Читать книгу Tingeln durch das Land Danach – Band 1 - Eike Borchers - Страница 5
ОглавлениеProlog
8. Mai 1945: Nazi-Deutschland – das war das Land Davor – kapitulierte bedingungslos. Gut zwölf Jahre hatten gereicht, um den Super-GAU der westlichen Zivilisation herbeizuführen. Jetzt war er gestoppt und unter Kontrolle gebracht. Aus dem Land Davor wurde an jenem Tag mit einem Schlag das Land Danach. In diesem Land wuchs ich auf.
Am 8. Mai 1945 war zwar Nazi-Deutschland zusammengebrochen, aber die Menschen, die Nazi-Deutschland geschaffen, getragen und erlitten hatten, waren noch da. Sie lebten neben mir, waren um mich herum, sie erzogen mich, sie verpassten mir meine Bildung und gestalteten insgesamt mein Leben. Das waren die „Erwachsenen“, mit denen ich als Kind zu tun hatte, die „Alten“ im Land meiner Kindheit.
Einführung
(1) Anmerkungen zum Text
„Tingeln“, ein Wort aus meiner Kindersprache, hieß für mich Umherstreifen in Landschaft und Natur oder auch Stromern durch Gassen und Straßen, über Plätze und Märkte. „Tingeln“ empfand ich immer als leichte und beschwingte und doch auch sehr wache und aufmerksame Form der Weltwahrnehmung. Einstmals war es das Fahrend Volk, das durch die Lande tingelte.
Die „verstörte Zeit“: Millionen deutscher Männer waren im Krieg umgekommen, Millionen kamen körperlich und psychisch verkrüppelt zurück. Hunderttausende waren in den Bombennächten getötet oder beschädigt worden. Es gab kaum eine Familie im Land Danach ohne Verlust, Leid und Trauer. Dass all das um mich war, war mir früh bewusst.
Beim Aufschreiben meiner Erinnerungen stellte ich mir Deutschland in der Gewalt der Nazis als einen monströsen Monolithen vor: alle Menschen in Nazi-Deutschland waren in ihn eingeschmolzen, waren Gefangene ihrer Zeit – als Täter wie als Opfer. Alle waren umschlossen von der harten, kalten Masse aus Terror, Mord und Krieg.
Der Hammer der Alliierten zertrümmerte die Monstrosität und legte alle Figuren aus dem Land Davor frei. In den Nazi-Scherben und -Splittern der Vierziger, Fünfziger und Sechziger Jahre waren sie alle noch da – die Mörder und Zerstörer, die Opportunisten und „Märzgefallenen“, die vielen, die litten, die Apathischen … aber auch die, die sich innerlich widersetzt oder gar aktiv Widerstand geleistet hatten. Dass sie unerkannt neben mir lebten, auch das war mir früh bewusst.
***
Als ich die Muße fand zu schreiben, saß ich erst einmal vor dem leeren Blatt, das des ersten Satzes harrte. Ich wollte möglichst spontan und ungeplant in meine Erinnerungen eintauchen und „wartete“ auf die erste Eingebung, denn genau damit wollte ich beginnen.
Die erste Erinnerung, die mir kam, war meine Fahrt als fünfzehnjähriger Schüler zum Arbeitsamt Dortmund. Damit war zugleich der gesamte erste Erzählstrang vorgegeben: meine lange „Malocherzeit“ in den Bierfabriken und auf dem Bau in der ramponierten Kohlenpottstadt. („Auf dem Bau und in Fabriken“)
Auf die „Malocherzeit“ folgte der Erzählstrang mit den Erinnerungen an meine Schülerzeit im zertrümmerten Dortmund. („Zwischen Ruinen“)
Die Kernzeit meiner Kindheit ist ohne Zweifel die „Barackenzeit“. Hier stoße ich durch zu meinen Anfängen. Das war einerseits eine dunkle und schwere Zeit – und andererseits eine besonnte, lichte Epoche meiner Kindheit, die bis heute in mir nachglüht. („In der Baracke“)
In meiner Studienzeit im ramponierten West-Berlin folge ich den Spuren meiner Mutter und entschlüssele die leidvolle Geschichte meiner mütterlichen Familie („Spuren und Erbschaften“).
