Читать книгу Die schöne Luise - Ekkehard Wolf - Страница 6

Kapitel 2

Оглавление

Es war nur dieses eine Wort. Rogge nahm es mit einem leichten Knurren zur Kenntnis, verzichtete aber auf eine Entgegnung. Statt dessen schob er seine Begleiterin kurzerhand in den Fahrstuhl, drückte den Knopf für die oberste Etage, die natürlich nicht zum Chinesen führte und wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte. Oben angekommen, schob er Viola aus dem Fahrstuhl hinaus und wandte sich ihr mit dem Hinweis zu, dass sie hier reden könnten.

Viola Ekström verdrehte genervt die Augen. Rogge übersah das geflissentlich.

„Also,“ begann er seinen Report, „in echt geht es um folgendes: es ist so, dass wir hier vor Ort ein kleines Problem mit der Wasserreinheit haben. In Königswies – du erinnerst dich sicher – ist das Trinkwasser seit Dezember immer wieder belastet. Seit kurzem auch wieder in Wolfratsried. In der Öffentlichkeit wird das selbstverständlich so dargestellt, dass keine Unruhe in der Bevölkerung aufkommt. Tatsächlich ist es aber natürlich so, dass die Wasserversorger erpresst werden. Deshalb bin ich eigentlich hier.“

Rogge machte eine Pause. Viola sah ihn fragend an.

„Nun ja, wir haben da einen etwas merkwürdigen Fund gemacht.“

Wieder eine Pause.

„Günther, mach’s nicht so spannend.“

Die Stimme von Viola Ekström klang nicht nur genervt. Rogge entschied sich dafür, sie mit dem zu diesem Zeitpunkt zentralen Teil der polizeilichen Ermittlungen vertraut zu machen. Bei der Durchsuchung eines verdächtigen Fahrzeugs mit Hamburger Kenneichen, das in der Nähe des Beurasburger Wasserspeichers abgestellt war, hatten seine Kollegen einen Datenträger entdeckt. Die Speicherkarte enthielt einen Ordner mit Konstruktionszeichnungen für die bewusste Maschine, deren Sinn und Zweck sich jedoch niemand so recht erklären konnte. Ein zweiter Ordner enthielt Photos und Kartenausschnitte der Gegend um Hamina. Das von der SAAG genutzte Terrain war besonders intensiv aufgeklärt. Alles deutete somit zwar darauf hin, dass dort zu einem symbolisch wichtigen Termin, also vielleicht genau zum 11. September, eine Art Anschlag vorbereitet wurde. Doch aus dem vorhandenen Material war nicht zu erkennen, ob es sich um eine Art terroristischer Aktion oder so etwas ähnliches wie eine Demo handeln sollte. Das BKA hatte seine Erkenntnisse unverzüglich an die Kollegen in Finnland weitergeleitet und zudem die Verantwortlichen des Suchmaschinenanbieters davon in Kenntnis gesetzt, dass erhöhte Wachsamkeit geboten sei. Doch der 11. September war verstrichen, ohne dass in der gesamten Region Hamina auch nur die Andeutung einer Demonstration geschweige denn eines Anschlages zu registrieren gewesen wäre. Das Datum hatte natürlich von Anfang an Anlass zu spöttischen Kommentaren gegeben und das Ausbleiben irgendwelcher Vorgänge trug auch nicht gerade dazu bei, die Spötter zu besänftigen. Viola Ekström konnte es sich nicht verkneifen, sich an dieser Stelle seiner Ausführungen mit einem ironischen „ach wirklich?“ in Erinnerung zu bringen. Rogge stutzte kurz, räusperte sich, rieb sich mit Daumen und Zeigefinger das Kinn, während er sich nach fiktiven Lauschern umsah, und entschloss sich schließlich, zur Sache zu kommen. Der Krähe über Ihnen schenkte er dabei wie immer keinerlei Beachtung.

„Also, was ich eigentlich sagen will, ist, dass ich vor kurzem erfahren habe, dass der Halter des Wagens, den wir beim Wasserspeicher gefunden haben, als Wasserleiche im Hafen von Hamina wieder aufgetaucht ist.“

„Aufgetaucht, im Hafen von Hamina?“

Viola Ekström verdrehte erneut die Augen, ließ, Verzweiflung andeutend, die Arme schlaff herunterhängen, und fügte ein „och nee“ hinzu.

„Ja, aufgetaucht, im wörtlichen Sinne. Die Leiche steckte in einem Taucheranzug und hat dort wohl tatsächlich einen Tauchgang unternommen, den sie jedoch nicht überlebt hat.“

Rogge bemühte sich angestrengt darum, seine Glaubwürdigkeit wieder herzustellen.

„Du willst damit sagen, der arme Hund ist in Beurasburg in seinen Taucheranzug gestiegen, mit diesem in den dortigen Wasserspeicher geklettert, auf einer dieser dubiosen Wasseradern durch die Ostsee getaucht und drei Wochen später, wie durch ein Wunder tot in Hamina wieder in Erscheinung getreten. Und damit ihr hier nicht so lange in der Ungewissheit leben müsst, wer da erst ab- und dann wieder aufgetaucht ist, hat der Gute gleich noch seinen Ausweis in den Taucheranzug gesteckt und, um jedes Missverständnis auszuschließen, seine Fahrzeugpapiere zu eurer Orientierung gleich hier gelassen. Dieser Menschenfreund! Ja, hab’ ich das richtig verstanden, willst du genau das mir jetzt sagen?“

Viola Ekström hätte jetzt zu gern noch einen Kübel mit irgendeiner beliebigen Flüssigkeit zur Verfügung gehabt, um diesen zur Verstärkung ihres Spotts Rogge über den Kopf zu schütten.

