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II „Lebten wir in Zeit und Geist genössisch?“ – Zeitgenossen

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Von Manfred SturSturmann, Manfredmann, 8. September 1966 Nr. 24

Ich freue mich, dass Sie das bibliographische Material nunmehr für Ihr Archiv beisammen haben.

Herr Otto Heuschele, OttoHeuschele* hat sich in meinem „früheren“ Leben in rührender Weise bei meinem Start als junger Schriftsteller für mich eingesetzt. Da mir aber keinesfalls klar ist, welche Haltung er während der Nazizeit eingenommen hat, besteht von meiner Seite nicht die Absicht, die Verbindung mit ihm aufzunehmen. Wenn er mir schreibt, werde ich ihm selbstverständlich höflicherweise antworten.

* Otto Heuschele, OttoHeuschele (1900–1996), Schriftsteller, Essayist, Aphoristiker, Herausgeber; vgl. Brief Nr. 45

An Manfred SturSturmann, Manfredmann, 1. Oktober 1966 Nr. 25

Was Herrn Heuschele, OttoHeuschele betrifft, haben Sie gewiss recht. Wir werden ja sehen, ob er sich meldet. Gerechterweise will ich vorsichtig sein und ein Sich-nicht-Melden nicht gerade als Zeichen des schlechten Gewissens beurteilen. Indessen will ich aber den „Fall“ untersuchen. Ich dachte anfangs nicht daran, weil er mir, als ich kam, andeutete, Herr Wilhelm von Scholz, Wilhelm vonScholz*, den ich vorher gesprochen hatte, wäre doch nicht einwandfrei. So hielt ich ihn selbst für „einwandfrei“, was mir durch seine harmlose Erscheinung bestätigt zu sein schien. Nun aber will ich Ihnen noch einen anderen Gruß bestellen – von Georg von der Vring, Georg von derVring**, mit dem ich befreundet bin, den ich auch lieb habe. Er ist bestimmt einwandfrei***. Es geht ihm in letzter Zeit nicht gut, sogar so wenig gut, dass man kürzlich schon das entsetzliche Gerücht verbreitete, er wäre gestorben. So schlimm ist es aber nicht, er ist nur alt geworden und hatte sich einen Arm gebrochen. Er ist ein wirklicher Dichter, wenn auch die junge Generation solche Dichtung nicht mehr gelten lassen will. Deshalb bleibt er es dennoch, allen zum Trotz.

* Wilhelm von Scholz, Wilhelm vonScholz (1874–1969), Schriftsteller, Aphoristiker. Er arrangierte sich früh mit dem NS-Regime und wird wegen seiner zustimmenden Haltung zum Nationalsozialismus der NS-Literatur zugerechnet – so lt. Wikipedia

** Georg von der Vring, Georg von derVring ( 1898–1968), Schriftsteller und Maler; vgl. Die Eselin Bileams und KoheletKohelets Hund, S. 190 ; vgl. Die Rede geht im Schweigen vor Anker, S. 58

*** Bestimmt einwandfrei: „So vorsichtig prüfend ich mich glaubte, musste ich mir nach und nach das ,bestimmt ʻ sowohl als auch das ,einwandfreiʻ abgewöhnen; das geschah nicht ohne Folgen für meine Aphoristik.“ (An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 25.4.2018)

An Hildegard Schultz-Baltensperger, HildegardSchultz-Baltensperger, 13. Januar 1991 Nr. 26

Dank für das allermerkwürdigste „Du“-Heft*. Als ichʼs in der Hand hielt, dachte ich, ich hätte Deinen Brief nicht richtig gelesen, Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatt könne doch unmöglich gestorben sein. Die Einleitung zum Heft las sich aber wie eine melancholische Ironie, als würden Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatt oder seine Seele irgendwo im Raum über uns schweben. Das tat sie dann also auch. Ein Zusammentreffen von Datum und Seele in einem Zwischenraum. Voreilig schickte ich Christoph Grubitz, ChristophGrubitz** zum Neujahr eine aphoristische Auswahl aus Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatts Werken (Diogenes-Büchlein)*** mit meinen verdrossenen Anmerkungen. Ich glaube nach wie vor, dass Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatt groß im Großen ist, aber nicht im Kleinen. Unbegreiflich war es mir, wie er dieser Auswahl nur zustimmen konnte. Jetzt, nach dem Interview mit ihm, kann ich es verstehen. Die Schweiz hat ein Prachtexemplar seiner besten Gattung verloren, Israel einen seltenen, auch kostbaren, weil nur kritisch liebenden Freund.****

* Du – die Zeitschrift der Kultur. Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatt (70). Tages-Anzeiger Zürich 1991. Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatt starb im Dezember 1990.

** Vgl. Verzeichnis der Briefpartner(innen)

*** Das Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatt Lesebuch. Herausgegeben von Daniel Keel. Mit einem Nachwort von Heinz Ludwig Arnold, Heinz LudwigArnold. Zürich: Diogenes 1991

**** Presseartikel „ Ich stelle mich hinter Israel“ (1973), Träger der Buber, MartinBuber-Rosenzweig, FranzRosenzweig-Medaille 1977, Ehrendoktorat Jerusalem

An Edith SilberSilbermann, Edithmann, 10. August 1991* Nr. 27

Nicht ich habe Margarete Susman, MargareteSusman** die „große Großmutter“ genannt, sondern Bodman, Clara vonClärle***, die sich selbst dann die „kleine Großmutter“ nannte. Sie war um fast zwanzig Jahre jünger als Margarete Susman, MargareteSusman, verehrte sie aber auch. Margarete Susman, MargareteSusman ist mir ganz natürlich Großmutter geworden, Bodman, Clara vonClärle wollte es sein, Annette Kolb, AnnetteKolb – die stolze Jungfrau („Ich war nie einem Mann erlegen!“) – war zu solchen Gefühlen nicht fähig, auch zu solchen Spielen nicht, aber zu anderen, wie eben mit dem „wilden Hebräer“ und seiner christlichen Schwester, das gefiel ihr, für das Geschwisterliche hatte sie im Leben wie im Werk Gefühl und Sinn, wir trafen uns auch öfter mit ihrem Bruder Paul. Sie war älter als Margarete Susman, MargareteSusman, und es gibt eine Briefstelle von Margarete Susman, MargareteSusman, in dem sie den Umstand mit Humor erwähnt, dass sie – meine Großmutter – nun auch die Großmutter meiner Schwester sein müsste. Das und anderes mehr können Sie in meinem Kolb-Buch lesen. Aber wie kommen wir zum Buch, da nun der Stiehm-Verlag eingegangen ist? Vielleicht finden Sie es im Ramsch.

Vor zwei oder drei Jahren erschien Annette Kolb, AnnetteKolbs Briefwechsel mit René Schickele, RenéSchickele, damit ist die Frage nach ihrem Antisemitismus laut geworden. Es ist eine Frage, aber eine für mich nicht mehr interessante, da ich nun alle meine Pappenheimer kenne. Antisemitismus lebt vom Hörensagen, vom Leichtsinn, aus Ignoranz und Charakterlosigkeit. Damit will ich seine Gründe nicht genannt haben, Annette Kolb, AnnetteKolb aber aus der langen Reihe der charakterlosen Schriftsteller herausnehmen. Das war sie in keinem Fall, in keinem Punkt; die Schwächen teilte sie mit vielen anderen. Die Stärke behält man für sich und zur Not. Sie gehört zu den besten, tapfersten und ehrlichsten Schriftstellern deutscher Sprache: auch hinsichtlich der Judenfrage; sie war sogar eine entschiedene und konsequente Zionistin, wovon man in Deutschland nichts wissen will; es ist leichter und billiger, für die große Europäerin zu schwärmen. Also bewährte sie sich im Leben und im Werk, für das sie in der Öffentlichkeit mit Namen und Gesicht, die sie hätte verlieren können, einstand. Mehr kann ich von einem Schriftsteller nicht verlangen. Kein deutscher Schriftsteller setzte sich mit einer Fußnote ein Denkmal, wie Annette Kolb, AnnetteKolb auf S. 176 ihres Romans „Die Schaukel“, Berlin 1934.****

Und schließlich ihre letzte Reise. Alle ihre illustren Freunde waren gegen ihre Reise; die 96jährige wollte von ihrem innigen Wunsch, das altneue Volk in seinem altneuen Land zu sehen, nicht lassen. Natürlich haben die Katholiken auch die Absicht ihrer Reise gefälscht, die Wahrheit darüber steht in meinem (vielverschwiegenen) Buch. „Dein Land ist schon mein Land geworden“ ist Annette Kolb, AnnetteKolbs letzte schriftliche Mitteilung an mich. Bodman, Clara vonClärle hatte mein Buch schon während seines Entstehens kennengelernt, sie zitiert mitunter sogar eine frühe Fassung, die im Druck nicht nachweisbar ist.

Unter welchen Umständen ich Margarete Susman, MargareteSusman kennengelernt habe, ist im Brief vom Oktober 1966 (aufgenommen in „Treffpunkt Scheideweg“, S. 115ff.) nachzulesen; wie ich zu Annette Kolb, AnnetteKolb kam – in meinem Buch „Annette Kolb und Israel“*****.

Zu Clara von Bodman, Clara vonBodman kam ich durch Empfehlung eines ehemaligen Nazis: Wilhelm von Scholz, Wilhelm vonScholz, den ich in Konstanz besuchte, da ich auf der Spur Fritz Mauthner, FritzMauthners****** war, dem er, der Dichter Wilhelm von Scholz, Wilhelm vonScholz, die Grabrede hielt. Scholz, Wilhelm vonScholz war ein Schulkamerad Emanuel von Bodman, Emanuel vonBodmans, sie machten auch ihre ersten Schritte in der Literatur zu gleicher Zeit. Erst in der Nazizeit wandte sich Emanuel von Bodman, Emanuel vonBodman von Scholz, Wilhelm vonScholz ab. Ich kannte auch das Werk von Bodmans, vor allem aber wusste ich, dass er mit Gustav Landauer, GustavLandauer befreundet war, und die Briefe Landauers hatten mich interessiert. Nun sagte mir Scholz, Wilhelm vonScholz, die Witwe Emanuels lebe in der Nähe, in Gottlieben, und Frau Scholz – die mich herzlich gern loswerden wollte – telefonierte sogleich, und in zehn Minuten stand ich schon im herrlichen Treppenhaus in Gottlieben. Die Freundin, die mich dahin begleitete und dann wieder abholte, ist später meine Gattin geworden: eben jene, heute weitbekannte Miniaturmalerin Metavel (Ehefrau EBs)Metavel (vielleicht kennen Sie ihre „Haggada schel Pessach“, die bei Schocken herauskam). Clara von Bodman, Clara vonBodman wohnte wenigstens zweimal einem jüdischen Gottesdienst mit mir bei; ich erinnere mich an einen Jom-Kippur in Konstanz und an ein Wochenfest in Kreuzlingen. Durch ihren Besuch in der Synagoge in Kreuzlingen kam sie der Familie Robert Wieler, RobertWielers******* näher und wurde wiederholt eingeladen, den Schabbat mitzufeiern.

Sie wünschen sich Näheres über den Rilke-Brief********, was könnte ich noch dazu sagen? Er betrifft – für jenen Zeitpunkt ziemlich aufrichtig – mein Verhältnis zu Rilke, Rainer MariaRilke, meint aber noch ganz besonders Emanuel von Bodman, Emanuel vonBodman, für den Clara unablässig missionierte. Von mir und meinen Gedichten angetan, wollte sie in mir auch unbedingt den spätgeborenen Freund sehen, von dem Emanuel in einem Sonett träumte*********. Ihre Versuche, mich für Emanuels Gesamtwerk zu interessieren, musste ich abwehren, sonst wäre die vielversprechende, aber doch erst aufkeimende Beziehung zwischen uns in die Brüche gegangen. Ich war innerlich zu sehr mit „meinen Juden“ befasst und poetologisch bereits so weit von jener Generation weg, dass ich mich unmöglich mit dem lyrischen Werk Emanuels hätte beschäftigen können. Es mussten einige Jahre vergehen, bis ich geduldiger wurde und einer Lyrik wie der von Bodman, Emanuel vonBodmans gerecht werden konnte. Die „Gottlieber Dichterfreunde“ waren die Freunde eines einzigen Dichters, dessen Werk sie in schmalen, aber noblen Heften in einem kleinen Kreis verbreiten wollten. Der Dichter bin ich gewesen. Die Initiative ging von C. v. B. aus, die das Geld für das erste Heft vorstreckte. Druck und Vertrieb besorgte die Gottlieber Malerin Lore Gerster, LoreGerster. Es erschienen sechs Hefte; sie sind so gut wie vergriffen, tauchen antiquarisch selten und nie vollzählig auf.

* Edith SilberSilbermann, Edithmann, die auch eine bekannte Rezitatorin war, wollte einen Abend um den Briefwechsel mit Clara von Bodman, Clara vonBodman in Düsseldorf veranstalten, woraufhin sie EB viele Fragen stellte; vgl. Olivenbäume, S. 221

** Margarete Susman, MargareteSusman (1872–1966), Essayistin, Lyrikerin; vgl. Allerwegsdahin, S. 99–105, 180f.; Die Rede geht im Schweigen vor Anker, S. 33, 55; Vielzeitig, S. 273 et pass.; vgl. Aberwenndig, S. 49, 62, 101–106, 182, 306f., 359–361 mit Anmerkungen

*** Clara von Bodman, Clara vonBodman: Solange wie das eingehaltene Licht, S. 56–57; vgl. Allerwegsdahin, S. 124–126; vgl. Das Mehr gespalten, S. 198f.

**** Annette Kolb, AnnetteKolb: Die Schaukel. Roman. Mit einem Nachwort von Joseph Breitbach, JosephBreitbach. Berlin: S. Fischer 1977, S. 160: „Vom Tage an, da die Juden im geistigen Leben an Einfluss gelangten, machten sich in der gefährdeten Existenz des Künstlers gewisse Chancen fühlbar, dass er nicht mit einer Mühsal wie bisher […] sich durchzuringen hatte. […] Wie dem auch sei, wir sind heute in Deutschland eine kleine Schar von Christen, die sich ihrer Dankesschuld dem Judentum gegenüber bewusst bleibt. (Dieser Roman entstand 1934 in der Emigration.)“

***** EB: Annette Kolb, AnnetteKolb und Israel, S. 29–32

****** FritzMauthner, Fritz Mauthner (1849–1923), Philosoph, Schriftsteller, Publizist. In Meersburg am Bodensee entstand die von Martin Buber, MartinBuber angeregte und Gustav Landauer, GustavLandauer gewidmete Monographie „Die Sprache“ (1907).

******* Robert Wieler, RobertWieler, geboren 1912, war Mitbegründer der jüdischen Gemeinde in Kreuzlingen und ist 2012 in Jerusalem gestorben.

******** Solange wie das eingehaltene Licht, S. 39–42, vgl. „Vielzeitig“, S. 168

********* „Du fremder Freund, den ich nicht sah, noch kenne / Du bist mir nah in manchen späten Stunden, / Wenn ich die Tagesarbeit überwunden / Und wach im Kreise meiner Lampe brenne” […]. (Bodman, Emanuel vonBodman: Der unbekannte Freund. In: Die gesamten Werke 3, S. 159)

An Ulrich Sonnemann, 21. Januar 1992 Nr. 28

Lieber Ulrich, Dein Geburtstag rückt näher, schon steht er bevor, die vielen kleinen Wörter ballen sich zu einem großen Wort zusammen, wie soll es lauten, soll es heißen. Du hast so viel erlebt, erreicht, bewirkt, und wurdest von keinem guten Geist verlassen. Deine Rückkehr nach Deutschland, das kann man schon sagen, gehört zur Geschichte des neuen Deutschlands.* Und nun steht auch Dein Wort wieder an einem Anfang: poethisch, deutschbekümmert, europa-würdig. Dein Rückblick mit 80 wird nicht mehr nur Trümmer sehen. Ich freue mich Deines Rückblicks, bin froh, Dein Werk solange begleitet haben zu dürfen und danke Gott, dass ich mich, ohne Verdienst, doch reinen Herzens Dein und Brigittes Freund nennen darf.

* Sonnemann, 1940 in Brüssel verhaftet und im Lager Gurs interniert, konnte 1941 von dort aus in die USA flüchten. Er kehrte 1955 nach Deutschland zurück. Vgl. EB: Logorhythmen. In: Sabotage des Schicksals. Für Ulrich Sonnemann. Hg. von Gottfried Heinemann und Wolf-Dietrich Schmied-Kowarzik. Tübingen: Gehrke 1982, S. 367–371; EB: Was nicht zündet, leuchtet nicht ein. In: Spontaneität und Prozess. Zur Gegenwärtigkeit kritischer Theorie. Hg. v. Sabine Gürtler. Ulrich Sonnemann zum 80. Geburtstag. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1992, S. 251–263; EB: Was nicht zündet, leuchtet nicht ein; Grubitz: Dasein ist hiersinnig, S. 69–80

An Anemone Bekemeier, AnemoneBekemeier, 14. Mai 1992 Nr. 29

Nimm zum Beispiel Anna Achmatowa, AnnaAchmatowa. Es ist recht bescheiden, was in diesem hübschen Heft* abgedruckt ist, schaust Du aber genau hin, findest Du meine ganze Intention, und es fragt sich, warum sie Dir so viel zu schaffen machen soll. Auf S. 22 steht: „Verse immerzu, ich vertreibe sie, wie immer, bis ich eine wirkliche Zeile höre.“ Und: „Aber ‚Michal‘ gelingt noch nicht, das heißt, da schwirrt etwas Zweitrangiges“. Also: eine wirkliche Zeile – und nichts Zweitrangiges.

* Anna Achmatowa, AnnaAchmatowa: Vor den Fenstern Frost. Gedichte und Prosa. Übersetzt von Barbara Honigmann und Fritz Mierau. Berlin: Friedenauer Presse 1988, S. 22

An Christoph Grubitz, ChristophGrubitz, 17. Februar 1993 Nr. 30

Freut mich, dass Du endlich Sonnemanns Festschrift bekommen hast. Mein Büchlein darin* – samt Untertitel – müsstest Du unbedingt in der neuen Fassung Deines Buches** berücksichtigen. Für meinen leidenden Freund bete ich täglich. Übrigens sagte er mir, dass er „Was nicht zündet …“ ganz anders las und erlebte als alle meine anderen Bücher. Es erschien ihm als etwas „ganz Ganzes“, ganz Menschliches, schon ganz Verklärtes, und er betonte das mit dem Wort: universell. Er sprach davon sichtlich gerührt. Gern wollte er ein Nachwort zur geplanten, erweiterten Ausgabe schreiben, „wenn man ihm dazu Zeit lässt“. Aber er ist zum Schreiben nicht mehr fähig, ist schwach und verunsichert. Ich wollte Dir eben eine schöne Widmung von ihm mitteilen***, die auf den Unterschied zwischen mir und Kraus, KarlKraus**** abzielt, aber nach einem halbstündigen Suchen finde ich das Buch noch immer nicht!

* Siehe Anmerkung zum Brief Nr. 28

** Christoph Grubitz, ChristophGrubitz: Der israelische Aphoristiker Elazar Benyoëtz.Tübingen: Niemeyer 1994 (Conditio Judaica 8)

*** Sie lautet: Dem Freund und Sprach-Hauptmitbewohner. Zu Paul Schick, PaulSchick

**** zu Karl Kraus, KarlKraus vgl. Olivenbäume, S. 15 et pass; vgl. Aberwenndig, S. 37

An Matthias Hermann, MatthiasHermann, 22. Februar 1993 Nr. 31

Du bist ein guter, ernster Leser. Ich kann Dich jetzt, anhand Deines Briefes, gut dabei beobachten. Du gefällst mir in Deiner Strenge. So muss es sein, unter Dichtern, die Dichtung betreffend. Und doch ist die Verantwortung des „aphoristischen Dichters“ eine weitere oder jedenfalls eine andere, was zur Folge hat, dass Poetik und Rhetorik mitunter auseinandergehen, bzw. in Widerspruch zueinander geraten. Ich muss an vielerlei Menschen denken, auch an solche, die mit Poesie nichts zu tun haben. Die vielen Menschen, die bestimmte Zeit, die Herausforderung eines Augenblicks, die Reizbarkeit eines Nervs, die Art und Intention eines Büchleins – sie alle spielen eine Rolle, machen Strategien nötig. Freilich ist auch dies ohne Selbstbetrug weder denkbar noch zu machen. Das hast auch Du zwischendurch gemerkt, so z.B. wenn Du zum Folgenden – „Was du nicht verhinderst, das hast du geschehen lassen“ – schreibst: „Auch nicht neu, doch aus aktuellem politischen Anlass würde ich es stehen lassen.“

Der aktuelle politische Anlass – zumal der altneue Antisemitismus – steht ja vor und über diesem Büchlein – „Träuma“ –, das ich auf die Herausforderung Rufus Flügge, RufusFlügges, des ehemaligen Superintendenten von Hannover, geschrieben habe. Als ich nämlich von meiner letzten Lesereise zurückkehrte, fand ich seinen Brief vor, der also endete: „Erheben sollst Du Deine Stimme.“ Also versuchte ich, meine Stimme zu erheben. Flügge, RufusFlügge schreibt mir zum Manuskript: „Die Reihenfolge und Kapiteleinteilung ist in dieser Form sehr einleuchtend, es ist ein fortlaufender Gedankengang und zum Lesen und wahrscheinlich zum Vorlesen gut geeignet. Es sind viele besondere Kostbarkeiten darin. Du erhebst deine Stimme wie eine Posaune. Schone nicht.“ Ich schone nicht und schone doch auch, denn ich möchte viele erreichen. Das wird mir oft nur mit einem Satz gelingen. Und auch dies wäre schon ein Erfolg.

Das, lieber Matt, vermag überlegene Ironie allein nicht. Natürlich kommt sie bei mir vor und ist auch Dir, so unangenehm Dich der „heilige Ernst meiner Prosa“ berührt, nicht ganz entgangen.

Heilig – ja; gesalbt – nein; auch nicht weihevoll. Es gibt eine seelsorgerliche Sprache, die viele nicht mehr verstehen und nur wenige noch sprechen, diese aber wissen sie zu schätzen und wüssten mir Dank, wenn sie fühlten, dass ich gerade sie meine, da ich mich ihrer Sprache bediene.

„Ordination“, übrigens, habe ich nicht geschrieben, sondern aus dem Stegreif für Silke* in ihrer Kirche gesprochen. Ich mache nicht gern „Sprüche“, aber auch Salomo machte sie nur ungern, was besagt, dass sie gemacht werden mussten.

