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Donnerstag

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1

Harold glaubte, nach Mutters Tod erbe er die Villa und erhänge sich zweimal die Woche in der Vorhalle. Weiter hat er nie gedacht. Als Mutter starb, waren kaum die Schulden zu begleichen, und hätte Onkel Derringham nicht wie ein tapferer Held all den Papierkram an sich gerissen, wer weiß, was aus Harold geworden wäre. Glücklicherweise konnte Onkel Derringham das Mietshaus in der Golborne Road auf seinen Namen überschreiben und Harold zu günstigen Konditionen in Parterre einquartieren. Mittlerweile weiß Harold die Sicherheit zu schätzen, den Rückzug und das Ewige, manches Mal sogar den Einklang mit sich selbst und auch mit dem Schild auf seiner Schürze, auf dem steht: Ich bin Harold. Was kann ich für Sie tun?

Viel ist es nicht, was Harold für die Menschen tun kann. Sie erwarten auch nicht viel, und an einem Tag wie heute schlägt das Wetter auf das Gemüt der Menschen, denn aus dem Himmel schlagen Blitze ein und töten Bäume. Es ist nur zu hören, zu sehen ist gar nichts. Fenster gibt es keine hier unten. Das war schon immer so und nie hätte jemand etwas anderes erwartet, wenn er das Unterirdische aufsucht. Das Licht ist künstlich, es flutet von der Decke durch die Gänge, es reflektiert und bricht, in manchen Winkeln schimmert es nur, in anderen gleißt es übernatürlich. Den Tieren ist es egal, sie sehen das Licht nicht mehr. Dabei hat das Schwein noch seine Augen. Dunkel funkeln sie in dem rosigen Kopf, es sieht so gesund aus, und fast ließe sich denken, es würde noch leben, aber ohne Körper ist das gar nicht möglich. Den Körper gibt es in kleinen Stücken oder in Scheiben oder auch als Gehacktes. Schön soll es aussehen, frisch und in satter Farbe, nur glänzen soll es nicht, da haben die Kunden kein gutes Gefühl.

Wenn Harold mag, darf er in der Mittagspause raus. Durch den Personalausgang, die kleine Treppe hinauf und dann durch den Hinterhof, in dem die Abfälle in grauen Containern wesen und der rauchenden Belegschaft die Sucht versüßen. Wenn möglich, versucht Harold diesen Ort zu meiden, nicht der streunenden Katzen und Ratten wegen, die, wenn sie sich unbeobachtet fühlen, aus den Ecken, Winkeln und Löchern kriechen, um sich am Halbverdorbenen zu sättigen, als vielmehr des Feindes wegen, der auf den Namen Carol hört.

Aus der Käseabteilung.

Ihre Theke ist nur zehn Meter Luftlinie von Harolds entfernt, und manchmal trägt sie eine rosa Schleife im Haar, aber das ist nur Tarnung, ein Hinwegtäuschen über ihr wahres Ich, über das, was sich in Worten nicht beschreiben lässt und in der direkten Erfahrung mit Schmerz verbunden ist. Ihr Blick in Harolds Richtung sagt recht eindeutig: Massenmörder. Wahlweise hebräischer Siedler. Harold jagt sie damit Angst ein. So wie am ersten Tag, als sie ihm zur Begrüßung die Hand zerquetschte und Süßholz raspelnd sagte: »Du überlebst hier keine Woche.« Anfangs hatte Harold noch mit der gnadenlosen Vorstellung geliebäugelt, dass Carol auf dem Weg zur Arbeit von einem Laster überfahren wird. Mittlerweile weiß er, dass es sehr viel wahrscheinlicher ist, dass Carol einen Laster überfährt. Warum Carol sich so festgebissen hat, weiß Harold nicht. Vielleicht ist sie als Kind mehrfach vergewaltigt worden, von ihrem Vater oder ihrem Bruder oder von beiden. Und vielleicht sieht Harold dem Vater oder dem Bruder ähnlich. Sie hat es ihm nie gesagt.

In zehn Minuten ist der Termin bei Mr. Hopkins. Carol weiß das. Sie hat über 50 Post-its beschrieben, die an der Theke, den Schränken, der Spüle, den Beilen, Messern und Scheren kleben. Toi, toi, toi, Hals- und Beinbruch, Die Zeit heilt alle Wunden. In ein roséfarbenes Kuvert neben der Waage hat sie ein Foto gelegt. Eine Aufnahme, die in detailreicher Auflösung und weichen Lichtsäumen Carol zeigt, wie sie einer Taube den Hals umdreht, wenngleich nicht ganz zu erkennen ist, ob die Taube schon vorher tot war, aber wahrscheinlich eher nicht.

Harold ist nicht sicher, was Mr. Hopkins von ihm möchte, Mr. Hopkins redet im Allgemeinen nur sehr ungern mit seinen Angestellten. Das letzte Mal hat er Harold vor sieben Jahren zu einem Gespräch hochgebeten. Damals ging es um die Verunreinigungen auf der Herrentoilette, die für großes Aufregen gesorgt hatten. Jemand schrieb mit schwarzem Filz auf allen Türen »Hier verdaut das Schweinesystem«. Harold war zwar in der engeren Wahl der Denunzierten, hatte aber letztendlich bei Mr. Hopkins den Eindruck erweckt, in solch subversiven Abenteuern keine Befriedigung zu finden. Darüber hatte Harold allerdings nie nachgedacht, über Abenteuer und über Toiletten im Allgemeinen. Wenn Harold könnte, würde er es abschaffen, das Denken, er würde nur noch da sein, weder Schicksal noch Zufall und ganz gleich, ob am Ende Primeln oder Stiefmütterchen verwelken. Harold hat nie verstanden, warum so viel Wert auf goldene Griffe und eine bordeauxrote Lackierung gelegt wird, ansonsten ist die Kiste ja aus Holz.

2

»Harold, was ist der Sinn Ihres Lebens?«

Mr. Hopkins ist ein Mann von kleinem Wuchs und großem Appetit, der sein Resthaar linksscheitelnd kämmt. Hinter seinem massiven Schreibtisch aus seltenen Wäldern wirkt er immer ein wenig verloren, aber von der Belegschaft ist noch niemand auf die Idee gekommen, dies als Schwäche zu interpretieren. In seinen wässrig blauen Augen liegt Erwartung, die Brauen sind unnatürlich zueinander gezogen und wecken beim Betrachter, also Harold, Instinkte der Unterwerfung.

»Das Leben, Harold, das Leben hält viele Überraschungen parat. Oft sind es die kleinen und großen Veränderungen, die das Leben erst in die richtigen Bahnen lenkt. Manchmal versteht man nicht sogleich, welche Chancen sich daraus ergeben, dass sich Türen schließen, andere aber dafür öffnen.«

Harold versucht sich zu konzentrieren, den Worten und was sie bedeuten zu folgen. Eine Frau, vielleicht um die vierzig, und ein junges Mädchen blicken Harold von dem Sideboard hinter Mr. Hopkins’ Schreibtisch aus an. Sie sind in Messing gerahmt, sie sind weder hübsch noch hässlich, sie haben sich zurechtgemacht für das Foto, sie versuchen zu lächeln, aber wahrscheinlich war es noch zu früh am Morgen oder die Milch war um.