Doch der Oberrat hatte sie auch so verstanden. Er stand wie ein begossener Pudel da und fragte sich im Stillen unwillkürlich, ob seine Abteilungsleiterin wirklich schlau beraten war, ihn zu veranlassen, ausgerechnet Viola zu diesem Fall hinzuzuziehen. NSA Kontakte hin, NSA Kontakte her. Das dieser Dienst nach allem, was in den vergangenen Monaten vorgefallen war, nicht mehr allzu fleißig darum bemüht sein würde, seine deutschen Partner mit Informationen zu Diensten zu sein, war zwar sicher richtig. Zu erwarten, dass dieses Defizit nunmehr durch private Kontakte ausgeglichen werden könne, hielt Rogge für reichlich naiv. Ausgerechnet Ola. Wenn er mit seiner Einschätzung ihrer aktuellen dienstlichen Verwendung richtig lag, würde sich diese Frage ohnehin erledigen. Außerdem war da noch das persönliche Element. Erneut zögerte er einen Moment, bevor er sich dazu entschloss weiter zu sprechen.

„Deine Gehässigkeit in allen Ehren, aber du kannst ja mal raten, wer in diesem Taucheranzug gesteckt hat?“

Rogges Tonfall ließ Viola Ekström zwar aufhorchen, aber auf Ratespiele hatte sie gleichwohl heute ebenfalls keine Lust und sagte genau das auch ihrem Gesprächspartner. Rogge wich ihrem Blick aus. Das war nicht unbedingt selbstverständlich. Viola Ekström begriff, dass da nun wohl endlich die nicht ganz so angenehme Information auf sie wartete. Ihre Ungeduld wurde hierdurch nicht unbedingt kleiner. Sie trat so dicht an Rogge heran, dass er keine Möglichkeit mehr hatte, ihrem Blick auszuweichen und forderte ihn unmissverständlich auf, jetzt endlich zu sagen, „was Sache ist“. Sie hatte sich Mühe gegeben, ihrer Stimme einen energischen Unterton zu verleihen und war gespannt darauf zu erfahren, ob ihre Rechnung aufgegangen war.

Aber Rogge tat ihr den Gefallen nicht. Anstatt ihrer Aufforderung zu folgen, wandte er sich mit einem Ruck von ihr ab und blickte durch die Fensterfront hinüber zur Polizeiwache. Aber er sagte kein Wort.

Viola Ekström stellte sich neben ihn, beugte sich ein wenig vor, drehte demonstrativ den Kopf von links nach rechts und umgekehrt und stellte zugleich an Rogge die Frage: „Siehst du etwas, was ich nicht sehe?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich sodann abrupt dem Treppenhaus zu und deutete an, den Ort ihrer Zweisamkeit zu verlassen. Noch bevor sie die erste Stufe erreicht hatte, ereilten sie die hastig ausgestoßenen Worte Rogges.

„Wir haben ihre Identität.“

Die Worte waren leise gesprochen worden, zeigten bei Viola Ekström aber die gewünschte Wirkung. Sie blieb stehen und spürte wieder dieses angenehme Gefühl in sich aufsteigen, das sie immer befiel, wenn etwas so verlief, wie sie sich das vorgestellt hatte. Sie zwang sich dazu, ein überraschtes Gesicht zu machen und blickte Rogge mit einem Blick an, der ihm signalisieren sollte, dass sie jetzt bereit sei eine Botschaft zu verarbeiten, die nichts Gutes verhieß. Die Frage, die sie stellte, beschränkte sich auf ein einziges Wort. „Nun?“

In dem öden Treppenhaus im Haus gegenüber der Polizeiwache mit der idyllischen Holzfassade in der kleinen oberbayerischen Stadt, in der auch ein früherer Ministerpräsident und Kanzlerkandidat sein Zuhause hatte, war Kriminaloberrat Günther Rogge wieder einmal damit beschäftigt, die Welt zu verfluchen, die ihn immer wieder zwang Dinge zu tun, die er nicht tun mochte.

Er hatte sich das Wiedersehen mit der Mutter seiner Tochter natürlich anders vorgestellt.

Den Blick weiterhin starr auf das gegenüberliegende Revier gerichtet, dachte er angestrengt darüber nach, wie er ihr das Geschehene schonend beibringen konnte. Es ärgerte ihn, dass ihm keine Lösung einfiel und ihm fiel keine Lösung ein, weil seine geliebte Ola einfach nicht locker ließ und ihn ständig nervte, anstatt ihn nachdenken zu lassen. Also ärgerte er sich über sie, vor allem über sie. Das machte es einfacher für ihn, ihr ganz ungeschminkt das zu sagen, was er ihr schonend hatte sagen wollen.

„Es handelt sich um Ruth. Sie ist die Tote.“

Während er diese Worte sprach, hatte er sich zu Viola Ekström umgewandt. Er hatte erwartet, dass die Mitteilung vom Tod ihrer früheren Gespielin sie zutiefst erschüttern würde, wurde aber eines Besseren belehrt.

Viola Ekström lachte ihn laut schallend aus, wandte sich kopfschüttelnd um und begann immer noch lachend, die Treppe wieder hinab zu gehen.

Irritiert beeilte sich Rogge, ihr zu folgen. Verärgert packte er sie am Arm und zog sie zu sich zurück.

„Was zur Hölle ist so lustig daran?“

Viola Ekström war klar, dass der Vater ihrer Tochter wieder einmal zutiefst empört war von dem, was er ihre Gewissenlosigkeit nannte. Aber sie mochte es nun einmal nicht, auf diese Weise grob angefasst zu werden und deshalb schüttelte sie zunächst energisch seine Hand von ihrem Arm und erkundigte sich sodann in genau der ordinären Sprache, von der sie sehr genau wusste, dass Rogge sie hasste, ob er „jetzt völlig den Arsch offen“ hatte.

