Читать книгу Das Wolkenreich - Eike Ruckenbrod - Страница 3
Riala
ОглавлениеRiala ging ihrer größten Leidenschaft nach und galoppierte auf dem blanken Rücken ihrer Einhornstute über unendliche Wolkenteppiche. Mejus lange, wellige Mähne streichelte sanft über Rialas Hände, die seitlich am Hals des stattlichen Tieres lagen. Unter dem Schopf der Stute lugte ein daumenlanges, goldenes Horn hervor.
Voller Übermut trieb Riala Meju immer schneller an. Die Stute senkte den Kopf und galoppierte mit weit ausholenden, kräftigen Sprüngen in Windeseile voran.
Als der strenge Gegenwind Riala Tränen in die Augen trieb und ihre langen Haare wild umher wirbelte, breitete sie genüsslich die Arme aus, schloss die Augen und lachte glockenhell. Sie liebte das unbändige Gefühl, frei zu sein. Nachdem sie dieses reichlich ausgekostet hatte, gönnte sie ihrer Stute eine Verschnaufpause und entspannte sich. Sogleich wurde das Tier langsamer und fiel in den Trab. Goldenes, warmes Licht spiegelte sich im verschwitzten Fell der weißen Stute. Das Mädchen genoss die absolute Stille, die es umgab. Wie unbeschwert hätte der Ausritt sein können, wenn nicht der eindringliche Verweis der Hohepriesterin Rialas Gedanken überlagerte:
Du musst dich von den grauen Wolkenbergen fernhalten! Es ist äußerst gefährlich dort. Lebensgefährlich! Wenn ich dich noch einmal in deren Nähe erwische, darfst du nur noch in den Koppeln reiten.
Eigentlich ließ die Hohepriesterin ihren Schützlingen ziemlich viel durchgehen, aber in diesem Fall war sie unerbittlich.
Über Rialas fein geschnittenes Gesicht, mit den glitzernden Augen und den schön geschwungenen Lippen, legte sich ein dunkler Schatten.
In den Koppeln reiten, wie schrecklich, dort ritten nur die frisch Verbundenen, deren Fohlen noch schwarz und die Hörner kaum sichtbar waren. Riala wurde schon bei dem Gedanken daran übel. Gerade sie, die so freiheitsliebend war.
An jedem Rotmond, wenn die umliegenden Wolken wie rote Zuckerwatte aussahen, wurden die starken Einhornfohlen geboren und mit den Sonnenkindern zusammengebracht, die die Prüfung der Hohepriesterin bestanden hatten. Diese Geschicklichkeits- und Gedächtnisprüfung war niemals gleich und es war immer ein aufregendes Fest, an dem auch die Schlossherrin Wioné teilnahm. Nach erfolgreicher Prüfung durften sich die Fohlen ihr Sonnenkind aussuchen und waren danach mit ihm unzertrennlich für dieses Leben verbunden. Jedes Kind im Sonnenreich fieberte auf diesen besonderen Tag, der es schneller, freier und stärker machte, und bereitete sich gewissenhaft auf die Prüfung vor.
Energisch strich sich Riala eine Strähne ihres zartrosa schimmernden Haares aus der Stirn. Eine härtere Strafe konnte sie sich nicht vorstellen. Seit Meju geboren wurde, waren sie und die Stute unzertrennlich und, so oft es möglich war, auf den weitläufigen Wolkenteppichen unterwegs bis hin zur Grenze des Nebelreichs oder in entgegengesetzter Richtung zur Windreichsgrenze. Im Regen- und Blitz- und Donnerreich war Riala noch nie. Aber sie hatte in Wolkenreichskunde schon viel darüber gelernt.
Dadurch, dass das sensible Einhorn Rialas Gedanken und Gefühle so gut verstand, wie kein anderer, war es ihre beste Freundin geworden. An manchen Dunkelheiten schlich sich Riala aus dem Gemeinschaftszelt und schlief sogar auf dem breiten Rücken des sanften Tieres.
Meju war eine auffallend große Einhornstute, deren seidiges Fell über feste Muskeln glänzte. Ihren ausdrucksvollen Samtaugen entging nicht die kleinste Bewegung. Die pfeilschnelle und unerschrockene Stute zählte zurzeit zum ranghöchsten Tier im Sonnenreich. Riala war sehr stolz auf sie, denn je ranghöher das Einhorn war, umso mehr Ansehen genoss auch der Reiter. Regelmäßig fanden spielerisch Wettläufe statt, um die Rangfolge neu festzulegen oder zu bestätigen.
