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Auftrag

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"Ich verstehe Sie nicht". Mir war klar, dass die Ansage wenig bringen würde. Aber einen Versuch war es ja wert. Die Stimme am anderen Ende der Leitung tat mir nicht den Gefallen. Sie wiederholte einfach das, was sie schon zuvor gesagt hatte. Ich hatte auch das schon verstanden, war mir aber noch immer nicht sicher, ob ich das richtig verstanden hatte, was mir die Stimme da gerade vorgeschlagen hatte. Zu ungeheuerlich erschien mir das Gesagte, als dass ich geneigt war, mein Einverständnis durch das Wörtchen 'verstanden' zu signalisieren. Also wiederholte nun ich die Worte der Stimme in der Hoffnung, dass die Ungeheuerlichkeit der Ansage der Stimme bewusst werden würde, wenn sie selbst gezwungen war, sie sich anzuhören. Aber natürlich hatte ich mich schon wieder getäuscht. "Ja, Sie haben mich richtig verstanden. Das ist alles ganz harmlos. Absolut. Sie wissen, dass Sie mir vertrauen können." Die Stimme am anderen Ende der Leitung hatte ruhig und entspannt geklungen. Kein Grund zur Beunruhigung also? Nun ja, glauben macht selig. Aber wer glaubt denn so etwas? Was zur Hölle soll denn daran harmlos sein? Für wie bescheuert hält diese Pfeife mich eigentlich? Ich fing an, richtig sauer zu werden. Das konnte doch wohl alles nicht wahr sein. Was glaubte dieses Wesen eigentlich, wen es vor sich hatte? Einen Volltrottel oder was? Ich war kurz davor, der Stimme einmal so richtig die Meinung zu geigen. Aber natürlich ging das nicht. Ich holte einmal tief Luft. Dann noch einmal und noch einmal.. "Ruhig bleiben. Ganz ruhig bleiben," hörte ich mich sagen. Aber die Stimme, die das sagte, war nicht meine Stimme. Es war die andere Stimme. "Ich versuche das ja, aber das ist gar nicht so einfach." Schon wieder hörte ich die Stimme. Nicht so klar und deutlich wie bisher. Eher angespannt. Irgendwie gehetzt. Ich war mir sicher. Jetzt war es meine eigene Stimme, die ich gehört hatte. Aber wie war das möglich? Schließlich hatte ich mir ganz fest vorgenommen, heute keine Schwäche zu zeigen. Nicht schon wieder. Und schon gar nicht heute. Aber wie sollte das gehen, ruhig zu bleiben? In dieser Situation?

"Niemand hat behauptet, dass das einfach ist." Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang weiterhin völlig ruhig. Eine Nuance zu ruhig vielleicht. Aber diese Ruhe half mir dabei, mich für einen Moment auf die Frage zu konzentrieren, wie ich halbwegs ungeschoren aus dieser Sache herauskommen konnte.

Aller Anfang ist schwer.

Mit der Stimme bin ich erstmals in Berührung gekommen, als ich noch ein Kind war. Also in Wirklichkeit natürlich nicht mit der Stimme, sondern schon mit der Person, die sich hinter der Stimme verbarg. Und auch das mit der Berührung bitte nicht falsch verstehen. Es ist einfach so in der deutschen Sprache, dass viele Worte eine sehr unterschiedliche Bedeutung haben können. Je nach dem Zusammenhang in dem sie verwendet werden. Und ich habe gerade das Wort Berührung im Zusammenhang mit Kindheit gebraucht. In einer Zeit, in der die Medien sich auf derartige Zusammenhänge stürzen, da muss man aufpassen, nicht in einen Topf mit denen geworfen zu werden, die bei der Verbindung der Worte Berührung und Kindheit sofort an Kindesmissbrauch denken. In unserem Fall, also dem Anfang der Verbindung zwischen mir und der Person, die sich hinter der Stimme verbarg, hatte das mit Kindesmissbrauch im herkömmlichen Sinne nichts zu tun, absolut gar nichts. Das heißt nun natürlich nicht, dass es keine Berührung gab zwischen dieser Person und mir. Berührungspunkte gab es in Hülle und Fülle. Nur eben nicht solche. Andere hingegen schon. Gleichwohl hatte das mit Missbrauch absolut gar nichts zu tun. Eher mit Verbundenheit. Viele Menschen, die uns damals gekannt haben, waren geradezu gerührt von der Intensität der Nähe, die uns damals miteinander verbunden hat. Ich denke, es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass wir uns sehr nahe standen - damals. Die, die uns kannten, hielten uns für unzertrennlich. Und in gewisser Weise waren wir das wohl auch; also damals. Aber in ganz anderer Weise, als die, die uns erlebt haben, es vermutet haben. Ganz anders. Das soll jetzt kein Vorwurf sein. Jeder sieht eben das, was er sehen will und sehen kann und sehen soll. Wir, also die Stimme und ich, wir haben uns große Mühe gegeben, bei denen, die uns erlebt haben damals, den Eindruck zu hinterlassen, als ob wir unzertrennlich seien. In dem Punkt zum Beispiel waren wir uns einig. Wie sich noch herausstellen sollte, war das tatsächlich aber eine der insgesamt eher wenigen Gemeinsamkeiten. Das hielt uns jedoch nicht davon ab, den Menschen um uns herum das Gefühl zu geben, dass sie mit ihren Wahrnehmungen Recht hatten. So lernten wir im Laufe der Zeit immer besser, was man tun musste, um bei den anderen Menschen Gefühle auszulösen, die sie glauben ließen, das zu erleben, was sie erleben wollten. Mit der Wahrheit hatte das in der Regel nicht viel zu tun. Aber es bestärkte uns in der Überzeugung, unsere Mitmenschen nach Belieben das glauben zu lassen, was wir für nützlich hielten. Das machte uns stark.

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