Auch diese Worte verfehlten die beabsichtigte Wirkung nicht. Rogge blieb wie angewurzelt stehen und sah die deutlich jüngere Frau verständnislos an. Doch Viola Ekström verspürte nicht die geringste Neigung, hier und jetzt ihm gegenüber irgendwelche Erklärungen abzugeben. Erneut wandte sie sich ab, eilte die Stufen hinunter und verließ schnellen Schrittes das Gebäude. Während sie ohne nach links oder rechts zu sehen die Straße überquerte, hatte Rogge Mühe, ihr auf den Fersen zu bleiben. Seine Frage, wohin sie denn jetzt wolle, blieb ebenso unbeantwortet, wie seine Aufforderung, jetzt doch einmal kurz stehen zu bleiben. So blieb Rogge nichts anderes übrig, als ihr vor den Augen der belustigten Uniformierten durch die Wache hindurch auf den Dienstparkplatz zu folgen, auf dem sie ihren Wagen abgestellt hatte.

Viola Ekström öffnete die Fahrertür mit einem Druck auf den elektronischen Schließmechanismus, schwang sich ins Auto, ließ den Motor an und öffnete sodann zu Rogges Überraschung die Beifahrertür.

„Nun mach’ schon, steig’ ein!“

Während der Oberrat sich beeilte, der Aufforderung Folge zu leisten, öffneten die amüsierten uniformierten Kollegen bereits vorausschauend das Zugangstor, so dass die Frau am Steuer, den Wagen mit einem kräftigen Tritt auf das Gaspedal hinaus auf die Straße befördern konnte, wo sie gleich darauf um den Zusammenstoß mit einem Lieferwagen nur aufgrund der Reaktionsschnelle von dessen Fahrer herum kam. Während sie den Wagen weiter in Richtung auf den nahen Kreisel beschleunigte, angelte sie von der Rücksitzbank ein Blaulicht, hievte dieses durch das Seitenfenster auf das Autodach, stellte die Sirene ein und bog, ohne zu halten, in die B11a ein. Rogge war fassungslos. Zugleich sprachlos verfolgte er mit zunehmendem Staunen, wie sie im Vertrauen auf die Wirkung von Blaulicht und Martinshorn sämtliche Verkehrsregeln missachtend die vorausfahrenden Fahrzeuge mit wilden Schlangenlinien überholte bis sie schließlich die Autobahn erreichten. Mit quietschenden Reifen schleuderte die Frau ihr Fahrzeug durch die Zufahrt in Richtung Garmisch. Den Wagen weiter beschleunigend hetzte sie auf der Überholspur der Ausfahrt Seeshaupt entgegen und holte das Blaulicht ein. Sie schaltete das Radiogerät lauter, vergewisserte sich, dass Rogge sein Mobiltelephon abgeschaltet hatte und entschloss sich erst dann, das Gespräch wieder aufzunehmen.

„Also, hör’ zu, der Käse mit der Wasserleiche ist natürlich eine reine Provokation. Das ist nicht Ruth. Ich habe keine Ahnung, wer die sind, die euch das untergeschoben haben und wo die an die Papiere gekommen sind, aber die dahinter stehende Absicht ist natürlich klar. Die wollten offenkundig ausprobieren, wie ihr reagiert. Jetzt wissen sie es. Das hast du ganz fein gemacht. Gratuliere!!!“

Rogge musste schwer schlucken. Er fühlte wieder diesen gemeinen Schmerz in sich aufziehen, den er nicht zuordnen konnte, der ihm aber wie der Vorbote einer Krankheit erschien, vor der er in Wirklichkeit erbärmliche Angst hatte. Um den Schmerz zu betäuben, hatte er sich Ablenkungen angewöhnt. An diesem Tag bestand diese in einer Atemübung, so dass er Mühe hatte, die Information zu verarbeiten, mit der ihn Viola Ekström gerade konfrontierte.

„Wir haben ziemlich gesicherte Hinweise darauf, dass eine besonders radikale Abteilung dieser Occupy Bewegung ganz wild darauf ist, das kapitalistische Ordnungsmodell einmal gründlich in den Abgrund zu stoßen. Details kennen wir bisher nicht. Die gehen absolut professionell vor und geben sich alle Mühe, die Regeln der Konspiration nicht zu verletzen. Kapierst du das?“

Kriminaloberrat Günther Rogge verstand jetzt fast nur noch Bahnhof. Doch selbst das Wenige, was er verstand, behagte ihm ganz und gar nicht. Irritiert sah er die Frau am Steuer an und entschloss sich auf Nummer sicher zu gehen.

„Du arbeitest schon noch für die, oder?“

Viola Ekström warf dem Vater ihrer Tochter einen schnellen Blick zu und verdrehte dabei erneut so genervt die Augen, dass selbst Rogge die Geste verstand.

„Rogge! Was glaubst du, warum deine Vorgesetzte dich vorhin so nachdrücklich darauf hingewiesen hat, dass du dich mir gegenüber nicht wieder aufführen sollst, wie eine beleidigte Leberwurst?“

Rogge sah sie an, vermied aber eine direkte Antwort.