»Gestern erst hat meine Frau zu mir gesagt, Harry Hopkins, hat sie gesagt, du musst dir endlich eine neue Frisur zulegen.«

Eine Taube nistet auf dem Fenstersims, ihr Gurren ist durch die doppeltverglasten Scheiben zu hören, sie putzt sich die Flügel, blickt für einen Moment neugierig in das Büro, doch ein dumpfes Donnergrollen lenkt ihre Konzentration wieder in die Ferne. Mr. Hopkins nestelt am Knoten seiner Krawatte, er blättert in seinen Unterlagen, er sucht etwas, er hat es gefunden, er blickt wieder auf, der Regen setzt ein und schwere Tropfen platschen gegen die Scheiben.

»Um mal auf den Punkt zu kommen, mein lieber Harold: Sie sind gestern von Kopf bis Fuß mit Rinderblut versehen wieder an Ihre Theke gegangen und wollten weiter bedienen. Ich gehe zwar davon aus, dass Sie sich nicht selbst mit einem Eimer Rinderblut überschüttet haben, doch Sie hätten in diesem Zustand unter keinen Umständen weiter bedienen dürfen. Sie hätten sich erst reinigen müssen!«

Dafür hatte Harold aber keine Zeit. Die Pause war schon vorbei. Und die Pausenzeiten dürfen nicht überzogen werden, da gibt es eindeutige Vorschriften, das ist überall nachzulesen, in der Kantine, am schwarzen Brett, im Personalbüro und in den Umkleideräumen.

»Ich habe heute den Anruf einer Mutter entgegennehmen müssen.«

Oh.

»Sie lässt eine Klageschrift vorbereiten.«

Oh.

»Ihre beiden Kinder, sieben und neun Jahre alt, haben alles mit ansehen müssen.«

Oh.

»Sie müssen in psychiatrische Behandlung.«

Oh.

»Sie war, um es höflich zu formulieren, sehr, sehr aufgebracht.«

Harold ist unsicher, ob es wohl die beiden ungefähr sieben und neun Jahre alten Kinder waren, die »Wow, Jason« schrien und ein Autogramm wollten. Da Harold nicht Jason ist und auch nicht weiß, wer Jason ist, hat er ihnen eine Scheibe Wurst gegeben, jedem eine. Das ist nicht nur erlaubt, das ist explizit erwünscht, das ist Firmenphilosophie.

»Harold, solche Vorfälle sind untragbar für unser Haus. Unsere Kunden zählen zur High Society und unsere Feinkostabteilung zählt zu den exquisitesten der ganzen Stadt. Wir haben einen Ruf zu verlieren, und Sie haben den Bogen zum wiederholten Male eindeutig überspannt.«

Mr. Hopkins lässt den Satz einfach so stehen. Harold weiß nicht recht, was er ihm damit sagen möchte, aber es klingt nicht unbedingt nach einer Gehaltserhöhung. Auch der Hinweis auf den Bogen, der überspannt sein soll, stellt Harold vor ein Rätsel. Zweimal war er in diesem Monat zu spät, das eine Mal ist der 23er ausgefallen, das andere Mal auch. Die vergorene Fischsuppe, die vor zwei Wochen über seine Theke ausgekippt wurde, war ein Fremdanschlag, die Täterin ist bis zum heutigen Tag unbekannt, auch wenn Harold eine ungenaue Ahnung verspürt. Auch der noch lebende Frosch, der zwischen den Hühnerschenkeln und dem argentinischen Rindergulasch umherhüpfte und dem eine unbekannte Person eine goldene Plastikkrone auf den Kopf getackert hatte, ist rein rechtlich gesehen als höhere Gewalt einzustufen.

Harold stößt leicht auf, weil ihm die anatolische Mittagsmahlzeit auf den Magen schlägt und versucht beiläufig den knoblauchhaltigen Atem hinwegzuwedeln, was ihm misslingt. Mr. Hopkins lehnt sich zurück, ohne augenscheinlich entspannt zu wirken. Das Gespräch nimmt einen Lauf, dem Harold nicht mehr folgen kann, er schielt aus dem Fenster, der Regen wird stärker und legt einen grauen Schleier über die Stadt.

»Harold? Wie lange sind Sie jetzt schon bei uns?« Mr. Hopkins blättert erneut in den Unterlagen, die auf seinem Schreibtisch für ein wenig Unordnung sorgen, seine Gesichtszüge verraten Überraschung, er blickt wieder auf: »Siebzehn Jahre.«

Siebzehn Jahre, elf Monate, drei Wochen, vier Tage und drei Stunden.

»Das ist eine lange Zeit. Haben Sie schon mal über eine Veränderung nachgedacht?«

Harold kann sich nicht erinnern.

»Harold«, Mr. Hopkins wirkt gereizt, »es ist Zeit für eine Veränderung.«

Oh.

Wäre Mr. Hopkins Ingrid Bergman, würde Harold jetzt wie Humphrey Bogart nach einer Zigarre fragen. Leider raucht Harold nicht. Und Mr. Hopkins zeigt keinerlei Ähnlichkeit mit Ingrid Bergman, im Moment jedenfalls. Der Regen nimmt zu, die Tropfen prasseln jetzt wütend gegen die Scheiben, als wollten sie diese einschlagen, als könnten sie nicht verstehen, dass sie ausgesperrt sind, dass man sie hier nicht haben will. Wahrscheinlich, weil sie nass machen. Mr. Hopkins interessiert sich nicht für den Regen, er tippt mit seinem rechten Zeigefinger auf den Tisch und versucht den Rhythmus zu halten, schließlich ist er in seiner Freizeit Schlagzeuger in eine Dixieland-Band, mit der er beinahe einmal in New Orleans gespielt hätte, wäre der Veranstalter nicht wegen unsittlichen Verhaltens inhaftiert worden.

»Praktisch sofort.«

Oh.

Das Telefon klingelt. Mr. Hopkins nimmt den Hörer ab.

»Ja?«

Pause.

»Nein.«

Pause.

»Ja.«

Pause.

»Nein.«

Pause.

»Nein.«

Pause.

»Nein!«

Pause.

»Ja.«

Er legt wieder auf. Er scheint nachzudenken, und es sieht nicht so aus, als gehöre das Nachdenken zu Mr. Hopkins’ Lieblingsdisziplinen.

»Sie sind entlassen.«

Harold würde jetzt sehr gerne nach Hause gehen und eine Kopfschmerztablette nehmen.