„Hinfällig ist alles, was auf Gott hofft und nicht baut“ ist nach meinen Begriffen gerade nicht erbaulich. Ich habe alle Deine Anmerkungen in das Manuskript eingetragen, so habe ich jetzt ein ganz interessantes Exemplar.

Deine treffende, nicht zutreffende Bemerkung „Wenn sie doch wenigstens unsere Witze sammeln würden, die mit lachendem und weinendem Auge entstanden, sie hätten beides – die Tränen und den Witz“ wollte ich, da sie mich entzückte, gleich in mein Büchlein aufnehmen – mit Deiner Erlaubnis, versteht sich. Aber Deine Bemerkung brächte meinen Satz doch um seine schon erprobte Wirkung. Auch trifft sie, wie gesagt, nicht zu. Jüdische Witze wurden und werden gesammelt. Und mancher lacht dabei Tränen.

* „Ordination“: Träuma. Herrlinger Drucke 3, Mai 1993, S. [15], [38]; Silke Alves-Christe, SilkeAlves-Christe, vgl. Brief Nr. 136

An Hans Otto Horch, Hans OttoHorch, 22. Juli 1993 Nr. 32

Ich sollte Ihnen längst schreiben, wollte es aber nicht tun, ehe ich Ihren „Strauß, LudwigStrauß“* gelesen habe.

Zum Anfang Ihres Nachworts möchte ich bemerken, dass mir das direkte und ehrliche Zeugnis Albrecht Schaeffer, AlbrechtSchaeffers** besser gefallen würde als das indirekte Hannah Arendt, HannahArendts; und gerade von Ihnen hätte ich es erwartet, zumal nach unserem Gespräch hier. Es ist sehr wichtig, dass wir deutsche Zeugen und Zeugnisse finden, verhören, vernehmen und auch beherzigen. Schaeffer, AlbrechtSchaeffers Beitrag über Strauß, LudwigStrauß ist ein Zeugnis, das nicht unbeachtet bleiben darf, auch poetologisch nicht, obschon er umständlich ist und mitunter leicht konfus erscheint. Ich schätze seine Resultate, mehr noch sein Bemühen, am meisten seine Bereitschaft, dem jüdischen Dichterfreund einen hohen Rang und einen ehrenvollen Platz in seiner Dichter-Galerie zuzuweisen.

Das Interessanteste an Strauß, LudwigStrauß ist, dass er auf allen Gebieten Bedeutendes leistete, aber in seiner Bedeutung nicht vermochte, anstachelnd zu wirken. Er ist zu gut, um noch interessant zu sein. Dass er „beides zugleich und in eins war“, daran liegts. Es fehlt die Zerrissenheit. Und was könnte entbehrlicher sein als ein jüdischer Hölderlin, FriedrichHölderlin? Ludwig Strauß, LudwigStrauß ist der größte Entbehrliche der deutsch-jüdischen Dichtung, und eben das macht ihn mir interessant und auch (seiner hebräischen Gedichte wegen) teuer. Man kann von ihm nur viel lernen, nicht viel haben. Er ist allemal ein Gewinn, aber keine Bereicherung.

* Ludwig Strauß, LudwigStrauß: Prosa und Übertragungen. Gesammelte Werke. Bd. 1. Hg. von Hans Otto Horch, Hans OttoHorch. Göttingen: Wallstein 1998 (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 73)

** Albrecht Schaeffer, AlbrechtSchaeffer: Über Ludwig Strauß. In: Ders.: Dichter und Dichtung. Kritische Versuche. Leipzig: Insel 1923, S. 83–125

An Hans Otto Horch, Hans OttoHorch, 29. September 1993 Nr. 33

Sie haben, bis auf einen Punkt, in allem recht. Auch mit „Träuma“. Es ist ein zwiespältiges Wort für eine zwiespältige Sache, ein missglücktes Wort für eine missglückte Sache oder noch besser: ein unglückliches Wort für eine unglückliche Entwicklung. („Treffpunkt Scheideweg“ hieß ursprünglich „Träuma“.) Ihre ernsthaften Bemühungen um Ludwig Strauß, LudwigStrauß gaben mir Anregung und Anlass, noch einmal meine Stellungnahme zu ihm zu formulieren. Das tat ich in einem Brief an Sie. Gut möglich, dass ich mein Urteil revidiere, solange bleibt mein letztes Wort über Strauß, LudwigStrauß in meinem Brief an Sie enthalten. Ich wollte mit diesem nicht maßgeblich sein, andererseits auch nicht sagen, dass alles Positive, auch wenns nicht bereichert, schon ein Gewinn sei. Das denke ich wirklich nicht. Strauß, LudwigStrauß ist eine Ausnahme und dadurch von Bedeutung. Sein Zionismus richtete sein deutsches Gedicht auf und bereicherte es. Erst als überzeugender Zionist wurde er ein deutscher Dichter von Rang. Dies ist die Ausnahme. Von wem könnte man das, guten Gewissens, sonst noch behaupten? Sie haben recht, wenn Sie in diesem Zusammenhang auf Richard Beer-Hofmann, RichardBeer-Hofmann zu sprechen kommen. Sieht man von Deutschland weg, kommt man auf ihn, dann aber auch wieder von ihm weg. Richard Beer-Hofmann ist immer, in allem „der Ältere“. Das würde zu seinem Namen gehören: „Richard Beer-Hofmann, RichardBeer-Hofmann d. Ä.“ Davon abgesehen hatte er mehr Personen als Strauß, LudwigStrauß; und er bleibt in allem, möchte man sein Werk auch aus den Augen verlieren, unvergesslich. Wieso und warum? Er war entschieden, aber in dieser Entschiedenheit, der keine Entscheidung vorausgegangen zu sein scheint, trug er seinen Kampf mit dem Engel aus. Das mag fatal klingen, so sage ich lieber: vielleicht, weil er den „Tod Georgs“* schrieb. Oder weil er Paula so liebte.**

Was Sie von Schaeffer, AlbrechtSchaeffer sagen, zeigt mir, dass auch er zerrissen war. Ob er mit seinem späteren Brief sein öffentliches Zeugnis, seine Einsichten widerrufen wollte? Ob das ohne weiteres möglich wäre?

Es sind Fragen, denen wir uns stellen müssen. Wie bedrückend sie sein können, habe ich erfahren, als der Briefwechsel Kolb, AnnetteKolb/Schickele, RenéSchickele*** erschienen ist. Sie können es jetzt, wenn Sie mögen, in meinem Beitrag zum Katalog der eben in München eröffneten Kolb, AnnetteKolb-Ausstellung nachlesen (verlegt bei Eugen Diederichs)****.

* Richard Beer-Hofmann: Der Tod Georgs. Roman. Berlin: S. Fischer 1900

** 1898 heiratete er Pauline Anna Lissy.

*** Annette Kolb, AnnetteKolb, René Schickele, RenéSchickele: Briefe im Exil 1933–1940. Hg. von Hans Bender, HansBender. Mainz: v . Hase und Koehler 1987

**** Ich habe etwas zu sagen. Annette Kolb, AnnetteKolb 1870–1967. Ausstellung der Münchener Stadtbibliothek anlässlich ihres 150-jährigen Bestehens. Hg. von Sigrid Bauschinger. München 1993

An Annemarie Moser, AnnemarieMoser, 15. Juni 1995 Nr. 34

Da ich Ihre anderen Werke noch nicht kenne, kann ich nicht sagen, dass Sie mit den „Türmen“* die beste Wahl getroffen haben, doch nun, da ich das Buch gelesen habe, bin ich in der Lage, Ihre Wahl zu verstehen und bin Ihnen umso dankbarer für dieses Geschenk, das für Sie nicht nur spricht, sondern Sie auch enthält. Es freut mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, denn ganz anders als Ihr Buch können Sie unmöglich sein. Und dieses ist ohne Falsch; der Versuchungen der Poetisierung an keinem Punkt erliegend. Wer diesen Grad an Gradheit erfahren will, der muss nach Wr. Neustadt fahren. Also war Wr. Neustadt auch aus diesem Grund der Reise wert. Was den Roman als solchen anlangt: Er bringt alles, was er verspricht, zur Deckung. Das Bedeutsame meidend, ist das Entsprechende sein Erfolg. Merkwürdig, dass der Waschzettler Hans Weigel, HansWeigel** sagen lässt, was Sie selbst mit gleichen Worten, aber viel besser, weil „turmhoch“, auf S. 188 sagen: „Und ich sah einen Turm, einen silbern schimmernden Turm aus Worten, und dachte: ‚Das wird das Protokoll meiner Heilung.‘“ – Zu dieser gehört am Ende, so unverhofft wie unvermeidlich, die alte Frage: „Wie war das möglich?“ und das „nun begriff ich“, wofür zehn Jahre eines falschen Bekenntnisses der Preis gewesen ist: ein hoher Preis, doch auch dieser wiederum nicht ohne Lohn: eben dieses Buch geschrieben zu haben. Mir haben Sie damit noch viel anderes geschenkt, z.B. eine Sinngebung des mir lange belanglos scheinenden Faktums, dass ich just in Wr. Neustadt zur Welt gekommen bin. Sie mussten in die Stadt zurück, mit der Sie aus den Trümmern stiegen. Durch Sie habe ich etwas davon nacherleben und „mitbekommen“ können. Noch will ich Ihnen sagen, dass das Unbeirrbare Ihres Sprachvermögens wohltuend wirkt.

* Türme. Roman. Graz: Styria 1981

** Vgl. Anm. zu Brief Nr. 77

An Angelika Hübscher, AngelikaHübscher, 4. Juli 1996 Nr. 35

Es freut mich, dass eine Arthur Hübscher, ArthurHübscher-Ausstellung* stattfindet, und natürlich soll Hugo Bergmann, HugoBergmann** in ihr nicht fehlen. Das Material in der Mappe*** ist allerdings gering, für mich aber von großer Rührung. Ich werde im kommenden Jahr 60, als mich Hugo Bergmann, HugoBergmann Arthur empfohlen hatte, war ich 27 Jahre alt, und was sonst? Für Hugo Bergmann, HugoBergmann immerhin „ein junger hebräischer Dichter von Rang“. Er hatte mir immer freudig zu meinen Gedichten geschrieben, und einmal legte er ein Gedicht von mir seiner Neujahrspredigt zugrunde. Einmal im Jahr, eben am Rosch-Haschanah, pflegte er in seiner Synagoge zu predigen. Er hielt mich auch für den besten Kenner der deutschen Literatur und hat meine Wissbegier unermüdlich unterstützt; also dachte er, dass ich geeignet wäre, eine Brücke nach Deutschland zu bauen. Er schrieb mir oft liebevolle, mitunter zarte Briefe, aber er ging mit mir auch hart ins Gericht: über meine Aphorismen, die ihm zu geistreich erschienen; über mein deutsches Schreiben, das er für zu schnell erlernt und zu gut gemeistert hielt. Er war ja ein Frühzionist und hatte dieser Welt der „Geistreichen“ den Rücken gekehrt. Er hatte mich gewarnt, aus tiefer Liebe, die immer missverständlich ist, aber nur selten irrt. Also irrte sich Bergmann, HugoBergmann nicht: Ich hörte auf, ein „junger hebräischer Dichter“ zu sein, und bin ein deutscher Aphoristiker „von Rang“ geworden. Ein Visitenkärtchen, wenige Worte der Empfehlung – und diese ganze Geschichte dahinter, die allerdings noch besser, länger und trauriger hätte erzählt werden können.

Und doch war es mir andererseits eine Freude, mich einen Augenblick lang in Arthurs Augen zu sehen, wie er da am 16. November 1964 Hugo Bergmann, HugoBergmann berichtet: „Mit Elazar Benyoëtz stehe ich übrigens in dauernder brieflicher Verbindung – ein äußerst begabter, interessanter und menschlich liebenswerter junger Mann.“ Wie sehr mich das beruhigte, liebe Angelika. Mein Weg bleibt mir selbst unergründbar, er war nicht gerade, keinem erwünscht, aber auch nicht verfehlt: „Nirgends zu Hause, allerwegs in Gottes Hand.“

Ende November findet in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften der 2. Wiener Kulturkongress zum Thema: „Auf der Suche nach dem verlorenen Gott – Zukunft von Religion und Glaube in einer säkularisierten Welt“ statt. Ich wurde um einen Beitrag gebeten, dieser wird lauten: „Die Sprache des Glaubens, Oder: Alle Siege werden davongetragen“****. Im Januar werden wahrscheinlich einige Lesungen in Österreich stattfinden; im Februar erscheint mein Buch über den Glauben: „Variationen über ein verlorenes Thema“ (bei Carl Hanser in München) – das besagt: Ich komme wahrscheinlich nach Deutschland, und selbstverständlich will ich gern meiner Freundschaft für Arthur, für Euch Ausdruck geben. Aber ein Termin lässt sich noch nicht ausmachen (Du hast selbst ja auch keinen), auch nicht, ob die Erinnerungsworte bei der Eröffnung der Ausstellung effektivste Form des Nachrühmens wären. Ich würde z.B. eine Lesung zu seinem Andenken, in die ich Erinnerungen, Zitate und Briefstellen einflechten könnte, für wirkungsvoller halten. Zwar wird es Mühe kosten, aber sich dann auch gelohnt haben. Die Lektüre meiner Briefe an Arthur kann nicht so einfach vor sich gehen, allein die Begegnung mit meiner frühen, so unbeholfenen deutschen Handschrift; mit meinem Deutsch von anno dazumal; mit meiner so kühnen Naivität.

* Ausstellung in der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main 30. Oktober – 27. November 1997; vgl. Die Rede geht im Schweigen vor Anker, S. 49; zu ArthurHübscher, Arthur Hübscher vgl. Aberwenndig, S. 396

** Hugo Bergmann, HugoBergmann (1883–1975), Freund Kafka, FranzKafkas, erster Leiter der Universitätsbibliothek Jerusalem; Die Rede geht im Schweigen vor Anker, S. 37, 40; vgl. Aberwenndig, S. 279

*** Briefwechsel Hugo Bergmann, HugoBergmann – Arthur Hübscher, ArthurHübscher, an EB ausgeliehen

**** Endgültiger Titel: „In Zweifel gezogen, dehnt sich der Glaube aus“

An Michael Wirth, MichaelWirth, 25. Februar 1997 Nr. 36

Ich danke Ihnen für die Gelegenheit, an Max Rychner, MaxRychner zu erinnern, den ich von Herzen liebte.

Ich habe Rychner, MaxRychner nie aus meinen Augen und meinen Ohren verloren; Wachheit, Lache, Regung und Anregung, die ich in seinem Angesicht wahr- und aufgenommen habe, bleiben aufbewahrt. Nie habe ich versäumt, seinen Namen zu nennen und jedes darauf folgende Echo bereitwillig und breit aufzunehmen.

Rychner, MaxRychner spielt eine Rolle in meinem Buch „Annette Kolb, AnnetteKolb und Israel“, in meinem Briefwechsel mit Clara von Bodman, Clara vonBodman, in meiner Dankrede beim Empfang des Adelbert von Chamisso-Preises („Treffpunkt Scheideweg“, S. 168–173). Nun blicke ich zurück.

1961 erschienen Rychner, MaxRychners „Antworten“*; in dem Aufsatz „Rahel“ steht Verständnisvolles über das Judentum, schlägt ein Herz für die Juden, wacht ein klares Auge über den Ablauf der Geschichte. Kein Schwanken, kein Zögern, rein und trefflich. Unter anderem finde ich darin ein Wort alter Treue: „Noch bei Margarete Susman, MargareteSusman, in ihrem immer wieder hervorzuhebenden Buch ‚Frauen der Romantik‘, erschienen 1929, kurz bevor Hannah Arendt, HannahArendt das ihre begann […]“ (S. 114). Dreißig Jahre vorher, am 5.12.1929, schreibt Rychner, MaxRychner an Carl J. Burckhardt, Carl J.Burckhardt: „Das literarische Ergebnis 1929 ist jammervoll. […]. Ein sehr bedeutendes, sehr schönes Werk ist: Margarete Susman, MargareteSusman: ‚Frauen der Romantik‘. Welch geistreiche, intuitiv begabte und im Denken überlegene Frau! Voila une femme!“ (Carl Burckhardt, Carl J.Burckhardt/Max Rychner, MaxRychner: Briefe 1926–1965. Frankfurt am Main 1970, S. 33).

Nicht anders als Margarete Susman, MargareteSusman war auch Rychner, MaxRychner intuitiv begabt und wusste wie sie, das Kommende, als es sich gerade am Horizont abzeichnete, zu begreifen und zu begrüßen. Es ist mir eine Genugtuung festzustellen, dass auch Margarete Susman, MargareteSusmans Werke eben jetzt wieder, in einem neuen Gewande, für eine neue Generation zu erscheinen beginnen („Das Buch HiobHiob und das Schicksal des jüdischen Volkes“. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag bei Suhrkamp 1997).

Beim näheren Zusehen

Am 19. März 1962 gratuliere ich Max Rychner, MaxRychner zum Erhalt des Stadtpreises Zürich, lege meine Übersetzung seines Gedichtes „Auf einem Heimweg“** bei, schicke ihm meinen letzten (hebr.) Gedichtband, „als Zeichen meiner Hochschätzung“, bedanke mich für das Vergnügen, das seine Bücher mir bereiten, und für alle Belehrung, schließe mit der Hoffnung, dass auf das eine übersetzte Gedicht andere Übersetzungen aus seinem Werk folgen werden. Ich zeichne „In tiefer Verehrung.“

Diese Verehrung blieb unvermindert, doch kamen hinzu: eine helle Freude um diesen Menschen herum, desgleichen ich nie wieder begegnete. Er wurde mir Bild und Begriff des sympathischen Menschen. Ehe ich ihm begegnet war, kannte ich nur Zu- und Abneigungen, entschieden, ohne Geräumigkeit und Verweilen. Das waren Geschenke Rychner, MaxRychners an mich. Er hat alles nach seinem Gewicht erkannt und eingeschätzt, doch nahm er in der Begegnung alles ohne Schwere. Die seitliche Neigung seines Kopfes, als würde er links oder rechts hinhorchen. Die helvetische Distanz, die er innehatte, ließ er mich nie merken, seine Augen sprachen: Du kannst mir nichts vormachen, doch bitte – versuchs! Öffnete er seine Augen, wars, um alles schon gesehen zu haben. Zu Hause nahm er die Dinge unter die Lupe und schrieb nur „bei näherem Zusehen“. Großherzig war er, aber nicht verschwenderisch; es war ihm um jedes Wort schade, wenns nicht gefunkelt oder bunt geschillert und gegoethet hatte. „Wenn Rychner, MaxRychner irgendwohin schaut, ist es eine Richtung, nimmt er sich etwas vor, wird daraus ein Maß“ steht in meinem Tagebuch, 1963.

* Max Rychner, MaxRychner: Antworten. Aufsätze zur Literatur. Zürich: Manesse 1961; vgl. Die Rede geht im Schweigen vor Anker, S. 41; Das Kommende ist nicht in Eile, S. 30–39; Vielzeitig, S. 279; vgl. Aberwenndig, S. 97 mit Anmerkung

** Aus „Glut und Asche“ (Zürich: Manesse 1945), dem ersten Buch Rychner, MaxRychners, das EB in Tel Aviv antiquarisch erworben hatte.

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 24. November 2000 Nr. 37

Was Handke, PeterHandke betrifft: Ich weiß, dass seine Aufnahme in Ihre Anthologie* Ihnen nicht nur viel bedeutete, sondern auch Freude machte, weil Sie Wege suchen aus der aphoristischen (Ein-)Öde. Das habe ich erkannt, geschätzt und beherzigt, ja, es brachte Sie mir menschlich noch näher. Fern wäre es mir darum, Ihnen die Freude zu trüben, aber Sie haben, meinte ich, Besseres verdient. Was Handke, PeterHandke bietet, ist zu wenig poetisch, wenig raffiniert, nicht übermäßig klug. Zwar nehmen seine Sätze sich aus, aber wohin und wie weit? Das ist nicht Allerweltsaphoristik, aber auch nicht „Weltliteratur“, die ich regelmäßig nehme. Würde es heißen, dass ich für mich selbst diesen Rang in Anspruch nehme? Ja, ich weiß, was ich tu, denn ich tu nichts anderes. Ich schreibe Einsätze, keine Aphorismen; nicht auf Kosten der Sprache, auch nicht in Gottes Gnaden. Es gibt eine Aristokratie der Erkenntnis, die ohne Repräsentanz auskommt.

* Aphorismen der Weltliteratur. Hg. von Friedemann Spicker, FriedemannSpicker. Stuttgart: Reclam 1999

An Burkhard Talebitari, BurkhardTalebitari, 20. Juni ‏2001 Nr. 38

Von Albrecht, Fabri Albrecht Fabri besitze ich den „roten Faden“* als List-Taschenbuch, das ich in den fünfziger Jahren in Tel-Aviv, ausnahmsweise regelrecht, gekauft habe – nicht antiquarisch, was die Regel für deutsche Bücher wäre. Es gehörte zu meinen ersten Anschaffungen neuer deutscher Literatur, und es ist mir lange treu und lieb geblieben; darum, weil Sie Fabri zu schätzen wissen, möchte ich Ihnen sein Buch schenken.

* Albrecht Fabri: Der rote Faden. München: List 1959. Vgl. A. F.: Der schmutzige Daumen. Gesammelte Schriften. Hg. von Ingeborg Fabri und Martin Weinmann. Frankfurt: Zweitausendeins 2000

An Erika Burkart, ErikaBurkart, 18. Oktober 2002 Nr. 39

Ich war froh, für eine Stunde Ihnen so nah sein zu können* wie nie zuvor. Das Zuvor freilich ist schon 40 Jahre alt. Vor vierzig Jahren war ich Max Rychner, MaxRychner zum erstenmal persönlich begegnet.

Er führte mich damals in die Schweizer Dichtung ein und machte mich auch mit Ihren Gedichten bekannt. Es folgten viele, die mein Herz erfreuten. Max Rychner, MaxRychner begleitet mich unentwegt, er hat auch Ihnen viel bedeutet. Dass Sie sich seinen „Lichtenberg, Georg ChristophLichtenberg”** besonders zu Herzen nahmen, habe ich mir gemerkt. Also sind Sie bereits 40 Jahre bei mir, und nun kamen Sie mit einmal mir so ganz nah.