„Also, was dein Hamina anbetrifft, so gehen wir davon aus, dass unser großer Suchanbieter sich allein deshalb in Finnland anzusiedeln beliebt, um sich der Kontrolle der gesetzlich arbeitenden Dienste zu entziehen. Es gibt an sich ganz klare Verabredungen für die Weitergabe von Daten an die Dienste. So wie es aussieht, versuchen unsere Schlaumeier jetzt aber wegen der negativen Schlagzeilen Server in Länder auszulagern, in denen unsere Rechtsauffassungen nicht zwingend gelten. Jedenfalls tun sie so, als ob es ihnen darum geht, ihre Kunden zu schützen. Tatsächlich haben wir den Eindruck, dass die unsere Kontrolle abschütteln wollen, um ihr eigenes Süppchen zu kochen. Das finden wir nicht so wirklich lustig, aber wir arbeiten selbstverständlich an einer Lösung. Die Russen sehen das übrigens genauso. Und Ruth, damit du es weißt, ist – wie der Zufall es will – ausgerechnet meine Kontaktperson zum FSB. Das Spielchen mit deiner verlassenen Karre am Wasserwerk und jetzt die Wasserleiche zeigt eigentlich nur, dass die auch vor unkonventionellen Schritten nicht zurückschrecken. Da sie euch damit gefüttert haben und ihr gleich darauf uns über mich kontaktiert habt, zeigt denen schon mal sehr deutlich genau die Schnittstellen auf, die es offiziell bekanntlich ja gar nicht gibt. Es ist absolut toll, wie leicht ihr euch ins Boxhorn treiben lasst. Und das gleich noch mit so einer Räuberpistole.“

Viola gab sich fassungslos und schüttelte mit dem Kopf. Zwischenzeitlich hatte sie die Geschwindigkeit ihres Wagens gedrosselt. Der PKW schlich mit wenig mehr als 100 km in der Stunde über die Autobahn und die Insassen der vorbeifahrenden PKW konnten den Eindruck gewinnen, dass da ein langjähriges Ehepaar die Gelegenheit einer gemeinsamen Fahrt nutzte, um einmal wieder miteinander ins Gespräch zu kommen.

„Du bist da also tatsächlich wieder eingestiegen?“ Rogge hatte Mühe, ihren Wortschwall zu verarbeiten und zog es deshalb vor, sich zu vergewissern.

Die Frau auf dem Fahrersitz gab sich erneut genervt.

„Verdammt noch mal, ja. Was glaubst du denn, warum ich hier bin? Um mit dir süße kleine Erinnerungen auszutauschen? Wach' auf! Nach der Geschichte in Finnland habe ich ganz einfach keine Lust mehr gehabt auf diese Spielchen. Wenn du es ganz genau wissen willst – ich bin froh, dass ich da wieder landen konnte.“

Rogge lehnte sich zufrieden zurück, bemühte sich aber seinem Gesicht einen unverfänglichen Ausdruck zu geben.

Viola Ekström vergewisserte sich mit einem schnellen Blick, mit dieser kleinen Geschichte bei Rogge gelandet zu sein und tat anschließend so, als ob sie sich wegen des zunehmenden Straßenverkehrs besonders darauf konzentrieren müsse. Sie beschleunigte den Wagen stark, scherte aus auf die Überholspur, verschaffte sich mit der Lichthupe freie Fahrt und ließ das Seitenfenster so weit herunter, dass die Geräuschkulisse ein normales Gespräch ebenso unmöglich machte, wie dessen Aufzeichnung.

„Also noch mal, wer wenn nicht unsere heißgeliebten Weltverbesserer haben ein Interesse daran herauszufinden, wie die Kommunikationsstrukturen derzeit so gestrickt sind? Wieso sonst zum Teufel bringt dich jemand auf die Idee, dass es einen Zusammenhang zwischen deinem blöden Trinkwasserzwischenfall und der Geschichte mit Hamina geben könnte? Was ist das für ein Schwachsinn? Was soll der ganze Scheiß?“ Viola Ekström war wieder einmal in ihrem Element und Rogge musste sich eingestehen, dass sie auf den ersten Blick ja so unrecht nicht hatte. Viola Ekström sah Rogge ungläubig an und entschloss sich dazu, ein klein wenig aus der Nähkiste zu plaudern.

Rogge hörte zu, nickte wissend, war sich in Wirklichkeit aber keineswegs sicher, ob er nicht wieder nur Bahnhof verstand. Zaghaft versuchte er sich Gewissheit zu verschaffen.

Das klingt ja alles ganz toll, aber wieso verfallen die ausgerechnet auf Ruth Waldner? Was hat das alles mit ihr zu tun? Hat die vielleicht versucht, da einzudringen? Und was um alles in der Welt hat die hier beim Wasserspeicher gemacht? Und wieso ist sie schon wieder tot?“

Rogge war offenkundig überfordert. Viola begriff, dass sie jetzt einen Gang herunterschalten musste.

„Sieh mal, rechne doch einfach eins und eins zusammen. Die Spracherkennung ist inzwischen so weit, dass wenige Worte reichen, um den Sprecher zu identifizieren. Dabei ist völlig egal, ob die Worte in einem Lokal, auf der Straße, an einem Telephon oder einer netten kleinen Chat gesprochen werden. Die Gesichtserkennung zum Beispiel ist andererseits inzwischen so weit, dass du von jeder Kamera der Welt aus einem Abstand von 100 Metern individuell absolut präzise identifiziert werden kannst. Da ist es ebenfalls völlig egal, ab die Kamera in einer U-Bahn, auf einem öffentlichen Platz, in einem Kaufhaus, dem Empfangsbereich eines Hotels oder eben auch an deinem Computer montiert ist. Jetzt kombinier’ das noch mit der Standortbestimmung, die mit jedem Handy gemacht wird und fertig ist der Brei. Da können wir ja wohl schlecht wegschauen, wenn unser kleiner Bruder versucht, all diese Fertigkeiten ausschließlich für seine Zwecke zu verwenden. Verstehst du? Was Ruth anbetrifft, so ist wie gesagt wohl davon auszugehen, dass sie deren Profil nur benutzen, um zu erleben, wie wir darauf reagieren.“

Viola Ekström überlegte einen Moment und fügte dann mit allem Sarkasmus, zu dem sie fähig war, hinzu, dass der kleine Bruder dank der spontanen Reaktion der deutschen Sicherheitsbehörden endlich wissen, was sie wissen wollten.

