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EINLEITUNG 1. St. Gallens Vergangenheit

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Unter all den bedeutenden und bedeutenderen Köpfen, die das mittelalterliche St. Gallen hervorgebracht hat, erscheint keiner so tief vom Geiste seines Klosters geprägt wie gerade Ekkehard IV. Nun war er freilich der Letzte in einer ganzen Reihe von Koryphäen, und so, gleichsam in die Tradition hineingeboren, wurde er wohl unwillkürlich und fast notwendigerweise zu ihrem Erben. Andererseits wurde er dies aber auch nicht ohne sein eigenes Zutun. Mit wachem Bewußtsein und vor allem mit wacher Liebe pflegte er das Gedächtnis an St. Gallens Vergangenheit. Immer wieder versenkte er sich in die Gründungsgeschichte, in die karolingische Epoche, in die große Zeit der Ottonen. Und immer wieder vergegenwärtigte er sich aufs neue die Personen und Persönlichkeiten von damals, die Stifter und Gründer, die Äbte, die Lehrer, Schreiber und Dichter. Für Ekkehard IV. wurde die Geschichte seines Klosters augenscheinlich zum Maßstab der eigenen Existenz, ein Umstand, der es nahelegt, eben diese Geschichte hier kurz zu skizzieren.

Nach der hagiographischen Tradition wäre St. Gallen um 612 im Zuge der iroschottischen Mission entstanden, eine kleine Zelle in der Einöde, erbaut von Gallus, der seinem weiter nach Italien ziehenden Lehrer Kolumban nicht mehr folgen mochte. Zunächst war diese Zelle gewiß nur die Stätte eines Einzelgängers und nach dem Tode des Heiligen dann wohl auch in Gefahr, dem Zerfall und der Vergessenheit anheimzufallen. Die eigentliche Klostergründung erfolgte gut ein Jahrhundert später, als der Priester Otmar dort am Gallusgrab ein richtiggehendes Zönobium einrichtete. Otmar selbst wurde der erste Abt des Ortes (um 720) und führte einige zwanzig Jahre danach die Benediktinerregel ein. Unter ihm begann in St. Gallen auch jene Schreibertätigkeit, die dem Kloster dereinst zum besonderen Ruhme gereichen sollte. Die ersten Urkunden wurden geschrieben, die ersten Bücherexemplare verfertigt. Ob man dabei auf ein schon bestehendes irisches Scriptorium aufbauen konnte, scheint einigermaßen zweifelhaft. Die systematische Organisation des Schreibbetriebes geht jedenfalls allein auf Otmar zurück, der damit für die weitere kulturelle Entwicklung seines Klosters den Grund gelegt hat.

Mit Otmar setzt aber auch die politische Geschichte St. Gallens ein. Der heilige Gallus hatte seine Zelle in die Wildnis gebaut. Sie stand dazumal und noch geraume Zeit danach in einem sozusagen geschichtslosen Bezirk. Zumindest lag der abgeschiedene Winkel einstweilen noch außerhalb stärkerer Machtinteressen. Bedeutung und Anreiz gewann das Gebiet erst, seitdem es die Mönche zu erschließen begannen und das Monasterium selbst dank Pilgerspenden und ersten Schenkungen zu wachsendem Besitz gelangte. Zum Spannungsfeld jedoch wurde der St. Galler Raum in dem Moment, da die karolingischen Hausmeier, im Bestreben, ihren Einfluß auf Alemannien auszudehnen, das Bistum Konstanz zu einem Hauptstützpunkt ihrer Politik ausbauten. Denn dadurch geriet St. Gallen unmittelbar zwischen die Einflußsphären von Konstanz und Chur. Otmar selbst war gebürtiger Alemanne, kam aber aus Chur, wo er seine Ausbildung erhalten hatte. Von dort brachte er auch eine Schar von Confratres mit, die dem rätischen Element in St. Gallen erheblichen Auftrieb verlieh. Die ersten uns bekannten Schreiber sind Räter, und es steht ja wohl fest, daß sie an der Ausbildung der charakteristischen St. Galler Minuskel maßgeblich beteiligt waren. Soviel aber ihr Einfluß im Kulturellen bedeutete, sowenig kam er politisch zur Geltung. Nie hat man in Otmars Abtei daran gedacht, sich an Churrätien anzuschließen oder auch nur anzulehnen.

