Читать книгу Orkan - Ekaterine Togonidze - Страница 4

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D-e-r a-n-d-e-r-e W-e-g

I

»Lisa Schmidt«, sagt die junge Frau mit der Kamera, die dem Bildhauer gegenübersteht, und ihre ausgestreckte Hand erstarrt in der Luft. Alexander Chotivari lässt sich in einem Sessel nieder und klappt den weißen Stock zusammen.

»Setzen Sie sich doch«, sagt er streng zu der Journalistin. Lisa setzt sich.

»Noch einmal vielen Dank! Wir beginnen.« Eine leichte Nervosität ist ihr anzumerken.

Sie bemüht sich, möglichst korrektes Georgisch zu sprechen. »Wie Ihr Agent mir sagte, ich darf Ihr Privatleben nicht fragen«, sagt sie und schaltet das Aufnahmegerät ein. »Über Ihre Kunst ist alles interessant.« Sie legt die Kamera ab, streicht sich über die Haare, lächelt, und erst dann fällt ihr ein, dass ihr Lächeln keinen Adressaten hat. Im schwarzbebrillten Gesicht Alexander Chotivaris rührt sich nichts. »Wir beginnen mit Ihrer ersten Plastik … Skulptur«, sagt Lisa und wartet gespannt auf eine Antwort.

***

Der sechsjährige Alexander sitzt mit seiner Mutter am Tisch. Die Frau raucht und bläst den Rauch zur Seite.

»Was ist das für ein Buchstabe?«

Auf der einen Seite des Buches steht das Alphabet, auf der anderen stehen kurze, ein- bis zweisilbige Wörter: »Weg, Wa-be, Wa-de.« Alexander starrt geistesabwesend auf das Blatt.

»Was ist das für ein Buchstabe, habe ich dich gefragt!« Das Schweigen des Kindes reizt die Frau, sie wird laut. Sie blättert hastig im Buch. »Das habt ihr schon vor einem Monat gelernt. Jetzt seid ihr schon hier!« Ungeduldig trommelt sie mit ihren langen, gepflegten Fingernägeln auf die Tischplatte. »Schau es an und sag mir, was für ein Buchstabe das ist.«

Alexander ist drauf und dran, irgendetwas zu sagen, aber dann überlegt er es sich anders, senkt den Kopf und schweigt.

»Was steht hier geschrieben, Kind? Wo schaust du denn hin? Was ist mit dir los?« Die Mutter verliert endgültig die Geduld. »Lies, bitte, und sag es mir, sag mir, was für ein Buchstabe das ist!« Sie drückt dem Kind das Buch in die Hand. »Was bist du für ein Idiot! W! Und? Der nächste?« Die Frau deutet auf das Wort »Weg«. Sie drückt die Zigarette aus und qualmt aus dem Mund heraus – »E«. »Und danach? Was kommt danach? Zumindest das musst du doch wissen. Was, du erkennst diesen Buchstaben nicht? Bist du behindert, Kind? Bist du behindert oder willst du meine Geduld testen?« Alexander starrt verzweifelt ins Buch.

»G! G! Sag doch, was das ergibt!«, schreit die Mutter. »Herrgott, ich werde noch wahnsinnig!«

»A…«, sagt Alexander.

»Was ›A‹, Kind? Sag bitte das ganze Wort!«

Stille.

»Wo siehst du hier ein A?« Die Frau wird wütend. »Wach auf und konzentriere dich, sonst knallt es!« Sie packt Alexander und rüttelt ihn am Arm. Das Kind duckt sich und versucht sich zu befreien.

»Ich weiß es nicht …«

»Mein Gott, was habe ich denn verbrochen? Machst du das absichtlich? Bist du dazu geboren, mir das Leben schwer zu machen?«

Alexander bekommt eine Ohrfeige. Seine Mutter geht aus dem Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu. Alexanders Tränen fallen in das offene Buch. Die einsilbigen Wörter »Weg«, »Berg«, »Zwerg« werden nass. Nass werden die Buchstaben, die er nicht erkennen, nicht miteinander verbinden kann. Unterhalb des kurzen Hemdärmels sieht man die Stelle, an der die Mutter ihn gepackt hat. Die Fingerabdrücke auf der Wange des Kindes glühen immer noch rot.

Am Abend kann Alexander nicht einschlafen. Er massiert sich den Arm, dann legt er seine Lippen auf die schmerzende Stelle und saugt daran wie ein Blutegel. Zuerst wird die Stelle noch röter, dann nimmt sie eine blaue Farbe an. »Bist du behindert, Kind? Sag mal, bist du behindert? Bist du dazu geboren, mir das Leben schwer zu machen?« Das Geschrei der Mutter klingt ihm in den Ohren nach.

Am nächsten Morgen steht Alexander vor dem Spiegel und schlägt sich ins Gesicht. Die Schläge hinterlassen Spuren auf seiner Haut. Mit gerötetem Gesicht geht er in die Küche. Die Mutter stellt eine Tasse Tee und ein Butterbrot vor ihn hin, ohne ihn anzusehen. Sie zündet sich eine Zigarette an und bläst den Rauch zum Fenster hinaus. Plötzlich fällt ihr etwas ein, sie dreht sich um und staunt:

»Was ist denn das?!«

Alexander schaut ihr direkt in die Augen. Die Frau möchte sich die blaue Stelle am Arm des Jungen aus der Nähe ansehen. Während er den Tee trinkt, beobachtet sie ihn. Danach trägt sie eine Salbe auf seinen Arm auf und zieht ihm ein anderes Hemd an, ein langärmliges. Sie begleitet ihn schweigend zum Schulbus.

***

»Alexander, steh auf!« Die Lehrerin stellt sich vor sein Pult. »Zu Hause willst du das Lesen wohl nicht üben, dann gib dir wenigstens hier Mühe.« Sie geht zur Tafel, nimmt einen langen Zeigestab in die Hand und deutet auf die Wörter, die auf einem großen, eingerahmten Blatt stehen: »Lies!«

Alexander steht widerwillig auf.

»Ich höre! Verblüffe uns doch einmal. Zeig, was du kannst!«

Das Kind schaut auf das Blatt und kneift die Augen zu. Es kann nicht lesen. Seine Klassenkameraden lachen. Die Lehrerin klopft an die Tafel: »Ruhe!«, und nennt den ersten Buchstaben: »W.«

Alexander zupft nervös an seinem Hemd. Er hört das Geschrei seiner Mutter. »Was ist das für ein Buchstabe? W! Und dieser? E! Kennst du nicht einmal den? Na, was ergibt das alles zusammen? Was?« Plötzlich strahlt er über das ganze Gesicht und sagt: »Weg!«

»Na endlich! Halleluja! Welchem Wunder dürfen wir das zuschreiben? Hat deine Mutter doch ein wenig Zeit für dich gefunden?«

Alexander schaut die Lehrerin, die nun mit dem Zeigestab auf das Wort »Uhr« deutet, hasserfüllt an.

»Was steht hier?«

Alexander blinzelt und kneift die Augen wieder zu. Das Bild wird trüb. Die schwarzen Buchstaben beginnen sich zu bewegen, tauschen die Plätze und bilden wilde Schlangenlinien. Alexander denkt an die Jungen einer Schlange, die er einmal auf dem Land gesehen hat, und es läuft ihm ein Schauder den Rücken hinunter.

»U«, sagt die Lehrerin.

»Ha«, rufen die Kinder.

»Ha-Haus?«, sagt Alexander zögernd.

Die Klasse bricht in Gelächter aus.

»Er will nach Hause!«, ruft ein Junge.

»Alexander will nach Hause zu seiner Mama«, ist eine zweite Stimme zu hören.

»Ruhe! Hör zu, Alexander, die ersten beiden Buchstaben sind richtig. U-H… und dann? Was kommt dann?« Die Lehrerin deutet diesmal auf das R.

Das Kind versucht mit gesenktem Kopf den Kloß im Hals hinunterzuwürgen.

»Du darfst nach vorn kommen, wenn du von dort nicht gut sehen kannst«, schlägt die Lehrerin vor.