»Sie sollten jetzt nach Hause gehen und eine Kopfschmerztablette nehmen.«

3

Der Bus ist wieder zu spät. Der Verkehr in London ist ein unberechenbares Monstrum, er kümmert sich nicht um persönliche Schicksale, auch dann nicht, wenn das persönliche Schicksal Harold heißt. Der Regen macht Überstunden, und im Schutz der Überdachung zwängen sich die Wartenden in intimer Fremdheit gegeneinander. Die Überdachung bietet Platz für zwanzig Personen. Harold ist die einundzwanzigste. Sein Regenschirm hat den letzten Böen nicht mehr standhalten können, mehrere Streben sind eingeknickt, hängen herab oder stehen senkrecht gen Himmel, splitternackt, ein Gerüst, mehr nicht. Bäche stürzen am Nacken hinab und bilden Pfützen in den Schuhen, die bei jedem Schritt schmatzende Geräusche von sich geben. Tage werden vergehen, bis sie wieder trocken sind. Die Sichtweite beträgt kaum mehr als zehn Meter, und obwohl es noch früher Nachmittag ist, haben die meisten Autos ihre Scheinwerfer schon in Betrieb, wie Raubtieraugen spähen sie nach Fluchtmöglichkeiten für ihre Insassen, die sich kleine Gassen erhupen, um wegzukommen, raus hier. Hinterrücks duftet ein Burger-Imbiss betörend Bratenfett auf die Gehwege, und Harold muss niesen. Noch bevor das Taschentuch aus der rechten Hosentasche seine Nase erreicht, ist es nass genug, um eine Badewanne zu füllen, würde man es auswringen. Arbeitslos. Das ist ja keine Sünde mehr, heutzutage, mehr ein Zeitproblem. Oder?

Der 31er stottert sich grummelnd in die Haltebucht, die Türen quietschen auf, und Harold wird von der wartenden Meute in den Bus gestolpert. Harold versucht, seine Oyster Card aus dem Portemonnaie zu ziehen, doch der Fahrer winkt nur müde ab, Schweißperlen tropfen ihm in Bächen von der Stirn und die einsteigende Meute schubst ihn weiter durch die Körperreihen. Jeder einzelne Schritt wird mit einem Murren und Zischen begleitet, niemand will seinen Platz aufgeben, erst recht nicht jene, die als Erste da waren, die ihren Platz hart erkämpft haben und den Emporkömmlingen nur Verachtung schenken. Tiefste.

An einen Sitzplatz ist nicht zu denken, es sei denn in einer fiebrigen Wahnvorstellung, die Luft ist dick wie Butter und die Nässe stärkt den Dunst der Geschlechter. Als der Bus wieder Fahrt aufnimmt, werden die Körper umhergeschubst, und feuchter Schweiß mischt sich durch die Reihen der Haltlosen, die nunmehr auch die entfernteste Erinnerung an Freundlichkeit aus ihrem Leben löschen. »Jetzt wäre ich gerne Selbstmordattentäter«, murmelt eine junge Frau, die in einer flanellgrauen Trainingsjacke und mit einer roten Pudelmütze bekleidet neben Harold steht, aber eine Bombe hat sie gerade nicht dabei, nicht einmal ein Küchenmesser, dafür aber trägt sie einen Ring in der Nase.

Nächster Halt Pembridge Road.

Die Stimmung wird mit jeder Kurve angespannter, niemand unterhält sich, Wörter haben einfach keinen Platz in dem fahrenden Blech voller Menschen, deren Hautfarbe das Grau des Wetters angenommen hat. Das Aus- und Einsteigen wird zur Kriegserklärung, ein Minenfeld der Gefühle, ein falscher Schritt und es ist aus. Harold versucht, niemanden direkt anzublicken, die Gesichter nur kurz streifen, keine Aufmerksamkeit erregen, die kleinen Dinge wahrnehmen, sich festhalten. Vanessa liegt halbnackt auf dem Schoß eines älteren Herrn und preist ihre Vorzüge mit dem Untertitel: »Jetzt wird zurückgeschossen«. Als der ältere Herr bemerkt, dass die junge Selbstmordattentäterin ihn mit kalten Blicken durchbohrt, dreht er den Daily Mirror um: »16-Jähriger läuft Amok in überfüllter Schulkantine«.

Harold versucht, auf seine Schuhe zu starren, keine drei Jahre alt, braunes Wildleder, an den vorstehenden Nähten schon ein wenig mitgenommen, sonst aber sehr schön.

Nächster Halt Chepstow Road.

Im hinteren Teil schreit ein Säugling neue Zähne herbei und hat Glück, dass die Kindstötung gesetzlich verboten ist. »Warum eigentlich?«, fragt ein grüner Aufkleber neben dem Notschlaghammer. Häuserblöcke fliegen im dichten Regen vorbei, ein unscharfes Foto als Erinnerung, es bleibt nichts, nur alles in Bewegung, und immer diese Veränderungen.

Der Morgen hatte noch recht angenehm begonnen, kein Ausrutschen der Rasierklinge, der Kaffee in einem exzellenten Verhältnis zwischen Wasser und Bohnen, und der Rottweiler von Mr. Rooney lag mit einer Magenkolik danieder. Harold war ein Springbrunnen der guten Laune und beinahe hätte er sogar gelächelt.

»Haben Sie ein Problem mit Drogen?«, fragt ein gelber Aufkleber mit schwarzer Schrift und einer Telefonnummer am rechten unteren Rand. Eigentlich nicht.

Nächster Halt Westbourne Park.

Aussteigen. Aussteigen? Theoretisch ist es unmöglich, dass der Bus in den letzten zehn Minuten voller geworden ist, praktisch schon. Noch zweihundert Meter. Harold blickt nach links und rechts, er steht genau in der Mitte von zwei Türen, es gibt keinen langen oder kurzen Weg, es gibt gar keinen Weg. Noch hundert Meter. Jede weitere Station bedeutet einen zusätzlichen Fußmarsch von zehn Minuten, und was, wenn es erst an der Endstation einen Ausweg gibt? Noch fünfzig Meter. Es gibt kein Leben nach dem Tod, und wenn doch, hätte Harold gerne Flügel. Der Bus hält und die Türen gehen auf. In dem Moment setzt sich ein Mann mit dem Bauchumfang einer Waschmaschine keine zwei Meter von Harold entfernt in Bewegung und schlägt wie ein russisches Rollkommando eine Schneise in die Menge. Harold klemmt sich geistesgegenwärtig in seinen Schatten und ist überrascht, als er plötzlich auf der Straße steht und wieder atmen kann. Der Regen empfängt Harold wie einen alten Freund, voller Zuneigung und etwas unbeholfen im Überschwang der Gefühle. Harold spannt die Reste seines Schirmes auf, in fünf Minuten ist er zuhause, und wenn er Glück hat, steht das Dach noch auf dem kleinen Gebäude an der Golborne Road. Aber sicher kann man da ja nie sein.

