war. Er holte die Fahne vom Mast und legte sie in den Keller. Sorgfältig schloss er ab. „Zwei Mal! Immer zwei Mal!“, hatte Janosch befohlen.

Im Hintergrund erhoben sich die klotzigen Gebäude der Siedlung, deren Kanten sich vom dunkelgrauen Himmel scharf abhoben. Im Asphalt spiegelten sich die Farben der Verkehrsampeln. Es war gespensterhaft still. So still, dass er mit dem Zeigefingerknöchel auf sein rechtes Ohr pochte, weil er dachte, es wäre Wasser drin.

„Vielleicht bin ich auch schon tot? Nee, ich spür ja alles andere. Das Scheißkreuz brennt wie Feuer seit dem Duschen. Ist bestimmt Seife drin. Tote merken gar nichts mehr. Denk ich mal. Aber wer weiß.“ Er ging auf den Wohnblock zu, zögerte, wechselte die Richtung und schlenderte durch die Ebertstraße zum Friedrich-Ebert-Platz. Am Rand der menschenleeren grauen Betonfläche blieb er stehen. Ab und zu tauchte ein Auto auf, verschwand in einer der Straßenschluchten, die von Geschäftshäusern und Plattenbauten gesäumt wurden. Mitten auf dem Platz stand auf hohem Sockel das Ebertdenkmal. Denkmäler hatte er noch nie gemocht. Weder die, bei denen ein bewaffneter Arm in den Himmel stieß, noch die anderen, bei denen ein ernst blickender Mann in ein steinernes Buch schaute, als wären darin alle Geheimnisse des Lebens erklärt. Letztere kannte er nur aus den Schulbüchern.

Er umrundete die Gedenksäule, blieb aber auf Distanz, als er ein Pärchen entdeckte, dass auf dem Sockel der Figur saß und sich befummelte.

„Was Pat jetzt wohl macht?“ Ganz plötzlich fiel sie ihm ein und er warf die Gedanken aus dem Kopf. Pat hatte er schon ewig nicht mehr gesehen. Die war manchmal wochenlang nicht da, wenn Ferien waren. War dann bestimmt bei den Verwandten im Westen, bestimmt fuhren die Alten von ihr immer da hin. Aber auch sonst kam sie nicht oft raus. Die war anders als die Mädchen in der Siedlung.

Er war lustlos, hatte keine Ahnung, was er tun konnte. Er wollte aber etwas machen, musste irgendwie die Leere füllen, die er fast schmerzhaft spürte. Er linste rüber zu den Leuten auf dem Denkmalssockel, die im Dämmerlicht ineinander verschmolzen. Der Junge stand mit dem Rücken zu ihm, hatte das Mädchen vor sich. Sie saß auf dem Schoß von Friedrich Ebert; er sah die weißlich schimmernden Beine des Mädchens im Rücken des Jungen hängen. Das Mädchen lehnte sich an den steinernen Friedrich Ebert und stieß im Sekundentakt kleine, gedämpfte Schreie aus.

„Scheiße, was die da machen! Regen sich über die Zigeuner auf und machen’s selber.“

Es war heiß unter der Schädeldecke, so heiß, als würde ein Feuer entflammt sein. Der ‚Andere’ summte und pochte in seinem Kopf. Die Wut kam plötzlich, überfiel ihn, presste alle freien Gedanken raus. Seit einigen Monaten passierte ihm das häufiger; anders und klarer als am Anfang. Es war jetzt manchmal so heftig, so drängend, dass er nicht mehr wusste, ob er es war oder dieses komische Ding in seinem Kopf. Es passierte sogar, dass alle Gedanken kreuz und quer durcheinander liefen und er sich erst einmal mit der Faust an den Schädel schlagen musste, um wieder Klarheit zu bekommen. Er glaubte manchmal, dass der ‚Andere’, der sich irgendwo in seinem Schädel eingenistet hatte, sein Feind war. Nie kamen gute Ideen, immer nur was mit Gewalt – gegen seinen Willen. Oft, zu oft, gewann der ‚Andere’. Manchmal ließ er ihn gewinnen, glaubte daran, was der ihm eingab. Nicht sehr oft, aber immer schämte er sich danach.

In seiner Erinnerung tauchten Bilder auf, die er nicht sehen wollte. Aber sie blieben, waren irre lebendig. Er kannte sie, diese plötzliche Wut. Sie kam, ohne dass er sie abwehren, oder sie zurückdrängen konnte. Er wusste noch genau, wann das war, als sich der ‚Andere’ erstmals meldete.

Damals hat er noch nicht der ‚Andere’ gedacht. Ohne zu begreifen, dass etwas anders war als sonst, lief das damals ab. Viel später erst, als es sich häufte, der Streit in seinem Schädel immer heftiger wurde, da hat er gedacht, dass da etwas in seinem Kopf war, was da nicht hin gehörte und hat verstanden, dass es nicht seine Gedanken waren. Der ‚Andere’ hatte sich da heimlich eingenistet. Irgendwann hat er begonnen, den Streit mit diesem ‚Anderen’ anzunehmen, ihn als real zu akzeptieren.

Diese Wut, damals … Es war ein Abend wie so viele zuvor, war wie immer alleine, hatte sich aufs Bett gelegt und war eingeschlafen.