Durch alle Erzählstränge zieht sich ein Thema, das mich in der Zeit meines Aufwachsens immer begleitete: das Lebensrätsel meines Vaters, seine Geschichte, die er vor seinen Kindern geheim hielt. Ich entschlüsselte das Rätsel erst spät, in meinen Zwanzigern. Danach lag seine Geschichte eingekapselt in einer unterirdischen Kammer meines Bewusstseins, ich mochte sie über sehr lange Zeit nicht nach „oben“ holen.
Allerdings: ohne Kenntnis dieser zentralen Geschichte wären viele meiner Erzählungen unvollständig und unverständlich geblieben. Ganz am Ende meines langen Erinnerungsprotokolls traue ich mich dann doch noch, die Geschichte, die uns Kindern nie erzählt werden durfte, aus der Tabuzone meines Gedächtnisses zu befreien und dem Sauerstoff meines vollen Wachbewusstseins auszusetzen. Das aktivierte allerdings noch einmal das Entsetzen, den Schmerz und die Trauer, die ich empfand, als sie mir zum ersten Mal erzählt wurde. („Spuren und Erbschaften“).
Berlin, Sommer 2020
(2) Über Erinnerungen
Irgendwann, wenn sich das Wagenrad des Lebens schon ziemlich weit abgerollt hat und wieder seinem Ausgangspunkt zustrebt, von der anderen Seite gewissermaßen, beginnt für viele die Lust an der Erinnerung.
Die Geschichten unserer Kindheit mit ihren goldenen Sonnen und unverstandenen Schatten fangen an, sich selbst zu erzählen und drängen sich in unsere Träume und Tagträume. Was da alles in dem großen Topf der Erinnerungen gelandet ist, was wir immer mal wieder erzählt oder uns heimlich selbst zugewispert haben – manchmal gerne, manchmal auch mit einem untergründigen Schrecken – gewinnt an Bedeutung und Gewicht.
Unser Leben lang sind wir getrimmt worden, kausal zu denken, und so geschieht es uns im Alter, auch unser eigenes Leben als eine plausible, logische Kette von Ereignissen zu sehen. In unseren Erinnerungen und den daraus folgenden Deutungen der Gegenwart sind wir nur zu gerne – wie es scheint – Anhänger der alten indischen Karmalehre und sehen das Leben als Gewebe aus Ursache und Wirkung, Aktion und Reaktion, Tat und Vergeltung.
Den Geschichten der frühen Jahre messen wir dabei – so haben wir es gelernt – ganz besondere Bedeutung für das Spätere, für die Gegenwart bei, den Rang von Prägungen und Tätowierungen, von Schicksal, das unsere Muster webte und wirkte und uns schließlich so bewirkt hat, wie wir nun einmal geworden sind. Das Brot der frühen Jahre, die Nahrung, die man uns damals gab, gut oder schlecht, ärmlich oder reichlich, baute uns auf – so oder so –, ließ uns wachsen und werden, gab uns Gestalt und Geist. So haben wir es gelernt.
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„Aufwachsen“ ist eine Zeit des schnellen Wandels und der großen Umbrüche. Das Leben bebt und schwankt immer wieder. Die Erwachsenenwelt schiebt sich über die Kindheit, die Zivilisation über die Wildnis, die Pflicht über den Traum. In solchen Wendezeiten entsteht Druck. Heikle, unsichere Lebenspassagen folgen aufeinander mit einer Fülle von Initiationen und Irritationen. Triumphe und Niederlagen, Freude und Scham folgen in stetem Wechsel.
Diese Umbruchphasen sind es, die ich jetzt klarer sehen möchte. Denn das waren Zeiten, in denen ich anfing, selber Entscheidungen für mein Leben zu treffen, grobe, unklare Ziele abzustecken und Wege zu gehen, die zu diesen Zielen führen sollten. Heute kann ich sagen: es waren Zeiten wichtiger „Alleingänge“, denn da war in den entscheidenden Momenten niemand, bei dem ich Rat einholte oder Hilfe suchte, mit dem ich über das, was ich tat und vorhatte, redete. Oft wollte ich das auch gar nicht. Zwar waren immer Menschen um mich herum, mit denen ich lebte und lachte, die ich liebte. Doch viele Entscheidungen traf ich allein, und auch die Wege, die ich dann einschlug, ging ich allein. Die Zeit meines Aufwachsens war wirr und kaputt und voller Widersprüche und ich wusste immer, dass ich mich letztlich allein durch all die Widrigkeiten auf meinen Wegen hindurchwursteln musste.