* EB bekam (gem. mit Robert Menasse, RobertMenasse und Erika Burkart, ErikaBurkart) den Joseph-Breitbach-Preis der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz 2002.

** Aphorismen. Von Georg Christoph Lichtenberg, Georg ChristophLichtenberg. Hg. von Max Rychner, MaxRychner (Manesse-Bibliothek der Weltliteratur). Zürich: Manesse 1947

An Walter Helmut Fritz, Walter HelmutFritz, 18. ‏Oktober 2002 Nr. 40

Sie vergessen mich nicht, Sie nehmen sich meiner an, so schreibe ich weiter, und Sie verstehen, wie viel Dank für Sie schon das allein bedeutet. Aber mehr mag ich nicht sagen, und mehr könnten Sie auch nicht vertragen. Da stehen wir – Sie in Ihrem, ich in meinem Werk. In die Jahre kommend, sehen sie sich ähnlicher. Das sind große Geschenke, die Sie mir machten. Ich bin gerade an der vorletzten Fassung meines nächsten Hanser-Buches. Ein kleiner Abschnitt – Ohnmacht ist brutal – endet: „Grosse Worte / klein gesagt: / Aphorismen.“ Als ich das las, dachte ich, es träfe auf Ihre Gedichte zu, nur dass Sie eben in jedem Wort Dichter sind und dass man dazu ein kleines Wort mehr sagen müsste. Sie sind ein Augenmensch, Ihre Augen aber verfügen über das vollkommene Gehör. Bei anderen Dichtern freut man sich über kurz oder lang, bei Ihnen über das Maß selbst. Sie dürfen mich beneiden, dass ich Sie so gut zu beneiden verstehe. Auf Ihre Prosadichtungen möchte ich noch zu sprechen kommen. Das tue ich vielleicht am besten prosadichtend.

Seien Sie für alles, für vieles, für die Handvoll Hand (= Treue) bedankt.

An Matthias HerHermann, Matthiasmann, 29. November 2002 Nr. 41

Der gebeugte Klang*? – im Denken und – auch meiner – gedacht**, kommt rundum und frischmatt*** ein verlorener Sohn zurück zu mir, inspiriert und wohlvertraut inspirierend: Am liebsten würde ich Dir Strophe für Strophe antworten, oder auch nur Zeile für Zeile. Beglückend wärs, denn dazu tauge ich eben jetzt nicht. Vom Titel an bis „schlägt die Erde auf“ ein gelungenes, lohnendes Buch, zu dem ich Dir von Herzen gratuliere und danke. Für die Widmung Sonderdank! Von allem abgesehen freut es mich, dass Du nicht länger zögertest, denn mir schien, du bliebest zu lange vom Fenster weg.

* Matthias Hermann, MatthiasHermann: Der gebeugte Klang. Gedichte. Tübingen: Klöpfer & Meyer 2002

** Widmung: Für EB

*** Matthias Hermann, MatthiasHermann, von EB auch Matt genannt

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 25. November 2004 Nr. 42

Wie ernst die Geschichte des Aphorismus zu nehmen ist, kann man an Personen ausmachen, die nur herausgeberisch (einen Augenblick lang den Zeitpunkt bestimmend) von einiger Bedeutung waren, wie Margolius, HansMargolius. An ihm kann man mit größerer Gewissheit zeigen, was ein Aphorismus nicht ist oder „besser nicht sein sollte.“ Der gute Mann hat sich Jahrzehnte mit einer Gattung beschäftigt, von der er keine Ahnung hatte, über die er sich aber auch keine Gedanken machte. Aber er „beherrschte das Feld“ und hatte die Landschaft überflutet. Aber Sie sagen das ja selbst mehr oder weniger auch, nur: Sie haben das längere Maß und können auch einem Margolius, HansMargolius Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er hat nicht vergebens gewirkt, vielleicht haben seine eigenen Aphorismen, gegen die ich vollkommen immun war, auch „im besten Sinne“ Einfluss auf einige Seelen genommen. Schwer anzunehmen, leicht zu glauben. Er hat seine Aphorismen, falls Sie es nicht wissen, auch immer wieder im Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft veröffentlicht. ArthurHübscher, Arthur Hübscher war mit ihm befreundet, hatte jedenfalls ein Herz für ihn.

Ich lebte ja mehr in der Literatur als in meiner Zeit. Es genügt, dass ich alle Namen, manchmal die Werke, manchmal sogar die Personen kannte. Wenn ich nun sagte, Werner Kraft, WernerKraft hatte überhaupt keinen Einfluss auf mich, ebenso wenig Ludwig Strauß, LudwigStrauß, würde das etwas bedeuten? In jedem Fall müsste es geprüft werden, denn es liegt doch nahe. Ihre Schlussannahme* kann ich also nicht von der Hand weisen, die Franz Baermann Steiner, Franz BaermannSteiner, Franz BaermannSteiner gelesen und mir abgeschrieben habe**, sie mussten also Eindruck auf mich gemacht haben. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ich die Abschrift noch herausfinden könnte. Meine Wertschätzung Steiner, Franz BaermannSteiners als Dichter habe ich zitatweise wiederholt bekundet.

* Vgl. Friedemann Spicker, FriedemannSpicker: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert. Spiel, Bild, Erkenntnis. Tübingen: Niemeyer 2004, S. 793; dort zu Hans Margolius, HansMargolius S. 366–371 et pass., zu Werner Kraft, WernerKraft S. 351–354 et pass., zu Ludwig Strauß, LudwigStrauß S. 359–366 et pass., zu Franz BaermannSteiner, Franz Baermann Steiner S. 354–358 et pass.

** Sprachliche Feststellungen und Versuche. In: Merkur 10, 1956, S. 966–973; Sätze und Fragen. In: Neue Deutsche Hefte 3, 1956/57, S. 336–338

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 28. November 2004 Nr. 43

Ich bin Ihnen oder mir noch einen Nachtrag, Werner Kraft, WernerKraft* betreffend, schuldig. Ich musste wieder an ihn denken; meine Beziehung zu ihm war nicht einfach, sie war zuerst und auf längere Zeit negativ, was ich ihm auch zu verstehen gab. Dennoch begegnete er mir später, nach meiner Rückkehr, so entwaffnend unbefangen, dass ich mein Urteil über ihn revidieren musste und erst dann ihn wirklich kennen, ich meine zu schätzen und bisweilen auch zu lieben lernte. Liebenswert war er schon wegen seiner Liebe zur Dichtung, die beispiellos war. Dass ich ihm den Einfluss über mich absprach, hatte seinen Grund, war aber eng gedacht, auf sein Werk allein bezogen. Das gilt bei persönlicher, zuweilen naher Bekanntschaft nicht, und ich muss eben gestehen, dass Kraft, WernerKraft in einem Punkt einen bedeutenden Einfluss auf mich hatte und dies gerade, weil er mich zu schätzen wusste, so dass ich es damals annehmen konnte und heute anerkennen muss. Er sagte mir, ich sollte – anders als Kraus, KarlKraus – nicht nur über „das Wort“ schreiben, sondern auch über den Satz nachdenken. Das habe ich daraufhin getan: Das also ist sein direkter, guter und fruchtbarer Einfluss gewesen.

Würde ich noch länger über Kraft, WernerKraft nachdenken, ich fände sicher noch anderes, was ich ihm zu danken habe.

* Satzspiegel. Dem Andenken an Werner Kraft, WernerKraft. In: Filigranit, S. 67–84

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 1. Dezember 2004 Nr. 44

Beginnt man früh mit Aphorismen, kommt man um seine eigene Lebensgeschichte. Kraus, KarlKraus war fruchtbar und bildend in seiner Zeit, und der Erste Weltkrieg „schenkte“ ihm „Die letzten Tage der Menschheit“. Der Zweite Weltkrieg, obschon aus dem Ersten hervorkommend, war etwas ganz anderes. Die Nachkriegszeit erforderte natürlich ein Verständnis für die „Letzten Tage“ und besonders für die „Dritte Walpurgisnacht“, erforderte aber keinen Anschluss an den Feind der Presse, an den Kritiker „der Sprache“, also keinen Anschluss an Karl Kraus, KarlKraus. Es war vergebens, aber nicht umsonst, denn für eine Rückkehr Canetti, EliasCanettis* war er unerlässlich. Nicht für ein Verständnis Canettis war Kraus, KarlKraus entscheidend, aber für sein Selbstverständnis. Er selbst konnte sich nur über Kraus, KarlKraus als Aphoristiker verstehen und entwickeln. Er war ein Augenmensch, dem das Ohr zum Aug nicht fehlte, der aber erst durch „Die Fackel im Ohr“ hörsichtig geworden ist. Das war notwendig, aber nicht schwer, denn Kraus, KarlKraus konnte man immer wieder hören. Kraus, KarlKrausʼ „Nachbild“ prägten Rück-, nicht Heimkehrer.

Damit war der Grund für falsche Identifikationen gelegt. Das dauerte eine Weile, zum Glück nicht zu lange, bald zog die andere, politisch eindeutige und aktuelle Variante ins Land: Lec, Stanislaw JerzyLec. Er brachte mit sich allerlei Erleichterungen, so die Kraus, KarlKraus-Erleichterung. Das war ein großes Geschenk, von Dedecius, KarlDedecius großartig dem Volk beschert. Man hatte alles in einem, die ostwestliche Aktualität, den mangelnden politischen Witz, den sich nach Wien orientierenden Polen und ganz verschwiegen auch – den Juden. Man durfte Kraus, KarlKraus, dem seine Aphorismen nur das Kleingeld für den Großkrieg waren, vergessen. Mit diesem galizischen Juden beginnt die neue Geschichte des deutschen Aphorismus. Ich hätte Grund, mich zu freuen, doch ist mir Lec, Stanislaw JerzyLec „zum Verhängnis“ geworden.** Der Jude wurde durch Dedecius, KarlDedecius getauft: nicht zum Christen, aber zum Deutschen. Ohne auf Einzelheiten der Aphoristik und der Aphorismen eingehen zu wollen: Lec, Stanislaw JerzyLec wurde/wird nicht als fremder, nichtdeutscher Aphoristiker reflektiert, so bleibt er der „Rivale“, gegen den ich aufkommen musste und muss: nicht erst beim Publikum, schon beim Verleger. Die Verkaufszahlen lassen immer noch vergessen, dass er kein deutscher Sprachkünstler war. Der Pole ist durch den Erfolg Deutscher geworden, während ich der Israeli geblieben bin, was konkret besagt: Mich rezipiert man als Fremden. Und man würde wahrscheinlich, erführe man davon, staunen, dass mein Werk kein übersetztes ist.

Lec, Stanislaw JerzyLec war ein großer Mann, sein Werk von großen Folgen und meist segensreich. Ich bin für ihn, er aber, fälschlich als Deutscher rezipiert, ist gegen mich. Vom Format her, ohne es zu wollen, ohne mich zu kennen, ist er mein Gegenspieler geworden. Müsste ich einen handfesten Grund nennen, weshalb ich mich irrte, als ich mich Hanser verschrieben habe, es wäre: Lec, Stanislaw JerzyLec, nicht Canetti, EliasCanetti, der noch anderes war und eher für anderes stand (Aphoristiker war er nur für eine elitäre Oberschicht, im Übrigen auch nicht zum Lachen). Lec, Stanislaw JerzyLec bedeutete auch, dass Aphorismen sich verkaufen und geschäftlich nicht zu missachten sind. Wird das Unfrisierte auch frisiert, es verkauft sich immer noch. Ich bot mich Hanser aber nicht als einen Unfrisierten an. Der Unterschied war nicht schwer zu erkennen (der damalige Leiter des Hanser-Verlags – Christoph Schlotterer, ChristophSchlotterer*** – erkannte ihn auf den ersten Blick), die Differenz war aber groß. Die Verkaufszahlen sprachen für mich, aber gegen meine Bücher. Ich hatte keinen Namen und trat ohne Werbung in die Welt, es haben sich gleich 1000 Menschen und mehr gefunden, die sich bereit erklärten, meine Gedanken aufzunehmen und für sich fruchtbar zu machen. Das hat der Verlag zur Kenntnis genommen, und er beschloss, es dabei bewenden zu lassen.

Die großen Ost-West-Spannungen haben sich gelegt, der Aphorismus muss heute eine andere Rolle spielen, eine viel ernstere, doch steht heute Ernst für fad, und das Geschäft (um Gott z.B.) besorgen Sachbücher, die nicht zur Sache sprechen und nicht zu Buche schlagen.

* Vgl. Manfred Schneider: Augen- und Ohrenzeuge des Todes. Elias Canetti und Karl Kraus. In: Austriaca 6, 1980, Nr. 11, S. 89–101; Gerald Stieg: Elias Canetti und Karl Kraus. Ein Versuch. In: Modern Austrian Literature 16, 1983, H. 3/4, S. 197–210; Josef Quack: Über Elias Canettis Verhältnis zu Karl Kraus. Ein kritischer Vergleich. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 23, 1998, S. 118–141; Manfred Schreiber: Kritik der Paranoia. Elias Canetti und Karl Kraus. In: Der Überlebende und sein Doppel. Kulturwissenschaftliche Analysen zum Werk Elias Canettis. Hg. von Susanne Lüdemann. Freiburg: Rombach 2008 (Reihe Litterae 150), S. 189–213; zu Canetti, EliasCanetti vgl. Olivenbäume, S. 75f. et pass.

** Stanislaw Jerzy Lec, Stanislaw JerzyLec (1909–1966), polnischer Lyriker und Aphoristiker. In der Bundesrepublik erschienen viele Ausgaben seiner von Karl Dedecius, KarlDedecius übersetzten „Unfrisierten Gedanken“, von „Unfrisierte Gedanken“ (1959) bis „Sämtliche unfrisierte Gedanken“ (2007); vgl. Friedemann Spicker, FriedemannSpicker: Zur Rezeption von St. Jerzy Lec, Stanislaw JerzyLec in der deutschsprachigen Aphoristik. In: Convivium 2005, S. 141–161

*** Vgl. Olivenbäume, S. 109–115 et pass.; Vielzeitig, S. 295f.

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 9. Dezember 2004 Nr. 45

Ich kannte Kraus-Epigonen älterer und jüngerer Prägung. Älterer Prägung z.B. Engelmann, PaulEngelmann* und Kraft, WernerKraft**, jüngerer Prägung z.B. Klaus von Welser, Klaus vonWelser***, der, als ich ihn kennen lernte – auch dem Aussehen, dem Haarschnitt und der Brille nach –, ganz auf den jungen Kraus, KarlKraus stilisiert war. Die Alten und die Jungen sprachen alle von „der Presse“, und der junge v. Welser, Klaus vonWelser donnerte und wetterte gegen die Journalisten, als würde er eben gerade die nächste Nummer der „Fackel“ vorbereiten. Aber ein großer Satiriker, der auch hassen muss, um aus dem Hass seine Liebe zu retten, wird, wenns hochkommt, einmal in hundert Jahren geboren. Wer aber kein Satiriker ist, soll Kritiker werden und nicht Aphorismen schreiben „gegen die Presse und die Journalisten“. Das ist ein kluger Rat, aber Epigonen ist eben nichts zu raten. Die Themen entscheiden also, die Erweiterungen im Aphorismus sind oft nur scheinbare.

Ich habe die Briefe von Margolius, HansMargolius gesucht und vorläufig nur einen gefunden, mit dem ich gar nicht rechnete, der mir eben zeigt, dass ich vielleicht Grund hätte, mit einiger Dankbarkeit von ihm zu sprechen. Wieviel Dank versäumt man doch im Leben! Aus dem Brief geht hervor, dass er sich auf die Suche machte, einen Verlag für mich zu finden. Der Versuch fruchtete nicht, aber da tauchen Namen auf, die auch bei Ihnen vorkommen (für mich weniger erfreuliche, wie z.B. Peter Coryllis, PeterCoryllis****). Aber das wäre vielleicht für Sie eine noch zu erhellende Ecke, mit dem Namen Doerdelmann, BernhardDoerdelmann***** verbunden, der Lektor war oder mehr in Rothenburg ob der Tauber und Coryllis, PeterCoryllis wie andere dieser Art, aber auch eine Reihe deutsch-israelischer Schriftsteller herausgab. Er gab auch eine Zeitschrift heraus. Seine Frau besuchte mich hier einmal und bat mich um Aphorismen, die wahrscheinlich dort auch abgedruckt wurden. Es ist lange her. Margolius, HansMargolius erwähnt in seinem Brief vom 25. Sept. 1974 auch Sigmund Graff, SigmundGraff******. Der Brief enthält die entwaffnende Antwort auf meine listige Frage, die für mich grundsätzlich war und ich jedem stellte, der vorgab, vom Aphorismus etwas zu verstehen: Wie stehen Sie zu Heuschele, OttoHeuschele (mein „rotes Tuch“)*******? Hier seine Antwort: „Die Aphorismen von OH kenne ich und besitze ich. Ich schätze sie sehr, soweit sie sich unmittelbar mit dem Leben und dem Menschen befassen. Die, in denen er zur Literatur und Kunst Stellung nimmt, stehen mir etwas ferner.“

Lec, Stanislaw JerzyLec ist natürlich im obigen Kontext von Epigonentum ein Kapitel für sich, in seiner Nachfolge gibt es fast nur Epigonen. Ob er in irgendeinem Sinn auch Schule machte, muss noch herausgestellt werden. Um seine Größe und Einfluss wirklich ausmachen zu können, muss man natürlich in die Ostländer, wo er und seine Sprache zu Hause waren.

* Vgl. Anm. zu Brief Nr. 46 und Brief Nr. 50

** zu Werner Kraft, WernerKraft vgl. Brief Nr. 42, 43

*** Klaus von Welser, Klaus vonWelser (1942–2014), Germanist und Aphoristiker, 1969 bis 1982 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bibliographia Judaica

**** zu Peter Coryllis, PeterCoryllis: Friedemann Spicker: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert, S. 488–490

***** Bernhard Doerdelmann, BernhardDoerdelmann (1930–1988), Verlagsdirektor, Lyriker, Erzähler, Hörfunkautor und Lektor; vgl. Aberwenndig, S. 418

****** zu Sigmund Graff, SigmundGraff: Friedemann Spicker, FriedemannSpicker: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert, S. 481–488 et pass.

******* zu Heuschele, OttoHeuschele vgl. Brief Nr. 24

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 14. Dezember 2004 Nr. 46

Paul Engelmann, PaulEngelmann (1891–1965) war ein Schüler von Adolf Loos, AdolfLoos, mit Kraus, KarlKraus und besonders mit WittgenWittgenstein, Ludwigstein befreundet. In seinen letzten Lebensjahren habe ich viel Zeit mit ihm verbracht, da stand meine Aphoristik in ihrer Blüte, sein Verständnis für mich war groß. Im Wittgenstein-Jahrbuch 2001/2002 schreibe ich auch darüber (auf S. 424 finden Sie einige von Engelmann, PaulEngelmann übersetzte Aphorismen).* Für meine Anfänge ist dieser Beitrag von Bedeutung, er wird Sie gewiss interessieren.

Ein schwieriges Kapitel für mich war und blieb die Schweizer Aphoristik, die mit Ludwig Hohl, LudwigHohl** ihren Canetti bekommen hat (den Canetti, EliasCanetti auch verehrt hat). Ich habe mich für ihn lange nicht interessiert, bis Adolf Muschg, AdolfMuschg 1985 (?) mich in Zusammenhang mit ihm brachte, da wurde ich neugierig, kaufte gleich zwei Bücher von ihm, wurde aber nicht warm. Das eine Buch habe ich gleich weitergegeben, behalten habe ich mir „Nuancen und Details“, vielleicht des Propheten Jona wegen (S. 65, auf der er auch Lichtenberg, Georg ChristophLichtenberg zitiert).

Muschgs Schwärmen für Hohl, LudwigHohl wird von Hugo Loetscher, HugoLoetscher ironisiert (Hugo Loetscher, Lesen statt Klettern. Aufsätze zur Literatur der Schweiz. Zürich: Diogenes 2003, über LH S. 210–233); zum Mythos LH empfehle ich Ihnen sehr J. R. von Salis, Notizen eines Müßiggängers. Zürich: Orell Füssli 4. A.1984, S. 160ff.

Mynona (Salomo Friedländer)Mynonas „Schöpferische Indifferenz“ – einschließlich der Aphorismen am Ende des Buches – verdient größere Beachtung.

Aus meinem Leben, weil Sie das interessiert:

Ich kann mir denken, dass Schopenhauer, ArthurSchopenhauers „Aphorismen“ über das weibliche Geschlecht mir Eindruck machten und mich in meiner Jugend freuten, da sie meine pubertäre „Erfahrung“ zu bestätigen schienen. Darüber schämte ich mich später, und das war der Hauptgrund dafür, dass ich in den siebziger Jahren Ronner, Markus M.Ronners Verleger*** verboten habe, Aphorismen von mir abzudrucken. Das billige Herziehen über die Weiber durch die Bände war mir zuwider. Das brachte mich in Konflikt mit Hanser, CarlHanser (der den Abdruck schon genehmigt hatte), und natürlich war es auch das Ende meiner Mitarbeit an der „Weltwoche“.**** Die Schweiz war mir in den sechziger Jahren, vor allem Margarete Susman, MargareteSusmans und Max Rychner, MaxRychners wegen, eine zweite Heimat. Von Max Rychner, MaxRychner, einem Aphoristiker zwischen Goethe, Johann Wolfgang vonGoethe und Valéry, PaulValéry, spreche ich jetzt nicht, er gehört in meine Autobiographie, dort könnte ich ihm vielleicht gerecht werden. Was er über Aphoristiker geschrieben hat, wiegt seine eigenen Aphorismen auf.*****

Wie kommt es, dass alle Wortspieler, ob von Ost oder von West kommend, ein pessimistisches Menschenbild haben? Pessimismus ist ein Mechanismus und entspricht dem wortspieligen Bandfabrikat. Dieses Bild vom Menschen ist ein trügerisches, kein Mensch ließe sich hinter diesem finden. Was es mit dem Menschenbild auf sich hat, glaube ich in einer Begegnung erfahren zu haben. Vor vielen Jahren hat Gabriel Laub, GabrielLaub****** eine Lesung mit mir in Hamburg organisiert. Nach der Lesung kam der Aphoristiker E., den ich nicht kannte, auf mich zu, – ob er sich mir vorstellte? – und begann sofort, seine Reime in meine Ohren zu schütteln, es war eine ununterbrochene Kette, von der mir ein Glied in Erinnerung geblieben ist: „Ich sitze hier am Mittelmeer / und habe keine Mittel mehr.“ Schüttelreime prägen sich leicht ein, so prägte sich mir auch ein anderer, den mir Wilhelm von Scholz, Wilhelm vonScholz – ich kannte ihn noch – ins Ohr flüsterte: „Als Gottes Atem leise ging / schuf er den Grafen Keyserling, EduardKeyserling.“ Nach Hamburg zurück: Was hat der Aphoristiker, nach meiner Lesung, von mir gehalten? Was sollte ich von ihm, nach seiner Reimkanonade, denken? War er gekommen, um mir zuzuhören und vielleicht mit mir zu sprechen? Ich werde das nie erfahren, ist das aber, auch wenn ich es nicht als Demonstration bewerten wollte, nicht schon Erfahrung genug? Er ist der bessere, er kann mehr und kann mir das auch gleich beweisen – hier! Aber er irrte sich in mir. Ich gebe mich leicht und gern geschlagen, mir fällt es nicht schwer, Fähigkeiten zu schätzen, auch zu bewundern, wenn sie groß sind. Er war in Schütteln und Reimen der Gewandtere und Bessere. Beides will gekonnt sein! Schüttelreimend trug er also den Sieg davon. Warʼs ein Sieg? Der Sieg, den er meinte, der Sieg, den er wollte. Und das war für ihn auch schon die Geschichte des Aphorismus in ihrer letzten Konsequenz, für mich hingegen die lebendige Erfahrung, die mir fehlte. Ich glaubte zu verstehen, warum ich nicht Aphoristiker sein wollte, und sei es um den Preis, dass ich in die Geschichte der Gattung nicht hineinkommen werde. Nun wusste ich warum, denn ich habʼs am eigenen Leib zu verstehen bekommen. Davon also versuchte ich mich abzusetzen.