„Wollen wir wetten, dass euer beschissenes Wasser demnächst wieder ganz sauber ist?“

Viola Ekström konnte sich diese Spitze nicht verkneifen.

Sie wirkte nicht nur genervt, sie war es wirklich.

Rogge blickte betreten nach vorn, schüttelte dann aber den Kopf. Er musste nachdenken. Während er beredt vor sich hin schwieg, blickte Viola Ekström interessiert in den Rückspiegel und verringerte dann ihre Geschwindigkeit erneut auf knapp 100 km/h. Das nachfolgende Fahrzeug folgte ihrem Beispiel.

„Wieso fährst du so abgehackt?“ Rogge war viel zu sehr mit der Verarbeitung der Botschaft beschäftigt, die Viola Ekström ihm versucht hatte näher zu bringen, als dass er daran gedacht hätte, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Dass ihnen seit geraumer Zeit ein Fahrzeug auf den Fersen zu sein schien, hatte er schlicht und einfach nicht bemerkt. Mit dem neuerlichen Bremsmanöver der blonden Frau an seiner Seite änderte sich das schlagartig. Ohne deren Antwort abzuwarten, hatte er sich mit einem Blick nach hinten davon überzeugt, dass Viola Ekström mit dem Bremsmanöver etwas bezweckte. Noch bevor er sich innerlich auf den Verfolger einstellen konnte, musste er jedoch erleben, dass Viola den Wagen scharf beschleunigte, erneut nach links auf die Überholspur ausscherte und gleich darauf wieder den Fuß vom Gaspedal nahm. Das nachfolgende Fahrzeug wurde dadurch zu einem abrupten Bremsmanöver gezwungen. Erstaunlicherweise nahm der Fahrer des Wagens diese Behinderung ohne erkennbare Reaktion hin. Natürlich verhieß das nichts Gutes, aber jetzt musste Rogge zur Abwechslung schmunzeln.

Beide Fahrzeuge befanden sich zu diesem Zeitpunkt bereits kurz vor der Abfahrt nach Murnau. Viola Ekström blinkte kurz rechts, zog den Audi abrupt wieder auf den rechten Fahrstreifen, bremste etwas heftiger, wechselte auf die Abbiegespur und drückte den Wagen sodann in die lange Kurve zur querenden Bundesstraße. Dort angekommen, bog sie nach links in Richtung Kochel ab, fuhr mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit bis zur Ortschaft Großweil, lenkte den Wagen dann nach rechts in Richtung Glenleiter und jagte den Audi mit halsbrecherischem Tempo hinauf zum Museumsdorf. Auf dem dazugehörigen Parkplatz angelangt, rangierte sie den Wagen in eine der freien Parkbuchten am äußersten hinteren Rand des Geländes so hinein, dass sie das Geschehen vor sich im Auge hatte. Sie stellte den Motor ab und wartete mit gespielter Ruhe ab. Während des gesamten Fahrmanövers hatten Viola Ekström und Günther Rogge kein Wort gesprochen. Auch jetzt noch herrschte angespannte Ruhe. Als das Verfolgerfahrzeug nach knapp drei Minuten noch immer nicht aufgetaucht war, blickte die Frau ihren Beifahrer mit leicht nach vorn gebeugtem Kopf aufmerksam an.

„Was sollte jetzt das?“

Rogge hüstelte, kratzte sich verlegen am Kopf und klatschte, während er sich bemühte, dem Blick der Frau auszuweichen, behutsam in die Hände.

„Ach nee. Nicht in echt jetzt, oder?“

Viola Ekström brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass der Wagen, den sie gerade nach allen Regeln der Kunst abgeschüttelt hatte, nicht von irgendwelchen bösen Buben gelenkt worden war. Sie schüttelte spürbar erleichtert und zugleich auch amüsiert den Kopf und legte den die Hände auf das Lenkrad.

„Na schön Rogge, ich seh’ schon, wie müssen uns wirklich unterhalten. Lass’ uns da rein gehen und einen Kaffee trinken.“

Sie deutete mit der Hand in Richtung des Museums, öffnete ohne eine Antwort Rogges abzuwarten die Fahrertür, stieg aus, ließ die Tür zufallen und ging gemächlichen Schritts in Richtung des Museumsdorfes. Rogge beeilte sich, ihrem Beispiel zu folgen. Gemeinsam betraten sie die Vorhalle zum Museum, lösten getrennt die Eintrittskarten und schlenderten dann in Richtung der Mühlenzeile. Auf Höhe des alten Sägewerkes machten sie Halt. Mit einer kurzen Handbewegung zum Geplätscher des Wasserrades machte Viola klar, hier vor etwaigen Abhöraktionen einigermaßen sicher zu sein. Als ihr Begleiter zustimmend nickte, blickte ihn die Frau mit zu einem Schlitz verengten Augen an und stellte schmunzelnd fest, dass „dann ja nun keine Gefahr mehr bestehe“. Ohne jeglichen Übergang nahm sie sogleich den Gesprächsfaden dort wieder auf, wo sie ihn vor wenigen Minuten auf der Autobahn verlassen hatte.

