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Drittes Kapitel

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Es war reichlich Schnee gefallen, die Abenddämmerung lag blau über der weißen Decke. Die Baronesse Arabella hatte zwei Lampen im großen Saal anzünden lassen und ging nun unablässig dort auf und ab, die eingefallenen Wangen leicht gerötet. Oft blieb sie stehen und lauschte hinaus auf ein Schellengeläute, das fern von der Landstraße herübertönte. Solchem Schellengeläute zuzuhören, wie es von der Straße herklang, an den Biegungen schwächer wurde, wie es sich entfernte oder näher kam, war ihr stets eine gewohnte Beschäftigung an stillen Winterabenden gewesen, und wie bedeutungsvoll war dieses Geläute zuweilen, an dem Abend, da Fastrade von ihnen fuhr, und wiederum an jenem Abend, da die Glocke der Estafette immer näher kam, welche die Nachricht von des armen Bolko Tode brachte. Seitdem schien es der Baronesse, als könnte sie aus den Stimmen der Schellen etwas von dem heraushören, was dort auf der Landstraße zu ihr herankam. Heute, glaubte sie, heute klängen die Schellen besonders hell und erregend, es war Fastrade, die da kam. Die alte Dame freute sich, aber in dieser Freude lag eine Aufregung, die sie fast schmerzte.

Jetzt war das Geklingel ganz nahe, es machte einen großen Bogen im Hofe und hielt vor der Freitreppe. Geräuschvoll öffnete Christoph die Haustüre. Die alte Dame stand regungslos da und horchte auf die Schritte im Flur. Fastradens Stimme mit ihrem metalligen Schwingen sagte. »Guten Abend, Christoph, wie unverändert Sie sind, nur grau sind Sie geworden.« – »Wir sind hier alle grau geworden, gnädiges Fräulein«, erwiderte Christoph. Jetzt öffnete sich die Türe, und Fastrade stand da in ihrer hübschen, aufrechten Haltung. Über dem schwarzen Trauerkleide nahm sich der blonde Kopf, das runde, von der Fahrt leicht gerötete Gesicht wunderbar hell und farbig aus. Sie lächelte ihr Lächeln, das ihr so leicht auf die Lippen stieg, und die Augen, von der Dämmerung verwöhnt, blinzelten in das Licht. Die Baronesse stand noch immer wie hilflos da und weinte. Erst als Fastrade sie in ihrer bekannten schützenden Art in die Arme nahm, den alten zerbrechlichen Körper hielt und leitete, da fühlte die Baronesse wieder die ganze Wärme dieser Gegenwart, nach der ihr alle Jahre hindurch gefroren hatte.

Fastrade führte die Baronesse zum Sofa, ließ sie dort niedersitzen, setzte sich neben sie und hielt die beiden alten Hände in den ihren. Die Baronesse weinte still vor sich hin, Fastrade saß ruhig da und ließ ihre Blicke im Zimmer umherschweifen, suchte die Sachen an ihren gewohnten Plätzen auf. Es stand alles dort, wo es einst gestanden, alles war unverändert, und dennoch schien es ihr, als sei es verblaßter, farbloser als das Bild, welches sie die ganze Zeit über in ihrer Erinnerung herumgetragen, das Getäfel schien dunkler, die Seide der Möbel verschossener, die Kristalle des Kronleuchters undurchsichtiger. All das erschien Fastrade wie eine Sache, die wir sorgsam verschließen, und wenn wir sie endlich wieder hervorholen, wundern wir uns, daß sie in ihrer Verborgenheit alt und blaß geworden ist. Und auch die Töne des Hauses waren die altbekannten. Aus dem Zimmer ihres Vaters hörte man die fette, knarrende Stimme des Inspektors Ruhke dringen, aus dem Eßzimmer klang das Klirren von Gläsern, das Klappern von Tellern herüber, und endlich im kleinen Kabinett neben dem Saale sang eine ganz dünne, zitternde Stimme eine hüpfende Melodie leise vor sich hin. Das war die uralte Französin Couchon, die schon die Lehrerin der Baronesse gewesen war. Sie saß an der grün verhangenen Lampe in sich zusammengebogen, das Gesicht ganz klein unter der enganliegenden grauen Sammethaube, legte ihre Patience und trällerte leise ihre verschollene französische Melodie. Das ergriff Fastrade so stark, daß sie laut sagen mußte: »Ah, Ruhke ist bei Papa, und Christoph deckt im Eßzimmer den Tisch, und Couchon sitzt noch bei ihrer Patience und singt.«