* EB: Paul Engelmann, PaulEngelmann, Der Andere. Ein Teppich, aus Namen geknüpft, zu seinem Gedenken aufgerollt. In: Wittgenstein-Jahrbuch 2001/2002, S. 369–427; Variationen, S. 9f.; Allerwegsdahin, S. 52–57, 91; vgl. Das Mehr gespalten, S. 193f.; vgl. Vielzeitig, S. 278f. et pass.; vgl. Aberwenndig, S. 55f, 239–248; vgl. Ilse Somavilla: „Die Leiden des Geistes.“ Ludwig Wittgenstein und Elazar Benyoëtz. In: Korrespondenzen, S. 176–192

** Zur Schweizer Aphoristik und zu Ludwig Hohl, LudwigHohl vgl. Friedemann Spicker, FriedemannSpicker: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert, S. 559–616

*** Markus M. Ronner, Markus M.Ronner, Anthologist, Benteli-Verlag

**** Die Weltwoche, Zürich

***** Max Rychner, MaxRychner: Bei mir laufen Fäden zusammen. Literarische Aufsätze, Kritiken, Briefe. Hg. von Roman Bucheli. Göttingen: Wallstein 1998 (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 74); vgl. Allerwegsdahin, S. 96f.; vgl. Vielzeitig, S. 279; vgl. Aberwenndig, S. 97

****** Gabriel Laub, GabrielLaub (1928–1998), tschechisch-deutscher Schriftsteller. Floh nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 nach Hamburg. Dort erschienen seine Aphorismensammlungen in deutscher Sprache; vgl. Friedemann Spicker, FriedemannSpicker: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert, S. 667–670

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 20. Januar 2005 Nr. 47

Als Sie mir schrieben, Sie wollten sich mit seiner [Lec, Stanislaw JerzyLecʼ] Rezeption befassen, stellte ich fest, dass ich kein Buch von ihm habe – und bestellte mir die „Sämtlichen …“ bei Hanser.* Gestern trafen sie ein, und nachts habe ich darin gelesen, nicht brütend, aber mit Bleistift, und habe den ersten Teil (54 Seiten) auch hinter mir. Die erneute Lektüre – nach dreißig Jahren – war so verblüffend wie ernüchternd. Darüber würde ich gern mit Ihnen sprechen. Da ich noch viel zu lesen habe, will ich jetzt nichts „Abschließendes“ sagen, obschon der Eindruck notwendig derselbe bleiben müsste, denn schon der erste zeigte mir „die Einheit des Geistes“: Lec, Stanislaw JerzyLec bleibt Lec, nur ist er weniger geworden. Er hat genug Geist und Witz, den Ost-West-Konflikt zu überleben, nur wird die Überlebensqualität geringer, jedenfalls im Deutschen. In Polen ist er Klassiker, in Deutschland Erfolgsautor. Den kleinen Unterschied macht das Ganze der Sprache aus. Also spreche ich nur vom „deutschen“ Lec, Stanislaw JerzyLec. Das Billige überwiegt, es macht das Werk aber nicht minderwertig. Über diesen Punkt will ich nachdenken, und vielleicht mit Ihnen. Ohne mich hinzuzurechnen, frage ich mich, wieso Lec, Stanislaw JerzyLec und Canetti, EliasCanetti gleichzeitig wirken konnten, auch wenn sie scheinbar aus der gleichen Schule (nennen wir sie vorsichtig „Wien“) kommen. Aphoristik in den sechziger-siebziger Jahren, das waren in der Hauptsache doch Lec, Stanislaw JerzyLec und Canetti, EliasCanetti, (die „Suhrkamp-Aphoristik“ von Ost und West ist eine Kategorie für sich), wobei der erste der populärere war. Canetti, EliasCanetti war mit dem Ost-West-Konflikt nur massenmächtig beschäftigt, nicht humanhumoristisch.

* Siehe Anmerkung zu Brief Nr. 44

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 1. Februar 2005 Nr. 48

Eben finde ich – in Abschrift – den Auszug aus einem Margolius, HansMargolius-Brief* – die Antwort auf meine direkte Frage:

„Ich bin nicht von der Literatur, sondern von der Philosophie zum Aphorismus gekommen. Vielleicht liegt es daran, dass ich eigentlich (wie ich zu meiner Schande gestehen muss) keine klare und feste Definition des Aphorismus habe. Eigentlich akzeptiere ich jede kurze Darstellung einer Einsicht, einer Ansicht, einer Überzeugung, eines Ausblicks als Aphorismus. Von den „Klassikern“ des Aphorismus stehen mir wohl Joseph Joubert, JosephJoubert und Marie von Ebner-Eschenbach, Marie vonEbner-Eschenbach am nächsten. Natürlich hätte ich in meiner Auswahl aus Ihren Aphorismen wenigstens eine Reihe von Sätzen, die charakteristisch für Sie persönlich sind.“ (Miami, Florida, 5.4.1977)

* Vgl. Brief Nr. 42 mit Anmerkung

An Harald Fricke, HaraldFricke, 10. Februar 2005 Nr. 49

Ein Abschiedsdank an Annette Kolb, AnnetteKolb*

„Ja, wie am Straßburger Münster, sie sind so blind.“ (Annette Kolb, AnnetteKolb an René Schickele, RenéSchickele)

Sie steht – die Straßburger ‚Synagoga‘ – zwischen ihr und Schickele, dem Elsässer. Ist ‚Synagoga‘ aber nicht überall und immer die Blinde? Musste sie örtlich bestimmt werden? Ja, sie musste, denn freilich ist die Straßburger ‚Synagoga‘ so blind wie jede andere, doch im Gegensatz zu anderen ist sie von innerer Klarheit und äußerer Anmut; Hoheit und Ergebung ausstrahlend. Sie ist die in Niedergeschlagenheit Thronende. Sie hat alles in sich und an sich, nur keine Macht in Händen.

Die andere, die Rivalin, Ecclesia, hat alle Macht in Händen; sie, Synagoga – allen Zauber an sich.

Darüber, dass sie die Macht entbehren kann, gibt die Augenbinde Aufschluss. Während Ecclesiaʼs Macht und Herrlichkeit nicht zu übersehen sind, zieht Synagoga alle Aufmerksamkeit auf sich; kein Augenblick, der gern bei der Machtvollen verweilte. So steht sie vor uns: gebrochenen Zepters, doch nicht gebrochenen Mutes; nichts habend, nur gewinnend.

* Siehe Anm. zu Brief Nr. 20, 27

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 7. Mai 2005 Nr. 50

Im Anschluss finden Sie einige Seiten, sie mögen Sie erfreuen

Karl Kraus, KarlKraus in Tel Aviv

Paul Engelmann war zu sechzig Prozent Kraus, KarlKraus-geprägt, davon hatte er hundert Prozent auf mich übertragen. Ich war Kraus, KarlKraus-geweiht, noch ehe ich ein Wort von ihm kannte, ja noch ehe ich des Deutschen kundig genug war, um einen Aphorismus von ihm verstehen zu können. Überzeugt, Engelmann, PaulEngelmann sei die Stimme Karl Kraus, KarlKraus’, hatte ich es auch nicht für nötig gehalten. Ich hatte Kraus, KarlKraus lautlich vor Augen, aus all seinen Mundwinkeln und Gesichtszügen traten die Worte hervor, und er – mir zugewandt – presste aus ihnen das Öl, einzig für mich, der ich ohne Verdienste war und doch, wie ich glaubte, gesalbt werden sollte. Dreißig Jahre lang war Paul Engelmann, PaulEngelmann Karl Kraus, KarlKraus in Tel Aviv gewesen, „nun werde ich es sein“, mochte ich bei mir gedacht haben. Aber ich war nicht zu sechzig Prozent Kraus-geprägt, mein Denken war hundertprozentig hebräisch, und ich kannte keinen anderen Wunsch, als hebräische Gedichte zu schreiben. Wo immer der Anfang meines Gedankens war, er fand im Vers sein Ende.

Paul Engelmann, PaulEngelmann, er selbst, geistvoll und leibhaftig, war meine Poetik. Und das schon bald nach unserer Bekanntschaft, als ich Mut zur Prosa fasste. Das war begründet in einer Begegnung mit der geringfügigen, unscheinbaren Prosa von Jakob van Hoddis, Jakob vanHoddis – und in der Lustwandelschaft meiner Freundin Nahida. Ihre Erotik erwachte durch meine Schrift, nicht unter dem Apfelbaum.

Sie war eine Schriftbewegte mit dem absoluten Gehör und einem Herz für Engelmann, PaulEngelmann, der ihr gern bis tief in die Nacht hinein vorgetragen und -gesungen hat. Ihr habe ich versprochen, jeden Tag, wenn sie mich besucht, eine handvolle, handgeschriebene Prosageschichte vorzulegen.

In acht Tagen waren es sieben geworden. Die erste erschien in Hapoel Hazair vom 9. 1. 62 und war Paul Engelmann, PaulEngelmann gewidmet.* Engelmanns Übersetzungen aus dem Hebräischen waren gleichsam der Anfang meiner deutschen Aphoristik.

* Es folgen Auszüge aus dem Briefwechsel mit Engelmann, PaulEngelmann aus den 60er Jahren; vgl. Anmerkung zu Brief Nr. 46

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 7. Mai 2005 Nr. 51

Clara von Bodman, Clara vonBodman* war die wichtigste Freundschaft meines Lebens. Ich habe sie 1966 in ihrem Haus in Gottlieben kennengelernt und blieb mit ihr bis zu ihrem Tod im Jahre 1982 verbunden.

Für sie habe ich mein Deutsch aufrechterhalten, zehn Jahre einzig für sie auf Deutsch gedacht und geschrieben. „Du bist ich“, sagte ich zu ihr, sagte sie zu mir. Also war’s der ideale Weg, mein deutsches Selbstgespräch voranzutreiben. Wir wechselten jede Woche wenigstens einen Brief. Meine Briefe waren selten kurz, sie trugen mehr und mehr Charakterzüge eines deutschen Tagebuchs, in dem ich ihr meine hebräische Gedankenwelt erschloss, denn ich lebte, nach meiner Rückkehr aus Deutschland, 1968, wieder ganz im Hebräischen. Meine Briefe an Clara von Bodman, Clara vonBodman bildeten auf Jahre hinaus die Quelle meiner Aphorismen. Mein Wort war ein gerichtetes, und der Mensch, an den es gerichtet war, war der richtige. In diesem Wort sind Glück und Dank ausgesprochen. Nach dem Tod Clara von Bodman, Clara vonBodmans habe ich mich vier Jahre mit der Sichtung unseres Briefwechsels beschäftigt. Diese Beschäftigung, die viele nur verwunderte, war meine späte – und viel später erfolgreiche Schule der Prosa. Prosa ist eine Poesie für sich. Das Schreiben Satz für Satz erfordert eine höhere Schule als das Schreiben Wort für Wort oder Zeile um Zeile. Ich ging ungern zur Schule, nun musste ich bei mir und sogar von mir lernen. Es war alles schon da, schon lange da, es fehlte nur das eine „es werde!“.

* Vgl. Anm. zu den Briefen Nr. 1, 27

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 8. Dezember 2005 Nr. 52

Es ist nur folgerichtig, dass ich Ihrem Lieblingskind* etwas Grundlage und Nährstoff zuführen möchte, beginnend mit meinem Briefwechsel mit Hans Margolius, HansMargolius**, der vielleicht kein großer Aphoristiker war, aber sich große Verdienste um diese Gattung nach 1945 erworben hat. Er war im Kleinen Ihr Vorgänger, seine Sammlungen werden ihren Wert behalten, weil sie nach dem Kahlschlag da waren. Mir diente er zur Klärung meiner frühen Positionen – ohne Zuspitzung. Ich wusste bald Bescheid und blieb ihm trotzdem dankbar und persönlich geneigt. Er war sicher ein guter Mensch und ein bescheidener Denker. Er versuchte auch, mir bei der Verlagssuche zu helfen, vergeblich. Alles, was dazu gehört oder gehören mochte, will ich „Hattingen“ überlassen, also wird noch manches hinzukommen, den Grundstock bilden eben die Briefe Margolius, HansMargolius’ und meine Antworten bzw. Entwürfe, die manchmal schwer leserlich sind, wahrscheinlich auch ab und zu von der endgültigen Antwort abweichen. Wo sein Nachlass ist, weiß ich nicht. Die heutige Sendung enthält wahrscheinlich auch nicht alle Briefe, doch diese waren in einem Bündel, die anderen müssen sich erst finden, sie kämen dann hinzu. Ferner möchte ich dem Aphorismus-Archiv eine Reihe von Typoskripten überlassen, die entweder von der endlichen Ausgabe abweichen oder nie zum Abdruck gelangt sind. Auch möchte ich den Hanser-Verlag bitten, meine Bücher, sofern sie vorrätig sind, wie auch Herrn Walther Wölpert, WaltherWölpert***, die Herrlinger Drucke an das Aphorismus-Archiv zu schicken. Ferner gedenke ich, eine Reihe Personen zu bitten, meine Briefe an sie dem Archiv zur Verfügung zu stellen, sei es im Original, sei es in einer Kopie, so dass sich im Archiv nach und nach eine kleine Benyoëtz-Ecke ausbildete.

* Deutsches Aphorismus-Archiv Hattingen, gegründet 2004

** Vgl. Briefe Nr. 42, 48

*** Siehe Verzeichnis der Briefpartner(innen)

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 11. Januar 2006 Nr. 53

Man kennt mich nicht, weil man mich nicht sieht. Die wenigen Lesungen machen kein Ansehen aus. Nun war ich Arnold, Heinz LudwigArnold* in Darmstadt begegnet – und lustig: Ich stand vor dem Aufzug, er kam auf mich zu – er dachte an den Aufzug –, glaubte einen alten Freund zu sehen, fiel mir um den Hals und – ja, ich zwang mich da auch zu einer Vorstellung, meinetwegen, dachte ich – und sagte halbfragend: Harald? „Heutzutage“ verändert sich der Mensch doch so leicht, und Harald Weinrich, HaraldWeinrich** habe ich sicher zwei Jahre nicht gesehen, wer weiß? Wir sahen unsern Irrtum ein und versuchten, das Beste daraus zu machen, wir sprachen eine Stunde über Ernst Jünger, ErnstJünger, dessen Sekretär er war. Ich ließ ihn erzählen, das allein war schon ein Geschenk, wer erzählt nicht gern eine ganze Stunde von sich oder von sich und Ernst Jünger, ErnstJünger? Und dann unser Briefwechsel. So gehtʼs, lieber Herr Spicker, FriedemannSpicker, in der Literatur zu. Lässt man reden, gewinnt man Sympathie. Nicht dass Ihre wiederholte Mühe umsonst war, nur – wer ist, wer war denn schon Benyoëtz? Und Benyoëtz – unter uns – wäre vielleicht auch jetzt nicht der Rede wert, Benyoëtz und Jünger, ErnstJünger aber! Das ist etwas ganz anderes, dann ist er vielleicht unsereins! Also darf Spicker, FriedemannSpicker im EKG oder KGB über diesen Hebräer schreiben.***

* Heinz Ludwig Arnold (1940–2011), Publizist, bedeutender Vermittler der Gegenwartsliteratur (z.B. in Gesprächen), Herausgeber u.a. des Kritischen Lexikons der Gegenwartsliteratur, 1961 bis 1964 Privatsekretär bei Ernst Jünger, ErnstJünger

** Siehe Verzeichnis der Briefpartner(innen)

*** Friedemann Spicker, FriedemannSpicker: Elazar Benyoëtz. In: Kritisches Lexikon der Gegenwartsliteratur. Hg. von Heinz Ludwig Arnold, Heinz LudwigArnold. München: text und kritik. S. 1–10, A-F. 85. Nachlieferung März 2007

An Hans-Martin Gauger, Hans-MartinGauger, 19. September 2006 Nr. 54

Ich habe Deinen Erfahrungsbericht* gelesen, er ist ein geglückter, klassischer „Gauger, Hans-MartinGauger“, zu dem ich Dir einmal schreiben müsste, alle „Schlüssel“ dazu liegen in diesem Prosa-Text „offen zu Tage“, man könnte ihn fast als künstlerisch raffiniert betrachten – und das wäre ja die Frage: Ist es Literatur, ist es Unterhaltung? Es ist sicher nicht Unterhaltungsliteratur, so unterhaltsam es auch ist und so heiter es sich gibt. Die ernsthaftesten Probleme – der Wissenschaft und der Zeit – werden allen Ernstes nicht nur gestreift, sondern eben auf Gaugersch bezeugt, wozu für mich alle Namen, ohne Ausnahmen, gehören. Das für mich Schöne ist, dass ich Dich mittendrin sehe: Du nennst die Probleme, Dein Standort steht fest, Du verschluckst Dich nicht beim Aussprechen des „Symbolworts“ Auschwitz, aber du stehst nicht mit der Kreide vor der Schwarzen Tafel des Weltgerichts und zählst ausdrücklich zu Deinen Lehrern und Freunden Menschen, die „Dreck am Stecken“ hatten. Du weißt, was Du weißt, und lässt keine Missverständnisse aufkommen, im Übrigen aber stehst Du im Licht wie im Zwielicht, weil es sich menschlich so gehört. „Ich bin nicht die Posaune deines jüngsten Tags“, heißt es bei mir. Der Prophet Elija (Prophet)Elija aber sagte „Ich bin nicht besser als meine Väter“.

Ich denke da an Hugo Friedrich, HugoFriedrich**, der mir lange in vielem maßgeblich war, ich denke vor allem an Kurt Wais, KurtWais, dessen dicker, schwerer „Mallarmé, StephaneMallarmé“*** mich seit vierzig Jahren begleitet (erschienen übrigens in Deinem Verlagshaus). In meiner einfältigen Spätjugend hielt ichs gar für mutig, dass er in der „Literatur“ zum Buch den Juden Karl Wolfskehl, KarlWolfskehl erwähnte. Kannst Dir denken, wie sehr mich Deine Erinnerungen an ihn interessierten? Vom „unbehausten Menschen“ wusste ich recht früh, von Holthusen, Hans EgonHolthusen**** nicht wenig aus Rychner, MaxRychner, MaxRychners Munde zuerst, der ihm mit einem anerkennenden Zeitungsartikel den Weg bahnte, später – und sehr kritisch – aus Auden, Wystan HughAudens Mund, schließlich aber aus dem seiner Schwester, die mich hier besuchte, mit der ich einen ganzen unvergessenen Tag verbrachte und die sich wenig später das Leben nahm.

Ist es eine „Hauptsache“? Man könnte glauben, müsste aber nicht denken: Du kommst gegen Ende darauf zu sprechen. Das finde ich großartig, wie wenn Du sagen würdest: Das muss nicht gesagt, darf aber nicht verschwiegen werden – so kommst Du auch wieder auf die 68er zu sprechen. Wie gesagt, ich finde Deine Ausschweifung – das wollte ich als „Gattung“ für mich in Anspruch nehmen, sehe mich genötigt, sie mit Dir zu teilen – als eine Dir gemäße, an sich geglückte Form, Haartracht und Glatze unter einen Hut zu bringen. Und ich denke im Ernst, Du solltest aus Deiner Not eine große Tugend machen, will sagen – ein Buch. Ich sehe auch die Nachteile, die Kritiker monieren würden, halte Deinen Weg in der Literatur dennoch für gerechtfertigt und gut. Es sieht so aus, als würdest Du Dich gehen lassen, ich meine: Das gerade sollst Du, denn es ist gerade.

* Hans-Martin Gauger, Hans-MartinGauger: Was wir sagen, wenn wir reden. München: Hanser 2004

** HugoFriedrich, Hugo Friedrich (1904–1978), Romanist an der Universität Freiburg; Die Struktur der modernen Lyrik. Hamburg: Rowohlt 1956

*** Kurt Wais, KurtWais (1907–1995), Romanist an der Universität Tübingen; Mallarmé, StephaneMallarmé. Ein Dichter des Jahrhundert-Endes. München: Beck 1938, 2. erweiterte Auflage 1952

**** Hans Egon Holthusen, Hans EgonHolthusen (1913–1997), Literaturwissenschaftler, Essayist und Kritiker; Der unbehauste Mensch. Motive und Probleme der modernen Literatur. Essays. München: Piper 1951

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 27. März 2007 Nr. 55

Ich freue mich schon auf Ihre kleine Geschichte*, die mich an die „Kleine Geschichte der deutschen Literatur“ von Klabund (Alfred Henschke)Klabund** erinnert, eines meiner ersten – und damals auch liebsten – deutschen Bücher. Es lag ein zauberhafter Schleier über der Literatur damals, der Impressionismus übertrieb seine Blüten, Herbert Eulenberg, HerbertEulenberg hatte seine kleine Gattung erfunden, die „Schattenbilder“***, die ich mit großer Freude las, mit leichter Hand entwarf er Gesichter zu den Werken. Noch stehen seine Bücher hier bei mir, aber ich wage sie nicht mehr zu lesen. Und doch wünsche ich mir, jemand schriebe heute so ähnlich, mit Liebe und Esprit.