„Du pennst, während ick für disch sorge. Für disch, du Baschtard. Hascht mein ganzches Leben kaputt gemacht. Du polnischer Balg!“ Sie stand, nein, sie schwankte zwischen den Türrahmen hin und her und glotzte ihn mit hervor quellenden Augen böse an. Ihr Pulli hing schräg über eine Schulter herunter, ließ eine Brust bis zur dunkelbraunen Warze sehen. Ihre Gesichtszüge waren entgleist, wie Janosch das nannte, wenn sie Besoffene beobachteten. Ihr Mund schlabberte, Worte verwischten, kamen zerquetscht über ihre feucht glänzenden Lippen. Wenn sie diesen Gesichtsausdruck hatte, den er so gut kannte und den er so sehr hasste, dann wusste er, was die Uhr geschlagen hatte. Irgendein Freier mit genügend Geld hatte sie abgefüllt und war mit ihr in ein Stundenhotel gegangen. Danach kam der Kater, der seelische und körperliche, wie Janosch das nannte. Ihre Mundwinkel hingen kraftlos herunter, die Augen glänzten eigentümlich und das ganze Gesicht bestand aus einem idiotischen Lächeln. Sie war total betrunken.

„Du bischt blöde, weischt du dassch?“, fragte sie, schwankte wie das Schilfrohr an der Warnow und hörte nicht auf zu grinsen. „N’ Krüppel bischte. Haste von dem Polen, der mich gebumst hat. Du gehörscht weg. Isch hab genuch von dir.“

„Ich bin nicht blöde. Du bist betrunken, Mama! Lass mich in Ruhe. Ich will nur, dass du still bist.“

„Du bisch kein Normaler. Isch dir doch klar? Vergast hätten se so wat, sagt man, damalsch bei Adolf.“

Die Wut war heiß, schoss durch den Kopf, verbrannte alle klaren Gedanken. Sein Körper wurde selbständig, schnell und schneller. Er stand vor ihr, bevor sie noch einmal den Mund öffnen konnte. Seine Faust traf sie mitten auf den sabbernden Mund, der nächste Schlag ließ ihre Nase bluten. Dann trat er zurück. Ganz langsam hob sich seine Linke, zeigte waagerecht ausgerichtet auf ihr Gesicht, auf die Augen, die ihn fassungslos anstarrten. Die drei Finger spreizten sich, bildeten eine Gabel mit messerscharfen Hornspitzen. „Du Schlange!“, schrie es aus ihm heraus und mit einem großen Schritt war er bei ihr, die Fingergabel traf ihren Hals, bohrte sich in die weiche Haut.

„Mach sie alle! Mach! Mach sie kaputt! Mach kaputt, was dich kaputt machen will!“

„Wir machen dich alle. Dann ist Schluss mit deinem Scheißleben.“

Ihr Schrei war so lang gezogen, so tierisch, dass er erstarrte. Eisige Luft blies durch seinen Kopf, löschte das Feuer aus. Bewegungsunfähig stand er vor ihr, starrte in das blutende Gesicht, den verschrammten Hals. Sie sank auf die Knie, hielt sich am Türrahmen fest und schrie immer noch.

„Hör auf! Hör auf!“, brüllte er voller Panik. „Ich tue dir nichts. Mama, bitte. Ich war das doch gar nicht. Das war … schrecklich.“

Ihr Geschrei hörte schlagartig auf; sie sah ihn an, als wäre er ein seltenes Insekt. „Du wolltest deine Mutter umbringen, du … du Sau“, sagte sie mit erstaunlich klarer Stimme und er dachte, dass das vielleicht am heftigen Schlag lag, den er ihr auf den Mund gegeben hatte. Sie betrachtete einen Blutstropfen, der auf ihren Handrücken gefallen war, und schüttelte den Kopf. „Hilf mir hoch, du …“

„Ich wollte das nicht Mama. Du hast so schlimme Sachen gesagt, so furchtbare Sachen. Da ist es pass…“

„Isch zeig disch an, du Sau“, nuschelte sie und er dachte, dass die Wirkung des Schlages wohl nicht lange vorgehalten hatte; dann wankte sie in ihr Zimmer.

Er hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte und Sekunden später erbrach sie sich. Er stand vor ihrer Tür, wagte nicht, die Klinke zu berühren oder sie zu rufen. Als seine Beine zitterten, hockte er sich auf den Boden, den Rücken an der Tür gedrückt und legte den Kopf auf die Arme. Irgendwann hörte er sie schnarchen und da schlich er in sein Bett und weinte.

Tagelang hat sie danach nicht mit ihm gesprochen, hat ihn nur verächtlich angesehen, wenn er um Entschuldigung bat. Die Schuld bedrückte ihn. Immer wieder fragte er sich, warum er das gemacht hatte – und fand einfach keine Erklärung für sein Verhalten. Er liebte sie doch und würde alles tun, damit sie ihn auch liebte. Sie schlagen? Sie verletzen? Undenkbar. Immer wieder beteuerte er, dass er nicht wüsste, wie es passiert sei. Er wusste es damals wirklich nicht. Er war doch er selber und kein anderer konnte mit ihm machen, was er nicht wollte. Irgendwann begriff er aber, dass dies der Anfang von etwas war, was ihm manchmal das Ruder aus der Hand nehmen, ihn zum Handlanger machen würde.