»Ich kann’s nicht sehen.«

»Na, dann komm doch näher. Komm, ich werde dich schon nicht auffressen!«

»Ich kann’s nicht sehen«, wiederholt Alexander zögernd. »Aus der Nähe kann ich es auch nicht sehen.«

In der Klasse herrscht auf einmal Stille. Die Lehrerin geht zu Alexander und legt ihm die Hand auf die Schulter. »Gut. Setz dich und richte deiner Mutter aus, sie soll morgen in die Schule kommen.«

***

»Ich glaube, Sie erinnern noch Ihr erstes Werk.« Verunsichert durch das ungewöhnlich lange Schweigen des Bildhauers versucht die Journalistin das Gespräch in Gang zu bringen. »Wissen Sie, ich war in der Auktion, bei uns, in Deutschland. Dort hat sich die Statue eines Jungen verkauft. Ich mochte sie sehr.« Alexander rührt sich nicht. Lisa wird langsam unruhig.

»Kommen Sie, vielleicht können Sie an die Werke erinnern. Wie hat sich alles begonnen?«

***

Dass sie diesen Auftrag überhaupt bekommen hat, verdankt Lisa Schmidt ihren Georgischkenntnissen. Trotzdem hat es sie viel Mühe gekostet, den Chefredakteur zu überzeugen, dass sie diejenige sei, die den ›Michelangelo unserer Zeit‹ interviewen sollte.

»Ich werde dieses Interview machen«, sagt sie selbstbewusst im Büro von Thomas-Werner.

»Setz dich, Lisa.« Der grauhaarige Mann sieht sie über den Brillenrand hinweg an.

»Ich weiß, dass das in die Kulturabteilung gehört, aber dieser Bildhauer ist eine Person mit Sehbehinderung. Er ist blind«, sprudelt es aus Lisa heraus.

»Einen Moment bitte! Ich bin gleich bei dir«, sagt der Redakteur. Offensichtlich möchte er auf dem Bildschirm seines Computers etwas zu Ende lesen.

Lisa setzt sich auf den Stuhlrand.

»Sag bitte nicht, dass ich nicht über ausreichende Erfahrung verfüge. Seit einem Jahr befasse ich mich mit dem Thema ›behinderte Menschen‹. Nicht gerade mit Sehbehinderung, aber ich weiß sehr wohl, wie man mit solchen Menschen umgeht.«

»Lisa, dieser Mann gibt überhaupt keine Interviews.« Werner nimmt die Brille ab. »Im Internet ist kein einziges Foto von ihm zu finden. Er wünscht keinen Kontakt. Zeigt sich nicht. Ein hoffnungsloser Fall …«

»Ich verstehe.«

»Und ich brauche dieses Interview als Aufmacher. Das Museum für moderne Kunst hat für die Ausstellung seiner Werke einen ganzen Pavillon reserviert.«

»Ich weiß, ich weiß.« Lisa nickt.

»Ich begrüße deinen Enthusiasmus, aber ich werde die Entscheidung treffen müssen, die mir am meisten nützt. Erst muss er dem Interview überhaupt zustimmen, und dann möchte ich einen fundierten Artikel bekommen. Natürlich am besten mit Fotos, auf denen er während des Arbeitsprozesses zu sehen ist.«

»Ich kann ihn in seiner Muttersprache interviewen!«, unterbricht ihn Lisa.

»Würdest du wirklich auf Georgisch mit ihm sprechen? Beherrschst du die Sprache so gut?«

»Ja«, erwidert Lisa und plötzlich wird ihr klar, dass sie nach zweijähriger Arbeit als Journalistin die einmalige Gelegenheit bekommen hat, einen Artikel zu schreiben, der gemeinsam mit der gesamten Auflage der Zeitung auch ihren Namen verkaufen wird. Lisa weiß, dass es ihre große Chance ist, von ihren Kollegen, von Kritikern und jeglichen Entscheidungsträgern endlich wahrgenommen und anerkannt zu werden.

***

Die Stille im Zimmer wird von den hektischen Schritten des Agenten durchbrochen. Er grüßt Lisa und legt Alexander die Hand auf die Schulter.

»Brauchst du mich?«

»Heute nicht mehr«, sagt der Bildhauer.

»Wenn etwas sein sollte, ich bin telefonisch erreichbar. Morgen treffen wir den Architekten. Was deine Bestellung betrifft, sie wird ebenfalls morgen geliefert. Das eine Buch ist ein Sammlerstück, die anderen zwei sind handgeschrieben und in Leder gebunden.«

Lisa spitzt die Ohren. Sie kann nicht verstehen, wozu ein Blinder Manuskripte braucht. Der Agent verlässt den Raum. Lisa schaut auf das Diktiergerät, dessen Uhr die schnell vergehenden Sekunden zählt. Sie hüstelt, um ihren Interviewpartner an ihre Anwesenheit zu erinnern.

»Der erste Mensch, dem Sie Ihre Werke zeigen? Von wem die Meinung ist für Sie wichtig?«

»Wer kann sie besser einschätzen als ich?!«, erwidert Alexander barsch.

Lisa spürt, dass aus dem Interview nichts wird, wenn sie nicht möglichst bald seine Gunst gewinnt.

»Ich habe ein paar Experten. Sie befassen sich hauptsächlich damit, den Preis für dieses oder jenes Werk zu bestimmen«, fügt Alexander hinzu.

»Wissen Sie, bei uns in Deutschland macht man Ausstellungen für Blinden. Sie dürfen die Plastiken anfassen. Haben Sie jemals die Werke der anderen angeschaut? Angefasst, ich meine, taktil …«

»Nein«, unterbricht sie Alexander.

»Wenn Sie heute arbeiten beginnen, wissen Sie, was Sie machen wollen, oder es kommt, wie es kommt?«

»Ich sehe meine Werke, noch bevor ich beginne, an ihnen zu arbeiten.«

»Solange Sie noch sehen konnten und haben Sie alles, was Sie gesehen haben, sich gemerkt? Kann das Gedächtnis bei der Arbeit helfen?«

»Mag sein«, antwortet Alexander.

Lisa stellt eine Frage nach der anderen. Wie ein Angler den gefangenen Fisch ans Ufer, so schnell, aber gleichzeitig vorsichtig, zieht sie die Worte aus dem Bildhauer heraus.

»Gibt es Assistenten, die Ihr helfen? Zum Beispiel beim Machen von der Uhr. Die große Uhr, die zu Berliner Ausstellung fährt.«

»Was wollen Sie denn genau wissen? Wenn Sie sich dafür interessieren, wer den Mechanismus angefertigt hat, das war selbstverständlich ein Uhrmacher.«

Lisa versteht, dass sie eine falsche Frage gestellt hat. Sie zupft ihr eng sitzendes Jackett zurecht.

»Seit der Kindheit haben Sie viele Wettbewerbe gewonnen, auch wenn Sie nicht mehr sehen konnten …«

Alexander unterbricht sie gereizt: »Hören Sie, sind Sie an meiner Kunst interessiert oder daran, was ich sehe und was nicht? Wollen Sie über meine Werke schreiben oder darüber, wie es mir mit meiner Blindheit geht?«

Nun ist Lisa endgültig verunsichert. Auf einmal kommt ihr die Luft im Zimmer stickig vor. Sie steht auf, zieht ihr Jackett aus, hängt es über die Stuhllehne und startet noch einen Versuch, das Gespräch weiterzuführen.

»Verzeihung. Nein. Ich habe es nicht so gemeint. Ich wollte bloß wissen, wie hatte alles angefangen.« Das am Rücken großzügig ausgeschnittene Oberteil der Journalistin lässt eine seltsame Tätowierung entlang ihrer Wirbelsäule sichtbar werden. Auf der hellen Haut steht eine Reihe schwarzer Buchstaben: das georgische Alphabet.

Alexander steht so plötzlich auf, dass sein Stuhl umfällt. Bald darauf kommt jemand vom Hauspersonal ins Zimmer.

***

Lisa ist achtzehn und liegt mit ihren Freundinnen auf dem grünen Rasen im Park. Alle trinken Bier. Sonnenstrahlen fallen durch die Zweige der Bäume. Man hört Vögel zwitschern. Lisa beschattet die Augen mit der Hand und befreit sich von den Insekten, die auf ihrem Körper herumkriechen. Die rotgefärbten, zerzausten Haare glänzen im Sonnenlicht.