* Friedemann Spicker, FriedemannSpicker: Kurze Geschichte des deutschen Aphorismus. Tübingen: Francke 2007

** Klabund (Alfred Henschke)Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig: Dürr & Weber 1923

*** Herbert Eulenberg, HerbertEulenberg: Schattenbilder. Berlin: Dt. Buchgemeinschaft 1929

An Hans-Martin Gauger, Hans-MartinGauger, 28. Januar 2008 Nr. 56

Golo Mann, GoloMann – Du folgst Deinem Gefühl, gegen Ende bricht Deine Liebe durch.* Das wiederholt sich bei Dir des Öfteren, und ich frage mich, ob Du es bist oder Deine Stil gewordene Art, denn Du bist ja kein Gehemmter. Betrachte ich alle „Erinnerungsstücke“, die Du mir in den letzten Jahren zukommen ließest, so meine ich, dass Du „memoirenreif“ geworden bist. Es wäre schade, zögertest Du länger damit, zumal Du einen guten, geeigneten Verlag hast.** Memoiren mit Briefwechsel – in einem oder getrennt. Deine Gedanken, die in Dir noch kochen und sieden, wären dabei nicht verloren, kämen vermutlich noch leichter und reicher zum Ausdruck. Du stehst herum – und willst erzählen – tu das doch! Du hast dem Gedenken an Golo Mann, GoloMann gut gedient, offenherzig. Ich danke Dir für dieses Bild aus mehreren Zeiten, mit allen Namen, die dazugehören, wie Wiechert, ErnstWiechert*** und Bergengruen, WernerBergengruen**** (den kannte ich noch), und wozu für mich, ungenannt, auch Karlheinz Deschner, KarlheinzDeschner***** gehört mit seinem „Kitsch, Konvention und Kunst“ (1957).

Beim Lesen empfand ich eine einzige „Nebenstörung“, die ich Dir nicht vorenthalten will. „Es fehlt einem ja oft die Phantasie für Naheliegendes.“ Das ist ein Kernwort, spricht aber nicht nur beiläufig gegen Dich. Alles Gebeichtete gehört zur Sache, es kommt aber der Punkt, für den man büßen muss. Du hast den Kranken nicht besucht, dafür musst Du büßen, das kannst Du nicht beichtlings gutmachen; anständiger wäre, behieltst Du dieses Faktum für Dich.

Irrungen/Wirrungen – Irrtum/Wirrtum: dennoch gefällt es mir wie Dir.

Die Bemerkungen zu Joachim Fest, JoachimFest****** sind mehr elegant als nobel: volltrefflich. Den Briefwechsel Kraft, WernerKraft – Lehmann, WilhelmLehmann******* würde ich gern lesen, es muss, wie die Bemerkung über Benn, GottfriedBenn vermuten lässt, ein blühender Holzweg sein. Gottfried Benn, GottfriedBenn ist ein Stein des Anstoßes, kein Stolperstein der Poesie.

Lehmann, WilhelmLehmann warf mit großen Schatten um sich, Kraft, WernerKraft blieb lange im Schatten, nun treten beide schattenreich wieder ans Licht, mit einer Fülle von Namen, nehme ich an, die Verheißungen waren und Verkalkungen sind. Ob ich Kraft, WernerKraft kannte? Als ich ihn zu kennen glaubte, kannte ich ihn nicht. Nun glaube ich wieder …

* Golo Mann, GoloMann: Erinnerungen und Gedanken. Lehrjahre in Frankreich. Hg. von Hans-Martin Gauger, Hans-MartinGauger. Frankfurt am Main: S. Fischer 1999

** Beck Verlag, München

*** Ernst Wiechert, ErnstWiechert (1887–1950), 1930 bis 1950/60 einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren, zählt zur sog. Inneren Emigration („Das einfache Leben“, 1939).

**** Werner Bergengruen, WernerBergengruen (1892–1964), Schriftsteller („Der Großtyrann und das Gericht“, 1935)

***** Karlheinz Deschner, KarlheinzDeschner (1924–2014), Kirchen- und Literaturkritiker („Kriminalgeschichte des Christentums“, 10 Bände 1986–2013, „Kitsch, Konvention und Kunst“, 100. Tsd. 1962, „Talente, Dichter, Dilettanten“, 1964), Aphoristiker

****** Joachim Fest, JoachimFest (1926–2006), Journalist, Historiker („Hitler“, 1973, „Speer“, 1999), Herausgeber („Frankfurter Allgemeine Zeitung“)

******* Werner Kraft, WernerKraft – Wilhelm Lehmann, WilhelmLehmann: Briefwechsel 1931–1968. Hg. von Ricarda Dick (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt in Verbindung mit dem Literatur- und Kunstinstitut Hombroich; Bd. 89). Göttingen: Wallstein 2008; vgl. die Exzerpte daraus in der wikipedia-Biographie WilhelmLehmann, Wilhelm Lehmanns (1882–1968), Schriftsteller (Autobiographie, Naturlyrik)

An Hans-Martin Gauger, Hans-MartinGauger, 7. August 2008 Nr. 57

Ich danke Dir für die Einsicht, die Du mir gewährst. Deine Rezension* ist so gut, wie man sie sich wünscht, Du kannst sie guten Herzens verabschieden. Alles abwägend und dem einen doch mehr gewogen als dem anderen. Auch dies mehr Kraft denn Stoff**. Die Poesie bleibt im Bild, wird nicht abgeklatscht. Und alles „Nebenbei“, wie immer bei Dir, ist köstlich oder unmerklich bedenkenswert. Jetzt müsste ich das Buch doch lesen, wo mir Deine Rezension gerade dies abnehmen sollte.

* Zum Briefwechsel Kraft, WernerKraft/Lehmann, WilhelmLehmann. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.3.2009

** Anspielung auf Louis (Ludwig) Büchner: Büchner, LudwigKraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien. In allgemeinverständlicher Darstellung. Frankfurt/M.: Meidinger 1855

Von Hans-Martin Gauger, Hans-MartinGauger, 7. August 2008 Nr. 58

Dank, lieber Elazar, für die prompte Auskunft. Nun kann ich dies also beruhigt abschicken.

Über Lehmann, WilhelmLehmann schrieb mir Wapnewski, PeterWapnewski*, den ich fragte, eben, wie immer witzig knapp:

„Hat mich nie berührt. Zuviel Pflanzen und Kräuter und Bienengesumm“. Schade, dass ich dies nicht zitieren kann.

* Peter Wapnewski, PeterWapnewski (1922–2012), Mediävist an der TU Berlin, Literatur- und Musikhistoriker (zu Richard Wagner, RichardWagner, 1978 u.ö.)

An Hans-Martin Gauger, Hans-MartinGauger, 7. August 2008 Nr. 59

„Hat mich nie berührt. Zuviel Pflanzen und Kräuter und Bienengesumm“. Gut, dass Du es nicht anführen kannst, es wäre eine zu billige Abqualifizierung dessen, was Kraft, WernerKraft aufrichtig glaubte schätzen zu müssen und mit gutem Kunstgewissen auch schätzte. Auch Lehmann, WilhelmLehmann warf einmal große Schatten, darunter hatte mein lieber Freund, ein von mir auch geliebter Dichter, Georg von der Vring, Georg von derVring*, zu leiden. Lehmann, WilhelmLehmann ließ ihn nicht gelten. Und das tat weh. Das Problem der Wertung taucht in einem solchen Briefwechsel bedrohlich auf, besteht er doch aus Tagen und Werken, die uns Körpernähe suggerieren. Die Stimme spricht, wir werden Zuschauer, sehen das Für und Wider wachsen und hören nicht, wie das eine zum andern kommt. Da zeigen sich Vorzüge und Nachteile eines Werner Kraft, WernerKraft, der ein Bluthund der Poesie sein konnte, das Bellen anderer aber fürchtete. Gewonnen hatte er immer, denn er liebte die Poesie wie wenige: Vers um Vers, doch immer in Angst, sein Bestes zu verlieren – seine eigene Dichtung, die ihm Reim um Reim abgestritten wurde.

* Vgl. Anmerkung zu Brief Nr. 25

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 18. März 2009 Nr. 60

Heute kam Ihr „Moser, Hans AlbrechtMoser“*, ich danke Ihnen für das Geschenk und gratuliere Ihnen zum Nachwort und vor allem dazu, dass Ihnen der lang gehegte Wunsch in Erfüllung ging, das Gesamtwerk durch eine Auswahl zugänglich zu machen. Ihre Studie schenkte mir das vermisste Bild. Aber ich glaube Ihnen auch, dass Moser, Hans AlbrechtMoser bedeutender ist, als ich denke. Er gehört zu den Fällen, die nach Ungerechtigkeit rufen. Man muss sich mit ihm gedulden. Beim ersten Durchblättern dachte ich, er sei von haarsträubender Banalität. Je bereiter ich mich fand, eine längere Strecke mit ihm zurückzulegen, umso näher kam er seinem eigenen Antlitz. Ich hatte zuerst Mühe, Gesicht und Wort aufeinander zu beziehen. Die von Staiger, EmilStaiger** gerühmte Sprache ist zu schätzen, aber sie zündet nicht. Moser, Hans AlbrechtMoser ist ein guter Dirigent seiner Gedanken, zur Virtuosität hat ers auch in der Sprache nicht gebracht. Ein langes Leben in Sätzen, das ist denkwürdig; ein langes Leben in Reimen kommt häufiger vor. Moser, Hans AlbrechtMoser gehört zu den Entbehrlichen, die man nicht missen möchte.

* Hans AlbrechtMoser, Hans Albrecht Moser: Efeu ohne Baum. Gedanken eines Durchschnittsmenschen. Hg. von Friedemann Spicker, FriedemannSpicker. Bochum: Brockmeyer 2009 (dapha-drucke 2)

** Emil Staiger, EmilStaiger (1908–1987), Professor der Germanistik an der Universität Zürich, zu seiner Zeit einer der meistbeachteten deutschsprachigen Literaturwissenschaftler („Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters“, 1939; „Die Kunst der Interpretation”, 1955)

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 19. August 2009 Nr. 61

Sie treiben unverdrossen Ihre dapha-Ausgrabungen*, genießen Marbach und noch nicht aufgehobene Nachlass-Schätze. Das habe ich seit dreißig Jahren nicht mehr getan, wie bedauernswert. Auch Kessel, MartinKessel gehört zu den Aphoristikern, denen ich nie gerecht werden konnte. Dabei besaß ich seinen riesigen Band** (nur Rathenau, WaltherRathenaus „Reflexionen“*** konnten damit konkurrieren, oder?) und habe mich ernsthaft um diesen bemüht. Damals lebte Kessel, MartinKessel noch und in Berlin, und ich frage mich gerade, ob ich ihn vielleicht kannte? Es ist nicht allein die Zeit, die verblasste. Bin ich nicht aber auch selbst die verblasste Zeit und bemüht, mir etwas Schamröte als Farbe ins Gesicht zu treiben?

Wenn Sie also von Indien zurückgekommen sind, werden Sie erfahren, dass zwei umfangreiche Bücher von mir erschienen sind, der Briefband bei Brockmeyer**** und das Hauptwerk „Scheinhellig“ bei Braumüller in Wien. Habe ich Glück, finden Sie darin Frisches.

* Arbeit an Martin Kessel, MartinKessel: „Ein Fragezeichen der Gesellschaft“. Aphorismen. Mit Zeichnungen von Gisbert Tönnis. Hg. und mit einem Nachwort von Friedemann Spicker, FriedemannSpicker. Bochum: Brockmeyer 2012 (dapha-drucke 4)

** Martin Kessel, MartinKessel. Gegengabe. Aphoristisches Kompendium für hellere Köpfe. Darmstadt: Luchterhand 1960

*** Walther Rathenau, WaltherRathenau: Reflexionen. Leipzig: Hirzel 1908

**** Vielzeitig

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 22. September 2009 Nr. 62

Unter den Papieren fand ich einige Zeilen Klaus von Welser, Klaus vonWelsers*, die er als Klappentext für „Einsätze“ verfasste, ich konnte es nicht gebrauchen, nehmen Sie es als Erinnerungsstück und Dank für Ihre lange Beschäftigung mit EB. Er gehört, als einer, der über den Aphorismus nachdachte, zu Ihrer Geschichte.

„Die Einsätze von Benyoëtz sind riskant. Denn die Regeln jenes Sprachspiels, das Aphorismus heißt, fordern, eine Einsicht zu gewinnen oder den Gedanken zu verlieren, den man zu haben meinte. Mit einem Satz ist der Spatz aus der Hand. Und der Reiz des Sprachglücks ist [?], die man nur gegen sich selbst gewinnen kann, und wenn ein Gedanke verspielt wurde, es von der Sprache heimgezahlt bekommt: Nie schien die Taube auf dem Dache schöner. Solches Denken geht nicht auf Nummer sicher, semper crescit aut decrescit. In des Autors Worten: Kein Wort, das bei dir stehen bliebe. Aber die Klage ist unaphoristisch. Der Liebhaber der Sprache muss gerade dort zudringen, wo sie ihm die Verifizierung seines Glaubens vorenthält. Seine Insistenz kann er nur damit rechtfertigen. Dass sie ihm schon öfters, wie unabsichtlich, recht gegeben hat.“

* Siehe Anm. zu Brief Nr. 45

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 22. Oktober 2009 Nr. 63

Ich bekam gestern das Lichtenberg-Jahrbuch 2009*, mit dem ich nicht mehr gerechnet hatte. Ich schreibe Ihnen aus der Bewegtheit der ersten Lektüre, über die ich noch lange nachdenken müsste, denn – sie rührte mich zu Tränen. Warum? Umso näher waren Sie mir mit Ihrem Nachwort.

* EB: Unter den Gegebenheiten kommt auch das Mögliche vor. Eine Morgenlesung. In: Lichtenberg-Jahrbuch 2009, S. 91–112. Friedemann Spicker: Elazar Benyoëtz und Lichtenberg, Georg ChristophLichtenberg. In: Lichtenberg-Jahrbuch 2009, S. 113–116

An IngeborgKaiser, Ingeborg Kaiser, 8. Januar 2010 Nr. 64

Zu Hermann Hakel, HermannHakel* gehört der Brief an die Hakel-Gesellschaft in „Vielzeitig“.** Hast Du Anstoß daran genommen? Kennst Du Hakel, HermannHakel und glaubst Du, ich hätte ihn verzeichnet? Ich frage mich, aus welchem Grund und mit welchem Recht man über Personen herfällt und was damit gewonnen sein könnte. Man gibt seine Eindrücke wieder, sein Urteil ab. Auf wessen Geheiß? Warum soll der Richter der Bessere gewesen sein? Er weiß, was richtig ist. An seiner Richtschnur bleibt er auch hängen. Er spielt seine überlegene Rolle in Schwarz. Er fällt sein Urteil, verhängt die Strafe, ein Vollstrecker, vollschrecklich. Hier habe ich mit der Reflexion begonnen, sie müsste fortgesetzt werden. Ich will weder als noch wie ein Richter gesprochen haben. Ich habe diesen Fragenkomplex mit einem Blick auf Stephan Hermlin, StephanHermlin*** erweitert. Gut möglich, dass ich diese gefälligst gefällten Urteile aus den Tagebüchern streichen werde.

Hessing, JakobHessing****, Professor für deutsche Literatur an der hiesigen Universität, ein zu vielem begabter Mensch, am wenigsten aber zur eigenständigen, feinkarierten Prosa. Seine Studien hingegen haben einen Rang, sie machen auch seine bessere Prosa aus. Er hatte ein Herz für Else Lasker-Schüler, ElseLasker-Schüler, sie nahm seinen Verstand unter ihre Fittiche, Freud, SigmundFreud zerknirschte ihn, gedemütigt ist er Vater geworden – nun sollte er Beschneidungen vornehmen, mit wem sollte er beginnen und zu welchem Ende. Alle seine Antworten fragen danach. Sein Buch über Heine, HeinrichHeine***** ist so gut wie Hessing, JakobHessing.

* Hermann Hakel, HermannHakel (1911–1987), österreich. Lyriker, Prosaist, Herausgeber und Übersetzer

** Vielzeitig, S. 169f.

*** Stephan Hermlin, StephanHermlin (1915–1997), 1936 Emigration nach Palästina, nach 1949 einer der bekanntesten Schriftsteller der DDR, rechtfertigte 1961 den Bau der Berliner Mauer, gehörte 1976 zu den Initiatoren des Protestes prominenter Schriftsteller gegen die Ausweisung WolfBiermann, Wolf Biermanns aus der DDR („Abendlicht“, 1979 und 2015).

**** Jakob Hessing, JakobHessing (geb. 1944), Leiter der germanistischen Abteilung der Universität Jerusalem; vgl. Olivenbäume, S. 41f. et pass.

***** Jakob Hessing, JakobHessing: Der Traum und der Tod. Heinrich Heine, HeinrichHeines Poetik des Scheiterns. Göttingen: Wallstein 2005

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 13. Februar 2010 Nr. 65

Steffens, AndreasSteffens schickte mir mittlerweile sein Buch*, zu dem Ihr Nachwort – auch seitenzahlenmäßig verholfen hat. Ich habe ihm gratuliert, gratuliere nun auch Ihnen. Ich kenne die neue Aphoristik nicht, habe dennoch den Eindruck, dass sie mit Steffens, AndreasSteffens wieder nennenswert geworden ist.

Steffens, AndreasSteffens schrieb mir, er würde gern mein Büchlein „vom Menschen und seiner Ausgesprochenheit“ (in der Festschrift für Sonnemann, UlrichSonnemann, 1992)** herausgeben. Ich zögerte, stimmte einer kleinen, einmaligen Auflage zu. Nun muss er sich entscheiden. Gefallen hat mir, dass er darauf gekommen ist. Aber kennen Sie den Nordpark-Verlag?

* Andreas Steffens, AndreasSteffens: Petits fours. Aphorismen. Mit einem Nachwort von Friedemann Spicker, FriedemannSpicker. Wuppertal: NordPark 2009

** Siehe Anm. zu Brief Nr. 28

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 28. April 2010 Nr. 66

Günther, JoachimGünther* – gut, und bitte, um ihn kämpfen. Es ist ein Gebot des Anstands, nicht nachzugeben.

Geben Sie nach, verfälschen Sie das wichtigste „Für“. Günther, JoachimGünther verstand so viel und so gut er verstehen konnte, und doch war es auch das wichtigste, gediegenste Verstehen: ein anderes – und darauf kommt es an – hatte es nicht gegeben. Schon allein, dass er den NDH** einen aphoristischen Anstrich gab, ist viel und wäre genug, um ihn in diesem geschichtlichen Zusammenhang zu würdigen. In dieser Zeitschrift, wie in keiner anderen der Nachkriegszeit, die lange auf dem Plan blieb, bekam der Aphorismus ein Gewicht. Man hatte ihn vielleicht nicht gesucht, wollte ihn aber finden. Er stand immer da – und nicht auf einem anderen Blatt. Er gehörte ganz natürlich zur Sache Literatur. So wollte Günther, JoachimGünther es gesehen haben. Das machte leider keine Geschichte, gehört aber zur Geschichte des deutschen Aphorismus.

* Friedemann Spicker, FriedemannSpicker: Joachim Günther, JoachimGünther – eine Schlüsselfigur in der Geschichte des Aphorismus im 20. Jahrhundert. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 104, 2012, S. 527–553. Mit einer Bibliographie auch der Rezensionen Günthers zum Aphorismus in den „Neuen deutschen Heften“; Vielzeitig, S. 284, 289 et. pass.

** Neue deutsche Hefte. Hg. von Joachim Günther, JoachimGünther (1905–1990)

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 17. Oktober 2010 Nr. 67

Im Ganzen bietet die Anthologie* wieder eine gute Gelegenheit, über das Phänomen „Auswahl“ nachzudenken. Manchem Aphoristiker haben Sie gut aus der Fülle herausgeholfen, bei anderen erscheint mir Ihre Hilfsbereitschaft zu groß (bei Michael Rumpf, MichaelRumpf** etwa). Besonders danken möchte ich Ihnen dafür, dass Sie mir zeigen, wie gut Gabriel Laub, GabrielLaub und wie schlecht Hans Kudszus, HansKudszus*** doch sein können. Joachim Günther, JoachimGünther ist makellos; er erscheint hier im schönsten Licht seiner Denkart. Da ist Ihnen ein Porträt gelungen. Ich habe ihn gesehen und gehört und empfand so etwas wie Sehnsucht.

* Friedemann Spicker, FriedemannSpicker (Hg.): Deutsche Aphorismen. Stuttgart: Reclam 2012 (RUB 18695)

** Michael Rumpf, MichaelRumpf (geb. 1948), Lyriker, Aphoristiker, Essayist

*** Hans Kudszus, HansKudszus (1901–1977), Journalist, Essayist, Aphoristiker in Berlin

An Harald Weinrich, HaraldWeinrich, 3. Mai 2011 Nr. 68

Zweimal die traurige Pflicht, beide Mal ging sie mir zu Herzen: Walter Helmut Fritz, Walter HelmutFritz, mit dem ich seit 1961 auf unauffällige Weise verbunden war*, und Friedhelm Kemp, FriedhelmKemp**, mit dem Du lange und intensiv verbunden gewesen bist. Für W. H. Fritz, Walter HelmutFritz habe ich keine Adresse, ich vermisse sie, für Kemp, FriedhelmKemp, so fühle ich, müsste und könnte ich Dir kondolieren. Du hast oft von und für ihn gesprochen, immer mit Sympathie und gebührendem Respekt. Als wir uns das letzte Mal sahen, hast Du mir noch seine Integrität in der Nazizeit bestätigt.

Lieber Harald, Dein Freund, ein wichtiger Teil Deines „München“, ist nun von Dir weggegangen, ein ziemliches Stück von Dir, weil auch „romanistisch“ erheblich – und überhaupt: wie viele Kemp, FriedhelmKemps gibt es in einer Generation? Vor Jahren sagte ich Dir, man müsste ihm ein Denkmal setzen, so hoch schätzte ich ihn: als Lektor, Editor, Übersetzer, als Leser, auch als Sammler. Er hatte ja „alles“, und hatte ich, was er nicht hatte, zum Beispiel Däubler, TheodorDäubler, TheodorDäublers „Nordlicht“ in der Florentiner Ausgabe, dann war sie gewiss „nicht bedeutend“ genug, um sie besitzen zu müssen (immerhin 600 Exemplare …).