Das Mädchen entspannte sich abermals und augenblicklich verlangsamte das Tier sein Tempo in den Schritt. Gedankenverloren streichelte es den glatten Einhornhals. Was die Hohepriesterin nur hat? Immer hat sie was zu meckern. Und immer nur mit mir …
Meju schnaubte tröstend. Riala blickte, wie schon oft zuvor, forschend in Richtung der grauen Wolkenberge, die von Weitem absolut harmlos aussahen. Sie befanden sich im Schattengebiet des Sonnenreichs. Häufig war sie schon in deren Richtung geritten und hatte nichts Gefährliches festgestellt. Nur eines war ihr aufgefallen, dass sie kalte Hände und Füße bekam, je näher sie heranritt. Aber das konnte ja daher kommen, dass dort fast keine Sonne schien. Es musste doch einen triftigen Grund geben, dass es strengstens verboten war, dorthin zu reiten.
Riala wollte zu gerne wissen, was sich dort verbarg. Verbotenes war so unglaublich reizvoll.
Nun saugte sich ihr Blick gebannt im Grau der Wolken fest, die mit jedem Rotmond massiger geworden waren. Riala wollte rasch den Blick abwenden, aber es gelang ihr nicht. Sie versuchte zu blinzeln, aber ihre Lider gehorchten nicht. Sie war gezwungen, starr geradeaus zu blicken. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus und ließ Übelkeit aufsteigen. Ihre Augen brannten schon, als sie ein leises Säuseln vernahm. Riala kroch eine Gänsehaut über den Rücken. Ihr Puls beschleunigte sich.
Riala, komm zu uns, komm … traue dich! Eine ganz besondere Überraschung wartet auf dich …, drang eine singende Stimme, sanft aber bestimmt, in ihre Gedanken.
Ein eiskalter Stachel bohrte sich in ihre hohe Stirn. Erschrocken hielt sie die rechte Hand vor die Augen. Diese Hand zeichnete ein rotes Mal in Form eines Wolfskopfes. Panisch wendete sie die Stute ab.
Schnell weg! Ohne sich noch einmal umzudrehen, galoppierte sie rasend schnell zum Schloss zurück, das in goldenem Licht erstrahlte. Wie ein verträumtes Märchenschloss schwebte es mit drei schmalen Aussichtstürmen und dem runden Torbogen geborgen auf weichen Wolkenteppichen.
Hier wohnte die edle Schlossherrin Wioné, die Herrscherin über das Sonnenreich. Seitlich davon befanden sich die geräumigen Gemeinschaftszelte der Kinder und in einiger Entfernung das mit Wolkenflocken verzierte Zelt von Namatani und, in noch weiterem Abstand, die Koppeln der jungen Einhörner.
Langsam normalisierte sich Rialas Puls wieder und sie wandte sich atemlos an Meju: Ich glaube, heute bin ich zu weit gegangen. Wie unheimlich diese Kälte … und diese säuselnde Stimme … Riala schüttelte sich, als könnte sie die schrecklichen Gedanken abschütteln. Hoffentlich erfährt die Hohepriesterin nichts davon, sonst gibt es mächtigen Ärger … Die vermisst mich bestimmt schon wieder.
Meju schnaubte.
Namatani, die Hohepriesterin, hatte die Verantwortung für die ganze Schar der Sonnenkinder und das war oftmals schlimmer, als eine Herde wilder Fohlen zu hüten. Vor langer Zeit hatten die weißen Wölfe, die mindestens so groß waren wie die Fohlen, der Priesterin geholfen, die Kinder und Pferde zusammenzuhalten. Aber die waren allesamt auf einen Schlag spurlos verschwunden.
Plötzlich schnellte ein Einhorn hinter einer dichten Wolke hervor und sprang direkt vor Mejus Hufe. Die Stute stoppte so abrupt, dass Riala nach vorn auf den Hals des Tieres kippte.
Bist du verrückt! Was soll das?, fuhr sie den Jungen in Gedanken an, der frech grinsend auf seinem freudig brummelnden Hengst saß. Dieser war zum Leidwesen seines Verbundenen noch grau und sein Horn nur halb so lang wie Mejus.
Hallo Ria, was treibst du so allein hier draußen?, fragte der schmächtige Junge auf Gedankenebene.
Das geht dich gar nichts an, Kesimo!, erwiderte sie heftig.
Sehr wohl, denn die Hohepriesterin sucht dich schon überall und ich hab mich bereit erklärt, dich zu suchen.
Das Mädchen blickte den knabenhaften Jungen, dessen orangene Haare wie Eiszapfen vom Kopf standen, genervt an und ritt kommentarlos an ihm vorbei. Kesimo heftete seinen Hengst augenblicklich an Mejus Hufe. Fasziniert betrachtete er Rialas zerzauste Locken, die bis auf Mejus Rücken fielen. Das Mädchen spürte seinen Blick und galoppierte ihm mit raumgreifenden Sätzen davon.