„Also, die Sache ist die: Wir sehen die Auslagerung von Serverkapazitäten aus den Staaten grundsätzlich mit gemischten Gefühlen. Muss ich dir erklären, warum?“

Rogge winkte ab.

„Ok, was mir natürlich nicht gefällt, ist also dieses bescheuerte Timing jetzt wieder. Wir sollten schon wissen, wer sich das nun schon wieder ausgedacht hat und was das soll.“

Rogge atmete tief ein und pustete die Luft hörbar wieder aus.

Ein kleines Mädchen quängelte an der Hand seiner Mutter. Es hatte offenkundig keine Lust dazu, hier herumzugehen. Beide blieben nur wenige Meter von Rogge und Viola stehen und die Mutter versuchte mit guten Worten die Laune ihrer Tochter wieder aufzubessern. Ihnen direkt auf den Fuß folgte ein Pärchen, das sich der Kleidung nach zu urteilen, hierher verirrt haben musste. Ohne sich um die Mutter und ihr Kind zu kümmern, gingen sie eine Spur zu eilig an Rogge und Viola vorbei. Unten an der Schmiede blieben sie stehen und betrachteten neugierig das Gebäude. Viola sah Rogge fragend an, doch der zog die Schultern hoch und schüttelte den Kopf. Nach kurzem Zögern setzten sie ihren Weg auf der etwas steileren Strecke fort, die unter anderem zur Seilerei führt. Von oben entgegen kamen ihnen zwei Personen, die, der Kleidung nach zu urteilen, sich ebenfalls eher verlaufen haben dürften. Das Pärchen von der Schmiede folgte ihnen in gebührendem Abstand. Viola Ekström fühlte sich nicht so richtig wohl in ihrer Haut und sagte das Rogge auch unumwunden. Doch der Kriminaloberrat gab sich weiterhin unbesorgt.

„Mach’ dich nicht verrückt, wer soll uns hierher gefolgt sein?“ Wie wenig überzeugend er auf seine Begleiterin wirkte, konnte er unschwer an dem Weg ablesen, den die Hand seiner Begleiterin nahm. Rogge war klar, dass die Wühlerei in der Umhängetasche keineswegs so ziellos war, wie sie auf Unbeteiligte wirken mochte. Viola Ekström blieb stehen, den Blick scheinbar auf den Inhalt ihrer Tasche gerichtet. Aus der Regungslosigkeit der darin befindlichen Hand konnte Rogge unschwer ableiten, dass sie die gesuchte Waffe inzwischen gefunden hatte.

„Viola bitte, steck’ das Ding da weg. Wir sind hier doch nicht im Wilden Westen.“

Die beiden Personen von oben kamen ebenso näher, wie das Pärchen von unten. Alle trugen Trenchcoats und die Hände waren in den Seitentaschen verborgen. Viola Ekström sah Rogge mit zunehmender Nervosität an, doch der blieb unbeeindruckt. Er trat einen Schritt zurück und blickte abwechselnd nach links und rechts. So, wie es aussah, würden das Pärchen von unten und das Duo von oben, sie gleichzeitig erreichen. Viola ging in die Hocke, wühlte erneut kurz in ihrer Tasche und blickte dann scheinbar unaufmerksam zunächst in Richtung des Pärchens und dann auf das Duo. Während Rogge einen Schritt zurück trat, um alle passieren zu lassen, wurde ihm bewusst, dass sie sich hier eine reichlich ungünstige Stelle ausgesucht hatten. Nur wenige Schritte entfernt befand sich ein etwas glitschig wirkender Holzsteg, der das von unten kommende Pärchen zwang zu warten, bis das Duo von oben die Brücke passiert hatte. Alle vier befanden sich gleich darauf mit Rogge und Viola auf einer Höhe.

Auf gleicher Höhe angekommen, blieben alle vier Personen unmittelbar vor Rogge stehen. Viola Ekström begriff die unmittelbare Gefahr sofort und versuchte mit einem schnellen Drehsprung aus der Hocke heraus die erstbeste Deckung zu erreichen. Es gelang ihr so, sich hinter einem Baum in Sicherheit zu bringen. Mit der Waffe im Anschlag blickte sie im nächsten Augenblick in die verblüfften Gesichter von fünf Menschen, die erschrocken versuchten, sie zu beruhigen.

„Um Gottes Willen Ola, nimm’ die Waffe runter. Das hier sind Kollegen.“

Günther Rogge hatte als erster seinen Schreck überwunden und sich seiner früheren Geliebten mit erstauntem Gesicht zugewandt. Die Angesprochene brauchte einen Moment, bis sie die Botschaft begriff. Gleich im nächsten Augenblick jedoch hatte sie sich wieder gefangen. Mit einem ähnlich sportlichen Satz, mit dem sie hinter dem Baum verschwunden war, stand sie wieder auf den Beinen und deckte den Mann ihrer Träume mit Blicken ein, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen. Der Kriminaloberrat bemühte sich darum, den Gefühlsausbruch geflissentlich zu übersehen.

„Darf ich vorstellen, Uwe Carstens von der Kripo Weilhaus und Regina Raabe vom LKA.“ Polizeihauptmeister Kai Fischer und die Polizeiobermeisterin Angelika Schwarz stellten sich selber vor.

Viola Ekstein blickte irritiert in die Runde. Sie brauchte nicht lange, um Angelika Schwarz als die Beamtin zu identifizieren, die sie bereits im Besprechungsraum des Polizeireviers mit herausforderndem Blick angesehen hatte. Als sie endlich begriff, dass ihr Verflossener sie hier absichtlich in diese Situation gebracht hatte, zögerte sie keine Sekunde. Mit einem schnellen Schritt war sie bei Rogge. Schon im nächsten Moment flog er über ihre Schulter und landete punktgenau neben dem Baum, hinter dem sich Viola gerade eben noch versucht hatte zu verstecken.