»Wenn wir heute Abend zu Jonathans Party gehen, wann sollen wir dann unser Projekt fertigstellen?«, fragt ein Mädchen mit Brille und trinkt ihr Bier aus.

»Zuerst sollten wir uns noch ein paar Dinge einfallen lassen. Die Sonne hilft mir dabei. Noch ein Fläschchen und dann läuft es wie geschmiert.«

Alle lachen.

»Ich möchte mir ein Tattoo machen lassen«, verkündet Lisa plötzlich.

»Wo?«, fragen alle Mädchen gleichzeitig.

»Wessen Namen möchtest du dir eintätowieren lassen?«

»Den von Christoph. Ist doch klar!«, sagt die mit der Brille und schon wieder brechen alle in Gelächter aus.

»Oder vielleicht von Matthias.« Lisa schielt nach ihren Freundinnen.

»Sie sollte sich das ganze Alphabet eintätowieren lassen, damit keiner beleidigt ist. Jeder soll darin seine Initialen finden können«, sagt eine der Freundinnen und wirft ihre Zigarettenkippe in die leere Bierflasche. Die Mädchen kugeln sich vor Lachen.

Nach etlichen Gläsern Whisky und ebenso vielen Nachtclubbesuchen geht Lisa in ein Tattoo-Studio. Noch berauscht blättert sie in einem Katalog, um sich das passende Muster auszusuchen. Sie sieht verschiedene Ornamente, Hieroglyphen. Der junge Mann, der wie ein Südländer aussieht, beobachtet sie wortlos. Als sie das georgische Alphabet erblickt, hält Lisa inne.

»Was ist das?«

»Keine Ahnung. Ich bin neu hier.« Der junge Mann zuckt mit den Schultern. »Ein Alphabet wohl. Gefällt es dir?«

»Sind das wirklich Buchstaben? Sie sehen wie Herzen aus.« Lisa folgt den Schriftzeichen mit dem Finger: ღ, ლ, დ, წ, შ ...

Der junge Mann lächelt.

»Ja. Sie sehen wirklich wie unfertige Herzen aus. Soll ich dir ein Herz-Tattoo machen?«

»Nein. Ich mag diese hier. Die unfertigen Herzen«, sagt Lisa lächelnd. »Die Sprache einer unfertigen Liebe.«

Bald darauf legt sich Lisa mit nacktem Oberkörper auf die Liege und erduldet das schmerzhafte Stechen des ersten Buchstabens unterhalb ihres Nackens.

»Tut das weh?«, fragt der junge Mann.

»Es geht.«

»Weißt du, wie viele Buchstaben es insgesamt sind?«

»Im Alphabet? Achtundzwanzig?«

»In diesem etwas mehr. Hältst du durch?«, fragt der Tattoo-Künstler lächelnd.

»Wie viele sind es?«

»Dreiunddreißig. Für heute sind wir fertig. Du kannst aufstehen.« Der junge Mann beginnt, das Werkzeug aufzuräumen.

»Warum?«, fragt Lisa und hebt den Kopf.

»Ich muss das Studio schließen. Komm bitte morgen wieder.« Er lässt die Rollläden hinunter.

Lisa tastet nach ihrem Oberteil. Der junge Mann reicht es ihr. Sie setzt sich auf und zieht sich an. Der Tattoo-Künstler fragt: »Ein Buchstabe pro Tag. Passt?«

»Wie bitte?«

»Pro Tag werde ich dir einen Buchstaben stechen. Mehr Zeit habe ich nicht.«

Lisa schaut ihn voller Erstaunen an.

»Dieses Alphabet kannst du woanders nicht bekommen. Wenn du es haben willst, dann sind das meine Bedingungen. Außerdem wird es auf diese Weise weniger wehtun.« Er zwinkert Lisa zu und hält ihr die Tür auf.

***

Alexander ist wütend. Sein Kinn zittert. Seine Hände sind zu Fäusten geballt.

»Wer sind Sie?«, zischt er durch die Zähne.

Lisa starrt ihn verdutzt an.

»Was wollen Sie? Warum sind Sie hierhergekommen?«

Lisa schaut sich um. Sie kann nicht glauben, dass der Bildhauer zu ihr spricht. Der Hausangestellte stellt den umgefallenen Stuhl wieder auf.

»Bring sie hinaus«, sagt Alexander zu ihm.

Lisa wird von einem Sicherheitsmann bis zum Ausgang begleitet. Die junge Frau stopft ihre Sachen eilig in die Handtasche.

»Ein Verrückter, ein Wahnsinniger!«, murmelt sie auf Deutsch und macht sich auf den Weg. Dann bleibt sie stehen, dreht sich um und hämmert ans Tor.

»Lassen Sie mich hinein!«, sagt sie zum Sicherheitsmann.

»Ich darf das leider nicht«, antwortet er gelassen.

»Lassen Sie mich bitte hinein!«, wiederholt Lisa.

»Ich kann Sie ohne Legitimation nicht hereinlassen. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen die Telefonnummer geben.«

»Ja, geben Sie mir die Nummer, bitte!«

»5 55 15 11 …«

»Das ist doch die Nummer seines Agenten?«, unterbricht ihn Lisa.

»Ja. Am besten wäre es, wenn Sie sich mit seinem Agenten in Verbindung setzen würden.«

»Diese Nummer habe ich schon«, sagt Lisa ärgerlich.

Der Sicherheitsmann schließt das Tor.

***

Im Hotelzimmer setzt sich Lisa an den Schreibtisch, schaltet das Diktiergerät ein und hört die Aufnahme an: »Hören Sie, sind Sie an meiner Kunst interessiert oder daran, was ich sehe und was nicht? Wollen Sie über meine Werke schreiben oder darüber, wie es mir mit meiner Blindheit geht?«

Lisa vergräbt das Gesicht in den Händen. Plötzlich beginnt ihr Handy zu klingeln.

»Guten Tag, Lisa! Kannst du sprechen?« Lisa hört die Stimme von Thomas-Werner.

»Ja, Werner!«

»Wie ist das Treffen gelaufen? Hast du mit ihm gesprochen?«, fragt der Chefredakteur.

»Ähm … es hat noch nicht stattgefunden. Der Termin wurde leider verschoben.«

»Wir haben ein Gespräch mit dem Leiter des Museums gemacht. Sarah wird dir die Aufnahme schicken. Aus welchem Grund hat man den Termin verschoben? Die Zeitung muss bis zur Eröffnung des Symposiums erscheinen, Lisa«, erklärt der Redakteur. »Ohne dieses Interview kann sie nicht in Druck gehen. Schick mir wenigstens ein paar Fotos fürs Cover. Dann können wir mit der Bearbeitung beginnen.«

Bedrückt hört sich Lisa seine Anweisungen an.

»Fotos? Ja, genau! Ich habe hier bereits mit einigen Personen gesprochen. Personen, die ihn gekannt haben. Er scheint ein außergewöhnlich schwieriger Mensch zu sein. Ich warte auf den Anruf seines Agenten und dann … Ich werde dir alles noch rechtzeitig schicken.«

»Das hoffe ich sehr, Lisa!«

***

Alexander Chotivari steht in seinem Atelier. Er nähert sich einem mannshohen Metallgestell, klopft mit seinem weißen Blindenstock darauf. Dann fasst er es an. Seine Assistenten kommen herein.

»Ist die Höhe in Ordnung?«, fragt einer der Assistenten.

Alexander schweigt und betastet das Gestell.

»Es sollte eine sitzende Frau darstellen«, sagt er unzufrieden.

Die Assistenten werfen einander Blicke zu. Einer von ihnen verdreht die Augen, aber dem Bildhauer zu widersprechen traut sich keiner.

»Wo soll sie denn sitzen? Auf einem Stuhl?«, fragt einer.

»Auf einem Sockel«, erwidert Alexander, streckt seinen Blindenstock aus und deutet auf einen aus aufeinandergetürmten Büchern errichteten Sockel.