Seit damals fürchtete er sich vor dieser heißen Wut, vor der Macht des ‚Anderen’. Er hatte anfangs ständig in sich hinein gehorcht, wollte sie frühzeitig entdecken und auslöschen. Wenn sein Klassenlehrer ihn verhöhnte, der Alte ihn verprügelte oder zu diesem Stinker schleppte, besonders aber, wenn seine Mutter betrunken in die Wohnung torkelte, dann spürte er sie, ahnte, dass sie da war, dass sie lauerte, sprungbereit aufspringen wollte.

Gerade hatte er sich noch ganz normal über die Unverschämtheit des Pärchens geärgert und jetzt das. Er verstand sich selber nicht mehr, dachte für einen Moment, er hätte einen zweiten Kopf. Hatte er das jetzt gedacht oder der ‚Andere’?

„Verdammt! Egal, was die da machen. Wütend bin ich doch gar nicht. Eigentlich überhaupt nicht. Sollen die doch, wenn die das wollen“, sagte er leise, damit ihn die Leutchen am Denkmal nicht hören konnten.

Dann war sie doch da, die Wut. Sie überflutete ihn, verbrannte alle seine Überlegungen über den ‚Anderen’. Über lange Zeit war dieser ‚Andere’ in Deckung geblieben, hatte im letzten Moment den Kopf eingezogen. Nun war er wieder da. Nicht so heftig wie damals, langsamer ansteigend. Aber er war stark, blockierte alle Gedanken, tat, was er wollte.

„Ich zeig’s euch, ihr Wichser! Jetzt zeig ich’s euch. Ihr werdet Spaß haben. Ha!“

Er schlich zum nächsten Laternenpfahl, an dem ein Müllbehälter hing. Ohne das Pärchen aus den Augen zu lassen, wühlte er mit der Linken im Dreck, fühlte matschige Pommesschalen, Papiertaschentücher und Zeitungen. Dann hatte er gefunden, was er gesucht hatte und zog eine Bierflasche mit Schnappverschluss heraus. Sie roch abscheulich, als er sie vor die Augen hielt; sie war natürlich leer. Das Mädchen rief: „Jaaaa!“ und die beiden Leutchen wackelten ziemlich. Friedrich Ebert hielt still.

„Na wartet. Gleich könnt ihr Jaaa schreien.“

„Nein! Ich tue’s nicht, lass das!“

„Oh doch! Säue sind das! Ein bisschen Erschrecken hilft. Vielleicht bricht er ihm ab. Ha!“

Er öffnete seinen Hosenschlitz, hielt den Flaschenhals davor und ließ den Urin in die Bierflasche laufen; als er seine Blase geleert hatte, war sie halb gefüllt. Er verschloss sie und ging los. Langsam, immer im Schatten der Hauswände, jeden Eingang als Deckung nutzend, umrundete er den Platz, bis er Friedrich Eberts breiten Rücken vor sich hatte. Auf der anderen Seite ertönten leise Seufzer, dann plötzlich erneut heftiges Gestöhne. Diesmal kam’s von dem Jungen und das Mädchen kicherte.

Nicks Körper wurde schnell, sehr schnell. Er rannte auf das Denkmal zu, ließ die Flasche kreisen, drehte sich um die Achse und schleuderte sie über die linke Schulte des Herrn Ebert. Eine Sekunde später gab es einen dumpfen Schlag, gefolgt von einem grellen Schrei und – nach einigen weiteren Sekunden – eine Kette von harten Flüchen. Da war er schon auf der Flucht, erreichte die nächste Straßeneinmündung und tauchte im Schatten der Plattenbauten unter.

„Bist doch kein Feigling, Nick. So musst du’s machen.“

Er schaffte es, die Hitze zurück zu drängen, Protest einzulegen.

„Scheiße war das. Echte Scheiße!“

„Du musst dich gehen lassen, musst das tun, was du für richtig hältst. Lass es nie mehr an dir vorbei laufen.“

„Das war nicht richtig. Ich will so was nicht! Nie mehr!“

Als er in die dunkle Straßenmündung lief, überflutete ihn eine eisige Kälte, löschte das Feuer der Wut. Diesmal hatte er keine Schuldgefühle, spürte kein Entsetzen, obwohl er sich darüber im Klaren war, dass er sie hätte töten oder wenigstens verletzen können. Nein, er fühlte sich eigentümlich erleichtert und nachdem er festgestellt hatte, dass ihm keiner folgte, pfiff er eine Melodie, die er während des Pfeifens erfand. Sie klang traurig und müde.

Die Häuser waren hier nur noch dreigeschossig. Unten gab’s Geschäfte, oben Büros oder auch Wohnungen. Die meisten Fenster waren dunkel, die Geschäfte hatten geschlossen und die Schaufenster waren nur sparsam beleuchtet. Alle waren mit Gittern gesichert. Die Straße, aus der er kam, mündete auf einem Platz, der fast kreisrund angelegt war. Sie führte um einen leicht hügeligen Mittelpunkt, der schmucklos, nur mit ungepflegtem Gras bewachsen war.

Die Wohnsilos, die den Platz begrenzten, waren viergeschossig, aber sie sahen übel aus. Die Wände waren bis zum ersten Stock in allen Farben beschmiert. Wilde Zeichnungen, obszön und ohne Sinn, machten an den Fensterrahmen nicht Halt. Fremde Worte, die er buchstabierend las, wurden mit primitiv gezeichneten männlichen und weiblichen Geschlechtsteilen ergänzt.