4

Ein Galgenknoten ist weit weniger schwer zu knüpfen, als er aussieht. Amateure begehen schon bei der Wahl des Strickes die ersten Fehler. Ein zu dünner Strick schneidet sich viel zu schnell in die Haut ein, ein zu dicker Strick sieht nicht schön aus. Harold ist Profi, und seine Strickware ist stets von bester Qualität, er kauft sie ausschließlich in McCormicks Kleinwarenladen, schottische Wertarbeit, die im Königreich ihresgleichen sucht, und das vergebens. Er hat sich nur flugs umgezogen, da Pfützen im Treppenhaus nicht gerne gesehen werden. Selbst das Thunfisch-Sandwich, das er nach Feierabend mit einem Glas Milch zu sich nimmt, hat er nur zur Hälfte gegessen, der Magen wollte nicht, der Geist noch sehr viel weniger, die Unruhe muss besänftigt werden, sie fordert ihren Lohn.

»Hallo Harold, wie geht’s«, fragt Abraham Sinclair und klimmt mit seiner Gehhilfe die ersten beiden Stufen zu seinem Apartment im ersten Stock empor. Abraham Sinclair ist 84. Er ist so gut wie blind, er ist entschuldigt. Es hätte ja auch durchaus sein können, dass Harold hier oben nur eine Glühbirne austauscht, der Verbrauch im Treppenhaus ist ungewöhnlich hoch, irgendein Problem mit der Elektrik, über die Harold aber nicht sehr gut Bescheid weiß, die Elektrik ist ihm von Kindheit an ein Mysterium. Doch plötzlich dreht sich Abraham Sinclair noch einmal um, ihm ist noch etwas eingefallen, etwas Ungewöhnliches, das er mitzuteilen gedenkt.

»Ich habe gestern zweimal masturbiert. Normalerweise masturbiere ich nur einmal im Monat, aber im Fernsehen lief eine Wiederholung von Dallas. Mit Pamela Ewing. Ich weiß nicht, wie Pamela Ewing in Wirklichkeit heißt, aber das ist auch nicht so wichtig. Wichtig ist, dass sie duscht.« Ohne eine Antwort abzuwarten, nimmt er die restlichen Stufen hinauf, und keine zehn Minuten später hört Harold, wie Abraham Sinclair seine Wohnungstür erreicht und schon mit dem zweiten Versuch den Schlüssel in das Schloss bekommt.

Harold sieht kaum noch eine Chance auf ein anspruchsvolleres Publikum, als die Haustür ein weiteres Mal aufgeht. Es ist Mrs. Cardigan aus der Zweiten. Sie war einkaufen und verzettelt sich mit ihren Besorgungen an der halb offenen Briefkastentür der Frymont-Familie. Sie blickt zu ihm hinauf und sagt: »Oh, Harold, können Sie sich nicht mal abhängen und einer alten Frau behilflich sein?«

Er würdigt sie keines Blickes. Bridge-Partnerin hin, Bridge-Partnerin her. Harold erhängt sich höchstens einmal im Monat, in der ersten Hälfte, nie dienstags, aber vor 21 Uhr. Da ist ein bisschen Feingefühl doch nicht zu viel verlangt. Oder? Ein letztes Röcheln, der Moment kurz vor der Besinnungslosigkeit, wenn der Sauerstoff keine Wege mehr findet, wenn die Sicht erst trübe wird und sich dann alles verdunkelt.

»Harold, wenn Sie mit dem Aufhängen fertig sind, sollten Sie sich schon mal frisch machen, in zwei Stunden treffen wir uns bei Emma Merrythought zum Bridge. Nicht, dass Sie wieder zu spät kommen.« Harold ist erst einmal zu spät gekommen, und das lag an den Homosexuellen, die auf der Abbey Road demonstrierten. Um was es genau ging, lässt sich ohne großen Aufwand kaum noch recherchieren. Der 21er aber musste einen Umweg durch die halbe Stadt machen, weil der Fahrer die Umleitungsschilder nicht lesen konnte. Ein Vorwurf war ihm nicht zu machen, er war ja noch ganz neu, aus Pakistan, und wahrscheinlich gibt es dort keine Umleitungsschilder. Mrs. Cardigan aber trägt Harold diese Verspätung heute noch nach, sie war es schließlich, die ihn in die Bridge-Runde eingeführt hat und es steht außer Frage, dass sie für ihn verantwortlich ist.

Die Haustürklingel schrillt.

Mrs. Cardigan, die immer noch am Eingang steht, öffnet die Tür. Es ist die Vertretung von Mr. Best, dem Postboten. Es ist eine junge Frau, Mitte zwanzig, mit einem blonden Pferdeschwanz und grünen Augen, die wie Murmeln glasig schimmern.

Sie schreit.

Sie schreit sehr laut. Und lässt die Briefe auf den Boden fallen, die eigentlich in die Kästen müssen. Dabei hat sie das letzte Röcheln gar nicht mitbekommen, Harold wiederholt es noch mal, das ist eine Selbstverständlichkeit, bei so viel Anteilnahme. Mrs. Cardigan schaut die junge Frau verwirrt an und fragt: »Was haben Sie denn?«

»Der ... Mann ... oben ... Strick ... oh Gott …«

»Das ist nur Harold.«

Was soll das heißen: Das ist nur Harold? Er wiederholt das letzte Röcheln, legt aber ein wenig Empörung in das Timbre mit hinein. Die junge Frau schreit erneut, sie hat eine wundervoll hohe Stimme, die eine Gänsehaut verursacht, weil sie ohne Umwege direkt das zentrale Nervensystem erreicht. Mrs. Cardigan ist ein wenig ungehalten, sie mag keinen Lärm, grundsätzlich nicht. Sie macht einen Schritt auf die Postbotin zu und wirft ihr den bösen Blick entgegen. Die Postbotin macht den Fehler, die Ermahnung zu ignorieren und schreit erneut. Woraufhin Mrs. Cardigan die Nase der jungen Frau packt und zu sich hinunterzieht, sie ist höchstens 1 Meter 60.