Namatani sah erleichtert auf, als sie Riala, und in einigem Abstand auch Kesimo, kommen sah. Ihr war bewusst, dass sie auf dieses Mädchen ganz besonders aufpassen musste, denn Riala war außerordentlich wissbegierig, neugierig und übermütig. Außerdem trug sie das rote Mal. Dieses Mal trugen nur Sonnenkinder, die mit einer besonderen Gabe gesegnet waren. Aber niemand wusste, um was für ein Geschenk es sich handelte, bis es sich irgendwann offenbarte. Sorgenvoll blickte Namatani zu Riala, die mit ihrer verbundenen Stute auch noch die Schnellste von allen war. Nicht einmal die Jungs mit ihren Hengsten konnten ihr das Wasser reichen. Nur ein einziger kämpfte unerschütterlich mit ihr um den höchsten Rang, das war Jolanis, der älteste Sonnenjunge. Er ritt einen prächtigen Hengst, der Meju in absehbarer Zeit schlagen würde.
Einige Zeit später lag Riala nachdenklich auf dem Rücken ihrer Stute und starrte Löcher in die Wolken. In weichen Wogen fielen ihr hauchdünnes, blaugrünes Kleid und ihre langen Locken seitlich am Einhorn hinunter. Das Mädchen teilte dem Tier ihre bedrückenden Gedanken mit: Ich glaube, es ist doch besser, wenn ich erst mal von den grauen Wolkenbergen fern bleibe, meine Stirn wurde ja fast zu Eis, als mich die unheimliche Stimme rief. Wie muss es einem dann ergehen, wenn man sich zwischen den grauen Wolken befindet, da friert man sicher erbärmlich …
Hallo Ria, träumst du?, drang eine männliche Stimme in ihr Bewusstsein. Das Mädchen setzte sich auf und erblickte Jolanis. Schön und stolz wie ein Herrscher, saß dieser auf seinem edlen Hengst Kah. Unter seinem Gewand, das er mit einem goldenen Band zusammenhielt, bildeten sich feste Muskeln ab. Sofort wurde ihr warm uns Herz und ihr makelloses Antlitz erhellte sich.
Hallo, Jolanis.
Na, liebe Ria, langweilst du dich?
Nein, ich denke nach.
Jolanis' ebenmäßiges Gesicht bekam einen ironischen Ausdruck. Machst du dir Gedanken, wie es sein wird, wenn du gegen mich verlierst?
Du bist mal wieder sehr charmant.
Wie sieht's aus? Hast du Lust auf ein kleines Wettrennen?
Riala blickte kritisch auf Kahs Horn, das schon ein winziges Stück länger war als Mejus, und fragte: Willst du unbedingt wieder verlieren?
Der attraktive Junge schwieg und lächelte siegesbewusst.
Riala lachte ungläubig. Noch ist es nicht so weit. Aber ist es nicht zu neblig, um mir Kahs Schnelligkeit zu beweisen?
Jolanis ging nicht auf ihre Bedenken ein. Es war öfters der Fall, dass Nebel vom Nebelreich zu ihnen ins Sonnenreich drang, oder, von der anderen Seite, Wind vom Windreich. Er fand das nicht schlimm, im Gegenteil.
Komm, stell dich nicht so an! Du willst es doch auch.
Nachdem das Mädchen nicht reagierte, fügte er noch stichelnd hinzu: Du kannst dir ja denken, dass Meju bis jetzt nur gewonnen hat, weil Kah sie gewinnen ließ …
Riala blitzte ihn mit ihren eindrucksvollen, türkisfarbenen Augen an. Dabei vergrößerte sich ihre dreieckige Pupille merklich.
Reize mich nicht zu arg, sonst galoppiert Meju noch viel schneller, angespornt durch meinen Zorn!
Der Junge lachte mit tiefer Stimme. Riala schmolz gegen ihren Willen dahin. Er war so unglaublich gut aussehend, mit seinen schulterlangen, dunkelblauen Haaren, die er mit einem geflochtenen Stirnband aus Schweifhaaren, aus dem Gesicht hielt, und den dunkelgelben Augen, dass sie ihm augenblicklich verzieh. Aber eine kleine Lektion hatte er schon verdient.
Also gut, ich bin bereit, dich zu schlagen!
Kaum hatte sie den Gedanken gesandt, schnaubte Meju und scharrte so fest mit dem Vorderhuf, dass Wolkenteilchen aufwirbelten. Auch sie war bereit.
Nachdem sich Jolanis vergewissert hatte, dass Namatani sie nicht beobachtete, ritt er voran. Rasch verschluckte der sanfte Nebel die Reiter. Sie ritten zwischen Bergen von Wolken hindurch, die in Größe, Form und Beschaffenheit ganz unterschiedlich waren. So konnten einige von ihnen wunderbar als Baumaterial verwendet werden.