Er wusste, wo er gelandet war; er hatte den Platz schon mehrfach besucht – immer nur im Dunkeln. ‚Friedensplatz’ hieß er laut Straßenschild, aber ‚Zigeunerdorf’ nannten die Leute aus der Siedlung ihn. In Warnemünde und Rostock war dieser Platz von Neu-Schwatoo Tagesgespräch. Wütend und entrüstet sprach man von dem ‚sittenlosen Abschaum’. Im ersten Haus rechts von ihm befand sich im Erdgeschoss ein Supermarkt, in dem Janosch manchmal einkaufte – ohne Geld. Anders als in den Seitenstraßen, waren an diesen Häusern fast alle Fenster hell erleuchtet. Leben gab es hier, jede Menge. Dunkelhäutige Jungen und Mädchen sausten auf Rädern und mit Rollern um die Grasinsel herum, auf der ein Dutzend Männer und Frauen lagerten.

Ihr Lachen und Rufen schallte über den Platz, wurde als Echo von den Hauswänden zurückgeworfen. Mitten auf dem höchsten Punkt des Hügels hatten sie ein Feuer entzündet. Ein Mann warf einen Arm voll Äste hinein und ein Funkenregen stob in den Nachthimmel. Die Flammen beleuchteten Gesichter, die von schwarzen Haaren umrandet waren, ließen die langen und bunten Kleider der Frauen und die zumeist dunklen Anzüge der Männer schemenhaft erkennen.

Ein Mann sprang hoch, zog eine Mundharmonika aus der Hosentasche, spielte eine langsame, traurige Melodie und wiegte sich dabei in den Hüften. Nachdem die ersten Töne erklungen waren, wurde es still auf dieser Grasinsel, das Lachen verstummte, die Kinder hielten inne mit ihren wilden Spielen. Nur einen Moment später stand ein weiterer Mann auf, stellte sich neben den Mundharmonikaspieler, legte einen Arm um dessen Schulter, schaute hoch zum Himmel und sang; er sang deutsch mit einem starken Akzent, war aber gut zu verstehen.

„Im Schatten des Waldes, im Buchengezweig, da regt‘s sich und raschelt und flüstert zugleich. Es flackern die Flammen, es gaukelt der Schein um bunte Gestalten, um Laub und Gestein. Da ist der Zigeuner bewegliche Schar mit blitzendem Aug‘ und mit wallendem Haar, gesäugt an des Nils geheiligter Flut, gebräunt von Hispaniens südlicher Glut.“

Strophe für Strophe erklang, begleitet von der Mundharmonika. Nick lauschte. Das Lied gefiel ihm, regte in ihm etwas an. Seine Traurigkeit bekam einen Namen: Einsamkeit.

„Schwarzäugige Mädchen beginnen den Tanz. Da sprühen die Fackeln im rötlichen Glanz. Es lockt die Guitarre, die Cymbel klingt. Wie wild und wilder der Reigen sich schlingt!“

Die Stimme des Sängers wurde immer leiser und erstarb dann völlig; gleichzeitig mit den Tönen der Mundharmonika. Stille, sekundenlang nur. Nick hörte die Flammen knistern und das Knallen, wenn die Holzscheite zerplatzen. Dann setzte der Mundharmonikaspieler dort wieder an, wo er aufgehört hatte. Die Töne der Melodie füllten die Nachtluft, wurden schneller, hektischer. Kaskaden von Tönen liefen die Tonleiter rauf und runter.

Eine groß gewachsene Frau rief laut „ma bibe, Janko“, sprang hoch, warf die Arme in die Luft, klatschte in die Hände und stampfte im Rhythmus der Melodie auf den Grasboden. Selbst aus der großen Entfernung war ihre exotische Schönheit beeindruckend. Er starrte sie an, suchte die Augen, wie er es immer tat, wenn er einem Mädchen begegnete. Sie drehte sich leicht und elegant, zeigte für Momente ihr rassiges Profil mit der Hakennase. Er war gefesselt von dem Schauspiel, konnte den Blick nicht von der Frau lassen, die ihr Schultertuch wegwarf, ihre nackte Schulter zeigte. Ein Mann, der am Boden lag, den Kopf in die Linke gestützt, fing das Tuch auf, schwenkte es und lachte. Seine Worte waren für Nick unverständlich; die Leute um ihn herum aber lachten und einige Frauen klatschten. Die Stille wurde abgelöst von übermütigen Rufen, von lautem Lachen, von schneller und immer schneller werdender Musik, die der Mundharmonikaspieler mit einem heftig stampfenden rechten Fuß begleitete.

Wie frisch poliertes, schimmerndes Kupfer sahen die Schultern der Tänzerin aus, angeleuchtet vom Feuer, das aufloderte, als erneut Knüppel hinein geworfen wurden. Die Melodie wechselte, wurde fröhlicher und noch schneller, immer ungestümer. Rufe ertönten, anfeuernde Schreie erklangen. Die Tänzerin wirbelte um ihre Achse, stampfte immer schneller mit den Füßen. Sie blieb stehen, stieß nur noch mit den Füßen den Takt der Musik – und schaute ihn an. Er war sicher, dass sie nur ihn ansah. Ihre schwarzen Augen schienen sich an seinen festzusaugen. Er spürte ihre Kraft. Sie stand still, starrte ihn an, lächelte. Plötzlich sang sie, fand sofort den Ton der begleitenden Musik. Fremde Laute, mit rauchiger Stimme und fliegendem Atem gesungen. Die Männer und Frauen, die sie umringten fielen nach und nach ein, bildeten einen Chor, der mühelos die Mundharmonika übertönte. Sie ließ seine Augen los, drehte sich, reckte die nackten Arme zum Himmel. Armbänder klirrten im Rhythmus der Bewegungen.