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Wenn geotektonische Platten gegeneinander drücken, entsteht meist ein tiefer Bruchgraben. Auch psychotektonische Verschiebungen hinterlassen Spuren:
Irgendwo da unten, ganz tief unten, na sagen wir vielleicht vierhundertachtunddreißig Meter unter dem Meeresspiegel meines alltäglichen Bewusstseinszustandes, gibt es so einen Graben. Er führt in mein „Totes Meer“, das Meer, das keinen Abfluss hat.
Ich habe viele Schiffchen ausgesetzt auf die Wellen meines Jordans. Sie trugen all das, womit ich mich nicht beschäftigen konnte oder wollte damals – und was ich daher über eine lange Zeit liegen ließ, unberührt und „unbegrübelt“. Sie trugen Rätsel, die ich nicht gelöst hatte, sie trugen Bilder und Gefühle, die ich erst einmal loswerden wollte. Die Schiffchen sind abgedriftet, haben Fahrt aufgenommen und sind schließlich dort gelandet, wo sie nicht mehr weiter konnten – in meinem „Toten Meer“. Da dümpeln sie nun: mit Bildern, die ich „eigentlich“ nicht aufbewahren wollte, mit Geschichten, die ich „eigentlich“ hinter mir lassen wollte und auf die Reise ins Vergessen schickte. Damals, in der Ursituation, ließ ich die Schiffchen fahren und fühlte mich freier.
Sie waren aber nicht weg.
Sie kamen zurück und mit ihnen die Bilder von Menschen und ihren Geschichten. Manchmal kamen sie in meinen Träumen und oft in Tagträumereien. Sie kamen in Filmen, die in bestimmten Situationen des Lebens plötzlich nebenher liefen. Da gab es „Déjà-vus“, die sich wie ein feiner Firnis über Erlebnisse der Gegenwart legten. Schließlich entstand der Wunsch, hinunter zu steigen und die ganze Flottille genauer zu betrachten.
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Allerdings: die Beschäftigung mit den eigenen Erinnerungen, den abgedrängten, ins „Tote Meer“ verschobenen, das Niederschreiben des „eigenen Lebens“ oder eines Teils davon, steht unter einem großen, unauslöschlichen Vorbehalt.
Die Situation, die einstmals war, existiert nicht mehr: sie ist nicht identisch mit der Situation, die erinnert wird. Ich kann sie nur unvollkommen rekonstruieren. Denn was ich heute tue, ist, eine Geschichte erzählen: fiction – faction. Das heißt aber: ich schaffe etwas Neues, etwas anderes.
Ich kann die Lebewesen, denen ich in vergangenen Bewusstseinsaugenblicken begegnete, nicht wieder lebendig machen. So wie sie damals waren, haben sie gelebt, so leben sie nicht mehr und so werden sie nie wieder leben.
Das Ich, das damals handelte, existiert nicht mehr: es ist nicht identisch mit dem Ich, das sich jetzt erinnert. Es ist nicht rekonstruierbar. Manch einer glaubt ja, er sei immer „derselbe“ geblieben, sich selbst immer gleich, sich selbst immer treu, immer das gleiche Ich. Das ist eine Illusion. Wenn ich heute von meinem fünfzehnjährigen „Ich“ erzähle, so ist das ein ferner Bursche, eine historische Gestalt. Nie kann ich ihn „ganz“ sehen, so wie er damals war. Ich erzähle von einem anderen.
Die Leiden und Schmerzen, die Freuden, Triumphe und Glücksgefühle, die in den Erinnerungen hochgespült werden, waren einmal wirklich, waren echt, sind es aber nicht mehr. Sie sind heute Phantomgefühle: Phantomschmerzen und Phantomfreuden. Sie hatten ihre Zeit und ihre Berechtigung und es besteht kein Grund, dass ich sie noch einmal so fühle wie einst. Das ist unmöglich und das ist auch gut so.