Jetzt teile ich mit Dir die Trauer um ihn, der hoch in die Jahre kam, ein großer Liebhaber der Poesie, ein Nichtautor, der seine Mitstreiter (Hohoff, CurtHohoff*** und Holthusen, Hans EgonHolthusen****) um vieles, in vielem überlebte. Er hat nicht gedichtet, nur geleistet, und es war Poesie, ohne Dichtung zu sein. Das ist das Phänomen Friedhelm Kemp, FriedhelmKemp.

Friedhelm Kemp, FriedhelmKemp, ich fühlte diesen Namen immer bedeutend über meine Lippen gehen. Ich weiß nicht, ob er zum Lieben war, ich habe es vielleicht versucht, aber zu großem Erfolge habe ichs mit ihm ohnehin nicht bringen können, er hatte allerlei gegen mich einzuwenden – bei einer gewissen Achtung, die er sich nicht verkneifen konnte. Ich werde ihn vermissen, so wenig ich von ihm auch hatte. Das muss ich Dir sagen – und schreiben, denn Du hattest nicht wenig von ihm. Meine Korrespondenz mit Kemp, FriedhelmKemp erstreckte sich über dreißig Jahre (1960–1990) und war eher dürftig, weil nur meinerseits erwartungsvoll, hier ein Beispiel:

Jerusalem, den 30.8.1990

Lieber Herr Kemp, FriedhelmKemp,

Dank für Ihren Brief und für Ihre Bereitschaft, mein Experiment zu betrachten. Es erfordert Kritik, ist sie hoffentlich auch wert. Ich denke: Wäre ich meiner Sache sicher, ich suchte Ihre kritische Weite nicht auf. So muss ich mich damit nicht weiter zieren, und Sie brauchen keineswegs zimperlich zu sein. Vor hundert Jahren, am 19. Juli 1890, nach dem Tode Gottfried Keller, GottfriedKellers, schrieb Conrad Ferdinand Meyer, Conrad FerdinandMeyer an Julius Rodenberg, JuliusRodenberg:

„Obwohl ich mit ihm nicht in nähern Verhältnissen gestanden, geht mir die Sache doch nahe, auch ganz abgesehen von seiner literarischen Größe, wegen seiner innerlichen Liebenswürdigkeit; deshalb würde ich mich gar nicht wundern, wenn in seinem Nachlass etwas Unangenehmes für mich zum Vorschein käme – ich verzeihe es im Voraus.“

Es ist ein merkwürdiges Wort: „deshalb“ – im Anschluss gerade an die „innerliche Liebenswürdigkeit“. Ihre innere Liebenswürdigkeit, lieber Herr Kemp, FriedhelmKemp, wird deshalb ohne Abstriche fortbestehen, und ich müsste Ihnen, wenn Ihre Lektüre Unangenehmes für mich zeitigt, nicht einmal im Voraus verzeihen. Noch lebe ich und werde mich verteidigen können. Das Beste, was Sie mir bieten können, ist kritischer Widerstand. Dafür wäre ich Ihnen dankbar. Auf Ihre Kritik, fiele sie sehr hart aus, würde ich vielleicht erwidern mögen, und wenn es dann zwischen uns Funken gibt, darüber freuen wir uns sicher nur.

Dies freilich gilt ganz und gar nur hinsichtlich „Ihres Verhältnisses zu manchem“, was ich schreibe, das „gelegentlich problematisch ist“, wie Sie sagen; nicht gilt es ganz und gar bezüglich „der Art, wie ich schreibe“. Wäre diese doch nur anfechtbar – ich selbst stehe mit ihr auf Kriegsfuß. Aber „wer spricht von Siegen …“, und wenn auch Sie meine Art angreifen wollten, was wäre damit gewonnen? Es sei denn, Sie wollen mir eine bessere vorspielen oder vorschreiben, die ich mir so gut aneignen könnte, dass aus ihr wiederum ein Werk hervorginge, darin ich mich, den Anfechtbaren, erkennen kann. Ich würde darum vorschlagen, dass Sie alles, was Ihnen an meiner Art missfällt, ohne Rücksicht rot oder dick im Manuskript streichen. Ich werde es schon verstehen und sehen, was mir zu verantworten bleibt. Eitelkeit ist in diesem Manuskript zum Stilprinzip erhoben, das Zitat auf seine Spitze getrieben; dass „ein Wort das andere gibt“, ist das Auffallendste, wenn auch als der Weisheit letzter Schluss nicht ohne weiteres erkennbar.

* Siehe Verzeichnis der Briefpartner(innen); vgl. EB: Die Rede geht im Schweigen vor Anker, S. 39

** Friedhelm Kemp, FriedhelmKemp (1914–2011), Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Übersetzer; Vielzeitig, S. 16

*** Curt Hohoff, CurtHohoff (1913–2010), Literaturkritiker und Essayist

**** Vgl. Anmerkung zu Brief Nr. 54

An Werner Helmich, WernerHelmich, 6. November 2011 Nr. 69

Ich habe etwas Absurdes, wohl auch Sträfliches unternommen, ob Sie bereit wären, darüber kurz nachzudenken, mir ein Wort zu sagen? Vermochte ich eine echte Stimmung zu erzeugen? Lassen sich beide Stücke zusammendenken (muss nicht sein)? Weil Sie es unbefangen (und ohne Rücksicht auf mich) lesen sollen, erfahren Sie von mir nichts Näheres, aber dann!

Wieder auf dem Wüstenpfade

reitet der Jahrtausendgeist

Wenn sich der Pfad vor deinem Fliehen engt,

wenn sich der Pass vor deinen Augen schließt,

welch ein Weg beginnt vor deinen Füßen!

Gen Abend liegt das Totenreich im Meer,

dort hausen Tote ganz im Schein des Lebens.

Abgründlich droben tut sich sternlos auf

nordlichterhelltes Nichts.

Wer durfte wandeln Dich zur Aschensaat?

---------------

Wer sagts dir an, was du gesehn? Kein König

kann seine Träume deuten, wie sie auch

ihn siebennächtlich quälen. Er muss doch

den jungen Seher rufen, der allein

die Magier beschämt. Horchen muss er

der grausen Deutung und den Deuter töten,

auf dass sie sich erfüllt. Wer herrscht, erblindet.

wer schaut, verfällt dem Schwert.

Falsche Versöhnung streitet wider Gott.

Zusammengeflickt aus Ernst Bertram, ErnstBertrams „Nornenbuch“, 1925

Von Werner Helmich, WernerHelmich, 7. November 2011 Nr. 70

Lieber Dichter,

ja, Sie sind hier ganz Lyriker und kein Spruchdichter; mir war, auch ohne Ihre frühere hebräische Dichtung zu kennen, immer klar, dass Sie mehrere Saiten auf Ihrem Bogen haben. Der Ton gefällt mir, auch als Diptychon (auch wegen der weitgehend parallelen Metrik). Ist der metrische Bruch in „die Mágièr bescháemt. Hórchen múss er“ an der Satzgrenze (keine Senkung) gewollt? Ich könnte mir’s vorstellen. Mir fiel er nur wegen der ansonsten durchgehenden Blankversstruktur besonders auf. War ich Kritiker genug?

An Werner Helmich, WernerHelmich, 7. November 2011 Nr. 71

Lieber, abenteuerlicher, geneigter und entzückender Kritiker,

Sie haben sich kühn auf ein Abenteuer eingelassen, das schwere Folgen haben könnte (müsste), theoretische und moralische. Ich habe Sie gelegentlich schon heranzuziehen versucht, mit geringen, aber offenen Karten. Die heutigen Karten lagen Ihnen nicht offen vor, ein Eröffnen folgt auf Wunsch, dann teile ich Ihnen eine Seite dazu aus meinem Tagebuch mit, doch muss ichs erst Helmich, WernerHelmich-würdig gestalten, wiewohl nicht entstammeln, denn mitunter zittert meine Hand dabei.

An Werner Helmich, WernerHelmich, 8. November 2011 Nr. 72

AUF BIEGEN ODER BRECHEN

ODER

FEINDE AUS ERZ

Mit dem Zitieren beginnt das Gegenwerk

Kosal Vanít

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Wieder auf dem Wüstenpfade

reitet der Jahrtausendgeist

Wenn sich der Pfad vor deinem Fliehen engt,

wenn sich der Pass vor deinen Augen schließt,

welch ein Weg beginnt vor deinen Füßen!

Gen Abend liegt das Totenreich im Meer,

dort hausen Tote ganz im Schein des Lebens.

Abgründlich droben tut sich sternlos auf

nordlichterhelltes Nichts.

Wer durfte wandeln Dich zur Aschensaat?

Ernst Bertram, ErnstBertram,

„Das Nornenbuch“. 1925

---------------

„Nie wusstest du was hinten und was vorne,

Rülpsen des Augenblicks schien dir Raun und Norne.

Warst lang bereit fürs braune Miss-Geschick,

uns kennend, zischtest du vom ›Rattenblick‹.

Schriest von der ›Großzeit‹, aller Zeiten Ernte,

die Zeit wars, wo man Juden gelb besternte,

wo man, gewiss, den Erdball zu erbeuten,

die Bücherreihn bezog mit Judenhäuten …

O, auch dein Quantum Auschwitzasche

bekamst du, dass man schwärzere Kirschen nasche,

mit Düngerfolg den Führer überrasche.“

Karl Wolfskehl, KarlWolfskehl, An E[rnst] Bertram, ErnstB[ertram]

(unveröffentlicht)

Schwarze Segel wachsen auf der Welle

Wer sagts dir an, was du gesehn? Kein König

kann seine Träume deuten, wie sie auch

ihn siebennächtlich quälen. Er muss doch

den jungen Seher rufen, der allein

die Magier beschämt. Horchen muss er

der grausen Deutung und den Deuter töten,

auf dass sie sich erfüllt. Wer herrscht, erblindet.

wer schaut, verfällt dem Schwert.

Falsche Versöhnung streitet wider Gott.

Das ist eine Fälschung, ein nicht zu überbietender Frevel. Ernst Bertram, ErnstBertram, der Bonner „Bücherverbrenner“, Verleugner seiner Freunde – gegen den Karl Wolfskehl, KarlWolfskehl eine Empörung schrieb in Versen, die in wenigen Zeilen großmächtig sind (darum sage ich eine Empörung, nicht eine Dichtung).

Bertram, ErnstBertram war ein sich auch poetisch germanisierender Deutscher. Menschlich kann ich ihn nicht beurteilen, ich kenne ihn zu wenig, kenne seinen Mythos-Nietzsche, FriedrichNietzsche, seinen Briefwechsel mit Thomas Mann, ThomasMann, kleinere Studien über Kleist, Heinrich vonKleist, Stifter, AdalbertStifter, nicht als Dichter. In meiner Jugend, als ich Deutsch zu lesen begann, mit dem Verstehen aber nicht weit war, habe ich „Das Nornenbuch“ bei Nissim in Tel-Aviv gekauft. Die Ausgabe gefiel mir, der Einband, das Papier – Insel-Verlag 1925, stockfleckig. Der Titel nornig, raunig, mir unverständlich. Ich führte es heim, wie ein Geheimnis fürs Leben. Nun habe ichs zur Hand genommen, aufgeschlagen – bin auf die Abschrift eines frühen Gedichts von mir gestoßen, auf Firmenpapier des Rabbi Kook Instituts getippt, demnach war das Buch 1959 bereits in meinem Besitz, ich werde auch versucht haben, aus ihm Inspiration zu schöpfen. Davon findet sich bei mir (nun auch in der Erinnerung) keine Spur. Es sind mehr Gedichte von Bertram, ErnstBertram als Gedichte. Sie wiegen nicht schwer, wiegen nichts auf, sie sind gewichtig. Gebärde, Grimasse: „Er stirbt und sinnt noch immer: / Solch eine Rune steht ihr im Gesicht.“ (Hebbel, FriedrichHebbel, Die Nibelungen: Der gehörnte Siegfried)

Mehr Orakles denn Siegfried. Weizenhaar des Kindes, Blauaug des Mannes, eisiger Norden, männlich, mannmännlich

Er schwingt die Keule

Gegen die nordhoch

Fliehende Frau

Für Wolfskehl, KarlWolfskehl warʼs ein Rülpsen, er wird gewusst haben, was er sagt, er hatte das blinde Aug des Sehers. Dieses Wissen gilt jenseits der Gerechtigkeit. Es gibt eine strafende und sträfliche, eine sündhafte und sühnende, eine triumphierende und eine zerknirschte Dichtung, aber keine gerechte.

Das „Nornenbuch“ ist auch im poetischen Sinn nicht Bertram, ErnstBertrams wichtigstes Buch, viel bedeutender scheinen seine aphoristischen Dichtungen zu sein (ich kenne sie nur aus Spicker, FriedemannSpickers Wälzer*) und sein Nietzsche, FriedrichNietzsche**. Er hatte etwas zu sagen, immer auf einer Leiter stehend, hochgreifend, während seine Seele sümpfelte. Er war von Rang und hatte kein Niveau – so wie viele Nazigelehrte aus Kaiserzeiten. Er wusste, wo der Dichter wohnt (sagen wir, Stefan George, StefanGeorge), entschied sich aber für die Norne. Sein Auge streifte den Süden, die Stifter, AdalbertStifter-Forschung weist einige Bertram, ErnstBertram-Streifen auf.

Mit seiner Dichtung ist nicht viel zu wollen, manches hat in sich einen künstlichen, gestelzten Zauber, doch im Germanischen und Germanisierenden gab es eben Größere. Nichts zu wollen, aber – auf Wolfskehl, KarlWolfskehl hin – vielleicht doch etwas zu machen?

Das Nornenbuch lesend, die Olivenbäume im Hintergrund, kam mir der Gedanke, aus dem Nornenbuch eine „Antwort“ auf Wolfskehl, KarlWolfskehl, auf Vertreibung und Mord der Juden vorwegzugeben. Unter dem mich lange beschäftigenden Motto: „Mit dem Zitieren beginnt das Gegenwerk“.

Es gehört dazu die Frage, ob man in der Poesie Gott spielen – seine Worte in Bileams Mund legen dürfe, dem zum Fluchen Bestellten Segenssprüche auf die Zunge schmieren. Zitieren wir Bileam oder Gott? Ja, was zitieren wir überhaupt, wenn wir zitieren? Nicht alles, was uns entgegenkommt, steht uns zur Verfügung. Auch umgekehrt. Wir haben die Wahl, solange wir nicht gewählt haben.

Damit verbunden ist der große Fragenkomplex „Fälschung“; es wird Ihnen nicht entgangen sein, dass mich diese Frage besonders in den letzten Büchern beschäftigt, beunruhigt wohl auch, weil ich Fälschung betreibe. Ich kann nichts unverändert lassen, Berühren heißt schon Verändern. Für mich ist alles Dichtung, und Dichtung – ein reißender, mitreißender Strom. Ich nenne es so, man kann es auch anders nennen, gut anders. Ich verlasse aber nie Boden und Himmel der Poesie, ich sage nicht Land, ich sehe nicht Land. Wie reagiert die Dichtung, wenn sie poetisch bleiben will, da alles Poetische verpönt ist? Ich will Zeitgenosse aller Zeiten sein – aber nicht „Zeitgenosse“. Ich muss viel experimentieren, abweichen, ausweichen, vornehmlich in diesem Sinn. Alles Deutsch-Jüdische, das ich für mein Teil mit „Treffpunkt Scheideweg“ erledigt zu haben meinte, ist nicht in allen möglichen Formen erledigt. Doch wollte ich nicht mehr gesagt haben. Also lasse ich andere sagen, wie Gott Bileam sagen ließ. Doch bin ich nicht Gott und will diese Rolle nicht spielen, nur vertreten, ja sogar verantworten: Ich lege kein Wort von mir in den Mund Bertram, ErnstBertrams – es sind alles seine Worte, von mir ausgesucht, zusammengebunden – und ihm wieder auf die Zunge gelegt.

Das alles sage ich jenseits des Gelingens, auch bleibt meine Intention nicht eindeutig.

Warum Bertram, ErnstBertram? Nicht nur der AnregungWolfskehl, Karl Wolfskehls folgend. „Treffpunkt Scheideweg“ war grundlegend, für mich selbst bahnbrechend. Zu den schwersten Aufgaben damals gehörte das Prüfen der Namen – auf Herz und Nieren. Den Boden der Poesie nie verlassend, musste ich mich, bei aller Poesie, der Geschichte stellen. Das tat ich zitatweise, die Zitate, an Namen gekettet, mussten gesichtvoll werden. So bekam ich die Gesichter zu sehen, viele Namen sind dabei hinfällig geworden. Manche Namen habe ich mir verbieten müssen (die Berühmten meide ich aus anderen Gründen). Kommen sie vor, hat sie die Not, habe nicht ich sie gerufen. Nun nehme ich mit den kommenden Büchern Abschied – wie es sein soll, nicht wie es sein muss. Mein Gefühl, das mit „Treffpunkt Scheideweg“ nicht erledigte, sagte mir – laut wurde es gegen Ende der „Olivenbäume“ –, dass ich den ausgeschlossenen Todfeind wieder einschließen müsste, sonst ginge meine Rechnung (Poesie und Leben in einem) nicht auf. Wieder geprüft, Rang und Schattierung in Rechnung gebracht, steht er nun in meinem letzten Buch, mit Namen: Gottfried Benn, GottfriedBenn, Ernst Bertram, ErnstBertram, Carl Schmitt, CarlSchmitt. „Falsche Versöhnung streitet wider Gott“, sagt Bertram, ErnstBertram, ich treibe keine falsche Versöhnung, aber ich besinne mich auf die Rolle des Todfeindes in meinem gelebten Leben, mit dem ich mich versöhnen soll.

Ich wollte Ihnen eine Ahnung vom Umkreis des bei mir Gedachten geben, ich habe wenig gesagt, mehr angedeutet, wir werden darüber weiter sprechen, jedenfalls Sie bei sich und ich bei mir.

Einiges davon sehen Sie klarer, wenn Sie das Buch bekommen haben, meine Methode geht über Bertram, ErnstBertram hinaus, sie betrifft z.B. auch Mombert, AlfredMombert, der am Anfang des Buches steht (hebräisch erstreckt sie sich über die Psalmen). Ich destilliere Gedichte auch aus nüchterner Prosa. Ich meine: Die Toten werden nie die Toten begraben, das tun die Lebenden, die den Tod auch feststellen müssen. Ich gehe suchend und lauschend über Leichenfelder.

Was ich Ihnen hier „verrate“, werden Forscher erst in Jahren herausfinden, nicht nur, weil Bequemlichkeit und blinder Glaube sie daran hinderten. Ja, wer wollte mir eine Unredlichkeit unterstellen. Doch jenseits von Moral und Rhetorik hat Poesie ihre bestimmte Unredlichkeit. Also gäbe es bei mir viel zu prüfen, zu vergleichen, zusammenzudenken und auseinanderzuhalten – dem Zitieren neue Dimensionen erschließend.

Zeilen zeugen gegen ihren Erzeuger, im gleichen, vertrauten, unverwechselbaren Ton, echt, nicht nachgeahmt – das Parodistische ausschließend, eine Willkür zum Vorschein bringend. Eine Grenze gebe ich zu: Mit Lebenden lässt sich das nicht machen, sie bleiben – und nicht nur urheberrechtlich – geschützt und unantastbar. So muss es sein, mit der Vergangenheit aber doch auch anders werden, sonst bleibt die Poesie um diese Möglichkeit verkürzt. Was bei mir steht, soll bei mir nicht stehen bleiben, es mache jeder daraus sein Bestes.

* Friedemann Spicker, FriedemannSpicker: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert. Spiel, Bild, Erkenntnis. Tübingen: Niemeyer 2004, S. 320–328, 454–456

** Ernst Bertram, ErnstBertram: Nietzsche, FriedrichNietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin: Bondi 1918

Von Werner Helmich, WernerHelmich, 9. November 2011 Nr. 73

Also: Eine Überraschung war es schon für mich. Ich hatte beide Texte für (parodistische? da war ich mir nicht sicher) Rollenlyrik aus Ihrer Feder gehalten, ohne den Anlasstext zu kennen; nehmen Sie es als Bestätigung, dass Sie im zweiten den Ton des ersten, fremden getroffen haben. Dann habe ich erst einmal die Bileam-Erzählung* nachgelesen, um Ihre Bedenken überhaupt zu verstehen. Dann werde ich noch einmal „Treffpunkt Scheideweg“ lesen, um zu ahnen, wo Sie jetzt weitermachen. Das Verfahren ist gut und notwendig (für Sie und für die Schmachgeschichte der deutschen Literatur), aber: Wie hermetisch wollen Sie es halten? Wenn Sie Bertram, ErnstBertram, Mombert, AlfredMombert (und Wolfskehl, KarlWolfskehl) nur in Ihrem eigenen Zitatentext (einem Cento, so nennt man wohl in der älteren Tradition diese Form) durchklingen lassen, also ohne direktere Entschlüsselungshilfe, bin ich nicht sicher, dass die Germanistik je draufkommt – was aber auch nicht viel ausmacht: Der kluge Leser riecht da vielleicht etwas von einem zweiten Text, der darunter verborgen ist (Palimpsest sagt man heute gern metaphorisch), auch ohne ihn punktuell zu kennen. Andererseits, und das ist viel wichtiger: Soll denn des Bertram, ErnstBertram-Texts als solchen überhaupt gedacht werden? Da kommt eben alles darauf an, wieweit sich ein Zitate-Cento, ohne ein eigenes Wort einzufügen, selbst decouvriert. Spielen Sie weiter, mit allem Ernst, der dazugehört. Mehr Brosamen als diese Ermunterung habe ich nicht, brauchen Sie auch gar nicht.

* 4 MosesMoses 22–24

An Werner Helmich, WernerHelmich, 9. November 2011 Nr. 74

Ein Wort (mehr) zu Recht – kein Wort zuviel? Es ist ein quasi wissenschaftliches Buch, und dass es leicht verwirre, gehört zum Programm. Engen wir die Wissenschaft auch ein, wäre denkbar – für mich auch dankenswert, dass ein gediegener Germanist sich vor den Kopf gestoßen fühlte oder sich kundig machte. Wolfskehl, KarlWolfskehl trommelt auf Bertram, ErnstBertram herum, das ist nicht zu überhören, doch bleibt Bertram, ErnstBertram nicht stumm, was sagt er? Er sagt, was man nicht vermuten oder gar erwarten würde.