Das politische Ziel, das Otmar verfolgte, lag offenbar darin, die Unabhängigkeit seines Klosters mit allen Mitteln zu behaupten oder zu erringen. Zu behaupten oder zu erringen: damit berühren wir die vieldiskutierte Streitfrage, ob St. Gallen zu Anfang tatsächlich frei und eigenständig gewesen sei. Die ältere Forschung hat die Frage noch entschieden verneint und eine ursprünglich direkte Abhängigkeit vom Bistum Konstanz postuliert. Heute neigt man eher dazu, der hauseigenen St. Galler Tradition, die von ursprünglicher Freiheit spricht, grundsätzlich beizupflichten. Sicher sind die Dinge in den St. Galler Quellen einseitig und zum Teil verzerrt dargestellt; aber im Kern dürften sie doch das Richtige enthalten. Otmar seinerseits scheint sich im vollsten Recht gefühlt zu haben, als er sich sowohl gegen den Praeses von Rätien als auch gegen den Bischof von Konstanz zur Wehr setzte. Während er aber jenem zu widerstehen vermochte, hatte er im Kampf gegen diesen kein Glück. Auf dem Wege zu König Pippin wurde er von den Verbündeten des Bischofs, den Grafen Warin und Ruthard (in denen Ekkehard IV. später Welfen sah), überfallen, entführt und eingekerkert. Durch eine Verleumdungsaktion gegen Otmar ließ man den flagranten Rechtsbruch im nachhinein kaschieren, und da der Sieg des Bistums im Interesse der Reichspolitik lag, blieb die Tat ungeahndet. Otmar starb als Gefangener (759). Zu seinem Nachfolger wurde Johannes bestimmt, Mönch der Reichenau und Favorit des Konstanzer Bischofs. Sidonius. Als Sidonius im folgenden Jahr starb, übernahm Johannes auch die Führung des Bistums. Mit dieser Personalunion war die Unterwerfung St. Gallens vorerst, für an die sechzig Jahre, besiegelt. Der inneren Entfaltung des Klosters konnte sie freilich keinen Abbruch tun. So wuchs in der Bibliothek der Schatz an Texten und Büchern, wobei die Schrift ihren rätischen Charakter allmählich verlor, um sich unter Einmischung oberdeutscher und westfränkischer Elemente zu einer eleganten Minuskel eigenen Gepräges zu entwickeln. In ebendiese Zeit, da St. Gallen so wenig äußeres Ansehen genießt, fällt auch der erste größere literarische Versuch: eine Gallus-Biographie1, aus teilweise schon älteren Berichten im späteren achten Jahrhundert zusammengestellt. Obgleich nur in Bruchstücken erhalten, ist diese anonym überlieferte ›Vita vetustissima‹ bedeutsam als das erste greifbare Glied in der Kette der Gallus-Hagiographie, die nach Wetti und Walahfrid, nach Ratpert und Notker Balbulus der vierte Ekkehard selber weiter verlängert hat2.

Die Wiederherstellung der Freiheit erlebten die St. Galler erst zur Zeit Ludwigs des Frommen unter ihrem 816 neu ernannten Abt Gozbert. Bereits zwei Jahre nach dessen Wahl erfolgte mit dem kaiserlichen Immunitätserlaß die Loslösung des Klosters aus der bischöflichen Oberherrschaft. Und damit begann auch schon die erste Phase seines Aufschwungs. Unter Gozberts Ägide kamen die Verhältnisse innen und außen wieder ins Lot. Unter seiner Anleitung vollzog sich der Ausbau der berühmten Bibliothek. Unter seiner Aufsicht entstand der prachtvolle Neubau der Gallusbasilika. Mit diesem Neubau wiederum hängt ein einzigartiges Dokument zusammen. Es ist dies der uns erhaltene Bauplan, der auf der Reichenau verfertigt wurde und die Adresse Gozberts trägt3. Dem gleichen Gozbert ist auch die ›Vita s. Galli‹ des Wetti gewidmet. Und auf sein Betreiben hat schließlich Walahfrid Strabo die dritte Gallus-Biographie in Angriff genommen. Seine Neufassung, geschrieben um 833/34, bezeichnet in der Literaturgeschichte St. Gallens einen entscheidenden Ansatzpunkt. Bildet sie doch gleichsam den Vorspann zu den Werken, die wenige Dezennien später ein Notker, ein Ratpert, ein Hartmann und andere entworfen haben. Für die heranwachsende St. Galler Dichterschule, wie man sie genannt hat4, ist Walahfrid wegweisend geworden. An seinem Muster übte man sich, schulte man sich, bildete man Sprache und Stil – ein Phänomen, worüber sich zu seiner Zeit Ekkehard IV. eigene Gedanken machen wird5.