»Ja, Kind«, sagte die Baronesse, »wir haben nichts anderes zu tun, als zu sitzen und zu warten, bis eines nach dem anderen abbröckelt.«

Fastrade erhob sich schnell von ihrem Sitz, als wollte sie etwas abschütteln: »Ich will Couchon begrüßen«, sagte sie und ging in das Kabinett hinüber. Die alte Französin hob ihr kleines Gesicht zu Fastrade auf, lächelte mit dem lippenlosen Munde und sagte: »Te voilà, ma fillette, à la bonne heure.« Dann wandte sie sich wieder ihren Karten zu. Jetzt beschloß Fastrade, zu ihrem Vater hineinzugehen. Auch dort erhellte eine Lampe mit grünem Schirm das Zimmer nur matt, der Baron saß auf seinem Sessel sehr gebeugt, der Kopf war ihm auf die Brust gesunken, er schien zu schlafen, das schöne Silberhaar war fort, und das Lampenlicht lag auf der blanken großen Glatze. In der Ecke stand der Inspektor Ruhke unförmlich groß und dick, und eine Atmosphäre von Schnee und Transtiefeln umgab ihn. Fastrade kniete vor ihrem Vater nieder und sagte: »Hier bin ich wieder, Papa.« Der Baron erhob seinen Kopf und sah sie an, die Augen waren noch immer klar und blau, aber das bleiche Gesicht schien zu müde zu sein, um einen Ausdruck zu haben. »So, so«, sagte der Baron und versuchte matt zu lächeln, »deine Tante sagte mir, du würdest kommen.« Dann strich er mit der Hand über Fastradens Wange. »Kalte Wangen«, bemerkte er, »so, so, setze dich dort hin, Kind, Ruhke ist noch nicht zu Ende, es ist gut, wenn du das mitanhörst. Nun, Ruhke, also die Ölkuchen.« Der Baron ließ wieder den Kopf auf die Brust sinken, Fastrade setzte sich in einen der großen Sessel, Ruhke räusperte sich verlegen und begann dann wieder mit der fetten, knarrenden Stimme zu sprechen, sprach von Ölkuchen, die von der Station abgeholt werden sollten, von einem Stier, der krank zu sein schien, von Brettern, die gesägt werden sollten, er sprach eintönig und mechanisch wie einer, der weiß, daß niemand ihm zuhört, und endlich schwieg er ganz. Wie vom Stillschweigen geweckt schaute der Baron auf und sagte: »Das ist alles? Nun, dann guten Abend, Ruhke.« – »Guten Abend«, erwiderte der Inspektor und schob sich zur Türe hinaus. Jetzt wurde es ganz still im Zimmer mit seiner grünen Dämmerung, der Baron ließ wieder den Kopf sinken und schlummerte, einmal sah er auf und fragte: »Viel Schnee auf der Landstraße?« – »Ja, Papa«, erwiderte Fastrade. Darnach schwiegen sie wieder. Fastrade saß da, die Hände im Schoß gefaltet, die Augen weit offen und auf dem Gesicht ein Ausdruck, als träumte sie einen schweren Traum. Draußen im Saal begann die große Uhr langsam und tief neun zu schlagen, Christoph kam, um seinen Herrn zu Bette zu bringen. »Ich gehe jetzt schlafen«, sagte der Baron, »du kommst dann wieder, Kind, und liest.« Und es kam in das bleiche Gesicht etwas wie Heiterkeit, als er hinzufügte: ›Es ist gut, wenn man wieder beisammen ist.«