Meju folgte trippelnd dem Hengst. Ständig versuchte sie, ihn zu überholen. Riala streichelte beruhigend den Hals der Stute, der nun hoch aufgerichtet war.
Sei ganz ruhig meine Hübsche. Gleich kannst du zeigen, was du kannst. Nur Geduld …
Der Junge bog hinter einer dichten Wolkenwand ab, sodass sie vor jeglichen Blicken sicher waren.
Jetzt können wir. Bist du bereit?
Auf drei geht’s los!
Meju warf ihre Mähne wild um sich und wieherte schrill. Augenblicklich antwortete Kah.
Zusammen zählten sie auf drei und schon schossen die Einhörner los. Ihre Hufe hinterließen tiefe, runde Abdrücke im weichen, aber äußerst stabilen Wolkenteppich. Riala beugte sich weit nach vorne über den Einhornhals und lachte übermütig. Sie liebte diese wilden Rennen über alles und konnte niemals genug davon bekommen, da hatte Jolanis mal wieder recht gehabt.
In Windeseile entfernten sich die Tiere, Kopf an Kopf, vom Schlossgelände und dem Einfluss der Hohepriesterin. Sie preschten an sanft ansteigenden Wolkenhügel vorbei und sprangen über kleine Wolkenbänke. Unendliche, weiße Weite umgab sie. Nichts, das sie aufhalten konnte …
Die Reiter konzentrierten sich nur auf den Sieg und achteten nicht auf die Richtung, die sie eingeschlagen hatten. Hart pfiff ihnen der Gegenwind ins Gesicht und riss an ihren langen Haaren und Kleidern. Nebeltröpfchen setzten sich auf die Wettstreiter und ließen sie feucht glänzen.
Tränen verschleierten Rialas Blick, als Kah ein Stück weit aufholte. Riala glaubte ihren Augen nicht zu trauen, rieb die Tränen mit einer hastigen Bewegung weg und trieb ihre Stute energisch an: Nein, das darf nicht sein, du musst gewinnen! Los lauf! Lauf!
Meju galoppierte so schnell sie konnte und holte den Vorsprung wieder auf. Riala war so im Rennfieber, dass sie nicht merkte, wie die Temperatur immer niedriger und die Wolkenteppiche dunkler wurden. Schon kroch ihr die Kälte in die Fingerspitzen und in die nackten Zehen. Jolanis trieb Kah hart an, denn nun wollte er es wissen. Mit weit ausholenden Galoppsprüngen gelang es dem Hengst, die Geschwindigkeit zu erhöhen und Meju fiel nach ein paar Sprüngen auf Schulterhöhe zurück.
Riala kämpfte nun mit echten Tränen. Sollte das ihre Niederlage werden, wo sie doch immer die Schnellste war?
Nein, sie würde nicht aufgeben! Abermals trieb sie die Stute an, deren weit geöffnete Nüstern in kurzen Abständen hart nach Luft pumpten. Unter Mejus seidigem Fell zeichneten sich deutlich die Adern ab. Schaumkrönchen bildeten sich allmählich auf dem Pferdekörper, die ein paar Pferdelängen weiter auf den Wolkenteppich fielen.
Riala legte sich so flach wie möglich auf den Hals des Tieres und schloss die brennenden Augen.
Niemals werde ich verlieren … niemals, das wird Meju nicht zulassen … ich darf nicht …
Plötzlich wirbelte die Stute um ihre eigene Achse und flog durch die Luft wie von einem mächtigen Saugrohr angezogen. Wild nach Halt suchend, ruderte das starke Tier mit den Beinen. Riala stockte der Atem. Fest krallte sie ihre steifen Finger in Mejus Mähne. Sie durfte auf keinen Fall herunterfallen. Die Luft war inzwischen bitterkalt. Riala warf einen panischen Blick in die Runde und sah zu ihrem Entsetzen rundherum nur graue Wolken, die ihr schreckliche Angst einflößten. Sie befand sich in einem trichterförmigen Wolkenschlauch, der steil abfiel.
O Gott, nein, wir sind in den grauen Wolken gelandet. Und von Jolanis ist weit und breit keine Spur. Hysterisch schrie sie Gedanken nach dem Jungen und nach Hilfe. Angespannt horchte sie in sich hinein. Ihr Herz raste und ihr Körper bebte. Aber außer dem Wind, der um ihre Ohren pfiff, nahm sie keinen Ton wahr. Ein eiserner Ring legte sich um ihre Brust, der ihr langsam die Luft abschnürte. Tränen kullerten hemmungslos aus ihren Augen und gefroren rasch zu kleinen Perlen.