»Mein liebes Kind, wenn in diesem Haus etwas verboten ist, dann sind es Briefträger, die, anstatt die Postsendungen in die dafür vorgesehenen Kästen zu werfen, schreien, als würde man ihnen die Fingernägel einzeln ausreißen. Ich sagte doch bereits, das ist Harold. Er übt nur! Und jetzt heben Sie die Briefe schön wieder auf und erledigen ihren Job. Ist Post für mich dabei? Cardigan, Mrs. Cardigan.«

5

Als Harold vor siebzehn Jahren in das mittelprächtige Haus auf der Golborne Road eingezogen ist, war der Fliederstrauch vor dem Küchenfenster nur ein kleiner Farbtupfer. Mittlerweile schluckt er im Frühling alle Sonnenstrahlen und streckt seine Zweige bis hoch in die erste Etage, wo Abraham Sinclair immer Dallas guckt. Es ist eine ruhige Gegend, nahezu Mittelschicht, mit einer Ausländerquote leicht über dem Durchschnitt, weshalb an heißen Tagen der süß-saure Duft von Hammelfleisch durch die Gassen und Vorgärten zieht und bei den Gebrechlichen für Atemnot sorgt. Im Sommer spielen die Nachbarskinder auf den asphaltierten Wegen Fußball oder Hooligans, und im Winter sind die Laternen manchmal den ganzen Tag an, weil sonst niemand mehr nach Hause finden würde. Lenny Ferguson gehört der schwarze Aston Martin, der Stolz des ganzen Viertels, mit einer eigenen Parkbucht vor Pauls Pharmacy, da sieht man ihn sofort, auch wegen des roten Hydranten. Was genau Lenny Ferguson macht, weiß man nicht, es muss aber etwas mit An- und Verkauf zu tun haben, da er Harold immer mit den gleichen drei Worten begrüßt: »Haschisch, Trips, Erdnussflips.«

Mrs. Cardigan hält nicht viel von Lenny Ferguson, sie sagt, er sei eine zwielichtige Gestalt, genauso wie Hicham Annani, dem das kleine Gemüse-Imperium drei Häuser weiter gehört und dessen Waage mindestens 100 Gramm falsch gehe, insbesondere bei Steinpilzen. Für Harold ist dieser Umstand jedoch wenig von Bedeutung, da er als Achtjähriger beinahe an einer Pilzvergiftung gestorben wäre und er den Vorgang des Magenauspumpens, bei aller Wertschätzung für die technische Umsetzung, mit keinerlei positiven Empfindungen verbinden kann.

Das Viertel aber gilt als relativ sicher, es sei denn, die Jugendgangs führen ihre Pitbulls aus oder der Premierminister kommt zu Besuch. So wie vor vier Jahren, als die heiße Phase des Wahlkampfs in ihren letzten Wehen lag und alles abgesperrt war, für die dunklen Limousinen und die ganzen Kamerateams, und ein Helikopter über den Dächern kreiste und Mrs. Cardigan ihr bestes Kostüm angezogen hatte und es Kebab mit Salat gab. Von überall her waren die Menschen gekommen, Stunden vorher hatten sie um die besten Plätze gekämpft, um ihre Fähnchen zu schwenken und vielleicht sogar den Premierminister berühren zu können, dieses eine Mal, die Macht zu spüren, dieses eine Mal, um in fünfzig Jahren den Enkelkindern davon erzählen zu können. Und groß war der Jubel, als der Ernstfall eintrat und der Premierminister aus seiner Limousine stieg und ein Stück des Weges zu Fuß erarbeitete, um Blumen zu empfangen, Hände zu schütteln, dem Volk ganz nahe zu sein.

Auch Mrs. Cardigan hätte ihm gerne die Hand geschüttelt, wenngleich sie ihn hinterrücks als Dorftrottel mit dem Charme einer Sardinenbüchse bezeichnete. Rouge hatte sie aufgetragen, mehr als sonst, und eine weiße Nelke in ihr graues, zu einem Dutt geschwungenes Haar gesteckt. Doch der Premierminister hielt ausgerechnet vor Bradleys Friseursalon an, wo Lenny Ferguson sich mit körperlich fragwürdigem Einsatz in die erste Reihe komplimentiert hatte und den Moment kommen sah, sein aufstrebendes Kleingewerbe der breiten Masse bekannt zu machen und neue Käuferschichten zu erschließen. Lenny Ferguson, der Anlageberater der Genussmittelindustrie, Grandmaster Flash feinster Waren aus Holland, Nepal und Afghanistan, multilingual, Gucci, Dolce und Gabbana. Eine kaufkräftige Klientel zog vor seinen kurzsichtigen Augen auf, klopfte an seine Tür, morgens, mittags, abends, ein Kommen und Gehen wie im Zoo und er, Lenny Ferguson, war die große Attraktion, der Bill Gates unter den Orang Utans. Im Nebel der rosigen Zukunft tat er seinen Werbeslogan kund, aber der Premierminister schien kein Interesse an Erdnussflips zu haben, ganz im Gegenteil, er wandte sich mit fragendem Blick an seine Berater, die wiederum die Sicherheitskräfte von der Leine ließen, die wiederum Lenny Ferguson unsanft zur Seite schubsten, woraufhin ein kleiner Tumult entstand und Lenny Ferguson, ein Kämpfer vor dem Herrn, mehrfach mit seiner Nase auf die Fingerknöchel der großen Männer in den dunklen Anzügen schlug. Die Fotografen waren schier aus dem Häuschen, und am nächsten Tag war nicht der Premierminister auf der Titelseite der Sun zu sehen, es war Lenny Ferguson, wie er in den Absperrgittern lag und das Blut aus seiner Nase tropfte, das linke Auge schon ein wenig angeschwollen, aber für das Foto noch das Lächeln eines Siegers zaubernd. Die Schlagzeile lautete: »Willkommen an der Heimatfront!«

Seither gibt es im Viertel keine Politikerbesuche mehr, und Harold nimmt diesen Umstand mit einer gewissen Erleichterung wahr, sind ihm doch von klein auf das Laute und die Masse stets suspekt gewesen, und daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert, ganz im Gegenteil. Der Mensch an sich ist ihm keine große Belastung, aber schon eine Gruppe von mehr als drei an der Zahl bereitet ihm ein Unbehagen, das er gar nicht näher zu definieren weiß, es ist nur so ein Gefühl, in der Magengegend, zwischen Leber und Milz vielleicht, und tränke er Alkohol, wäre er vor jeder Busfahrt und vor jedem Einkauf sturzbetrunken, aber er trinkt keinen Alkohol mehr, seit man ihn bei einer Betriebsfeier vor zwölf Jahren dazu nötigte und er infolgedessen auf dem Heimweg gegen jeden auffindbaren Laternenmast stieß, zweimal über einen Hydranten fiel und, als er dann endlich mit dreistündiger Verspätung zuhause ankam, sich so oft übergab, dass es ihm wie ein Wunder vorkam, überhaupt noch am Leben zu sein.

Dies mag vielleicht auch der Grund dafür sein, warum Harold im Großen und Ganzen nicht in der Stimmung für eine Partie Bridge ist, was aber wenig von Bedeutung ist, da Harold nie in der Stimmung für eine Partie Bridge ist. Harold wurde einberufen, als Walter Mayhew der Gesellschaft vor einem Jahr davonstarb und aus dem Bekanntenkreis der illustren Runde mit Mrs. Davenpot, Mrs. Merrythought und Mrs. Cardigan kein adäquater Ersatz rekrutiert werden konnte. Harold wird in guten Momenten als endgültige Zwischenlösung toleriert, in schlechten als Prüfung Gottes angesehen. Dabei ist Bridge ein Spiel, von dem Harold weiß, dass es mit Karten zu tun hat, derweil ihm Strategie, Farben und Zählweise stets ein ähnliches Mysterium sind wie das Alte Testament, in dem er in jungen Jahren einmal pflichtlektürend blätterte und aus dem einzig Ezechiel in mahnender Erinnerung sein Bewusstsein trübt, insbesondere sonntags.