„Zigeunerpack! Haltet Schnauze! Machen Ruhe!“, schrie aus einem der Fenster eine rau klingende Stimme.

Die Männer und Frauen auf dem Hügel ignorierten den Rufer, lachten und sangen weiter. Der Mann, der das Tuch der Tänzerin gefangen hatte, sprang auf, fasste sie um die Taille, wirbelte sie durch die Reihen der im Gras liegenden Menschen und fiel schließlich mit ihr ins Gras. Die Frau stieß einen kleinen Schrei aus, dann lachte sie; es war ein gutturales, ein so seltsames Lachen, dass es Nick im Nacken kribbelte. Männer und Frauen sangen das immer langsamer werdende Lied mit; niemand schaute hin zu den beiden Menschen, die ruhig nebeneinander lagen.

„Zigeunerpack! Ich rufen Polizei“, schrie ein Mann und dann knallte ein Fenster zu.

Nick stand da, mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen. Das hier war friedlich, fröhlich und niemand wurde bedroht. Er verstand nicht, warum die Leute aus der Siedlung sich so aufregten, wenn man von den Zigeunern sprach. Als drei Jungen, alle in seinem Alter, ihre Räder vor ihm stoppten und ihn herausfordernd anstarrten, drehte er sich um und lief zurück zum Ebertplatz.

Vor seinem Wohnblock spielten einige Jungen im Licht der Straßenlampe Fußball und er bog ab ins Unkrautfeld neben dem Spielplatz. Das Gras und die Brombeersträucher waren noch feucht; es störte ihn nicht, dass seine nackten Beine nass wurden. Hinter dem Buswartehäuschen hockte er sich hin und beobachtete das Haus.

Geschwungene Doppeltreppen, deren Stufen unten breiter waren als oben und deren zwei Hälften einen Stock über dem Souterrain an den Eingangstüren zusammentrafen, führten zu den Eingängen des langen Baus. Verdreckte Strahler beleuchteten den Eingangsbereich und die Treppen. Auf den Stufen vor seinem Eingang hockten, lagen und rekelten sich Scharen von Kindern. Ihr Geschwätz klang wie das strittige Gezwitscher der Sperlinge, die hinter ihm im Gebüsch hockten. Im Sommer blieben die oft bis Mitternacht auf den Straßen, wollten nicht in die stickigen Wohnungen, in denen die Alten vor dem Fernseher hockten.

Mädchen im Kindergartenalter warfen sich Bälle zu. Jungen, die höchstens die erste Klasse der Grundschule besuchten, boxten sich und alberten herum. Etwa zehn größere Jungen und Mädchen standen scheinbar gelangweilt herum, taten so, als bewachten sie eine lästige, unruhige Schafherde, traten schon mal nach einem, der sie zufällig berührte.

Die Eingangstür öffnete sich und ein Mädchen kam heraus. Er erkannte sie sofort. Es war Pat, die eigentlich Patrizia hieß, Patrizia Schäfer. Sie hatte lange blonde Haare, die meistens zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, und trug im Sommer grundsätzlich einen so kurzen Rock, dass er ihren Schlüpfer sehen konnte, wenn er hinter der Haltestelle lauerte und sie oben auf der Treppe stand. Sie war zwei Jahre älter als er, wie er von Janosch erfahren hatte. Das machte ihm nichts aus; den Unterschied konnte man kaum sehen. In seinem Bauch verspürte er jedenfalls immer ein kleines Flattern und Ziehen, wenn er sie sah.

„Das ist Liebe; so ist Liebe“, dachte er. „Ich liebe Pat. Ob sie mich lieben kann? Ob sie mich überhaupt schon bemerkt hat – richtig, so als Jungen?“ Diese Fragen beschäftigten ihn fast jeden Tag und er hatte sich schon hundert Möglichkeiten ausgedacht, wie er es erfahren konnte. Er war froh, dass sich der ‚Andere’ nie zu Pat äußerte. Bisher nicht! Pat ging ja auch nur ihn etwas an. Einmal hat er Pat zu dem Stern mitgenommen. Sie haben dort im Gras gelegen, sich an den Händen gehalten, geträumt und geschwiegen. Ihm war nichts eingefallen, was er ihr hätte sagen können. Erzählen würde er es ihr nie, das mit dem Stern auf den er immer floh.

Er schreckte aus seinen Gedanken auf, als er die Pfiffe der großen Jungen hörte. So war das immer, wenn sie Mädchen entdeckten, die sie anmachen wollten.

„He, sollen wir mit dir ins Wäldchen gehen? Ich zeig dir auch was“, rief einer mit heiserer Stimme.

„Hey! Pat, wo willst du hin? Hier spielt die Musik“, schrie ein bulliger Junge und baute sich so dicht vor Pat auf, dass Nick nur noch ihren seitlich hängenden Pferdeschwanz sah.

„Mach den Abpfiff, Dirk“, sagte Pat. „Was willst du von mir?“

Da erst erkannte er die Jungs der Gang; sie waren die Hüter der Schafherde.