„Na alter Mann, deine Reaktionen waren auch schon mal besser!“

Die dunkelblonde Frau blickte den am Boden liegenden provozierend an und erkundigte sich mit zuckersüßer Stimme danach, ob er noch Lust auf eine weitere kleine Überraschung habe. Rogge warf ihr statt einer Antwort einen Handkuss zu und rappelte sich unter Schmerzen wieder auf.

„Ok, dann machen wir uns wohl besser mal an die Arbeit.“

Regina Raabe hatte sich eingemischt und schaffte es mit dieser Aufforderung, alle Beteiligten wieder daran zu erinnern, dass sie schließlich nicht zu ihrem Vergnügen hier waren.

„Ok, dann schlage ich vor, wir verziehen uns am besten zu einer der Almen am Rande des Geländes. Da können wir ungestört reden.“

Angelika Schwarz hatte es sich wie üblich nicht verkneifen können, ihren Senf dazu zu geben. Der vorgeschlagene Ort erschien Rogge geeignet, das ewige Ok hingegen ging ihm ziemlich auf die Nerven, aber er verzichtete auf diesen Hinweis.

Bereits auf dem Weg zu den Almen wurde Rogge abermals das Gefühl nicht los, von irgendjemandem beobachtet zu werden, machte sich aber klar, dass er offenkundig im Begriff war, Gespenster zu sehen. Tatsächlich verflüchtigte sich der vermeintliche Beobachter bereits nach kurzer Zeit wieder. Der Besucher hatte wohl interessantere Objekte für seine Neugierde entdeckt. Während das Grüppchen schweigend die Kuhweide überquerte, die das Ensemble von Almhütten vom übrigen Gelände trennte, versuchte der Kriminaloberrat seine Gedanken zu ordnen. Was um alles in der Welt ging hier vor? Wieso sollte der weltweite Suchanbieter ein Interesse daran haben, das deutsche BKA auf die Idee zu bringen, es könne ein Zusammenhang bestehen zwischen den vermeintlichen Attentätern auf die Wasserversorgung im Oberland und einer Leiche, die vor dem Datenzentrum des Internetriesen in Hamina aufgetaucht und Verrückterweise mit Ausweispapieren ausgestattet war, die auf denselben Namen ausgestellt waren, wie das Zulassungspapier des verlassenen Golfs II vor dem Wasserspeicher in Eurasburg? Da es sich bei dieser Person nun einmal um eine alte Bekannte handelte, war ein zufälliges Zusammentreffen eher unwahrscheinlich. Günther Rogge wurde in seinem Gedankengang unterbrochen.

„Ich hab’ s!“

Die Erkenntnis war Angelika Schwarz so spontan gekommen, dass ihr der Ausruf einfach so herausgerutscht war. Die Kühe auf der Weide glotzten sie mit gleichmütigem Blick an. Ihre Begleiter waren stehen geblieben und starrten sie ebenfalls an, wenngleich vielleicht eine Nuance neugieriger.

„Wir sollen erpresst werden.“

Auch diese Idee hatte sie der Welt mit ihrer hellen Stimme glockenrein und klar verkündet.

Die erste Kuh setzte sich in Richtung des kleinen Grüppchens erst langsam und dann in vollem Galopp in Bewegung. Der Rest der Herde folgte ihr auf den Fuß und zwang die versammelten Zweibeiner ebenfalls die Füße in die Hand zu nehmen. Mit knapper Not dem Angriff entkommen, machte sich zunächst einmal Heiterkeit breit; denn Viola Ekström hatte in der Aufregung nicht bemerkt, dass sie ihren nagelneuen und vollständig in den USA gefertigten, mobilen Taschencomputer MOTO-X auf der Flucht vor den Kühen verloren hatte. Jetzt lag das gute Stück kaum 10 Meter entfernt auf der Weide und unterhielt die glotzend davor stehenden Vierbeiner mit der bekannten Melodie von Edith Piaf.

Der Anrufer war geduldig – die umstehenden Kühe ebenfalls. Als der Anruf nicht angenommen wurde, legte er auf, ließ einige Sekunden verstreichen und rief wieder an. Die Kühe senkten ihre Köpfe hinunter zu dem Gesang vor ihren Hufen und ließen sich berieseln. Das Schauspiel setzte sich so eine Zeitlang fort bis schließlich die Rabe sich ein Herz nahm, das Drehkreuz zur Weide durchquerte, zu den glotzenden Kühe spazierte, das singende Mobiltelephon aus ihrer Mitte aufhob und gemächlichen Schritts zurückkehrte zu ihren am Gatter wartenden Polizeikollegen, die von der einen Seite ebenso ungläubig staunten, wie die Kühe von der anderen Seite mit großen Augen hinter ihr her glotzten.

„Wieso sollen wir erpresst werden? Von wem?“

Viola Ekström hatte gleich darauf als erste die Sprache wiedergefunden, musste aber aus der Antwort auf ihre Frage erkennen, dass die junge Polizistin diese Vermutung lediglich deshalb ausgesprochen hatte, weil ihr die Namensgleichheit „darauf hinzudeuten“ schien. Die NSA Agentin zeigte sich schwer beeindruckt von soviel Kombinationsgabe, klatschte geradezu euphorisch mit den Händen, lediglich begleitet von begeisterten Bravorufen. Die blonde Schwarz reagierte natürlich mucksch und zog sich schmollend in ihr Schneckenhäuschen zurück.