Die Stute kämpfte vergeblich gegen den Sog an. Spiralförmig wirbelten sie immer weiter und weiter in den eisigen Strudel hinein. Der Schweiß auf Mejus Fell gefror zu einem harten Panzer. Verzweifelt, unter qualvollen Schmerzen, betete Riala und gab alle möglichen Versprechen ab. Aber es half nichts, die Kälte nistete sich unbarmherzig in ihrem zarten Körper ein und brachte ihn nach und nach zum Erstarren. Auf ihrer Haut bildete sich eine dünne Eisschicht, ihre Lippen färbten sich blau und ihr Haar stand starr gefroren zur Seite. In Todesangst bat und bettelte Riala so lange, um Wärme und Rettung, bis sie ohnmächtig auf den Hals des völlig entkräfteten Einhornes sank.
Jolanis spürte, wie der Hengst von einem gewaltigen Sog angezogen wurde. Was ist denn nun los? Riala, nein, nicht weiter reiten … nicht weiter!
Das Mädchen nahm seine dringlichen Gedanken schon nicht mehr wahr. Es war vom eisigen Strudel verschluckt worden.
Kah spürte die Anspannung seines Herrn und stemmte sich gegen den Sog. Jolanis versuchte den Hengst zu wenden. Aber so arg er sich bemühte, das Einhorn konnte nicht mehr umkehren. Schon spürte der Junge, wie die eisige Kälte schmerzhaft von seinem Körper Besitz nahm.
Kah! Kah rette uns! Du musst alles geben! Der Hengst bäumte sich auf. Seine erkalteten Muskeln zitterten.
Da der Sog Jolanis fast vom Einhornrücken riss, wickelte er Kahs Mähne um seine Unterarme. Streng dich an, du schaffst es!, trieb er den Hengst hart an.
Stück für Stück kamen sie voran, aber die Kälte war ihr größter Gegner, denn sie nahm ihnen zuerst die Kraft und schließlich das Bewusstsein.
Kesimo beobachtete, wie Jolanis mit der wunderschönen Riala davonritt, und verfolgte die beiden mit großem Abstand.
Der Nebel machte es ihm leicht, unbemerkt zu bleiben. Außerdem hatten die zwei nur ihr Rennen im Sinn. Er wollte ja nicht neugierig sein, aber vielleicht würde es ja ganz interessant werden. Er wusste, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis Jolanis endlich gewann. Und er selbst könnte dann Riala ein wenig über ihren Schmerz hinweg trösten … Der Gedanke zauberte ein Lächeln auf seine Lippen.
Und nun stand Kesimo da und beobachtete, wie die zwei Wettstreiter in einem wirren Strudel von grauen Wolken verschwanden.
In diesem Augenblick verwandelte sich der Strudel zu einem riesigen Maul mit gewaltigen, spitzen Zähnen. Die Wolken darum herum wurden zu messerscharfen Krallen. Einen winzigen Augenblick leuchteten glutrote Augen zwischen den schwarzen Wolken auf. Kesimo durchfuhr ein eisiger Schrecken. Mutter meiner Seele, was geschieht hier? Ich muss ihnen helfen! Aber wie? Schnell, schnell, was soll ich nur tun?
Rasch trieb er Ares, seinen jungen Einhornhengst, todesmutig an und preschte in Richtung des Strudels, der wieder ganz harmlos aussah.
Bald kroch auch ihm die Kälte unter die Haut. Der Sog zerrte unbarmherzig an Haaren und Kleidern. Ares blieb abrupt stehen und ging keinen Schritt mehr weiter.
Hey, was ist los? Wir müssen sie retten!
Aber das Tier stemmte, mit angstgeweiteten Augen, fest die Hufe in die Wolken. Kesimo blickte sich panisch um. Nichts, das ihm helfen konnte, war in erreichbarer Nähe. Er riss sich sein langes Gewand vom Leib und teilte es, mithilfe seiner Zähne, blitzschnell in Streifen. Rasch knotete er diese fest zusammen und band ein Ende an Ares fest.
Du bleibst hier stehen, und wenn ich es befehle, dann ziehst du mich wieder raus!
Der Hengst wieherte. Kesimo schnürte das andere Ende um seine schlanke Taille und sprang kopfüber in den Strudel. Augenblicklich drang die Kälte durch seine nackte Haut.