Das ist zu wenig, mag sein. In einem Werk, das auf Andeutungen gründet und der Winke voll ist, muss es genügen. Ich habe nichts zu sagen, ich stehe hinter meinem Wort, auch wenn es Bertram, ErnstBertram heißt. Einzig die Sprache und die Namen haben das Wort. Erklärungen stünden diesem Verständnis im Wege. Man wird sich Rat wissen oder gleichgültig daran vorbeigehen. Indes hatte Wolfskehl, KarlWolfskehl das Wort, das in meinem Olivenhain weder zum Sang noch zum Klang gekommen ist. Wolfskehl, KarlWolfskehl, ein sich ebenfalls stolz germanisierender Dichter, steht für den weitesten Weg: von Palästina – über Rom und Rhein – bis Neuseeland. Mir liegt der Prachtband, in Halbpergament, vor: „Älteste deutsche Dichtungen. Übersetzt und herausgegeben von Karl Wolfskehl, KarlWolfskehl und Friedrich von der Leyen, Friedrich von derLeyen. Im Insel Verlag Leipzig 1909“. Ich habe es für die „Sandkronen“ verwendet. Die Namen, dynamisch zu nehmen.

Nehmen Sie das Glatteis südlich, die Sonne bringt Vertrauen und Zuneigung an den Tag, etwas Spiel gehört ja auch dazu. Es ist nicht alles Bärenernst, nicht alles beerenstachlig.

An Werner Helmich, WernerHelmich, 23. November 2011 Nr. 75

Großen Gebärden „in eigener Sache“ misstrauend – bei Nicolás Gómez Dávila, NicolásGómez Dávila wie bei mir, glaube ich nicht, dass seine Behauptung fruchten könnte: „Das Fragment umfasst mehr als das System“.

Es ist mehr Aufsicht denn Einsicht. Aber – dies meine Frage – ist mit „umfassen“ die richtige Bewegung übertragen? Das Fragment ist zwar kein Torso, doch sehe ich „es“ nicht mit ausgestreckten Armen, um-fassend. Umfassen, umfassend sein, ist gerade der Wunsch des „Systems“ (des Systematikers).

Von Werner Helmich, WernerHelmich, 28. November 2011 Nr. 76

Ich teile Ihre Bedenken bei „umfassen“, habe aber auch keine Lösung parat. „Intueri“ würde man im Lateinischen wohl sagen, das gehört zum Bildbereich des Schauens und der plötzlichen Einsicht, also mit einem Blick, punktuell das Wesentliche erfassen.

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 10. Februar 2013 Nr. 77

Ich freue mich, dass Ihr Günther, JoachimGünther-Aufsatz endlich erscheinen konnte,* ich habe ihn ja schon einmal gelesen, doch hätte ich ihn gern bei mir. Über alles, was in mir erwacht, wenn Sie „Günther, JoachimGünther“ sagen, sollte auch ich einmal schreiben. Manchmal empfinde ich etwas wie Liebe, und dabei gab es eine ziemliche Strecke von Abneigung zwischen uns; wir haben sie beide überwunden. Aber nach so vielen Jahre, nun selbst ein eher alter Mann, von Gefühlen zu sprechen, die auch noch schwer zu entwirren sind? Es lohnte sich dennoch, über das Nachwachsen eines verkannten Gefühls nachzusinnen.

Merkwürdig: Ähnlich ergeht es mir beim Stichwort „Hans Weigel, HansWeigel“**. Bei aller Sympathie, die uns augenblicklich verband, hatte ich seine Gegenwart als massiv und etwas grob empfunden, aber seit einigen Jahren erblüht mir seine Nähe, die ich erfolglos zu greifen versuche.

Sie sehen, was da alles erwacht – und alles ist noch nicht alles! Ungewollt kam ich auf beide Kritiker zu sprechen, die meine Anfänge gutherzig begrüßten. Es war übrigens Weigel, HansWeigel, der mich an Günther, JoachimGünther empfohlen hatte. In der Aphoristik tauchten Günther, JoachimGünther und ich fast gleichzeitig auf, waren eigentlich Rivalen, mir gegenüber hatte er sich als Kritiker und Gentleman bewährt. Neuerdings fiel mir sein Aphorismenband (mit Widmung) in die Hand, ich fragte mich, ob ich das wieder lesen soll, ich tat es nicht. Es wäre, sagte ich mir, ein Luxus, wenn ich darüber nicht auch gleich schreiben wollte. Und zum Schreiben will es nicht kommen, auch meine Aufzeichnungen legte ich beiseite. Keine Lust, sie fortzusetzen, die Arbeit macht mir Mühe, keine Liebesmühe.

* Vgl. Anm. zu Brief Nr. 66; Johann Siering (d.i. Joachim Günther, JoachimGünther): Rez. Benyoëtz, Einsätze. In: Neue Deutsche Hefte 22, 1975, S. 629–630; Rez. Benyoëtz, Eingeholt. In: Die Zeit, 6.4.1979, dann in: Neue Deutsche Hefte 26, 1979, S. 600–603

** Vgl. Vielzeitig, S. 279f., 298

An Jutta Czeguhn, JuttaCzeguhn, 24. Juni 2013 Nr. 78

Annette Kolb, AnnetteKolb hört nicht auf, mich zu begleiten und mir bedeutend zu sein – auch in ihrem unverwüstlichen Stil, der mir als Erinnerung über Jahrzehnte langsam auf der Zunge zergeht. „Torso“ hieß die erste Kolb, AnnetteKolb-Prosa, die ich zur Kenntnis und zu Herzen nahm – vor knapp 60 Jahren.* Diese Prosa bestimmte auch meinen Blick auf ihr Erscheinungsbild. Sie war nicht nur älter als alt, sie war urtümlich uralt. Auf dem alten Pergament ihres Gesichtes stand für mich ihre ätzende, muntere, schlagende, nicht handfeste Prosa. Bayerin durch und durch, Pariserin mehr und mehr, schrieb sie ihr Deutsch in vier Sprachen: Bayrisch, Französisch, Italienisch und nicht zuletzt Englisch. Das wäre vielleicht eine Basis für eine neue Betrachtung ihres Stils. Sie selbst war eine Metropole von Bekanntschaften und Erinnerungen, wir gingen durch sie wie durch Straßen, unterwegs klopften wir an vielen Türen, und alle öffneten sich.

Wie sie war? Mutig, kühn, abenteuerlich, rastlos, ungeduldig, aber täglich am Klavier, und bei guter Gelegenheit Karten auslegend. Waren meine Karten schlecht ausgefallen, lags an den Karten, sie mussten wieder gemischt werden. Sie lebte im Glauben und in schlechter Erinnerung ihrer Klosterschule. Ab und zu begleitete ich sie in die Kirche, sie sagte: Ich bin gläubig, aber nicht fromm. Meine Aphorismen über den Glauben hat sie beherzigt. Sie konnte gleichzeitig Dickschädel und Kindkopf sein. Wir waren oft, gern und lange zusammen, auch wenn sie zwischendurch einnickte. In einer ihrer Widmungen heißt es: „Dem wilden Hebräer von seiner christlichen Schwester“, mit „christlich“ meinte sie „sanft“ im Gegensatz zu „wild“. Aber die „christliche“ war mir recht, denn sanft war sie nicht, aber eine Schwester – durch dick und dünn.

Ich glaube nicht, dass ich von ihr das Wort „Heimat“ je hörte, mir ist, als hätte es zwischen uns auch keinen Erwähnungswert. Wir standen ganz in der Geschichte, deren letzte Phase eine unselige und unglückliche war. „Haimat“ [!] war in jenen Jahren noch Synonym für „Blut und Boden“, sie kam von Amerika nach Paris zurück, war stolz auf ihr Foto mit de Gaulle und mochte gern an das vereinte Europa denken.

Ob sie sich in München wohlgefühlt hatte? Das lässt sich mit Sicherheit nicht sagen, ein Mensch hohen Alters fühlt sich schon in seinen Tagen nicht glücklich. Sie kam nicht aus ganz freien Stücken zurück, sie lebte in einer gewissen Not, aus der ihr Joseph Breitbach, JosephBreitbach heraushelfen wollte und herausgeholfen hat. Sicher nicht er allein. Annette Kolb, AnnetteKolb hörte nie auf, von Sami Fischer, SamuelFischer als Mäzen zu sprechen. Die Verbindung zum Verlag blieb alle Jahre eng und warm – mit und ohne Veröffentlichungen. Händelstr. 1 in Bogenhausen war indes ihre letzte Adresse, und es war ihr klar, dass es auch ihre letzte Station sei. Damit sollte sie sich abfinden, das konnte sie nicht. Ob Heimat oder nicht – ihr Bruder Paul lebte in München und war da, gute Geschwister waren sie. Und dann das große Freundesnetz, die Ehrungen, die Sprache um die Ohren, war Deutsch doch der Sprachrest, der ihr für ein letztes Schreiben blieb. Ihre Handlungen, auch die launischen, waren immer charakteristisch, meistens charaktervoll. Es gab eben nur eine Annette Kolb, AnnetteKolb, und die, welche ich kannte, war die ihr Ähnlichste. Ich trauerte ihr lange nach, am Ende der Trauer lebt sie eben noch.

Annette Kolb, AnnetteKolb war um Ehrlichkeit bemüht, und ihre letzte Reise – nach Israel – bekam einen unehrlichen Anstrich, da man sie als Pilgerfahrt herausstellte, was sie nicht war. Ich weiß es nicht besser, aber genau, weil ich diese Reise für sie organisierte – gegen das (echte und falsche) Bangen einiger Freunde. Nicht alle, die hoch in die Jahre kommen, werden senil; Rücksicht ist immer geboten, Unehrlichkeit und Missbrauch nicht. Man wird nicht uralt, um sein Wort gebrochen zu bekommen. Annette Kolb, AnnetteKolbs letztes Wort, an mich geschrieben, lautete (München, 15. VII. 1967): „Dein Land ist schon mein Land geworden.“

* Annette Kolb, AnnetteKolb: Im Jahre 1905 beschrieb sie in der autobiografischen Erzählung „Torso“ ihre Begeisterung für Richard Wagner, RichardWagner. Die Hauptfigur Marie durchläuft, wie Annette Kolb, AnnetteKolb, eine verstörende Schulzeit im Klosterinternat.

An Kaszyński, StefanStefan Kaszyński, 4. Juli 2013 Nr. 79

Ich dachte gestern, es wäre womöglich eine kleine List der Geschichte, damit wir miteinander in Kontakt kommen, denn in Gedanken – in geistigen Räumen – habe ich Sie schon öfter gesucht. Warum? Die indirekte Antwort liegt in Ihrem Satz „Ich glaube nicht, dass St. J. Lec, Stanislaw JerzyLec eine Weltkarriere gemacht hätte ohne die Sprachkunst von Dedecius, KarlDedecius.“* Dagegen ist kein Wort zu sagen, nichts spräche dagegen, alles dafür – doch: wofür genau? Man müsste sagen: Für Dedecius, KarlDedecius, für seine Sprachkunst. Das würde ich sagen, nicht gesagt haben wollen. Das betrifft die vom Deutschen ausgehende „Weltkarriere“, nicht die vom Polnischen ausgehen sollende! Lec, Stanislaw JerzyLec ist ein deutscher Aphoristiker geworden (vielleicht zur Freude des Auch-Wieners in ihm), er ist und bleibt ein polnischer, und sein Name steht für das überwiegend Polnische in der Aphoristik seiner Zeit, die weitgehend verkommen, wenn nicht bereits verlassen war. Dedecius, KarlDedecius steht für den Doppelblick, gleichfalls einmalig in der Zeit, und Sie, als Dritter, entscheiden die Lage. So sehe ich Sie, so glaube ich Sie verstanden zu haben. Denn es war Ihr Vorhaben, österreichisch darüber – mit einem polnischen Blick oder einem Blick aus Polen – zu entscheiden. Mir fällt dabei ein Name ein, den Sie – würden Sie nicht mit ihm vertraut sein – zu Herzen und zu Forschung nehmen könnten: Otto Forst de Battaglia, OttoForst de Battaglia**. Warum ich an ihn denke und warum in Zusammenhang mit Ihnen – demnächst. Sie haben vielleicht schon selbst daran gedacht.

* Karl Dedecius, KarlDedecius (1921–2016): Übersetzer polnischer und russischer Literatur, Gründungsdirektor (1979–1997) des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt

** Otto Forst de Battaglia, OttoForst de Battaglia (1889–1965), österreichischer Historiker, Übersetzer, besonders polnischer Literatur, Literaturkritiker

Von Stefan Kaszyński, StefanKaszyński, 4. Juli 2013 Nr. 80

Lec, Stanislaw JerzyLec, ein alter Galizianer, war in den vierziger Jahren Pressereferent an der polnischen Vertretung in Wien. Er hatte schon damals Gedichte und Aphorismen geschrieben. Ein mir gut bekannter Schriftsteller und Übersetzer, Oskar Jan Tauschinski, Oskar JanTauschinski, der mit Lec, Stanislaw JerzyLec befreundet war, hatte versucht, für diverse Wiener Zeitungen einige seiner Aphorismen zu übersetzen. Die Übertragungen waren stilistisch und semantisch einwandfrei und doch wurden sie kaum beachtet. Erst als der erste Band von Dedecius, KarlDedecius erschienen ist, wurde Lec, Stanislaw JerzyLec im deutschen Sprachraum berühmt. Woran lag das? Von der intellektuellen Qualität der Aphorismen abgesehen, sicherlich am Zeitpunkt, aber doch nicht nur. Dedecius, KarlDedecius hatte genial die ironische Aura (W. Benjamin, WalterBenjamin) von Lec, Stanislaw JerzyLec getroffen, alles andere gehört zur Technik des Übersetzens, die man lernen kann, die Nachempfindung der Aura aber nicht, das ist eine Sache des Talents. Dedecius, KarlDedecius war von seiner Genialität fest überzeugt und hatte demnächst ganze Anthologien von Lyrik und Aphorismen selbst übersetzt, damit hatte er seine auratische Begabung entzaubert, denn alle Gedichte oder Aphorismen verschiedener Autoren aus fünf Jahrhunderten waren zuerst Dedecius, KarlDedecius und später Tuwim, JulianTuwim, Herbert, ZbigniewHerbert, Lec, Stanislaw JerzyLec oder Mrożek, SławomirMrożek. Und Lec, Stanislaw JerzyLec, der war auch ein ausgezeichneter Lyrikübersetzer (Brecht, BertoltBrecht, Celan, PaulCelan, BachBachmann, Ingeborgmann), er hatte aber niemals fremde Aphorismen übersetzt, die hatte er eher imitiert. Einiges bei ihm kommt von der Ebner-Eschenbach, Marie vonEbner, von Kraus, KarlKraus oder Lichtenberg, Georg ChristophLichtenberg. Canetti, EliasCanetti hat dazu einen Aphorismus gemeistert. Wie dem auch sei, Ihre Unruhe ist durchaus berechtigt, und ich möchte sie Ihnen auch nicht abnehmen.

An Stefan Kaszyński, StefanKaszyński, 5. Juli 2013 Nr. 81

Immerhin war Lec, Stanislaw JerzyLec die Geburtsstunde des Dedecius, KarlDedecius. Das kann man sagen. Wie oft? Wie war das persönliche Verhältnis der beiden zueinander? Wirkt Lec, Stanislaw JerzyLec beim Wegfallen des politischen Hintergrunds, was bei ihm allerdings mehr war als nur Hintergrund – je nach Gewebe: ob fein oder grob, ob eingefädelt oder verstrickt? Was mir – in der notwendigen, aber auch zwanghaften Vergleichung – zu schaffen machte, war, dass Lec, Stanislaw JerzyLec als deutscher Klassiker galt. Man wusste, woher er kommt und wusste vieles mehr – es half nichts, denn sagte man auch „Dedecius, KarlDedecius“, meinte man doch Lec, Stanislaw JerzyLec. Also galt seine Aphoristik als deutsches Sprachkunstwerk, er wurde als deutscher Meister rezipiert. Die Aphoristik hat zweimal die Realität bezwungen, einmal kritisch, einmal sprachlich. Und gerade im Deutschen, das ganz auf die / oder auf der Abwehr des Ostens bestand. Das ist eine besondere Stunde gewesen, und diese holt auch Willy Brandt, WillyBrandt in die Geschichte des Aphorismus. Das war die Stunde des Ostens im Westen, ein Augenblick, ein Nu in nuce.

Canetti, EliasCanetti kam danach oder hinzu. Keiner, der kam, vermochte an Lec, Stanislaw JerzyLec vorbeizugehen. Sie denken, das habe mich beunruhigt, das hat es, denn ich war allerdings um ein deutsches Sprachkunstwerk bemüht und wäre beinahe gescheitert. Das wäre der Fall, wenn ich nicht bei Hanser erscheinen könnte. Und ich konnte zuerst nicht – denn – so hieß es – „wir haben den Lec, Stanislaw JerzyLec bereits“ (das galt schon als Argument). Zum Glück gab es im Verlag Christoph SchSchlotterer, Christophlotterer, der den Unterschied zu erkennen und genau auszusprechen vermochte. Lec, Stanislaw JerzyLec wäre mir um ein Haar zum Verhängnis geworden. Und so gar nicht zu Recht, denn er war ein Meister aus Polen, aber kein Meister aus Deutschland. Und dennoch korrespondieren wir so viele Jahre danach über diesen sonderbaren, doch auch erheblichen und erhebenden Fall. Das gehört zum Lohn der Literaturliebhaber.

Von Stefan Kaszyński, Stefan Kaszyński, 5. Juli 2013 Nr. 82

Ich stimme mit allem, was Sie geschrieben haben, überein, mit einer Ausnahme. Die Geburtsstunde von Dedecius, KarlDedecius war die Lyrikanthologie „Lektion der Stille“ (1957)*. Das hat er so gesehen, und Göpfert, Herbert G.Göpfert** vom Hanser Verlag hat mir das bestätigt.

* Karl Dedecius, KarlDedecius (Hg.): Lektion der Stille. Neue polnische Lyrik. München: Hanser 1959

** Herbert G. Göpfert, Herbert G.Göpfert (1907–2007), Verlagsleiter des Hanser Verlages

An Stefan Kaszyński, StefanKaszyński, 5. Juli 2013 Nr. 83

Göpfert, Herbert G.Göpfert weiß es genau, jedermann besser. Es geht nicht um die Anfänge des Begabten – das ist Lebens- und Literaturgeschichte, es geht um das fragwürdige Wesen, das behauptet wird: heute wie gestern, wenn die Zukunft sich die Erinnerung aus Jux vornimmt. Dann heißt Dedecius, KarlDedecius Lec, Stanislaw JerzyLec, heißt Lec, Stanislaw JerzyLec Dedecius, KarlDedecius. Das meinte ich mit der „Geburtsstunde“. Dedecius, KarlDedecius hatte seine Talente, Beschäftigungen, Institute und Leistungen, sie stehen alle auf einem anderen Blatt, verdienten vielleicht oder wohl Blatt um Blatt gewürdigt zu werden. Aus der Zeit heraus und vom Himmel fiel Dedecius, KarlDedecius ein Stern mit Namen „Lec, Stanislaw JerzyLec“ in den Schoß. Er hatte keine Zeit, sich zu besinnen, so war es um ihn geschehen. Korrespondierten wir in einer anderen Sprache miteinander, nichts davon bliebe handfest oder auch nur dem Gedanken nah.

An Jürgen Stenzel, JürgenStenzel, 8. Juli 2013 Nr. 84

Paul Raabe, PaulRaabe* – ich wäre gern mit Dir bei seiner Bestattung! In jeder Hinsicht und Richtung – ein weitläufiger Mensch, vielleicht auch der Geräumigste, den ich kannte. Ein Mann voller – mitunter erlesener – Gesten. Viel Äußerliches, nach Außen gekehrtes, und das sage ich fast nur, um ergänzen zu können, daß wir („irgendwie“) innerlich verbunden waren. Ich kannte ihn so ziemlich 50 Jahre. Ich habe ihm seine Fehler weder vorgerechnet noch nachgetragen, einen großen machte er unvorsichtigerweise – ganz gegen seine Gepflogenheit: Er hat seiner – ihn abgöttisch verehrenden Schwester – meine Autobiographie zur Herausgabe empfohlen. Daraus ist „Allerwegsdahin“ geworden – zum Kummer der Elisabeth.** Und nun steht Lebensgeschichte wieder auf der Tagesordnung – und Paul Raabe, PaulRaabe ist tot. Sich mit ihm, Kopf an Kopf, an Bücher und Menschen zu erinnern, das gehörte zum Schönsten.

* Paul Raabe, PaulRaabe (1927–2013), Literaturwissenschaftler und Bibliothekar

** Elisabeth Raabe, ElisabethRaabe, Literaturwissenschaftlerin und Verlegerin

An Ingeborg Kaiser, IngeborgKaiser, 25. Juli 2013 Nr. 85

Ein anderes Problem – aus den Tagebüchern erwachsend: Klatsch und Tratsch. Was ist deren Funktion, wie zu behandeln? Beide Probleme, die ich eben nannte, tauchen gleichzeitig im Tagebuch auf. Zwei Freundschaften, die ich gern beschreiben oder besprechen würde, sind im Tagebuch von allerlei Klatsch umrankt, die zu H. G. Adler, Hans GünterAdler* und die zu W. H. Auden, Wystan HughAuden**. Ich steige groß in die Beziehung ein, wie es meine Art ist („ist“ musst du mit „war“ übersetzen), bestrebt, schnell die größte Nähe zu erreichen, um ebenso schnell auf Abstand zu gehen. Die Kräfte werden angespannt und nach allen Richtungen ausgedehnt, die Gespräche dauern Stunden, sie werden immer anregender: Im Tagebuch nun – müde heimkehrend oder am nächsten Tag oder noch später aufgeschrieben oder eher nur festgehalten – sieht es aus wie Aufwerfen von Themen, wie Um-sich-Werfen mit Namen, hie und da eine Auskunft, ein Geständnis, ein kluges oder giftiges Wort, eine Erinnerung, alles in allem Stichworte, die ich – es sind die Jahre meines Unterwegs – selten und wenig ausführte. Hinzu kommt, dass ich damals meine Tagebücher weitgehend auf Hebräisch führte, das müsste ich nun ins Deutsche übersetzen. Das ist aufwendig, zeitraubend, mir auch sehr oft lästig, weil nur weniges daran mich freuen könnte. Auch große Dichter führen Literatengespräche, ich hielt davon wenig, doch fast alles fest. Klatsch ist eine bewährte Gedächtnisstütze, aber auch eine Erinnerungsspeise. Das würde ich gern herausbekommen, ehe ich mich meines Klatsches erbarme oder nicht. Die Namen würden das Buch beleben, die Gefahr besteht, dass solche Quasi-Gespräche stark von meinem Stil abwichen. Die genannten kämen mir insofern entgegen, weil ich sie in einen österreichischen Kontext stellen könnte, H. G. Adler, Hans GünterAdler ist Prager, spielt in meinem damaligen Leben aber auch eine ziemliche Rolle, Auden, Wystan HughAuden war in jenen Jahren (ich weiß jetzt nicht einmal, ob bis ans Ende seines Lebens) Wahl-Österreicher, er lebte nicht nur in Österreich, er bewohnte das Haus Josef Weinheber, JosefWeinhebers, über den er damals ein langes (umstrittenes) Gedicht schrieb.