***

Mit dem Kneten begann Alexander erst, nachdem er die Schule verlassen hatte. Während seine Mutter auf der Suche nach einer Spezialschule für ihn war, bat sie einen benachbarten Bildhauer, auf den Jungen aufzupassen.

»Habe ich dich geweckt? Ich muss los. Bitte, nur bis ich für ihn eine Schule für Sehbehinderte finde …« Die Mutter schiebt Alexander zu einem Mann mit zerzausten Haaren in die Wohnung.

»Und wann wirst du eine finden?« Der Mann kratzt sich am Kopf.

»Bald. Er hat schon gefrühstückt. Bitte gib ihm keine Schokolade!« Eiligen Schrittes steigt die Mutter die Treppe hinunter.

In dem schon längst renovierungsbedürftigen Zimmer ist ein Atelier eingerichtet. Es ist groß, hell und wirkt, wenn man die herumstehenden leeren Flaschen nicht beachtet, ziemlich aufgeräumt.

»Du kannst dich hier hinsetzen«, sagt der Mann und nimmt ein Buch, Papierstapel und ein umgefallenes Glas von der Tischplatte.

Tastend findet Alexander den Stuhl. Er setzt sich.

»Knetest du gern?«, fragt der Bildhauer das Kind. »Kannst du wirklich nicht mehr sehen? Gar nichts mehr?«

»Nein. Ich sehe nichts«, erwidert Alexander gelassen.

»Hast du jemals geknetet? Ich kann dir ein wenig Ton geben? Plastilin habe ich leider nicht.«

Alexander nickt. Der Nachbar gibt ihm einen feuchten Klumpen aus weißem Ton.

»Was möchtest du daraus machen?«

Alexander zuckt mit den Schultern.

»Ton trocknet schnell, deshalb musst du ihn, bis du mit dem Kneten fertig bist, ständig in der Hand halten. Ich mache weiter. Wenn du etwas brauchst, kannst du mich rufen.«

Alexander bleibt allein. Er knetet den Tonklumpen. Seine Finger geben ihm zuerst die Form eines Autos, dann eines Balls. Beim Kneten verzieht er den Mund. Nun wird der Tonklumpen zu einem Hund, dann erneut zu einem Ball.

***

Alexander knetet gern. Arzttermine mag er viel weniger. Sie ermüden ihn. Er muss immer ganz viele Fragen beantworten. Seine Beschwerden behaupten das eine, seine gesunde Netzhaut besagt das Gegenteil.

»Er geht doch zur Schule, oder?«, fragt die Ärztin Alexanders Mutter.

»Doch, doch … natürlich!« Sie nickt eifrig.

»Was ist das für ein Buchstabe?«

Stirnrunzelnd schaut Alexander auf die Tafel und schweigt.

»Lesen kann er, nicht wahr?«, fragt die Ärztin.

»Ja, natürlich!«, antwortet die Mutter gereizt.

»Vielleicht hast du diese Figuren lieber. Magst du Geometrie?« Die Ärztin lächelt ihn freundlich an.

»Er mag nichts, was die Schule betrifft.«

Nun wählt die Ärztin eine andere Tafel, darauf abgebildet: Igel, Apfel und andere bunte Figuren.

»Lass uns diese Bilder anschauen. Zeichnen magst du bestimmt. Habe ich recht?«

Alexander nickt.

»Kann er die verschiedenen Farben gut unterscheiden?«, fragt die Augenärztin die Mutter. Die Mutter bejaht.

»Was ist das?« Mit einem langen Zeigestock deutet die Ärztin auf die erste Reihe.

»Ich weiß es nicht«, sagt Alexander.

»Was weißt du nicht?« Seine Mutter regt sich auf.

»Einen Moment, bitte! Alexander, schau bitte aufmerksam hin. Was siehst du auf dem Bild?«, fragt die Ärztin geduldig.

»Ich weiß es nicht.«

»Sag bitte, was du darauf siehst. Nur das, was du siehst.«

»Ich sehe nichts!«, erwidert Alexander mit fester Stimme.

»Alexander!«, zischt die Mutter

»Ich bitte Sie, sich kurz herauszuhalten!« Die Ärztin wendet sich wieder Alexander zu. »Möchtest du, dass deine Mama draußen auf dich wartet?«

Die Mutter wirft einen bösen Blick auf das Kind. Das Kind schweigt.

»Schau bitte dieses Bild aufmerksam an und sag, was darauf zu sehen ist. Ist das vielleicht ein Ball, ein Apfel oder ein Igel?« Die Ärztin versucht dem Kind auf die Sprünge zu helfen.

»Ein Ball«, sagt Alexander, den Igel meinend.

»Also, nein! Wie kommst du denn darauf? Das ist doch kein Ball!«, schimpft die Mutter. Die Ärztin schaut sie streng an, dann schweift ihr Blick im Zimmer umher und sie stellt Alexander die nächste Frage:

»Was steht auf meinem Tisch?«

»Ich weiß es nicht.«

Die Ärztin führt das Kind zu ihrem Schreibtisch. Alexander streckt die Hand aus, um die darauf stehende Blumenvase anzufassen.

Die Ärztin stoppt ihn.

»Nein. Sag es mir, ohne den Gegenstand zu betasten.«

»Ohne – kann ich es nicht.« Das Kind lässt die Schultern hängen.

Die Ärztin und die Mutter tauschen Blicke. Nun wird Alexander vor die Spaltlampe gesetzt. Er stützt das Kinn auf eine gepolsterte Unterlage und lehnt die Stirn an einen Metallrahmen. Die Ärztin schaut in sein Auge hinein.

»Versuch bitte still zu sitzen, ja?« Die Ärztin stellt die Lampe ein, und ohne die Untersuchung zu unterbrechen, fragt sie die Mutter: »Sind in Ihrer Familie andere Fälle von Augenerkrankungen bekannt? Wie steht es mit dem Vater des Kindes?«

»Also mit dem Vater … Das weiß ich leider nicht.«

***

Alexander hält den Hörer ans Ohr und belauscht heimlich das Telefongespräch seiner Mutter.

»Ja, Sie haben mir das schon gesagt, aber vielleicht handelt es sich doch um einen Fehler? Das glaube ich nicht, dass mein Kind … Wie das denn? Mein Gott!«

»Wenn Sie möchten, können Sie die Diagnose von einem anderen Arzt überprüfen lassen«, hört er die Ärztin sagen. Die Mutter klingt genervt: »Wie konnte es dazu kommen … Mein Gott! Sie wollen mir sagen, dass ich nichts dagegen unternehmen kann? Es geht nicht ums Geld …«

»Ja, leider ist die Amblyopie schon eingetreten und sie schreitet fort«, erklärt die Ärztin. »In Georgien werden solche OPs noch nicht durchgeführt. Auf jeden Fall nicht bei Patienten unter achtzehn.«

»Was heißt, sie werden nicht durchgeführt?! Wenn das Kind noch etwas sieht … Sollte man nicht versuchen, zumindest die übrige Sehkraft zu retten? Wie viel Zeit bleibt ihm noch, bevor er völlig erblindet? Was meinen Sie, wie viel Zeit haben wir noch?« Die Stimme der Mutter zittert.

»Wie ich bereits sagte, es ist sehr individuell. Er kann jeden Tag aufwachen und nichts mehr sehen. Bemühen Sie sich bitte umgehend darum, ihn in der Schule für sehbehinderte Kinder unterzubringen.« Alexander legt den Hörer vorsichtig auf. Aufgeregt schaut er umher. Ideen schwirren ihm im Kopf herum.

***

Alexander sitzt auf einem Stuhl, strampelt mit den Beinen und lässt zwei Spielzeugautos auf der Tischplatte hin- und herfahren. Im Zimmer ist es fast dunkel. Die Mutter möchte das Licht einschalten, aber nach einer Weile überlegt sie es sich anders. Sie beobachtet das Kind, das mit dem Rücken zu ihr sitzt. Auf Zehenspitzen geht sie zu einem auf dem Fußboden liegenden Ball, legt ihn in die Mitte des Zimmers. Dann nimmt sie einen Stuhl und stellt ihn ebenfalls geräuschlos neben den Ball.

»Alexander, das Abendessen ist fertig! Der Tee ist eingeschenkt. Komm bitte!«, sagt sie und bleibt an der Türschwelle stehen. Sie beobachtet das Kind.