„Lass sie“, sagte einer der weiblichen Sperlinge. „Musst ja nicht jede anbaggern, du Poser.“

„Klappe, Baby! Sag ganz schnell, wo du hin willst, Pat. Ich werde dich begleiten und beschützen. Ich lege den Arm um dich und pass auf, dass dich keiner anmacht. Mit mir zusammen bist du sicher.“

„Eh, du nervst! Ich geh zu Freddy, dem Bruder meiner Mutter. Du kennst den ja. Wenn du mir Schwierigkeiten machst, reißt der dir die Haare vom Kopf.“

„Bullshit! Brauchst ja nicht gleich den wüstesten Schläger der Siedlung aus dem Hut ziehen. – Okay! Reg dich ab. Wollte nur wissen, ob ich dich beschützen soll.“

„Brauch keinen Beschützer. So einen wie dich schon gar nicht. Willst mich bloß angrabschen, du Sau. Hau ab!“, sagte Pat und lief an Dirk vorbei.

Sie sprang die Treppe herunter und blickte sich um, als ein Mädchen etwas rief, was er nicht verstand.

„Nee, bloß ’ne Schallplatte. Total out of time. Hat mein Alter von einem Kollegen gekriegt und kann sie nicht gebrauchen. DDR-Nostalgie, meint der. Ich soll sie dem Freddy schenken, der kann jeden alten Kram gebrauchen.“

Einige Kinder lachten und Pat ging mit schnellen Schritten die Straße herunter, in Richtung Ebertplatz. Er war wie elektrisiert. Eine Schallplatte! Pat wollte die gar nicht haben. Eine, die überhaupt keiner haben wollte! Er lief geduckt auf der anderen Seite hinter ihr her, immer bemüht, im Dunkeln zu bleiben und keinen Lärm zu machen.

Als sie um die Ecke bog, wartete er ein paar Sekunden und rannte ihr erst nach, als sie um die nächste Hausecke bog. Er konnte sehr schnell sein, wenn er wollte – oder musste – und lief dazu auf leisen Sohlen. Er lief zu ihr auf und als er sie berühren konnte, hielt er den Atem an, riss ihr die Schallplatte aus der Hand, drehte weg und rannte zurück.

„Scheiße!“, schrie Pat. „Was soll das?“

Er lief, hörte ihre Trippelschritte und wurde noch schneller.

„Nick! Ich hab dich erkannt. Du Krüppel, elender! Ich zeig dich an! Du Behindi! Warte, was mein Onkel mit dir macht.“

Sein Atem ging viel schneller als sonst, wenn er laufen, wenn er fliehen musste. Sein Herz raste und in seinem Kopf war das reinste Chaos.

„Nick! Ich sorg dafür …“ Den Rest konnte er nicht mehr verstehen. Er lief drei Mal um Hausecken und blieb dann schwer atmend hinter dem Brennnesselgebüsch am Rand des Spielplatzes liegen. Er lauschte, vernahm nur das aufgeregte Tack, Tack, Tack einer besorgten Amsel. Dann war Pat da; er hatte sie nicht kommen hören, weil sein Atem so laut war.

„Nick! Gib mir die Platte zurück. Sofort!“, rief Pat und hockte sich auf die Schaukel. Sie konnte ihn nicht sehen, da war er sicher.

Er rührte sich nicht, betrachtete ihre langen Beine, die knapp über dem Boden baumelten. Sie waren nackt; die dunklen Sandalen hoben sich kaum von den braunen Füßen ab. Ihr Kopf drehte sich ständig und ihre Augen suchten den Spielplatz ab. Er wunderte sich nicht, dass er sich vorstellte, wie er mit den drei Fingern der linken Hand über ihre weichen Oberschenkel strich.

„Komm raus. Sofort! Hab dich längst gesehen, Nick. Bitte! Ich krieg mächtigen Ärger. Bitte! Du bist doch gar nicht so, wie die da auf der Treppe.“

Fast hätte er ihr die Schallplatte zurückgegeben. Aber dann dachte er ans Jannickland und ließ es. Er wartete, bis sie aufstand und zur Straße ging. Erst als sie nicht mehr zu sehen war, stand er auf und rannte nach hinten raus. Auf Umwegen gelangte er zum Jannickland. Die Fahne hing am Mast, flatterte im Abendwind. Janosch war da! Der lag auf dem Bauch und versuchte, den uralten FORON-Kühlschrank in Betrieb zu nehmen, den er kürzlich im Sperrmüll gefunden hatte.

„He! Was sagst du nun, Alter? Echt stark, was? Für unsere erste Party. – Mist! Scheiße! Der ist echt hin“, rief er und Nick war ein bisschen froh, dass seine Schallplatte jetzt doch das Tagesereignis war.