Das Spiegelbild im Bad mahnt zur Erfrischung, die Haare müssen neu gescheitelt und ein frisches Hemd übergezogen werden. Weiß oder blau? Harold besitzt vier weiße und vier blaue Hemden, die er seit über zwanzig Jahren bei Herb’s Herrenbekleidung kauft, einem kleinen Laden in der Warwick Street, in dem Harold noch nie einem anderen Kunden begegnet ist. Das grüne Hemd, das er einst von Mrs. Cardigan zum Geburtstag geschenkt bekam, trägt er nur auf Beerdigungen, warum, weiß er auch nicht, es hat sich so ergeben. Mode ist für Harold nur ein Wort aus den Zeitungen, deren Visualisierungen ihn weniger inspirieren, als vielmehr zutiefst verwirren und ihn jedes Mal ratlos zurücklassen, wenn sein brauner Cordanzug alle fünf Jahre für schick erklärt wird und die Bevölkerung ihn einige Monate für einen aufgeschlossenen Intellektuellen hält.

In zehn Minuten ist Spielbeginn, diesmal bei Mrs. Merrythought, zwei Häuserblöcke weiter, Parterre links und unschwer zu verfehlen, da in dem Küchenfenster zur Straße hin ein Engel leuchtet, Tag und Nacht, selbst wenn die Sicherungen rausfliegen, denn der Engel ist mit zwölf Volt batteriebetrieben.

6

Als Mrs. Merrythought die Tür öffnet, begrüßt sie Harold mit einem »Herrje«. Sie macht auf dem Absatz kehrt und geht wieder in den Raum, aus dem sie gekommen ist. Der zweite Fußabtreter im Haus ist eigentlich noch wichtiger als der erste vor dem Haus. Harold weiß das und putzt sich seine Schuhe am »Willkommen« sauber. Er hängt seinen Mantel auf den Kleiderbügel, der, aus Echtholz und mit Lack behandelt, weit mehr einem Relikt als einem Gebrauchsgegenstand ähnelt. Jetzt muss Harold nur noch die Füße bewegen, er muss gehen, vorwärts, und sei es auch in eine ungewisse Zukunft, die am Ende auf ihn wartet und in der alles passieren kann, wie zum Beispiel, dass eine Linienmaschine ins Haus stürzt, weil ein Pelikan sich verrechnet hat und es nie wieder Tag wird.

Der lang gezogene Flur ist mit gerahmten Fotos der letzten fünfzig Jahre überzogen, die alle Mrs. Merrythought zeigen, wie sie Kaffee trinkt. Auf dem größten Foto aus den Sechzigern, links über dem Telefontisch, trägt sie Lockenwickler und sieht ein wenig aus wie Grace Kelly, zumindest hat ihr ein längst verblichener Verehrer dies in einem romantischen Moment ins Ohr geflüstert, und seitdem ist das Foto auch mit einem dezenten Oberlicht Tag und Nacht beleuchtet.

Der letzte Schritt in die Schaltstelle des Vergnügens fällt Harold wie immer schwer, es ist, als hätten ihm italienische Männer mit dunklen Sonnenbrillen und groben Händen Beton um die Füße gegossen. In der Mitte des burgunderroten Wohnzimmers steht ein runder Tisch mit vier Stühlen, von denen einer noch frei ist. Auf den anderen sitzen die drei Damen im späten Alter, friedlich, wie es trügerisch den Anschein erweckt, als wäre es ein nettes Beisammensein. Ein elektrischer Kronleuchter bündelt ein gleißendes Licht über dem Spieltisch, der Heißgetränke und Selbstgebackenes auf feiner Häkelware darbietet. Die Karten sind schon ausgeteilt. Harold setzt sich auf den noch freien Stuhl, ein kaum erkennbares Nicken von Mrs. Cardigan, sie ist in einem Gespräch mit Mrs. Davenport verwickelt.

»Ich züchte jetzt meine eigenen Mini-Gurken.«

»Ich dachte, Mini-Paprika.«

»Das habe ich aufgegeben.«

»Warum?«

»Man kann nicht beides gleichzeitig tun, man muss sich entscheiden. Entweder Mini-Gurken oder Mini-Paprika. Als Züchterin hat man eine gewisse Verantwortung.«

»Gegenüber wem?«

»Der Zucht.«

»Gibt es da einen speziellen Paragrafen?«

»Den braucht es nicht. Ehrenkodex.«

»Da lastet ja eine ungeheure Verantwortung auf dir.«

»Man wird dafür entlohnt.«

»Schmecken bestimmt vorzüglich.«

»Ich würde von einer Delikatesse sprechen. Harold, Kreuz acht.«

»Ein Trauerspiel«, mischt sich Mrs. Merrythought kurzzeitig ein. Mrs. Merrythought ist die Älteste im Spielbetrieb, eine Frau der ersten Stunde, der man offen zutraut, als nächste davonzusterben. Die Wetten diesbezüglich stehen zwölf zu eins, bei Lenny Ferguson sogar vierzehn zu eins, aber da gibt es manchmal Probleme mit der Auszahlung.

»Harold, haben Sie schon die neuen Mieter kennengelernt?«, fragt Mrs. Cardigan und nestelt an der vergoldeten Brosche an ihrer Bluse, eine Brosche, die einen Schmetterling darstellen soll und die ein Erbstück ihrer deutschstämmigen Mutter ist, aus den 30er-Jahren im letzten Jahrtausend, echte Handarbeit und ohne Hakenkreuz.

»Ihr habt neue Mieter?«, fragt Mrs. Davenport.

»Ein Junge und eine Frau. Alleinerziehend, Vater unbekannt. Sie arbeitet in der Werbung, dunkles langes Haar, reine Haut, angenehme Blässe, insgesamt eine gepflegte Erscheinung.«

»Konfektion?«

»Sechsunddreißig.«

»Und der Junge?«

»Redet wirr. Harold, Pik neun.«

»Ein Trauerspiel«, mischt sich Mrs. Merrythought kurzzeitig ein. Mrs. Cardigan betrachtet die kleinen bernsteinfarbenen Klümpchen auf ihrem Löffel. Sie hält sie ins Licht, riecht vorsichtig daran und lehnt sich steif zurück.