Alexander beendet das Spiel, steckt die Autos in die Hosentaschen und rutscht vom Stuhl. Auf dem Weg zur Tür umgeht er den Ball, aber stößt gegen den Stuhl. Die Mutter erschrickt. Sie schaltet das Licht ein.

»Warum bist du im Dunkeln?«, fragt sie.

Alexander schweigt.

»Hast du diesen Stuhl nicht gesehen? Sag mal, hast du ihn wirklich nicht gesehen?« Sie kniet nieder, fasst das Kind mit beiden Händen und schüttelt es. »Und jetzt? Nachdem ich das Licht eingeschaltet habe?« Sie starrt ihm ins Gesicht. Ziellos schweift Alexanders Blick umher, dann befreit er sich, läuft zum Schalter und macht das Licht mehrmals an und aus.

***

Im Club leuchten die Scheinwerfer. Laute Musik dröhnt aus den Lautsprechern. Auf dem Parkett wimmelt es von Tanzenden. Lisas Haare sehen diesmal anders aus. Ihre von Natur aus dunklen Strähnen sind schulterlang. Sie trägt ein kurzes Kleid mit großzügig ausgeschnittener Rückenpartie. Sie bewegt sich im Rhythmus der Musik und nippt an ihrem Glas. Jemand fasst sie an, streift ihre Haare zur Seite. Das ist der junge Mann aus dem Tattoo-Studio, der wie ein Südländer aussieht. Er lächelt sie an und prostet ihr zu.

»Endlich habe ich dich gefunden! Du siehst ganz anders aus. Nur daran habe ich dich erkannt.« Er deutet auf ihren Rücken.

Lisa beachtet ihn nicht. Der junge Mann fasst sie am Unterarm.

»Kennst du mich nicht mehr? Ich bin’s, Moritz.«

Lisa ist leicht betrunken. Die Clublichter blenden sie. Sie schüttelt den Kopf.

Der junge Mann zeigt ihr mit der Hand zweimal die Drei.

»33!« Er beugt sich zu ihr, damit sie ihn besser hören kann: »33 Buchstaben, 33 Tage! Die Sprache einer unfertigen Liebe … Warum hast du mich angelogen? Du lebst also doch in Berlin.«

Lisa erkennt ihn und lächelt.

»Ja, ich lebe doch in Berlin.«

»Ich freue mich, dich wiederzusehen. Gut siehst du aus.«

Lisa tanzt.

»Ich habe sie gelernt. Alle 33!«

Der junge Mann streichelt ihren Rücken.

»Kannst du sie mir auch beibringen?«

Lisa protestiert nicht. Sie lächelt ihn an und macht wiegende Körperbewegungen im Rhythmus der Musik.

***

Nervös packt die Mutter Alexanders Koffer. Alexander selbst sitzt wie ein Häufchen Elend auf dem Bettrand und hält das zerknüllte Bettlaken unters Kinn. Die Frau versucht ihre Tränen zurückzuhalten. Sie schaut umher, legt noch ein paar Spielsachen in den Koffer, erblickt die auf der Schreibtischplatte aufgetürmten Bücher, bricht in Schluchzen aus und verlässt eilig das Zimmer. Alexander springt auf, schnappt sich das rosafarbene Kleid der Mutter und stopft es tief in den Koffer hinein.

***

Mit einem Kautschukball in der Hand tigert Alexander im Studio herum. Auf der Türschwelle steht Thoma, sein Agent.

»Ist die Journalistin schon gegangen?«

»Ich habe dich nicht so schnell zurückerwartet.«

»Ich bin gekommen, weil ich dir etwas Wichtiges mitzuteilen habe. Deine Mutter ist da.«

»Schon wieder? Was will sie denn?«

»Sie will dich sehen.«

»Sie soll es dir sagen, wenn sie etwas braucht. Ich habe dich gewarnt, dass ich mit ihr nichts mehr …«

»Ja, aber sie besteht darauf, dich persönlich zu sprechen.«

»Ich habe zu tun und möchte heute nicht gestört werden«, sagt Alexander gereizt und drückt den Ball zusammen. Thoma klopft ihm auf die Schulter und verlässt das Studio.

***

Alexander wird von einer Erzieherin des Internats in den Schlafsaal geführt.

»Das ist dein Bett«, sagt die Frau zu ihm und setzt ihn aufs Bett. Sie lässt ihn einen neben dem Bett stehenden Kleiderschrank und den Nachttisch betasten.

Dann öffnet die Erzieherin seinen Koffer. Sie packt seine Sachen aus und findet das rosafarbene Kleid.

»Was hat man dir da mitgegeben!«

Erst schaut sie sich das Kleid genau an, dann klemmt sie es sich unter den Arm. Alexander springt auf, dann hält er inne und setzt sich errötend wieder aufs Bett. Die Erzieherin beachtet ihn nicht.

»Was denn?«, murmelt das Kind.

»Bleib kurz da. Ich komme gleich wieder«, sagt die Erzieherin, geht aus dem Zimmer und nimmt das Kleid mit.

***

»Ich habe gehört, dass du gern knetest«, sagt die lang ersehnte Mutter, die ihn in diesem Semester nur zweimal besucht hat, zu Alexander. Auch diesmal schlägt Alexanders Herz wild. Er schmiegt sich an sie. Ein paar Tränen kullern aus seinen Augen. Auf dem vertraut riechenden Kleid der Mutter entstehen zwei winzige Flecken. Alexander denkt, dass es viel besser gewesen wäre, wenn er trotz aller Schikanen zu Hause geblieben wäre. Es wäre besser gewesen, die Buchstaben stunden-, wochen-, jahrelang pauken zu müssen, als in diesem Gefängnis gelandet zu sein. Alles wäre besser gewesen, als zwischen diesen weißen, abblätternden Wänden wässerige Suppen zu löffeln. Er würde es vorziehen, dass man ihn für behindert hielte, dass die Mutter ihn weiter schlagen würde. Er würde die Haut an den betreffenden Stellen nicht weiter reizen, um ihr ein schlechtes Gewissen zu machen. Er würde ihr alles verzeihen, wenn er bloß die quälenden Gefühle der Sehnsucht und Einsamkeit ein für alle Mal loswerden könnte.

Die Mutter allerdings besucht an jenem Tag Alexander nicht aus eigenem Antrieb. Man hat sie ins Internat bestellt, weil man Alexanders Bastelarbeiten auffällig und merkwürdig fand.

»Ich bin Schulpsychologin«, stellt sich ihr eine Frau vor. »Ich möchte Ihnen bezüglich Ihres Kindes einige Fragen stellen.«

»Ja, bitte!«, sagt die Mutter und streicht sich nervös über die Haare.

»Alexander knetet für sein Alter erstaunlich gut«, beginnt die Psychologin. »Aber wir dürfen nicht vergessen, dass durch seine Arbeiten sein Unterbewusstsein mit uns kommuniziert. Darin sieht man seine Probleme am besten, seine Wünsche und Ängste«, fährt die Frau in pädagogischem Ton fort. »Was sind Sie von Beruf?«

»Ich?«, fragt die Mutter etwas verwirrt zurück. »Ich bin studierte Geografin, aber zur Zeit arbeite ich als Immobilienmaklerin.«

Auf dem Tisch liegen Alexanders Knetarbeiten. Die erste stellt den Kopf eines Mannes dar. An seinen Augen hängen Vorhängeschlösser. Die Psychologin nimmt allerdings eine andere Arbeit in die Hand: ein Fernglas, in dessen Okulare zwei Kugelschreiber gesteckt sind.

»Für Alexander verbindet sich die Wahrnehmung der Umwelt mit einem Schreibstift. Während seines Aufenthaltes in diesem Internat hat er allerdings weder etwas geschrieben noch gezeichnet«, erzählt die Psychologin. »Hat er, bevor er sein Sehvermögen verloren hat, eine Begabung für das Schreiben oder Zeichnen gezeigt?«

»Ja, er hat schon immer gern gezeichnet«, erwidert die Mutter.