Den steilen Aufstieg im mittleren Drittel des neunten Jahrhunderts verdankt St. Gallen den vielseitigen Aktivitäten des Gozbert. Mit seiner baulichen Tätigkeit, mit seinem bücherliebenden Interesse, mit den literarischen Anregungen, die er zu geben wußte, hat dieser Abt das Fundament geschaffen, worauf die Kultur der folgenden Generationen beruht. 837 legte er die Abtswürde nieder. Nun brachen einige schwierige Jahre an, da das Kloster in die Kämpfe geriet, die unter den Söhnen Ludwigs des Frommen ausgetragen wurden. Es kam zu willkürlichen Einsetzungen und Absetzungen. 841 ließ Ludwig der Deutsche, das Wahlprivileg der Mönche abermals beiseite schiebend, seinen Erzkaplan Grimald zum Abt erheben. Die selbstherrliche Verfügung, der man in St. Gallen mit einem Mißtrauen begegnete, das noch bei Ekkehard nachklingt, schlug zuletzt zum Besten des Klosters aus. Nie hätte das Los einer freien Wahl so glücklich fallen können, wie das Los des Königs fiel. Denn in Grimald erhielt St. Gallen einen hochherzigen Freund und Förderer. Mit ihm gewann es einen Gönner, der es dank seines großen Einflusses zuwege brachte, daß die St. Galler auch die letzte formelle, in einer symbolischen Zinsleistung bestehende Abhängigkeit von Konstanz abschütteln durften. Der von ihm angestrebte und eingefädelte, vom König endlich gutgeheißene Ulmer Vertrag von 854 verhalf ihnen zur endgültigen Freiheit.

Also wurde Grimald zum Vollender des von Otmar begonnenen Werkes. Wobei es ihm über die rein politisch-juristische Lösung hinaus gelang, das Kloster an der fernen Steinach in den eigentlichen Bereich karolingischer Kultur hineinzuziehen und zu integrieren. Lag die Zelle des Gallus ursprünglich noch in einer Einöde, lag Otmars Zönobium in einem bloßen alemannisch-rätischen Zwischenbezirk und lag Gozberts Konvent lediglich in einer fränkischen Randzone, so begann jetzt Grimalds Abtei sich zu einem Schwerpunkt des Reiches auszubilden. St. Gallens Beziehungen, die sich vorher im wesentlichen auf Konstanz und Reichenau beschränkt hatten, weiteten sich über die Person seines Abtes, weiteten sich über Grimalds Verbindungen zum Hof. Zu wichtigen Bildungszentren wurden nun engere Kontakte hergestellt, zu Weißenburg etwa, zu Murbach und insbesondere zu dem ruhmvollen Fulda. Durch Vermittlung Grimalds kamen auch viele neue Bücher herein, und zwar nicht nur Theologica, sondern auch juristische, historische, poetische Werke. Rundherum öffnete sich der Horizont. Zur äußeren politischen und wirtschaftlichen Freiheit gesellte sich eine innere geistige Freiheit, die die besten Voraussetzungen schuf zu schöpferischem Tun, zu gelehrsamer und musischer Arbeit. Über dieser Freiheit kamen die religiösen Belange keineswegs zu kurz. Dafür war Grimald, der selber bloß Weltgeistlicher war, in der Weise besorgt, daß er einen Mönch zur geistlichen Aufsicht bestellte. Er nahm sich einen Stellvertreter und nominierte zum proabbas (wie er bei Ekkehard heißt) den hochgebildeten Dekan Hartmut, welcher sodann nach Grimalds Tod (872) wie selbstverständlich dessen Nachfolge antrat.

Bis hierher, d.h. bis in die Zeiten Grimalds und Hartmuts, lassen sich die res gestae der Äbte von St. Gallen anhand der Klosterchronik des Ratpert verfolgen6. Die Ereignisse des nächsten Jahrhunderts gehören bereits zu Ekkehards eigenem Stoff, weshalb wir uns mit einem raschen Ausblick begnügen dürfen. Den glücklichen Jahren unter Grimald und Hartmut reihte sich – nach kurzem, unersprießlichem Zwischenspiel – mit der Regierung Salomos III. (890 bis 919) nochmals eine Blütezeit an, in deren Schilderung, wie die Kapitel 1 bis 46 der ›Casus‹ zeigen, Ekkehard recht eigentlich schwelgt. Den denkbar schärfsten Kontrast dazu bilden die Katastrophen des Ungarneinfalls (zur Zeit des Abtes Engilbert, 926) und der verheerenden Feuersbrunst von 937 (unter Abt Thieto), die das Kloster in Asche legte. Es bedurfte langwieriger und mühseliger Arbeit, St. Gallen aus dem Elend herauszubringen, geschweige es wieder neuem Glanz entgegenzuführen. Wenn dies – seit etwa der Mitte des Jahrhunderts – gelang, so lag das Verdienst hieran zum einen bei den Äbten: bei Purchard I. (958–971), Notker (971–975) und Ymmo (975–984). Zum andern und wohl zum erheblicheren Teil lag es bei den hervorragenden Patres, über die man verfügte: bei Gerald, Ekkehard I., Ekkehard II., Notker Medicus und andern, die der Schule von St. Gallen von neuem Ehre und Ansehen verschafften. An dieser zweiten ruhmvollen Epoche hatte Ekkehard IV., wie uns sein Werk spüren läßt, womöglich noch die hellere Freude, noch den größeren Stolz. Unmittelbar miterlebt hat er sie freilich nicht mehr, aber nach seiner Bildung und Geistigkeit wurzelt er ganz in ihr.

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