Er klapperte schon mit den Zähnen, als er endlich Jolanis erblickte. Der Schreck durchzuckte ihn, als er diesen vornübergebeugt, bewegungslos auf Kah kauern sah. Der Schimmel, der sich mit letzter Kraft gegen den Sog wehrte, schnaubte. Kesimo blickte sich angestrengt nach Riala um, konnte sie aber nirgends mehr entdecken. Schließlich versuchte er, zu Kah zu gelangen, verfehlte ihn aber ein ums andere Mal. Schon verließen auch ihn seine Kräfte. Der Hengst beobachtete den Jungen und arbeitete sich in seine Richtung vor. Endlich gelang es Kesimo, Kahs lange Mähne zu ergreifen und zog sich mit letzter Kraft auf das Tier. Mit steifen, zittrigen Fingern band er Jolanis an sich fest und klammerte seine Beine um Kah.
Ares, mein geliebter Freund nun zeige, dass du der Beste bist und zieh! Zieh! Und du, Kah, hilf ihm, drücke dich gegen den Sog! Rettet uns, ihr edlen Hengste vom Sonnenreich!
Ares wieherte laut, als er die flehenden Gedanken seines Verbundenen vernahm. Kah stimmte ein und kämpfte mit neuer Energie. Je näher sie der Öffnung kamen, desto schwächer wurde die Sogwirkung. Kesimo feuerte abermals die Tiere an und schließlich gelangten sie mit Mühe und Not aus den Fängen des Eisstrudels.
Ihr habt es geschafft! Ihr seid die Besten. Ich liebe euch, freute sich der erschöpfte Junge, rutschte mit weichen Knien von Kahs Rücken und drückte Ares einen kalten Kuss auf die zitternden Nüstern. Der graue Hengst tropfte vom Schweiß, obwohl es immer noch eisig war. Sorgenvoll betrachtete Kesimo Jolanis' bläuliches Gesicht. Rasch führte er Kah zu einer Wolke, die hell und warm erleuchtet, in einiger Entfernung schwebte. Vorsichtig zog er den Jungen vom Einhorn und hievte ihn auf die Sonnenwolke, die seinen ausgekühlten Körper augenblicklich warm umhüllte. Kesimo beobachtete ihn angespannt. Zögerlich öffnete Jolanis die Lider und sah direkt in Kesimos breites Grinsen.
Na, mein Freund, alles klar?, erkundigte sich der Junge erleichtert.
Kesimo, ich könnte dich küssen, du hast mich gerettet! Jolanis streckte seine Arme aus.
Spar dir mal lieber die Energie, um Ria zu retten, wehrte Kesimo weich ab.
Jolanis setzte sich erschrocken auf und warf einen Blick in die Runde. In einiger Entfernung erblickte er die dunkelgrauen Ränder es Strudels. Ein heftiger Schmerz wütete in seiner Brust und sein Herz krampfte sich zusammen. Ist sie etwa noch da drin?, fragte er bange, obwohl er die Antwort schon kannte. Ein tiefes Schuldgefühl ließ ihm übel werden.
Der Jüngere nickte ernst. Ja, leider konnte ich ihr nicht mehr helfen, sie war schon im Schlund verschwunden. Du hattest Glück, dass sich Kah so heftig gewehrt hat. Vorsorglich verschwieg Kesimo, was er Schreckliches gesehen hatte, als sich der Wolkenstrudel zu einer Bestie verwandelte.
Niedergeschlagen blickte Jolanis auf das erschöpfte Tier und streichelte ihm liebevoll die weichen Nüstern.
Ich bin sehr stolz auf dich und bin glücklich, dass du mich damals auserwählt hast. Kah schnaubte zart in seine Hand. Gemeinsam überlegten Jolanis und Kesimo, wie sie Riala retten konnten. Jolanis machte sich die größten Vorwürfe, dass er nicht besser aufgepasst hatte, vor lauter blindem Ehrgeiz …
Nach einer Weile entschlossen sie sich, trotz der Aussicht auf heftigen Ärger, erst einmal zur Hohepriesterin zu reiten und ihr zu beichten, was vorgefallen war, vielleicht hatte sie ja eine Idee. Denn, wenn sie ehrlich waren, wollten sie beide nicht noch einmal in den eisigen Schlund, so lieb sie Riala auch hatten.
Namatani stand neben den Koppeln und warf einen besorgten Blick in die Runde. Ihr hellblauer Umhang und ihr hüftlanges, pinkfarbenes Haar wiegten sich sanft im Wind. Der Nebel hatte sich aufgelöst. Aber trotz der guten Sicht erblickte sie nicht das, was sie sich erhoffte. Wie so oft hielt sie Ausschau nach Riala. Da auch Jolanis und Kesimo unterwegs waren, hoffte sie, dass die Jungs auf das übermütige Mädchen aufpassen würden. Aber ihr ungutes Gefühl sagte ihr das Gegenteil.