„Vielleicht sollten wir einfach mal jemanden rüber schicken zu den Finnen und uns ein Bild davon machen, wer sich hinter dem Namen der Toten verbirgt?“

Viola Ekström ergriff die Initiative in der sicheren Erwartung, dass Rogge sie aufgreifen und vorschlagen würde, sie selbst möge doch bitte das übernehmen. Schließlich war es ja sie gewesen, die das aktuelle Aussehen der Waldner aus eigenem Erleben am zuverlässigsten beurteilen konnte. Rogge tat ihr den Gefallen und rief mit diesem Vorschlag sogleich die Raabe auf den Plan.

„Könnte es sein, dass genau das der Plan ist?“

Die fragenden Blicke machten ihr deutlich, nicht verstanden worden zu sein. Die Frau vom LKA räusperte sich vernehmlich, bevor sie sich dazu entschloss, ihren Gedankengang auszuführen.

„Also, ich meine, könnte es nicht sein, dass die ganz einfach versuchen, unsere Aufmerksamkeit auf die Leiche zu konzentrieren, um auf diese Weise hier wieder ungestört Erfahrungen mit den üblichen Ermittlungsmethoden in Fällen , sammeln zu können, bei denen die lokalen Behörden mit dem Problem der Wasserverunreinigung befasst sind?“

Die Reaktion der umstehenden Kollegen verriet ihr, einen Denkprozess in Gang gesetzt zu haben. Rogge kratzte sich nachdenklich am Hals, während Viola es vorzog, ihre Kopfhaut mit ihren Fingernägeln zu strapazieren. Sie war es dann auch, die als erste wieder das Wort ergriff.

„Sie meinen, die wollen uns hier weg haben?“

„Nun ja, so abwegig ist das vielleicht gar nicht. Schließlich haben sie inzwischen monatelang Katz und Maus mit den hiesigen Ämtern und ihrem Krisenmanagement sammeln können. Kann doch durchaus sein, dass sie für das, was sie noch vorhaben, nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen.“

Mit Erstaunen musste Rogge registrieren, dass Angelika Schwarz durchaus auch zu einer ernsthaften Überlegung fähig war.

„Sie meinen, die ziehen ihr einen Testlauf durch, um herauszufinden, wie sie hier oder an anderer Stelle den ganz großen Hebel ansetzen können?“

„Wäre doch denkbar. Wasser ist Leben.“

Angelika Schwarz fühlte sich dazu ermuntert, ihre spontane Eingebung sogleich in feste Formen zu gießen und zeichnete ihrem staunenden Kollegen sogleich ein nettes kleines Horrorszenario. Schließlich habe sich gezeigt, das zwischen der Erstkontamination des Trinkwassers und der Reaktion der Behörden in der Regel mehr als eine Woche vergangen war. Ebenso bemerkenswert erschien ihr die Reaktion des Gesundheitsamtes. Dem Trinkwasser wurde Chlor zugesetzt, um die Keime abzutöten. Immerhin zählt Chlor neben Fluor zu den reaktivsten Elementen und reagiert mit fast allen Elementen.

“Wer sagt uns denn, dass die dieses Wissen nicht nutzen, um bei nächster Gelegenheit einmal die nächste Eskalationsstufe anzutesten? Denken wir doch nur an de Vorfälle 1976 in Seveso bzw.1984 in Bhopal.”

“Sie denken, da will uns jemand einen Denkzettel der besonderen Art verpassen?”

Rogge war nicht wohl in seiner Haut. Wenn das stimmen sollte, was die junge Beamtin sich da gerade zusammenschwadronierte, dann hatten sie hier tatsächlich ein Problem.

Viola Ekström schien ähnlich zu denken. Sie erinnerte daran, dass es „im indischen Bhopal nach einer unkontrollierten Reaktion zwischen Phosgen und Isocyanaten zu einer Explosion kam, bei der eine riesige Giftgaswolke freigesetzt wurde. 3000 Menschen fanden damals direkt den Tod und bis 1990 sind mehr als 10000 an den Spätfolgen verstorben. Die Verantwortlichen sind nie wirklich zur Verantwortung gezogen worden. Was liegt da näher, als den bösen Buben im ignoranten Westen einmal anschaulich vor Augen zu führen, wie sich das anfühlt, wenn man einer solchen Katastrophe hilflos ausgeliefert ist?“

Sie beendete ihren Gedankengang und sah fragend in die Runde. Noch immer stand die kleine Truppe wie angegossen neben dem Gatter der Kuhwiese. Niemand sagte ein Wort. Alle schienen nachzudenken, während sie gedankenverloren die Kühe betrachteten, die nach wie vor regungslos vor sich hin glotzten.

So war es denn auch nicht erstaunlich, dass ausgerechnet die beiden Personen weiterhin keinerlei Beachtung fanden, die bereits dem Verfolgerfahrzeug auf dem Weg zum Museumsdorf und dann deren Insassen auf dem Weg zu dem Treffpunkt so unauffällig gefolgt waren und aktuell nur knapp hindert Meter entfernt neben einem der kleinen Almhütten standen. Andernfalls wäre den geübten Augen der Polizisten vermutlich aufgefallen, dass das äußere Erscheinungsbild der beiden so gar nicht zu der Sprache passen wollte, in der sie sich miteinander verständigten. Auch wäre es ihnen möglicherweise seltsam vorgekommen, dass die beiden ständig die kleinen Geräte in Richtung der Polizisten gerichtet hielten, die auf den ersten Blick aussahen, wie ganz gewöhnliche Mobiltelephone, tatsächlich aber hochsensible Richtfunkmikrophone darstellten.

Die schöne Luise

Подняться наверх