Im Eßsaal saßen die Baronesse und Fastrade sich gegenüber, und auch hier kam das vergangene Leben mit jedem Geräte und jeder Speise mächtig über Fastrade. Das Porzellan mit dem schwarzen Monogramm, der silberne Samowar, der Geschmack der Koteletten und der Semmel, alles schien das Leben gerade da wieder anzuknüpfen, wo sie es vor Jahren verlassen hatte, und mechanisch wie früher stand Fastrade von ihrem Stuhle auf, um sich vor den Samowar zu stellen und den Tee zu machen. Die Baronesse erzählte unterdessen, erzählte geläufig und klagend von all dem Traurigen, das sich in den Jahren ereignet hatte. Nach dem Essen mußte Fastrade zu ihrem Vater gehen und vorlesen, sonst war es die Baronesse, die dort im Schlafzimmer die Memoiren des Herzogs de Saint-Simon vortrug, bis er eingeschlafen war. Fastrade fand ihren Vater im Bette liegend mit geschlossenen Augen, er öffnete die Augen auch nicht, als sie eintrat, und murmelte nur ein leises »So, so«. Als sie sich jedoch an den Tisch mit der grünverhangenen Lampe setzte und das Buch zur Hand nahm, hörte sie die Stimme ihres Vaters klar und in dem früher gewohnten, belehrenden Tonfall das Wort Pflichtenkreis sagen. Sie las nun, im Hause war es ganz still geworden, vom Bett her klang das schwere und mühsame Atmen des alten Mannes herüber, und all das war so furchtbar bedrückend, daß Fastrade es hörte, wie ihre eigene Stimme zuweilen zitterte und fast versagte, während sie die langwierige Geschichte von dem Streit der französischen Herzöge um den Vortritt vortrug. Endlich öffnete Christoph leise die Türe und machte ein Zeichen, daß es genug sei.

Als die Baronesse Fastrade in ihr Zimmer führte, weinte sie wieder und sagte: »Kind, nach all diesen Jahren werde ich zum ersten Male wieder mich glücklich zu Bett legen.«

Als sie allein war, blieb Fastrade mitten in ihrem Zimmer stehen und ließ die Arme schlaff herabhängen. Eine dunkele Traurigkeit machte sie todmüde. All das still zu Ende gehende Leben um sie her schwächte auch ihr Blut, nahm ihr die Kraft weiterzuleben; »wir sitzen still und warten, bis eines nach dem anderen abbröckelt«, klang es wie eine leise Klage in ihr Ohr, und dann bäumte sich etwas in ihr auf, sie hätte die Traurigkeit von sich abreißen mögen wie ein lästiges Kleid. Schnell ging sie zum Fenster, öffnete die schweren Fensterläden, stieß das Fenster auf und schaute in den Garten hinab. Im Scheine großer, unruhig flimmernder Sterne lag die Winternacht da, weiß und schweigend, die Luft schlug ihr feucht und kalt entgegen, Bäume ragten wie große weiße Federn gegen den Nachthimmel auf, und an ihnen vorüber konnte Fastrade in eine Ferne sehen, die von einer weißen Dämmerung verschleiert unendlich schien. Hier war Raum, hier konnte sie atmen, hier in der Kühle schlief das große, starke Leben, zu dem sie gehörte. Und wie sie so hinausschaute in all das Weiße, mußte sie an das Krankenhaus denken mit den langen, weißen Korridoren, den weißen Türen, hinter denen das Leiden und die Schmerzen wohnten, aber die Leiden und der Schmerz dort waren etwas wie eine berechtigte Einrichtung, man diente ihnen, man lebte für sie, und auch das Mitleid war eine Einrichtung, man trug es leicht wie an einer Gewohnheit und stand nicht hilflos davor wie hier als vor einer großen Qual. Wenn sie dort aus den Krankenstuben kam, fand sie draußen in den Korridoren geschäftiges Leben, eilige Ärzte in weißen Kitteln rannten an ihr vorüber, man rief sich etwas Heiteres zu, man lachte, und man fühlte sich tapfer und nützlich in diesem frischen, fast munteren Kampfe gegen die Feinde des Lebens. Fastrade fror, aber sie empfand wieder, daß sie warmes junges Blut in ihren Adern hatte, empfand die Kraft ihres Körpers, und sie fühlte ihr Leben wieder als etwas, auf das sie sich trotz allem freuen durfte. Schnell schloß sie das Fenster, jetzt wollte sie schlafen.

Abendliche Häuser

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