„Wo haste die denn her?“

„Geklaut. Von Pat, dem Mädchen aus unserem Bau.“

Janosch wackelte mit den Ohren, klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. „Klasse! He! Seit wann klaust du? Du kommst mir jetzt auch nicht mehr mit ‚Klauen ist Scheiße’ oder so. Okay? – Lass mich mal machen. Ich weiß, wie die Kiste funktioniert.“ Er nahm ihm die Hülle aus der Hand, las den Coveraufdruck, sagte „Aha! Die!“, zog die Platte heraus und legte sie vorsichtig auf den Teller. Mit den Fingerspitzen hob er den Tonabnehmer hoch und ging in die Knie, um die Nadel genau und sanft aufsetzen zu können. „Discjockey möchte ich werden. In so ’ner richtigen Disco mit Wahnsinnsleuten drin. Mann, dann ging die Post ab, jeden Abend. Nur einen Joint am Abend würde ich rauchen, nie mehr.“

„Hast du schon …?“

„Joint geraucht? Na klar doch, Mann! Auf’m Schulhof sowieso. Mann, bestimmt vier Jahre lang. Immer wenn ’ne Arbeit anstand. Hat zwar nicht echt geholfen, aber jedenfalls hab ich’s leichter genommen, den ganzen Stress, die Fehler und die Scheißnoten. Hab nie was anderes gesehen als Vier, Fünf und Sechs. Viel Rot war auch immer in den Heften. Muss die ne Menge rote Minen gekostet haben. – Weißt du, wie Scheiße das ist, wenn die anderen mit ihren Noten prahlen? ‚He! Schon wieder eine Eins!’ Mann, irgendwann kannst du nicht mehr oder du musst kotzen.“

„Wem sagst du das? Ich bin ja noch viel schlechter als du. Wenn’s mal keine Sechs war, dann war das schon was.“

„Siehste, mir half da nur ein Joint. Verstehste? – Du hast noch nicht? Warum nicht?“

„Noch nie. Gab mir ja keiner was. Geld dafür hatte ich auch nicht. – Wenn ich einen nehmen würde, bevor ich zu dem Stinker gebracht werde, dann …“

„Glaub das nicht. Nie würde das dabei helfen. Höchsten noch kotzübler wäre dir nachher. Du wüsstest bloß nicht genau, wovon du kotzen musst. Das ist nicht wie bei den Scheißnoten.“

Es knatterte und knisterte. Die Anlage funktionierte. Die Klaus-Renft Combo röhrte den alten DDR-Hit ‚Türen öffnen sich zur Stadt’.

„Ey! Ist das was?“, rief Janosch und packte ihn an den Schultern. Übermütig schwenkte er ihn herum, drehte ihn, bis ihm schwindelig wurde.

„Hör auf, Janosch. Mir wird schlecht. Was soll der Scheiß?“

„Wir tanzen! Der Schwindel gibt sich gleich, warte.“

„Hab … Hab noch nie … So was …“

„Dann wird’s höchste Zeit. Tanzen ist in! Los!“, rief Janosch, packte ihn um die Hüfte und trampelte quer durch den Raum.

Sie stießen an die raue Kellerwand, kollidierten mit dem wackeligen Tisch und verfingen sich in Stuhlbeinen. Janosch versuchte den Rhythmus zu treffen, stampfte abwechselnd mit dem linken und dem rechten Fuß auf.

„He! Langsam!“, rief Nick. „Warum wieherst du nicht? Du trittst ja um dich wie ein Pferd.“

„Okay, okay! Bin ja kein Weltmeister. Also, noch mal“, sagte Janosch.

„Na, von mir aus“, seufzte Nick. „Solange keiner guckt.“

„Wir tanzen! Tanzabend im Jannickland!“, rief Janosch mit rollenden Augen und tanzte mit ihm kreuz und quer durch den Kellerraum.

Sie tanzten wie ein Paar, so, wie sie es im Fernsehen machten – sagte Janosch wenigstens. Die Musik berauschte ihn, Janoschs warme Hände auf den Schultern taten gut und seine Beine wirbelten wie von selber durch die Luft. Dann weinte er, einfach so. Die Hitze schoss in den Kopf, das Jannickland verschwamm, die Musik hörte er nur noch wie durch Watte und die Tränen machten seinen Hemdkragen nass. Er weinte, bis Janosch ihn los ließ und lange anschaute. Dann erst putzte er sich mit dem Ärmel das Gesicht trocken und schaute zur Wand.

„Ich glaube, ich weiß, wie dir ist, Nick. Das Leben ist Scheiße, was? Meistens wenigstens.“

Sie standen voreinander und bewegten sich nicht. Nick ließ die Arme kraftlos hängen und als er spürte, dass die Tränen schon wieder laufen wollten, stampfte er wütend mit dem Fuß auf. „Tanzen ist Mist! Hatte Schmerzen im Kopf, da hinten; vom Drehen“, sagte er und klopfte sich mit dem Knöchel auf den Hinterkopf.

„Ja“, sagte Janosch und lächelte. „Ja, Nick. – Eh, Nick! Wenn wir Party machen, müssen wir erstens noch mehr Platten haben und zweitens richtig tanzen können.“

„Mit wem denn? – Außerdem tanze ich nicht; nicht mit Anfassen.“

„Mann! Gibt doch andere Musik. Wir besorgen uns Disco-Platten. Da ist nichts mit Anfassen.“

„Wie denn? Woher denn? Ich kann ja nicht in so eine Tanzschule gehen – ohne Geld. Eine Party? Uns will doch keiner – ich meine, keine.“

„Glaubst du! Ich weiß, dass da ein paar Mädchen ganz wild auf uns sind. Auch auf dich. Wer hat schon ein eigenes Land, he?“, rief Janosch und lachte, während er mit den Ohren wackelte.

„Aber wie denn? Ich meine, das mit solchen Platten und tanzen können“, sagte Nick und blickte zweifelnd zu seinem Freund.

„Noch ’ne Regel fürs Leben: Nie aufgeben. Okay? Etwas geht immer. Okay?“, fragte Janosch, setzte sich aufs Sofa und schaute ihn an, lange, so lange, dass Nick schlecht wurde.