In diesem Augenblick entdeckte sie in weiter Ferne zwei Reiter. Auf ihrer Stirn bildete sich eine tiefe Falte. Warum kommen nur zwei zurück?, fragte sie sich noch mehr beunruhigt und ging ihnen gerade so weit entgegen, dass sie die kleinen Sonnenkinder noch im Blick hatte.
Je näher Namatani den Reitern kam, desto größer wurde ihre Unruhe. Es sind die Jungs!, stellte sie erschrocken fest und sandte Jolanis nur diese eine Frage: Wo ist Riala?
Die Jungs erblickten die Hohepriesterin und warfen sich einen besorgten Blick zu.
Oh je, jetzt geht’s gleich los, meinte Kesimo. Jolanis nickte schweigend. Im Gegensatz zu vorhin wurde es ihnen siedend heiß. Und er war auch noch Schuld …
Wahrheitsgetreu antwortete Jolanis, dass sie es selbst nicht so genau wussten.
Die Priesterin wartete nun mit ernster Miene, bis sie endlich vor ihr standen und sie in ihre Augen blicken konnte. So blieb ihr keine Lüge verborgen.
Kaum waren die Jungs bei ihr, sprangen sie von den Reittieren und begrüßten die Hüterin, indem sie ihre Handinnenflächen küssten.
Was ist geschehen? Ich sehe euch an, dass etwas nicht in Ordnung ist. Kesimo, wo ist dein Gewand?
Der Junge senkte beschämt den Blick und schaute schweigend auf seine nackten Füße.
Namatani wandte sich streng an den Älteren: Jolanis schau mir in die Augen und antworte! Sofort!
Der Junge blickte in das schöne Gesicht Namatanis, das nun ernst und besorgt aussah und lange nicht so strahlte wie sonst.
Wir haben ein Wettrennen gemacht …, fing Jolanis zögerlich an zu berichten und kaute auf seiner Unterlippe.
Wer ihr? Du und Kesimo?, fiel sie ihm erstaunt in den Gedanken. Jolanis schüttelte den Kopf. Ungeduldig mischte sich Kesimo ein: Jolanis, wir haben nicht so viel Zeit zum Plaudern. Erzähle rasch, was geschehen ist!
Du hast recht, Kesimo. Der Nebel hat die grauen Wolken verschleiert, erklärte Jolanis betrübt. Und wir waren so im Rennfieber, dass wir gar nichts mitbekamen und plötzlich waren wir drin, im eisigen Strudel …
Sein Herz brannte vor Kummer und Schuld. Würde er Riala je wiedersehen?
Namatani wich auch noch die letzte Farbe aus ihrem blassen Gesicht. Nein! Wie konntet ihr nur so unvorsichtig sein? Habe ich euch nicht täglich vor den grauen Wolken gewarnt?! Und das nicht ohne Grund, sie sind lebensgefährlich! Jolanis, du solltest in deinem Alter verantwortungsbewusster handeln. Ich würde dir am liebsten den blanken Hintern versohlen.
Jolanis errötete bis an die Haarwurzeln. Er fühlte sich noch mieser. Es tut mir unglaublich leid, ehrlich.
Tief sog sie den Atem ein und schwieg einige Zeit, um sich zu beruhigen und klare Gedanken zu fassen.
Dann richtete sie ihre Gedanken an die nervösen Jungs:
Es ist wie damals, als plötzlich die weißen Wölfe verschwanden. Und danach sind immer wieder Kinder und Fohlen verschwunden und nie mehr aufgetaucht. Niemals hört ihr?! Zu keiner Zeit, seit ich lebe, ist jemand lebend zurückgekehrt und konnte Bericht erstatten. Wir hatten zwar eine Vermutung, aber nie Zeugen, wo sie geblieben sind. Aber ich war mir stets ganz sicher, dass ER es war. Was sich ja nun leider auch bestätigt hat.
Die Priesterin sah mit leerem Blick in die Ferne. Sollte sie wieder eines ihrer Schützlinge opfern müssen? Und dann noch eine Mal-Trägerin, die eine höhere Bestimmung hatte, das würde der Schlossherrin ganz und gar nicht gefallen.
Die Jungs schauten sich entsetzt an. Ihre geliebte Riala sollte für immer verloren sein, daran wollten sie nicht glauben. Schon der Gedanke daran ließ sie erschaudern.
Nein, das darf nicht wahr sein. Kesimo und ich werden sie retten! Irgendwie werden wir es schon schaffen. Kesimo hat auch mich gerettet, stimmt's?, ereiferte sich Jolanis.
Ja, gemeinsam wird es uns gelingen. Wir sind stark und mutig! Aber ich befürchte, wir haben nicht mehr viel Zeit, gab Kesimo zu bedenken.