Auf einer anderen Knetarbeit sind die beiden Ufer eines Flusses ebenfalls mit einem Kugelschreiber verbunden. Der Kugelschreiber dient hier als Brücke. Auf der Brücke steht ein Mann.

»Schauen Sie einmal, mit was für einer aussagekräftigen Komposition wir es hier zu tun haben. Auch in diesem Werk haben wir ein Schreibwerkzeug als Brücke zwischen zwei Welten. Haben Sie und Alexanders Vater zufällig mittels Briefen miteinander kommuniziert? Oder gab es vielleicht etwas anderes, etwas in schriftlicher Form, was in Alexanders Leben eine bestimmte Rolle gespielt hat?«

Die Mutter schüttelt energisch den Kopf.

»Alexander hat nur einmal eine Frauenfigur geknetet und auch da hat er ihr Hände aus Kugelschreibern verpasst. Ist sein Vater vielleicht Schriftsteller oder bildender Künstler?« Die Psychologin kneift die Augen zu. »Es gibt den Fall, dass Kinder ihre Sehnsucht nach dem fehlenden Elternteil auf diese Weise ausdrücken.«

»Nein. Wissen Sie, diese Theorien hören sich für mich ziemlich seltsam an«, unterbricht sie die Mutter gereizt. »Mein Gott, das ist bloß ein Kind und ein Kind wird mal die eine, mal die andere Figur basteln.«

Die Psychologin nimmt diesmal eine andere Figur in die Hand. Das ist ein Mann ohne Glieder, dem Kugelschreiber in den Augen stecken.

»Ja? Aber das hier ist ein eindeutiges Zeichen von Gewalt, meine Liebe!«

»Was wollen Sie damit sagen?« Die Mutter ist sichtlich genervt.

»Sie sollten es mir sagen: Hat irgendwer jemals auf das Kind Gewalt ausgeübt?«

»Nun hören Sie mir bitte einmal zu: Bei dem Kind hat man eine Erbkrankheit diagnostiziert. Das hat das Leben von uns beiden dramatisch verändert. Ein für alle Mal, verstehen Sie? Und Sie erzählen mir irgendeinen Unsinn! Habe ich nicht genug Probleme?« Unwillkürlich wirft sie einen Blick auf die Uhr. »Es wäre wesentlich besser, wenn Sie sich um die Einrichtung hier kümmern würden. Um die Kinder nicht unter diesen prekären Bedingungen leben zu lassen. Dafür haben Sie mich hierherbestellt?« Sie steht auf und geht zur Tür.

»Ich habe gehört, du knetest gern.« Dieser Satz der Mutter geht Alexander nicht aus dem Kopf. Im Hof des Internats sieht er den Bildhauer aus der Nachbarwohnung im Auto sitzen. Bald darauf steigt seine Mutter zu ihm in den Wagen. Der Mann streichelt über ihr Haar. Sie unterhalten sich kurz. Dann lässt der Bildhauer den Motor an und sie fahren weg. Die Frage, die er nicht beantwortet hat, die immer sehr beschäftigte Mutter und den Nachbarn verknetet er in seinen Gedanken fest ineinander. Ob er gern knetet? Ja. Das Kneten bringt ihm Erleichterung. Er schließt die Augen und formt mit seinen Fingerkuppen die weiche, geschmeidige Masse. Er kann sie nach seinem Wunsch gestalten. Ihr Leben einhauchen. Warum hat die Mutter ihm diese Frage gestellt? Wird sie ihn mehr lieben, wenn er noch besser knetet? Wird sie ihm verzeihen, dass er es nicht geschafft hat, Lesen und Schreiben zu lernen? Vielleicht ist das Kneten die Lösung?!

***

Lisa starrt nach vorn gebeugt auf den Bildschirm ihres Laptops. Geistesabwesend tippt sie in die Suchmaschine Wörter wie »blind«, »blinder Künstler«, »sehbehindert« … In einem Internetforum liest sie Folgendes:

»Stelle dir mal vor, er kann weder dein Übergewicht sehen noch deine Cellulitis, also du kannst dich ruhig ausziehen. Ha-ha!« »Dafür kann er nicht auf jemanden ein Auge werfen.« »Ha-ha-ha!« »Die Blinden sind so empfindsam. Sie haben zauberhafte Hände. Diese Erfahrung darfst du dir nicht entgehen lassen!« »Ihr habt doch alle keine Ahnung! Blinde können tastend sehen. Die Übergewichtigen sollten sich keine falschen Hoffnungen machen.« Lisa schmunzelt und verlässt kopfschüttelnd das Forum. Einige Zeit später bekommt sie einen Anruf von Moritz. Er will wissen, ob sie gut angekommen ist. Lisa erzählt ihm, wie enttäuschend für sie das Treffen mit dem Bildhauer gewesen ist, und nimmt seine tröstenden Worte dankbar an.

»Komm bald zurück. Ohne dich kann ich es anscheinend gar nicht mehr aushalten«, sagt Moritz.

»Ja, zuerst möchte ich endlich dieses Interview hinter mich bringen. Lass uns heute Abend skypen. Ich vermisse dich auch.« Lisas Stimme wird auf einmal sanft.

Nach dem Telefongespräch kehrt die junge Frau wieder zu ihrer Arbeit zurück. Sie sucht nach dem georgischen Alphabet in Brailleschrift und betrachtet aufmerksam die einzelnen Buchstaben:

***

»Alexander, soll ich dich fürs Kneten benoten? Nimm bitte sofort das Buch in die Hand und lies weiter!« Die Lehrerin ist ärgerlich. Sein Banknachbar schiebt das in Brailleschrift gedruckte Buch auf Alexanders Seite.

»Ich warte. Mach an der Stelle weiter, an der wir gerade stehen geblieben sind. »Der Junge ging …«

»Der Junge ging allein«, beginnt Alexander schüchtern und macht eine Pause.

»Und, wie geht es weiter?«

»Mit langen, männlichen Schritten ging der kleine Junge.« Alexander tastet das Blatt mit den Fingern ab.

»Lass bitte keine Wörter aus!« Die Lehrerin kommt näher. »Der kleine, dunkelhaarige Junge! Lies weiter …«

»Mit langen, männlichen Schritten ging der kleine, dunkelhaarige Junge … der eine Blechscheibe hielt«, liest Alexander zögernd. Seine Klassenkammeraden verfolgen tastend den Text in ihren Büchern.

»Nein. Da steht doch nicht ›hielt‹! Etwas mehr Aufmerksamkeit, bitte!«

»Trug«, flüstert der Klassenkameraden Alexander zu.

»Du darfst keine Wörter auslassen! Er trug eine Blechscheibe und dann?« Die Lehrerin steht schon vor ihm. Sie nimmt sein Buch und streicht mit den Fingern über das Blatt.

»Was ist das, Alexander? Warum hast du das Buch an einer ganz anderen Stelle aufgeschlagen?« Die Lehrerin ist fassungslos.

Alexander lässt die Schultern hängen.

»Warum lügst du mich an? Du hast das Buch auf einer ganz anderen Stelle aufgeschlagen und tust so, als würdest du vorlesen?«, sagt die Lehrerin verärgert. »Wen willst du denn belügen? Mich oder dich selbst? Sieh das einer an! Unverschämt!« Sie schlägt mit der flachen Hand auf seinen Hinterkopf.

Beleidigt steht Alexander da. In seinem Gesicht spiegelt sich blanker Hass.

***

Lisa besucht das Internat für sehbehinderte Kinder. Sie sieht sich ein Buch mit weißen Seiten an. Streicht über die Punkte, ertastet sie. In diesem Moment kommt eine ältere Frau ins Zimmer. Die Erzieherin. Sie scheint etwas verwirrt zu sein und begrüßt Lisa auf Russisch. Lisa erwidert den Gruß auf Georgisch, schüttelt ihr die Hand und nennt ihr noch einmal den Grund ihres Besuchs: Sie schreibe einen Artikel über Alexander Chotivari.