»Meine Liebe, der Kandis ist aber nicht von Winterbottom.«

»Hat sie einen Freund?«

»Bisher ist mir dieser Umstand nicht bekannt. Gleichwohl sie eine erotische Ausstrahlung hat.«

»Netzstrümpfe?«

»Auch.«

»Lippenstift?«

»Bergamo Rot.«

»Wie alt ist der Junge?«

»Ich habe noch nie einen Elfjährigen gesehen, der so sehr aussieht wie acht.«

»Kann er sprechen?«

»Er behauptet, ein Genie zu sein.«

»Das hat mein Mann auch immer behauptet.«

»Der Klempner?«

»Der Geschäftsführer des landesweit größten Unternehmens für Heizungszubehör.«

»Ein Genie?«

»Hat er behauptet.«

»Warum?«

»Er hat gemalt.«

»Womit?«

»Wasserfarbe.«

»Bilder?«

»Es gab eine Ausstellung in der Kantine. Die Mitarbeiter waren begeistert.«

»Großartig. Hast du Denise Richardson letzte Woche gesehen?

»Mit ihrer neuen Frisur?«

»Friseure sind schlimmer als Terroristen.«

»Mein Enkel ist jetzt auch Terrorist.«

»Ach ja?«

»Ja, er spielt in einer Musikkapelle.«

»Und was spielen sie so?«

»Ich glaube, sie nennen es Punkrock.«

»Punkrock? Die mit den Sicherheitsnadeln in den Ohren?«

»Nein, das war früher.«

»Und heute?«

»Sind die Sicherheitsnadeln im Genitalbereich.«

»Na, wunderbar.«

»Nicht? Harold, Kreuz Bube.«

»Ein Trauerspiel«, mischt sich Mrs. Merrythought kurzzeitig ein.

»Harold, können Sie mir morgen vier Wachteln zurücklegen?«, fragt Mrs. Cardigan.

»Er ist entlassen«, antwortet Mrs. Davenport. »Ich habe es heute Nachmittag von Elise aus der Fischabteilung erfahren, als ich den Karpfen für das Wochenende holen wollte.«

»Oh, das ist ja furchtbar. In dem Alter eine neue Anstellung zu finden, ist nicht einfach.«

»Robert, die neue Begleitperson meiner Tochter ist erst achtunddreißig und findet keinen neuen Arbeitsplatz.«

»Schlimme Zeiten.«

»Die Globalisierung.«

»Machst du die Wachteln mit Rosinen?«

»Natürlich. Nein, nein, Harold, Karo sieben.«

»Ein Trauerspiel«, mischt sich Mrs. Merrythought kurzzeitig ein. Mrs. Cardigan dreht sich schräg zur Seite und bedenkt Mrs. Merrythought mit einem Blick, der in allen Sprachen dieser Welt mit dem Wort Vernichtung übersetzt werden kann.

»Was?!«

Wenn Mrs. Merrythought sich in die Ecke gedrängt fühlt, zündet sie sich einen Zigarillo an, das wird zwar nicht gerne gesehen, aber toleriert. Es ist die einzige Eigenschaft, die sie ihrem Vater abgeschaut hat, damals, 1941, als sie im Luftschutzbunker saß und die Nationalsozialisten die Stadt mit Bomben bewarfen. Vierzehn war sie, kalt war es und Hunger hatte sie und ihre ersten Tage hatten sich in sintflutartiger Weise bemerkbar gemacht, und da ihre Mutter schon tot war, fragte sie ihren Vater, der im Keller direkt neben ihr saß, ob er wisse, warum Gott den Frauen dieses schwere Los aufgebürdet habe, und ob er etwas dagegen unternehmen könne. Der Vater war ein kräftiger Mann mit dichtem Bartwuchs, der in einem Stahlwerk Brückenpfeiler fertigte und der, wenn er Hallo sagte, einen geschwätzigen Tag hatte. In einer kleinen Silberdose bewahrte er die hellbraunen Glimmstängel auf, von denen er jeden Tag einen nach dem Abendessen rauchte, die er immer bei sich trug, von denen er nie einen abgab, schon gar nicht seinen Kindern. Bis auf diesen einen Tag im April 1941, an dem er keine Antwort geben konnte und an ihrer statt seiner einzigen Tochter einen Zigarillo gab und sich zur Seite drehte. Seither hat Mrs. Merrythought bei jedem Zug an dem herb duftenden Tabak das untrügerische Gefühl, sie wäre unsterblich und könne es mit jedem aufnehmen, selbst mit Mrs. Cardigan.

»Es ist gegen die Regeln, Harold zu sagen, welche Karte er spielen soll.«

»Ist das so? Wärst du dann so gütig, mir die Stelle im Regelwerk zu zeigen, in der es heißt: Es ist verboten, Harold zu sagen, welche Karte er spielen soll.«

»Anderen Spielern.«

»Harold ist kein Spieler. Harold hält Karten.«

7

Harold durfte früher gehen. Das Spiel ist wieder einmal, wie es Mrs. Cardigan formulierte, an ihm vorbei gelaufen, mehrmals und ohne sich umzudrehen. Wer auch immer mit Harold in einem Team war, verlor, in der Regel hochhaushoch. Harold macht sich nichts aus Niederlagen, Eigenschaften wie Ambition und Ehrgeiz hat er nie entwickeln können, schon gar nicht für ein Kartenspiel, von dem er immer annahm, dass es dem Zeitvertrieb diene, wenngleich ihm die Zeit beim Spiel immer endlos lang vorkommt. Auf dem Heimweg hat er nur daran gedacht, dass er pünktlich zuhause sein würde, und das stimmte ihn frohgemut, denn auf BBC sollte nach Jahren der Entbehrung wieder Frühstück bei Tiffany laufen. Einer seiner drei Lieblingsfilme, für immer und ewig, zeitlos und unantastbar. Harold verehrt Audrey Hepburn, aber noch mehr liebt er Holly Golightly für die Unendlichkeit in ihren Augen und die Art und Weise, wie sie ein Cocktailglas in ihren zierlichen Händen zu halten versteht. Er hat den Fernseher eingeschaltet, einen Earl Grey aufgegossen und das Stück Erdbeertorte, das Mrs. Merrythought ihm für daheim mitgegeben hat, auf einem weißen Kuchenteller nebst Gabel drapiert. Er ist beinahe glücklich. Er hat gar nicht mitbekommen, dass Kempowski mit hineinhuschte, als er die Tür aufschloss.

Ein wenig lebt es noch. Das Geschenk. Es ist das dritte diese Woche. Die winzigen Gedärme hängen schon halb heraus, das linke Ohr ist als solches nicht mehr zu erkennen, ein zerfetztes Etwas, es wird damit nicht mehr hören können. Haben Sie Schmerzen? Die Augen sondern eine milchige Flüssigkeit ab, als wolle sich alles entleeren. Die seltenen Atemzüge lassen den Brustkorb vibrieren, der selbst als Schlachtabfall keine gute Figur mehr macht. Am Morgen hat es wahrscheinlich noch gespielt. Sind Sie öfters müde? Die Chance, noch einmal zu entkommen, ist geringer, als von einem Nylonfaden erschlagen zu werden. Es sind die letzten Augenblicke in dieser Welt, und es weiß Bescheid, es fiept nicht einmal mehr, Abschied nehmen. Rufen Sie uns an.