„Nein!“

„Doch! Der Stinker wird uns welche besorgen. Du sagst ihm, dass du sonst nicht mehr kommst.“

„Ich will das nicht. Ich geh doch nicht freiwillig … Ich geh da nie mehr hin! Nie! Warum sollte ich dem das sagen?“

„Weil wir ihn erpressen! Wollten wir doch sowieso. Erinnere dich, Nick.“

„Erpressen? Wie denn? Wie denn? Dann müsste ich gleich nach Amerika auswandern, sonst bringt mich der Dreckskerl – oder der Stinker – doch um. Ich kann nicht.“

„Wie kann der bloß so was denken? Ist das mein Janosch? Wem soll ich jetzt noch trauen?“

„Hau ihm in die Fresse. Der ist ein Schwein! Wegen Schallplatten!“

„Nein, nein. Vielleicht meint der …“

„Warum nicht? Weiß der doch nicht, dass das ’ne leere Drohung ist. Der ist so geil, dass der …“, sagte Janosch und Nick glaubte erste Zweifel zu hören.

„Hör auf! Hör auf! Hör auf! Ich will nie mehr da hin. Warum ziehen wir in unser geheimes Land? Warum? Du hast gesagt, damit ich da nicht mehr hin muss. Jetzt schickst du mich zu dem? Du bist wie mein Alter.“

„Gib’s ihm! Jawohl! Er ist ein Schwein wie dein Alter!“

„Anders. Nicht wie der. Aber es ist viel schlimmer. Er hat mich verraten.“

Er fühlte die Hitze, die Wut, die sich ansammelte, bereit zum Sturm auf seine Selbstbeherrschung. Er schluchzte, warf sich auf den Boden und schlug die Beine so feste auf den Beton, dass ihm ein Zehennagel abbrach.“

„Nick! Mann, das war … Alles okay? Entschuldige. Ich hab nur gedacht … Ach, scheiß was auf Schallplatten. Weißt du was? Wir fahren mit dem Bus nach Warnemünde und sehen uns da um. Okay? Vielleicht gibt es da so ’nen Ramschladen für Klamotten, die keiner will. Ich klau dann einfach welche. Zwei oder drei, die genügen für unsere Party. Alles wieder okay?“

Nick schüttelte den Kopf und blieb liegen, das Gesicht in der Armbeuge versteckt. „Warum hat Janosch das mit dem Typen gesagt? Janosch hat keine Ahnung. Noch nie hat der zu so einem Typen gehen müssen. Noch nie hat ihn sein Alter verkauft. Noch nie hat sich Janosch gewünscht, er wäre tot. Tot will ich sein, nur noch tot“, dachte er verzweifelt.

„Außerdem …“, sagte Janosch langsam. „Es könnte ja sein. Nur mal angenommen. Dein Alter erwischt dich irgendwo und schleppt dich wieder hin. Nur das hab ich gemeint. Verstehst du? Nicht freiwillig. Das hab ich nicht gemeint. Nur das, wenn du sowieso … Du sollst nicht von alleine da hin. Ich meine … Also, dann, dann könntest du den doch fragen.

„Ich spreche nicht mit dem. Nie!“, murmelte er in den Ärmel seiner Jacke.

„Nie?“

„Nie! Nie! Mit Schweinen spreche ich nicht. Lass mich.“ Die Wut schoss hoch, drückte seinen Hals zu, vernebelte seinen Blick.

„Nein!“, schrie er, rannte aus dem Keller und warf die Tür hinter sich zu. Erst als er am Wäldchen ankam, wurde er langsamer. Sein Atem ging schwer und in der Hüfte stach es ziemlich. Die Kreuznarbe auf der Brust juckte.

„Verdammt! Das ist wieder dieser Mistkörper.“

„Schmeiß ihn vor die Bahn. Tue’s einfach. Dann ist Schluss. Dann ist alles gut.“

„Ja, ich will nur noch tot sein. Alle wollen mich kaputt machen. Alle!“

Er wünschte ihn weg, diesen Körper, hoch zu den Sternenfreunden. Sollten die doch sehen … Er war völlig durcheinander, wusste Traum und Wirklichkeit nicht zu trennen. Noch nie war er so enttäuscht worden. Sein einziger Freund! Er legte sich unter die Eiche, verschränkte die Hände unter dem Kopf und starrte in das wirre, undurchsichtige Blattwerk. In seinem Kopf war es leer und er wünschte sich von da oben eine Stimme, die ihm sagen würde, was er tun sollte. Eine von diesem Gott oder, besser noch, von seinem Sternenkönig. Aber nur eine Horde krakeliger Spatzen war zu hören, die auf der Flucht durch die Zweige raste.

„Ich hab keinen mehr; nicht einen Freund. Niemanden! Janosch ist genau so ein Schwein wie mein Alter“, flüsterte er und weinte.

„Lieber Gott. Sag doch was. Mach mich tot oder sonst was. Warum sagst du nie was?“

„Warum sollte der? Den gibt es nicht. Denk immer daran; den gibt es nicht. Wir brauchen den auch gar nicht. Lass die Wut raus, lass alles frei heraus.“

Nur langsam kühlte sein Kopf ab. Er lag lange da, dachte nichts mehr, fühlte nichts mehr, außer einer schrecklichen Trauer.

„Komm, Jungchen“, sagte eine brüchige Stimme. „Komm, steh auf.“

Flieh zu den Sternen

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