»Ja, ja … Unser ehemaliger Schüler. Der talentierte Bildhauer. Wir sind so stolz auf ihn!«, sagt sie lächelnd und schlägt Lisa vor, sie durch das Internat zu führen. »Wie Sie sehen können, ist eine Grundsanierung längst fällig«, rechtfertigt sie sich immer wieder, »leider hat die Regierung noch keine Zeit für uns gefunden.«

Interessiert schaut sich Lisa das Internatsgebäude an, fotografiert ein im Saal angebrachtes Schild, auf dem steht: »Diese Schule besuchte der berühmte Bildhauer Alexander Chotivari.« Im Unterricht begrüßen die Schüler Lisa auf Anweisung der Lehrerin. Die Journalistin sieht sich ihre Gesichter, ihre schielenden, manchmal geschlossenen oder hinter dicken Brillengläsern versteckten Augen aufmerksam an. Sie fragt, ob sie hier einige Fotos machen dürfe, erst dann greift sie zur Kamera.

Im Büro der stellvertretenden Schulleiterin fragt Lisa nach alten Fotos. Ihr wird ein einziges Gruppenfoto gezeigt, auf dem Alexander ganz am Rand steht, und zwar mit dem Rücken zum Objektiv.

»Er war ein sehr unfolgsames Kind. Fotografiert zu werden mochte er schon gar nicht, genauso wenig wie überhaupt unter Menschen zu sein. Stur war er, ja, ein Tunichtgut, würde ich sogar meinen …«, sagt Alexanders ehemalige Lehrerin.

»Was bedeutet Tunichtgut?«, fragt Lisa.

»Nein. Ich meine damit nicht, dass er böse war. Einfach manchmal … Zum Beispiel, wir haben es nicht geschafft, ihn vom Bücherstehlen abzuhalten. Wir wussten nicht einmal, wohin er sie trug, was er mit den gestohlenen Büchern machte. Als wir ihn dafür bestraften, weigerte er sich zu essen, und wir fühlten uns gezwungen nachzugeben. Wie gesagt, er war schon seltsam, sehr eigenartig …«

»Wozu waren ihm die Bücher?«, fragt Lisa und schreibt eifrig etwas in ihr Notizbuch.

»Ich kann es Ihnen wirklich nicht sagen. Lernbegierig war er ja nie …«

»Interessant. Leben seine Eltern noch?«

»Einen Vater hatte er nicht. Die Mutter war alleinerziehend und ja, sie ist noch am Leben, glaube ich. In den letzten Jahren hat sie ihn nicht mehr besucht. Sie hat geheiratet, aber ihr Ehemann lebt nicht mehr.«

»Können Sie mir bitte ihre Adresse geben? Die Mutter ist nämlich sehr wichtig. Ich brauche mehr Information. Bitte helfen Sie mir«, sagt Lisa in flehendem Ton.

***

Alexander sitzt im Sessel und wippt vor Anspannung mit dem Fuß.

»Sie ist schon da. Soll ich sie hereinlassen?«, fragt der Hausangestellte.

Alexander nickt, nimmt den Blindenstock, der an seinem Sessel lehnt, in die Hand und atmet tief ein. Eine groß gewachsene alte Frau betritt zögernd das Zimmer. Sie bleibt stehen und schaut Alexander an. Es ist still.

»Setz dich doch, Mutter!«, sagt Alexander gereizt.

Die Frau nimmt Alexander gegenüber auf einem Stuhl Platz und schweigt.

»Wie kann ich dir helfen?«

»Wie geht es dir?«, fragt die Frau und in ihrer Stimme ist Müdigkeit zu hören.

»Gut. Thoma sagte, dass du ein bestimmtes Anliegen hast«, antwortet Alexander.

»Ich habe gehört, dass man dich nach Deutschland eingeladen hat. Dein Erfolg freut mich. Die Leute sagen, dass du für immer nach Deutschland ziehen wirst. Ist das wahr?«

»Wer sind bitte diese Leute?« Verärgert schüttelt Alexander den Kopf. »Außerdem, ist dir das nicht egal, wo und wie ich leben werde?«

»Aber mir kannst du es doch sagen.« Die Frau bringt den Satz mit Mühe heraus. »Ich weiß, dass ich nicht gerade eine vorbildliche Mutter war; dass ich dir nicht gegeben habe, was ich dir hätte geben sollen. Ich habe es nicht geschafft …« Der Frau versagt die Stimme. »Ich habe Tag und Nacht gearbeitet …«

»Das alles hast du mir schon mehrmals gesagt.«

»Kannst du nicht mindestens ab und zu ein paar Worte mit mir wechseln? Wie lange willst du mich noch für die Vergangenheit bestrafen? Übrigens, nicht du allein. Das Leben selbst bestraft mich ständig.« Die Frau senkt den Kopf und legt die zitternden Hände in ihren Schoß. »Ich will nichts, außer dass du mit mir sprichst.«

Im Zimmer herrscht Stille.

»Ich habe nicht mehr viel Zeit übrig«, fährt die Frau fort.

»Hör doch auf! Ich bin nicht dein Beichtvater. Sag, was du wirklich willst«, unterbricht sie Alexander.

»Alexander, ich muss ständig an dich denken … Neulich habe ich geträumt, du hättest geheiratet …«

Alexander springt auf.

»Es reicht! Ich kann dir mehr Geld überweisen. Die doppelte Summe. Solltest du noch irgendetwas brauchen, kann Thoma das für dich erledigen. Das alles habe ich dir bereits gesagt.«

»Ich bekomme von dir mehr als genug Geld, Alexander. Wofür soll ich es in meinem Alter ausgeben? Natürlich bin ich dir dankbar dafür, aber …« Die Frau bricht in Tränen aus. »Ich weiß, dass ich an allem schuld bin. Ich muss ständig daran denken, dass du, wenn ich dir damals mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte, nicht so hättest leiden müssen.«

»Nun reicht es wirklich. Ich habe zu tun«, sagt Alexander und steht auf.

»In meinen Träumen bist du nicht blind, Alexander. Manchmal denke ich sogar, dass …«

»Merab!«, ruft der Bildhauer.

Die Mutter schweigt.

»Komm nie mehr hierher!«, sagt Alexander streng und wendet sich dann an den Hausangestellten: »Bring sie bitte hinaus!«

Die Mutter steht auf. Eine Weile zögert sie noch. Sie möchte zu ihrem Sohn gehen und ihn anfassen. Der Sohn kehrt ihr den Rücken zu, geht zum Fenster und hört auf ihre Schritte.

Es gibt eine Pause und dann hört er nochmals ihre zitternde Stimme: »Du musst lernen, anderen zu vergeben, Alexander. Früher oder später musst du das lernen.«

***

»Sie wird schon kommen. Lass uns hineingehen«, sagt die Lehrerin zu Alexander, der im Schulhof steht und auf seine Mutter wartet. Das Kind folgt ihr mit gesenktem Kopf. Der Saal ist voll mit Eltern. Die Veranstaltung beginnt. Nur Alexander sitzt allein da und der Stuhl neben ihm bleibt leer. Als die Schuldirektorin den Saal betritt, wird es plötzlich still. Die Tür geht noch einmal auf und eine Frau in einem rosafarbenen Kleid kommt herein. Alexander springt auf, schon möchte er zu ihr laufen, aber dann setzt er sich wieder auf seinen Stuhl und zittert am ganzen Leib. Die Erzieherin, die das Kleid seiner Mutter trägt, nimmt neben der Direktorin Platz und lächelt die im Saal versammelten Eltern an. Eine Ader auf Alexanders Stirn tritt hervor. Er beginnt zu schreien:

»Ich will nach Hause! Bringt mich nach Hause! Bringt mich weg von hier!«

Die Lehrerin und die Eltern versuchen vergeblich das Kind zu beruhigen.

***

Begleitet von einer Mitarbeiterin des Internats betritt Alexander das Treppenhaus. Sobald er das Geländer ertastet, befreit er sich aus dem Griff seiner Begleiterin und läuft die Treppe hinauf.

»Halt! Sei vorsichtig! Du kannst hinfallen!«, ruft die Frau und eilt ihm hinterher.