Alle Erinnerung reduziert das Gewesene. Die Lichter und Schatten, das Vogelgezwitscher und Hundegebell jenes Sommertages in meiner Kindheit, an dessen Morgen das furchtbare Ereignis geschah, sind „dahin“. Was bleibt, sind Worte. Das Ereignis selbst ist „dahin“. Was geblieben ist, sind Gefühle, die nicht zu löschen sind.
Was ich erinnere, kleide ich neu ein – und zwar immer und immer wieder neu und noch einmal neu. Meine heutigen Gedanken ummanteln die Erinnerungen – aber auch meine heutigen Gedanken haben keinen Bestand, sind flüchtig und wandelbar. Was ich erinnere – das ist mir klar –, unterfüttere ich mit dem, was ich später dazu hörte, las und lernte – aber ich höre, lese und lerne weiter. Neues kommt hinzu.
Ich vergleiche mit den Erlebnissen anderer, ich relativiere, verschlucke dies und gebe jenem einen edlen Glanz. Was ist „Schreiben“? Urteilen, bügeln und glätten, schleifen, schmirgeln und polieren …
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So viele Fallstricke.
Was war denn nun wirklich? Was ist die Wahrheit? Die „historische“ Wahrheit? Ich weiß es nicht. Doch was soll’s? Die Erinnerungsschatten sind da, die Erinnerungen kommen hoch. Sie sind ein Bedürfnis, oft eine Sucht der gnadenlos alternden Alten. Sie sind Lust und Last zugleich. Sie werden zu Erzählungen, sie füllen Bücher, sie sind nie vollständig, sie sind nicht wahr und nicht falsch. Erzählungen von einem gelebten Leben: „Autobiografie“, ein literarisches Genre.
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So sollten wir sie sehen und so können wir sie lieben, unsere Erinnerungen:
Als Romane und Traumgeschichten unseres „Selbst“, das immer in Bewegung ist, als Traumgeschichten der vielen, vielen Egos, die einander gebaren und wieder starben, bis hin zu dem Ich, das jetzt und hier an dieser Tastatur sitzt, an diesem Schreibgerät, und das nachher schon nicht mehr sein wird – und schon längst nicht mehr dann, wenn du das liest …
Alle Egos schwinden dahin – und was von ihnen bleibt, sind Döntjes von einer einstmals agierenden Gestalt … und noch einer und noch einer. Vertraute Geschöpfe und doch Phantasiegestalten aus bunter Knete, die ich aus dem Heute heraus knödle und forme.
Machte es nicht immer einen Heidenspaß mit bunter Knete zu spielen, damals, als wir Kinder waren – und wenn wir mal welche hatten in jenen knappen Zeiten? Formen und modellieren: eine hübsche oder hässliche Gestalt, eine komische Figur – groß oder klein, dick oder dünn, Mann oder Frau … Hatten sie nicht „Charakter“, unsere bunten Kneteknubbel?
Da liegen viele Knollen bunter Knete in meinem Topf. Ich kenne sie alle, sie sind mir vertraut und fremd. Vage Gestalten, verschwommene Physiognomien und doch alte Bekannte. Auf eines werde ich achten, wenn ich jetzt zugreife, sie modelliere und ziseliere mit der Wärme meines Intellekts und dem Bewusstsein des Heute: dass ich sie nicht verbiege und verforme und ihren ursprünglichen Ausdruck vernichte. Das nehme ich mir vor.
Ich grapsche hinein in den Topf. Ich nehme sie in die Hand, die alten Klumpen. Ich lüpfe sie Schicht um Schicht und stelle fest, dass es immer mehr werden, dass immer noch weitere auftauchen. Also muss ich wählen. Wie ich auswähle und was ich weglasse, ist selbst wieder eine Geschichte, die erzählt werden könnte …
So viele Wirren, so viele Fallstricke, so viele Vorbehalte. Sei’s drum. Schluss mit der Vorrede, Schluss mit den Skrupeln. Vorhang auf! Her mit euren Döntjes, ihr vielen Iche.
Berlin, Sommer 2013