Zeit spielt nun keine Rolle mehr. Laut der Überlieferung steht die Zeit am Ende des Strudels still, sie ist eingefroren. Nichts geschieht mehr, außer der Graue Urus wünscht es. Seit die Wölfe verschwunden sind, fällt es ihm immer leichter, Opfer in seinen eisigen Gierschlund zu locken. Nicht ohne Grund habe ich euch stets eindringlich vor den grauen Wolken gewarnt und streng verboten, in deren Nähe zu reiten … Nur wenige kennen sein wahres Gesicht. Er ist ein hinterhältiges, grausames Monster, das uns alle im Sonnenreich nach und nach vernichten wird. Und nun hat er unser wertvollstes Sonnenkind gefangen, das war ein großer Fehler. Er hat uns lange genug Schaden zugefügt. Es ist an der Zeit, dass wir uns endlich wehren!
Vor Kesimos inneres Auge drang das grausige Bild des Eismonsters. Mit einem unguten Gefühl nickte er der Priesterin zustimmend zu. Sie hatte zweifelsfrei recht, aber leicht würde der Kampf gegen so einen mächtigen Gegner sicher nicht werden.
Am Abend saßen Jolanis, Kesimo und die Hohepriesterin in deren geräumigen Zelt zusammen. Hier herrschte absolute Sauberkeit. Die geschmackvolle, helle Wolkeneinrichtung war farblich aufeinander abgestimmt und es duftete himmlisch. Die Jungs lauschten mit gemischten Gefühlen Namatanis Plan, wie sie Riala befreien konnten. Ihre Einhörner hielten sich in unmittelbarer Nähe auf. Sie ließen ihre Verbundenen nur im äußersten Notfall aus den Augen.
Namatani wusste, dass sie keine andere Wahl hatte, als die Jungs loszuschicken, wenn sie das Mädchen jemals wiedersehen wollten. Kesimos unerschütterlicher Mut gepaart mit Jolanis‘ Kraft, ihrer beider Intelligenz und die Liebe zu Riala, den Kindern und Pferden, würde ihnen im Kampf gegen Urus helfen. Denn die reine Liebe war eine gewaltige Waffe gegen das herzlose Eismonster.
Nervös kneteten die Jungs die Enden ihrer Gürtel. In wenigen Stunden, wenn sich die Helligkeit ankündigte, sollte das unglaubliche Abenteuer schon beginnen.
Obwohl ihnen nicht ganz geheuer dabei war, wussten sie, dass sie das einzig Richtige taten. Riala musste gerettet und Urus vernichtet werden, das stand fest, sonst wären sie bald alle verloren. Das ganze Sonnenreich lag nun in ihrer Hand. Je länger sie darüber nachdachten, desto unlösbarer erschien ihnen diese schwere Aufgabe. Die Last erdrückte sie fast.
Nachdem alles Voraussehbare besprochen war, und das reichte gerade bis ins Nachbarreich, verließen die beiden mit einem mulmigen Gefühl Namatanis Zelt und gingen in das Gemeinschaftszelt, um ihre Sachen zu richten.
Danach versuchten sie, trotz der Sorge und Aufregung, noch ein wenig zu schlafen.
Jolanis, Kesimo, ich wünsche euch bei eurer Mission alles Glück des Wolkenreichs und, dass ihr bald wieder unversehrt zurückkommt. Ich bin außerordentlich stolz auf euch. Kesimo, nimm dieses goldene Kurzschwert und du Jolanis, diese goldenen Pfeile und den Bogen. Sie sind gesegnet und werden euch beschützen. Legt sie niemals ab! Wioné, die Schlossherrin, deren schlanker, hochgewachsener Körper ein fließendes, gelbes Gewand sanft umschmeichelte, stand mit ernster Miene vor den Jungs und hielt ihnen die Waffen hin. Ihr knielanges, türkises Haar, durchwirkt mit goldenen Strähnen, trug sie mit einer Klammer auf dem Rücken zusammengebunden. Auch ihr war bewusst, dass es keinen anderen Ausweg gab. Noch mehr aufgeregt, durch die Anwesenheit der hell leuchtenden, makellos schönen Schlossherrin, griffen die Jungs mit zitternden Händen nach den Waffen und befestigten diese augenblicklich an ihrem Körper. Die Sonnenkinder, deren faszinierter Blick zwischen Wioné und den Jungs hin und her wanderte, standen im Kreis um sie herum und wünschten ihnen viel Glück. Einige trugen Instrumente bei sich.
Nachdem die zwei sich schweren Herzens von allen verabschiedet hatten, ritten sie in beklemmender Schweigsamkeit los. Ihr Herz schlug hart gegen die Rippen. Die traurige Melodie der Musizierenden ließ den Kloß in ihrem Hals noch dicker werden. Würden sie jemals wieder zurückkehren?