Alexander packt die Türklinke, zieht mit aller Kraft. Die Tür geht auf. Mit pochendem Herzen läuft der Junge direkt in die Küche. Seit einem Jahr ist er nicht mehr hier gewesen. Die Mutter ist zu Hause. Mit geschlossenen Augen liegt sie auf dem Küchentisch. Ihr Rock ist hochgezogen, ihre Beine sind gespreizt. Der Nachbar, der Bildhauer, steht mit heruntergelassenen Hosen am Tisch, vor Alexanders Mutter, vor Alexander. Der Bildhauer unterbricht seine stoßenden Bewegungen und schaut dem Kind in die Augen. Es ist still. Sehr still. Überrascht, als wäre es ins tiefe Wasser geworfen, hält das Kind den Atem an. Im Zimmer hört man bloß das Atmen der Mutter, als würde die Luft nur für sie ausreichen. Alexander und der Bildhauer starren einander an, ohne zu blinzeln. Alle Geräusche, alle Bewegungen sind aus dem Raum verschwunden. Nur das laute Schnaufen der Mutter durchbricht die allgegenwärtige Stille. Der Bildhauer hält ihr den Mund mit der flachen Hand zu und nun ist auch sie ruhig. Es gibt keinen Lärm mehr, auch keine Luft, keine Heimlichkeiten und Lügen. Nun ist alles klar. Die Frau öffnet die Augen, erstaunt hebt sie den Kopf mit den zerzausten Haaren und sieht ihr kreidebleiches, atemloses Kind mit seinen weit aufgerissenen Augen. Man hört das Klopfen an der Tür und kurz danach die Stimme von Alexanders Begleiterin:

»Alexander, bist du angekommen? Ist deine Mama zu Hause?« Die Frau betritt die Wohnung. »Wo seid ihr denn?«

»Kommen Sie, kommen Sie bitte herein«, ruft Alexanders Mutter, zieht den Rock hinunter und macht sich die Haare zurecht.

»Sie konnten es heute wohl nicht einrichten, zu der Schulveranstaltung zu kommen. Alexander hat geweint und uns blieb keine andere Wahl, als ihn nach Hause zu bringen.« Die Frau geht in die Küche.

»Vielen Dank! Möchten Sie eine Tasse Kaffee?« Die Mutter setzt Wasser auf und erst dann nähert sie sich Alexander. Das Kind weicht zurück.

»Nein, danke! Hauptsache, Sie sind zu Hause. Ich muss gehen. Er war einfach nicht zu beruhigen. Nun geht es ihm wohl besser. Ich lasse Sie lieber miteinander allein.« Die Mutter begleitet die Frau zum Ausgang.

Alexander und der Bildhauer bleiben in der Küche. Der Bildhauer sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen und Schweißtropfen auf der Stirn auf einem Stuhl und wendet den Blick nicht von Alexander ab. Der Junge starrt auf den Tisch, als läge die Mutter immer noch darauf, und atmet so schnell, als wäre er gerade aus dem Wasser aufgetaucht.

»Hätten Sie doch eine Tasse Kaffee mit mir getrunken. Ja, heute habe ich es nicht geschafft zu kommen. Ich bin gerade erst heimgekommen und …«

»Das macht nichts. Ich muss los. Der Vater eines Schülers hat uns mit dem Auto hierhergefahren. Er wartet unten. Sie werden Alexander in die Schule zurückbringen, nehme ich an.«

»Ja, ja. Bestimmt. Heute noch …« In der Küche hört man die Frauen sprechen.

Als die Mutter die Küche wieder betritt, weicht Alexander nicht mehr vor ihr zurück.

»Ich war bei der Arbeit und konnte nicht kommen.« Die Mutter streicht ihm über den Kopf. Sie versucht, natürlich zu bleiben, und schaut immer wieder den Bildhauer an, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Der Mann mustert Alexander schweigend, besonders seine feuchten, geröteten Augen.

»Hast du Hunger? Wir haben Pizza.« Die Mutter zupft die Tischdecke zurecht. »Gleich werde ich sie für dich aufwärmen.« Sie sammelt die auf dem Boden verstreuten Servietten auf.

Alexander geht in sein Zimmer. Sein Herz pocht. Er steht da und denkt nach. Bald spürt er den Blick des Bildhauers auf seinem Rücken und dreht sich langsam und herumtastend um. Plötzlich wirft ihm der Mann einen Kautschukball zu und Alexander begeht zum ersten Mal einen für andere sichtbaren Fehler: Er fängt instinktiv den ihm zugeworfenen Ball. Dann lässt er ihn sofort wieder los und nun fällt der Ball auf den Boden, aber es ist schon zu spät. Es wird schon wieder still. Zwei Männer, der kleine und der große, stehen einander gegenüber und schauen einander an. Diesmal ist es Alexander, der sich schuldig fühlt.

»Wie geht es dir im Heim?«, bricht der Bildhauer das unerträgliche Schweigen.

Alexander zieht die Schultern hoch.

»Es ist besser für dich, dort zu sein«, sagt der Mann und tätschelt seinen Arm.

***


Alexander ist allein in seinem Atelier und streichelt die fast vollendete Plastik einer Frau. Er packt ihr Gesicht und zerdrückt es. Die Frau mit den ausgelöschten Gesichtszügen gleicht, man muss es sagen, einem sehr unansehnlichen suprematistischen Standbild. Nun zerstört Alexander auch den Rest. Von der Plastik bleiben nur noch das Metallgerüst und ein großer Haufen Ton übrig.

***

Lisa ist zurück im Hotel. Sie wäscht sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Der Kajalstift verschmiert. Sie wirft das Handtuch mit den schwarzen Flecken auf den Boden. Dann setzt sie sich geschäftig an den Schreibtisch und ruft Thoma an. Sie entschuldigt sich wegen des späten Anrufs und versucht ihn davon zu überzeugen, dass sie mit dem Bildhauer noch ein kleines Detail zu besprechen habe. Der Agent weigert sich, ihr die Telefonnummer von Alexander zu geben, aber Lisa beteuert, dass die Aufnahme an einer Stelle unterbrochen und diese Stelle genau wiederzugeben für beide Seiten sehr wichtig sei. Am Ende rückt der Agent die Telefonnummer heraus und Lisa springt vor Freude auf. Bevor sie den Anruf tätigt, überlegt sie sich genau, was sie dem Bildhauer sagen will.

Alexander steht in seinem Atelier vor einem großen, verschlossenen Terrarium und beobachtet die langsamen Bewegungen einer Pythonschlange. Als das Telefon klingelt, setzt er automatisch die schwarze Brille auf und nimmt erst dann den Anruf entgegen.

»Guten Tag, ich bin es, Journalistin Lisa Schmidt.«

»Sie … Wer hat Ihnen meine Nummer gegeben?« Alexander kann seine Empörung nicht verheimlichen.

»Ich entschuldige mich, wenn ich etwas falsch gesagt habe. Ich weiß, dass Sie sehen können …«, stammelt Lisa.

»Wie meinen Sie das?« Alexander traut seinen Ohren nicht.

»Sie … Wie soll ich das sagen … Sie sehen mehr als die anderen. Entschuldigung, mein Georgisch ist nicht perfekt.«

»Das, was Sie sprechen, ist überhaupt kein Georgisch. Ich verstehe Sie nicht!«

»Nein. Entschuldigung! Ich wollte sagen, dass ich nicht zu einem Blinden gekommen bin.«

Alexander treten die Schweißtropfen auf die Stirn, sein Unterkiefer zittert. Er murmelt:

»Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«

»Ich bin Journalistin. Lisa. Ich wollte mich entschuldigen, wenn ich nicht richtig spreche. Ich wollte nicht zu einem Blinden kommen und nicht für seine Arbeiten, sondern für seine Diagnose interessieren.«

Alexander denkt nach. Trotz des Zweifels, der ihm am Anfang des Gesprächs gekommen ist, möchte er nicht länger mit ihr sprechen.

»Ich bitte Sie um Verzeihung. Lassen Sie uns das Interview weitermachen.« Er hört Lisas Worte und weiß, dass er alles möglichst bald klären muss.

»Kommen Sie morgen«, sagt er mit fester Stimme und legt auf.

»Wann denn? Um wie viel Uhr?« Lisa kann kaum glauben, dass es ihr gelungen ist, doch noch einen Termin bei dem blinden Bildhauer zu bekommen. Ihre Frage hat Alexander nicht mehr erreicht.

Orkan

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