Die Tasse in Harolds Händen dampft den noch immer heißen Tee in den Raum, ein Ort nun der Folter, professionell und routiniert, jeder Griff ein Kunststück. Harold schaut Kempowski an. Er leckt sich die rechte Pfote, an der etwas hängt, von der etwas tropft. Jetzt noch besser! In seinen Augen schimmert Gleichmut, fast so etwas wie Mitleid, er macht nur seinen Job, das muss es verstehen. Es kann sich nicht mehr bewegen, es kann nur noch da sein. Mehr Glanz für die Haare. Harold nimmt seinen rechten Hausschuh, von Tesco, Kunstleder, harte Sohle. Es sind zwei Schritte, Kempowski macht einen kleinen Sprung zur Seite, zeigt sich aber interessiert. Das ist der Sound der Siebziger. Harold holt aus und blickt ein letztes Mal in seine Augen, er muss schlucken, ein Rest von Erdbeergelee schmeckt sich durch, es ist wohl besser so.

Laut ist es, und was übrig bleibt, kann sich nicht mehr sehen lassen und muss entsorgt werden. Und jetzt unser Abendspielfilm. Kempowski folgt Harold auf dem Weg zum Mülleimer, er reibt sich an seinen Beinen und fängt an, wie eine Taube zu gurren. Dabei ist Kempowski alles andere als eine Taube, und mit dem, was er jedes Mal nach seinen Beutezügen anschleppt, könnte Harold erfolgreich einen Tierfriedhof bewirtschaften. Und eigentlich mag Harold auch keine Katzen, aber Kempowski ist der Kater von Mrs. Cardigan, der ihm vor vier Jahren auf dem Weg zum Supermarkt in die Speichen lief und seither eine animalische Zuneigung an den Tag legt, die Harold immer wieder aufs Neue ratlos zurücklässt.

Es klingelt.

Es ist die Türklingel.

Eigentlich unmöglich. Es kann sich nur um ein Versehen handeln. Vielleicht Kinder, deren Beschäftigung Spaß ist. Harold sitzt in seinem Sessel, Holly Golightly verstummt für einen kurzen Moment, er ist verwirrt, er lauscht und hört eine Stimme. Direkt hinter der Wohnungstür.

Es klingelt erneut. Harold steht auf, noch unsicher, ob er sich das alles nicht nur einbildet. Warum nur steht jemand zu dieser Uhrzeit vor seiner Tür und erwartet, dass er diese aufmacht? Er blinzelt durch den Spion und schreckt zurück, weil von der anderen Seite ebenfalls jemand durch den Spion blinzelt. Dieser jemand hat jetzt gesehen, dass Harold zuhause ist, es wäre unhöflich, wenn er nicht öffnen würde. Er drückt die Klinke vorsichtig runter und öffnet die Tür zur Hälfte.

»Hallo«, sagt eine junge Frau. Vielleicht dreißig, schwer zu sagen, sie sieht wahrscheinlich gut aus, modern gekleidet und mit langen dunklen Haaren, die in einem Pferdeschwanz gehalten werden. Neben ihr steht ein kleiner Junge, der sich die Brille auf der Nase zurechtrückt.

»Hallo«, wiederholt die junge Frau, »ich bin Denise Bentham und das ist Melvin.«

Harold blickt Denise Bentham und danach Melvin an. Ihm ist nicht wohl.

»Wir sind ihre neuen Nachbarn.«

Harold überlegt, ob er nun wieder die Tür schließen kann oder ob er noch weitere Informationen empfangen muss.

»Es ist mir ein bisschen unangenehm ...«, sagt Denise Bentham.

Harold ist nicht wohl.

»Ich bin da gerade in einer sehr kniffligen Lage und Mrs. Cardigan meinte, dass Sie momentan arbeitslos sind und, nun ja, ein wenig Zeit haben. Wissen Sie, Zeit ist momentan das kleine Problem, das ich habe.«

Harold ist nicht wohl.

»Nun, um es kurz zu machen, Melvins Vater ist unbekannt und seine Großeltern sind tot. Lungenkrebs. Beide. Sie haben bis zum Schluss vierzig Zigaretten täglich geraucht, aber sie haben nicht mehr viel gespürt, das Morphium hat ganze Arbeit geleistet.«

Harold ist nicht wohl.

»Wir leben erst seit zwei Wochen in der Stadt, wir kennen noch niemanden. Sehen Sie, ich habe hier einen Job angenommen, einen sehr guten, in der Werbebranche. Und jetzt gibt es da eine klitzekleine Unstimmigkeit mit einem Kunden und ich müsste für eine Woche nach Frankreich, Toulouse, um genau zu sein.«

Harold ist nicht wohl.

»Wissen Sie, ich habe bei der Einstellung ein bisschen geflunkert, also ich habe nicht explizit meinen Sohn erwähnt. Voraussetzungen für die Stelle waren nämlich Eigenschaften wie ungebunden, unabhängig und zeitlich äußerst flexibel. Melvin ist wirklich ein lieber Junge.«

Harold ist gar nicht wohl.

»Im Grunde würde es schon reichen, wenn man sich nach der Schule zwei bis drei Stunden mit ihm beschäftigt. Das heißt, sehr viel wahrscheinlicher wird Melvin Sie beschäftigen, er redet sehr gerne und sehr viel. Lassen Sie ihm nicht alles durchgehen, seien Sie ruhig auch mal streng.«

Harold ist mehr als gar nicht wohl.

»Melvin hat meistens bis halb vier Unterricht und ist so gegen sechzehn Uhr zuhause. Das heißt, er würde dann bei Ihnen klingeln. Mittagessen gibt es in der Schule, abends mag er nur ein Glas Sojamilch. Das macht er seit sechs Jahren so, er will nichts anderes, ich habe schon alles versucht, keine Chance. Im Grunde ist alles da, was Melvin braucht, aber falls Sie mal mit ihm ein Eis essen oder ins Kino gehen wollen, habe ich noch 100 Pfund dagelassen, Sie sind natürlich eingeladen. Ich wäre nächsten Freitag wieder da. Den Zweitschlüssel gebe ich Ihnen hier gleich mal, für alle Fälle. Ich danke Ihnen sehr, Sie helfen mir damit aus einer großen Verlegenheit. Melvin, sag tschüss, bis morgen.«

Melvin schaut zunächst seine Mutter an, dann Harold. Er rückt mit dem rechten Zeigefinger die Brille auf seiner Nase zurecht, dann hustet er in seine linke Faust und sagt: »Auf Wiedersehen.«

Harold ist absolut sicher, dass in den nächsten zehn Sekunden das Dach einstürzen wird.

Harold

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