* Siehe Anm. zu Brief Nr. 20

** Auden, Wystan HughAuden übersetzte EB; vgl. Das Mehr gespalten, S. 195

An Werner Helmich, WernerHelmich, 8. August 2013 Nr. 86

Denke ich an meine Zeit und Zeitgenossen, glaube ich über Lec, Stanislaw JerzyLec und Canetti, EliasCanetti schreiben zu müssen, so wenig es mir danach ist, auch interessiert es mich kaum noch. Also beginnen wir damit, wenn Sie erlauben und dazu bereit sind: Ich lege meinen Briefwechsel mit Stefan Kaszyński, StefanKaszyński zu Lec, Stanislaw JerzyLec bei. Und meine Tagebuchreflexionen über Canetti, EliasCanetti, Sie tun Ihren Senf dazu oder dämpfen mich, nur das Nötige und Plausible durchlassend.

Die Ähnlichkeiten sind immer das Befremdliche

Canetti, EliasCanetti entdeckt Pessoa, FernandoPessoa* und stellt erstaunt, zufrieden und fast dankbar fest, dass Pessoa, FernandoPessoa und er während dreißig Jahren Zeitgenossen waren. Ähnlich erging es mir mit ihm, Canetti, EliasCanetti, anlässlich eines Vergleiches zwischen ihm und mir. Dass man Zeitgenosse ist, will etwas heißen, was macht es aber aus, und warum will man Zeitgenosse eines Nichtgenossenen sein? Was machen die zwischen uns liegenden, klaffenden, trennenden Jahren aus? Es läuft auf den Zeitgeist hinaus. Lebten wir in Zeit und Geist genössisch? Unverwandt sehen wir uns an, als Verwandte wenden wir uns voneinander ab. Alle Verwandlungen laufen aufs Verwandte hinaus.

Canetti, EliasCanetti geht weit, ist immer, in allem weitgehend, bleibt aber kreisend im Umkreis seiner Gedanken, auf den einen fixiert, der seine Kreise stört. Seine Bilder wechseln, der Rahmen bleibt, die Wand wird neu getüncht. Er will über seinen Horizont hinaus, bleibt gern „unter der Sonne“, am liebsten bei seiner Leselampe.

Von Hanser habe ich die letzten Aufzeichnungen Canetti, EliasCanettis und eine Auswahl seiner Aussprüche über Dichter erhalten.** Nicht alles von Gewicht, nicht alles hat Substanz, manches ist gezwungen, wie wenn es ihm schade wäre um seine Lektüre. Er will das Buch nicht umsonst gelesen haben. Die vergeudete Zeit darf nicht auch verlorengegeben werden. Reflexion und gefälltes Urteil rechtfertigen die verlorene Zeit als Zeitvertreib.

Ins Bild gerückt, fällt der Rahmen auf. / Viele Bilder sind Rahmengeschichten. / Das beweist mir, dass unter demselben Titel / jeder ein anderes Buch liest

Vor allem will Canetti, EliasCanetti etwas gesagt haben, darum hört er nicht auf zu lesen. Kraus, KarlKraus war die Schule seines Lebens, seine Ohrmuschel hat Kraus, KarlKraus geformt. Was Abraham Sonne, AbrahamSonne*** ihm bedeutete, hat er lang und breit zu sagen versucht, klar ist es nicht geworden. Sonne, AbrahamSonne war ein weiser Mann aus Galizien, aus dem man schwer klug werden konnte, aus dem niemand klug geworden ist. Das spricht für seine Dichtung, die ihre Fürsprecher bis heute hat. Er war der Dichter schlechthin. Er musste nur seinen Mund öffnen oder auch nur seine Augen. Sie spielten eine größere Rolle als die Handvoll Gedichte, die er meinte hinterlassen zu haben. Die Hinterlassenschaft wurde an- und ernst genommen, 14 Gedichte. Von Sonne, AbrahamSonne weiß ich kein Lied zu singen, hätte aber einiges zu berichten und ein Wort zu sagen.

* Fernando Pessoa, FernandoPessoa (1888–1935): Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Zürich: Ammann 2003; Wenn das Herz denken könnte … . Sätze, Reflexionen, Verse und Prosastücke. Ausgewählt von Marie-Luise Flammersfeld und Egon Ammann. Zürich: Ammann 2006

** Elias Canetti, EliasCanetti: Über den Tod. Mit einem Nachwort von Thomas Macho. München: Hanser 2003; Über die Dichter. Mit einem Nachwort von Peter von Matt. München: Hanser 2004

*** Abraham Sonne, AbrahamSonne (1883–1950): hebräischer Lyriker, österreichisch-israelischer Literaturkritiker und Gelehrter. Canetti, der ihn 1933 kennenlernte, schildert ihn als Dr. Sonne, AbrahamSonne in seinem Memoirenband „Das Augenspiel“.

Von Werner Helmich, WernerHelmich, 8. August 2013 Nr. 87

Ich kenne Ihre beiden Zeit- und Gattungsgenossen recht gut: Lec, Stanislaw JerzyLec habe ich frühzeitig als Germanistikstudent verschlungen, mir alle „Unfrisierten Gedanken“ gekauft, natürlich alles auf Deutsch, also über Dedecius, KarlDedecius. Mein Eindruck bei ihm – ich habe ihn lange nicht wiedergelesen – ist, dass er seine Wirkung in Deutschland neben Dedecius, KarlDedecius stark dem Kalten Krieg verdankt. Der Aphorismus als subversive Gattung gegen die Grabeshülle der Zensur, und gerade beim polnischen Nachbarn, das hat uns Germanisten damals fasziniert. Bei Canetti, EliasCanetti ist es komplexer, über ihn habe ich in Bologna mehrfach gesprochen und halte ihn – neben dem Narrativen, vor allem der selbststilisierenden Autobiographie – für einen sehr komplexen Aphoristiker mit einem großen Reichtum an subtilen Pointen. Warum er Ihnen in vielem fremd bleibt, glaube ich auch zu ahnen – es dürfte letztlich mit seiner Weltanschauung zusammenhängen. Ich bin leider durch die Lektüre des erschütternden Briefwechsels Veza Canetti, VezaCanettis mit seinem Bruder Georges* vor ein paar Jahren auf manche dunkle Seite bei ihm gestoßen – eine zu genaue Kenntnis der Biographie ist immer eine schlimme Voraussetzung zur literarischen Würdigung.

Wie Sie über sie schreiben, kann Ihnen niemand vorschreiben, am allerwenigsten ich. Ich vermute, das Ihrem Duktus Angemessenste ist auch hier eine Gattungsmischung, wie Sie sie mit dem Briefwechsel schon andeuten. Ob Sie die beiden beurteilen sollen wie ein Kollege, d.h. Konkurrent (aber mit einem völlig anderen Schwerpunkt!) oder wie ein Literaturkritiker, lässt sich von außen nicht entscheiden. Kraus, KarlKraus und Sonne, AbrahamSonne** aus einer anderen Perspektive als Canetti, EliasCanetti – ebenfalls gut. Könnten Sie sich vorstellen, in Lec, Stanislaw JerzyLec und Canetti, EliasCanetti neu als Leser einzutauchen, und sei es für ein paar Tage – um eine historische Lektüreerfahrung mit der jetzigen zu vergleichen: Lec, Stanislaw JerzyLec und Canetti, EliasCanetti wiedergelesen? Ich weiß aber nicht, ob da ein starker Widerwille (vermutlich vor allem gegenüber Canetti, EliasCanetti) blockiert, ob Sie also eine solche Neulektüre überhaupt interessiert. Wenn Ihnen beide gar nichts mehr sagen, würde ich nicht über sie schreiben.

* Elias und VezaCanetti, EliasCanetti, Veza Canetti: Briefe an Georges. München: Hanser 2006

** Vgl. Anmerkung zu Brief Nr. 86

An Werner Helmich, WernerHelmich, 8. August 2013 Nr. 88

Wahrnehmung, Eindruck, Analyse. In der Zeit lebend, an Zeitgenossen vorbei. Auch das Früher hat die Verspätung in sich. „Später einmal“, sagen wir. Auch bei der Analyse spielt der Eindruck eine Rolle, während Sie den Text analysiert haben wollen. Diesem Wollen ging der Eindruck voraus, und „er bleibt in der Gegend“. Tagebuch ist ein Zeitphänomen. Sie schreiben keine Tagebücher, Sie lesen und besprechen – und schreiben Ihr wissenschaftliches Hauptwerk. Es wird zu lesen ein Vergnügen sein, und nach allen Richtungen belehrend. Ich schreibe „apodiktisch“ (so heißt es), aber nicht belehrend, vor allem nicht erklärend (wozu ich keine Begabung habe).

Mein Leben ist vorbei, geblieben sind Eindrücke, viele von ihnen könnte man Erinnerungen nennen, sie sehen danach aus. Einige davon waren einmal Lektüren und Lesefrüchte. Urteile wollen gefällt werden, Gerechtigkeit kommt nach dem Gericht, geht ihm nicht voraus. Wollte ich über Canetti, EliasCanetti und Lec, Stanislaw JerzyLec schreiben, ich folgte Ihrem Rat, das Resultat wäre das von Ihnen erwartete: ein Aufsatz, und wäre er noch so kurz, die Lektüre müsste jedenfalls lang sein. Nun schreibe ich keine Aufsätze.

„Bei meiner Arbeit verfiel ich zunächst in meinen alten Fehler: während des Schreibens geriet ich nämlich wieder in die Gebärde der Abhandlung hinein. Eine Abhandlung schreiben aber kann ich nicht.“ (Ferdinand Ebner, FerdinandEbner, Freitag, 6. Dezember 1918, Schriften 2, S. 854)

Und wäre ich dazu fähig, Ihre Fähigkeit ginge weit über meine hinaus, niemals würde ich mit Ihnen konkurrieren wollen. Also zugegeben: Wissenschaftlich – „eng am Text“ – sind meine Urteile wertlos. Auf einen kleinen Teil meiner Zeitgenossen habe ich zeitgenössisch, verspätet oder verfrüht reagiert, in meiner Zeit, nicht auf der Uhr, nicht auf die Minute, weder gerecht noch ungerecht. Die Reaktion fand in Briefen und Tagebüchern statt, aus Tagebüchern und Briefen können sie geholt – nicht frisiert werden. Das tue ich eben: meine Tagebücher und Briefe durchkämmen. Meine Unzulänglichkeit kommt dabei heraus, gegen sie ist kein Kraut gewachsen, auch eine eingehende Lektüre wäre nur Bitterkraut. Wer bräuchte sie denn? Sie haben Recht, wenn Lec, Stanislaw JerzyLec und Canetti, EliasCanetti mich nicht mehr interessieren, dann soll ich über sie nicht schreiben, sie auch nicht wieder lesen. Nun habe ich sie anno dazumal aber doch gelesen und bin nun dabei, meine „Erinnerungen“ zu schreiben. In diesen Rahmen sollten sie hineinwachsen oder hineingepasst werden. Das war die laute Frage eines schlechten, immer stiller werdenden Gewissens.

An Hans-Martin Gauger, Hans-MartinGauger, 9. Oktober 2013 Nr. 89

Reich-Ranicki, MarcelReich-Ranicki war der echte – von allen Seiten kritisierte Kritiker; ein Glück, dass die Akademie ihn dreimal nicht wählte. Sein Fehlen wird den Blick auf ihn schärfen. Bei mir beginnt es schon, bei Dir auch, das zeigt das Ausrufezeichen: „Dieser Ruhm ist ein Phänomen!“ Der Ruhm war schon immer, umstritten wachsend, da, den verdeckten fördert Dein Ausrufezeichen hervor – auch er wird umstritten wachsen, weil niemand diese Lücke ausfüllen könnte. Ob aber diese Lücke lange spürbar bliebe? Der Berg von Namen, über den er mit seinem Ruhm sitzt oder steht, wird immer kleiner, am Ende bleibt vielleicht nur ein Reich-Ranicki, MarcelReich-Ranicki-Hügel. Er war weise genug, sein Schreiben in Ton und Bild zu retten. Aber das ist nicht das, was mich bewegen wird, sobald ich über ihn schreiben kann. Er hat viel Ergreifendes an sich, was Kritiker in der Regel ja nicht haben. Reich-Ranicki, MarcelReich-Ranicki mit seiner Passion für Literatur gehört mehr in die Geschichte als zur Literatur. Denke ich an Deutschland (nach 1950) in der Nacht, sehe ich auch das Aufgehen dieses Sterns, den ich selbst 1963 für ein Irrlicht hielt. Ich war damals in Hamburg. Halt, da falle ich in Erinnerungen zurück. Von seinem Tod habe ich aus einer hebräischen Zeitung erfahren. Er hatte für meine Arbeit kein Verständnis, aber Respekt und war derjenige, der pünktlich für Besprechungen meiner Kleinbücher sorgte; als er wegging, herrschte lange FAZ-Stille um meine Bücher. Als er seinen ersten Vortrag hier im Goethe-Institut halten sollte, ließ er mich es Wochen davor wissen, ich sollte unbedingt dabei sein. Ich hatte es als „Bangen“ verstanden.

An Martina Kraut, MartinaKraut, 16. Oktober 2013 Nr. 90

Heute bekam ich einen dicken, schweren Gruß aus Weinsberg (Kerner-Haus), er enthielt u.a. eine Anthologie, in der auch ein Gedicht Kerner, JustinusKerners abgedruckt ist: Grund der Sendung, die Anthologie beschäftigt mich aber – des Titels wegen, er heißt: „Die besten deutschen Gedichte. Ausgewählt und herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki, MarcelReich-Ranicki.“* Ob es diesen Titel schon gegeben hat? Ich würde gern darüber schreiben, zumal ich ohnehin an Reich-Ranicki, MarcelReich-Ranickis Erscheinung denken muss.

So einfach – „die besten“, und dies, ohne Dichter zu sein. Es gab einmal einen Poeten hohen Ranges, einen durchaus kühnen Menschen, Rudolf Borchardt, RudolfBorchardt, seine Anthologie nannte er „Ewiger Vorrat deutscher Poesie“**. Auch darüber kann man streiten, dabei hätte man’s aber mit der Ewigkeit zu tun. Für einen geheuteten wie mich schwer zu denken. Titel wie Namen, die Übereinstimmung beider, beschäftigen mich. Was mich verblüffte, ging mit dem Namen des Herausgebers auf. Der Name deckt den Titel, einzig dieser Name – Marcel Reich-Ranicki, MarcelReich-Ranicki –, der alles enthält, was wir von ihm zu sagen wissen. Die schönsten Gedichte kennt jeder, der Gedichte liest oder liebt, die besten nur Reich-Ranicki, MarcelReich-Ranicki. Der Titel geht zwingend aus dem Namen hervor (nicht aus seinem Vorwort).

* Marcel Reich-Ranicki, MarcelReich-Ranicki (Hg.): Die besten deutschen Gedichte. Frankfurt: Suhrkamp 2012

** Rudolf Borchardt: Ewiger Vorrat deutscher Poesie. München: Verlag der Bremer Presse 1926

Von Werner Helmich, WernerHelmich, 8. November 2013 Nr. 91

Seit mehr als einem Monat sitze ich nun von früh bis spat an dem erzkatholischen, aber auch wohltuend verrückten kolumbianischen Aphoristiker Gómez Dávila, NicolásGómez Dávila, um meine weit auseinandergehenden Leseeindrücke zu einem einigermaßen homogenen Aufsatz zu verwursten, für den mir nicht einmal ein Seitenzahllimit vorgegeben worden ist, und das ist bei Zeitschriftenaufsätzen selten.* Die Schwierigkeit ist: Manches von ihm finde ich sehr gut (und ich bin literarisch eher streng) und vieles sehr schlecht, und beides werde ich in irgendeiner Weise auch sagen und begründen müssen (wenn auch in verschiedenen Kapiteln), auch wenn mich die stark gespaltenen Forschergemeinden dann zweifach zerreißen werden – und die kolumbianische Hausmacht obendrein, für die er ein Nationalheiliger ist, obwohl er öffentlich geschrieben hat: Lo que comparto con mis compatriotas es sólo mi pasaporte (Sie werden das sicher auch ohne Übersetzung verstehen). Zwischen alle Stühle – da gehört der Kritiker hin.

* Werner Helmich, WernerHelmich: Gómez Dávila, NicolásGómez Dávila, Skandalon und monstre sacré. Ein Klärungsversuch. In: Roman. Zs. f. Literaturgeschichte 38, 2014, S. 431–482

An Werner Helmich, WernerHelmich, 22. November 2013 Nr. 92

Die Lesereise war zu lang und zu wenig ergiebig, ich freue mich, zur vertrauten Landschaft meines Schreibtisches zurückgekehrt zu sein, zu meinem Briefwechsel aus Holz, zu Ihrem „erzkatholischen, aber auch wohltuend verrückten kolumbianischen Aphoristiker Gómez Dávila, NicolásGómez Dávila“, der immerhin schöne Blüten zu treiben scheint zwischen Graz und Jerusalem. Ich müsste rufen: Her mit ihm, mehr von ihm! Damit geizen Sie, freilich mit Grund und Rüge: „Was Sie nicht auf Spanisch lesen können, muss Ihnen spanisch bleiben“. Ich hatte einst die Fähigkeit, alle Sprachen auf Hebräisch zu lesen. Mit dem Deutschen waren auch diese Kreise gestört. Nun denke ich mit Ihnen über die Schwierigkeit nach:

„Manches von ihm finde ich sehr gut (und ich bin literarisch eher streng) und vieles sehr schlecht, und beides werde ich in irgendeiner Weise auch sagen und begründen müssen (wenn auch in verschiedenen Kapiteln), auch wenn mich die stark gespaltenen Forschergemeinden dann zweifach zerreißen werden – und die kolumbianische Hausmacht obendrein, für die er ein Nationalheiliger ist, obwohl er öffentlich geschrieben hat: Lo que comparto con mis compatriotas es sólo mi pasaporte (Sie werden das sicher auch ohne Übersetzung verstehen).“

Es sieht nach „heikel“ aus, und ich gestehe, versucht gewesen zu sein, Ihren Text zu analysieren (ich fragte mich z.B., warum Sie schreiben „und ich bin literarisch eher streng“). Die schlagende Antwort geben Sie dann selbst: „Zwischen alle Stühle – da gehört der Kritiker hin.“ Genauer kann man den Ort des Kritikers nicht beschreiben, er ist der Herausgeforderte, ist es schon darum, weil er mehr und viel mehr wissen muss als der Autor, den er kritisiert. Über das Zwischen-den-Stühlen als festen Ort könnte noch weiter nachgedacht werden, hingegen kaum über: „Manches von ihm finde ich sehr gut … und vieles sehr schlecht.“ Ich schaue mir den Satz an, da steht manches gegen vieles, es ist ein Erwägen, schwer genug, auch heikel, weil es scheinbar ein Urteil enthält – allein vom Erwägen bedingt. Denn sagten Sie nur das eine oder das andere, wäre es nicht der Fall, es wäre eher das Normale „manches finde ich gut“, „vieles finde ich schlecht“. Eine Situation entsteht, die gewöhnliche eines Lesers, der nicht ohne Grund hingerissen werden will. Im Buch, das er liest, findet er „manches sehr gut“, im Buch, das er liest, findet er „vieles sehr schlecht“. Über das „sehr“ könnte man streiten. Ich ließ diese Zeilen über mich ergehen. Ich kenne nach wie vor Gómez Dávila, NicolásGómez Dávila nicht, ich werde mit ihm oft zusammen genannt, demnach wäre ich so gut und so schlecht wie er, scheint auch er nicht viel anderes gemacht zu haben als Aphorismen – ein Leben lang.* Kann ein „Lebenslang“ anders verlaufen, anderes zeitigen als „manches sehr gut und vieles sehr schlecht?“ Ist es eine berechtigte Frage überhaupt? (Aber sind „gut und schlecht“ überall gleich, auf alle Formen anwendbar? Wenn schlecht aber misslungen ist, könnte man nicht sagen: nicht gut, nicht recht, nicht wohl geraten? Wer müsste nicht, wenn er nur könnte, von seinem Tun und Lassen sagen? Das Lassen im Tun, das Aus- und Weglassen im Schreiben.) Sie scheint berechtigt zu sein, doch eher im Kleinen als im Großen oder Größeren. Auf einen Romanschreiber könnte dies nicht zutreffen, mit dem ersten schlechten Roman wäre er erledigt. Im Großen sieht man den Meister am Werk, im Kleinen nicht, sieht nur das „Tag-für-Tag“ und die Routine. Blitzgescheit und blitzgescheitert.

Fein und nobel, wie man ist, erwartete man auch vom Klugen nicht, dass er täglich weise sei, dass seine Sprüche immer träfen oder umwerfend wirkten. Das sehe ich ein, so sehr ich mich dagegen wehren möchte. Es wird mir nie gelingen, ich habe hunderte, ja tausende Einsätze geschrieben, Wortfügungen in die Welt gesetzt – alles ein Gefüge, keine Fügung. Es bleibt die ärgerliche – nicht zu umgehende, nicht zu entscheidende – Frage des Niveaus. Wie ranghoch muss man sein, um darüber entscheiden zu können. Ich bilde mir ein – und falle aus dem Rahmen.

* Einsamkeiten. Glossen und Text in einem. Ausgewählt und aus dem Spanischen übertragen von Günther Rudolf Sigl. Wien: Karolinger 1987; Auf verlorenem Posten. Neue Scholien zu einem inbegriffenen Text. Aus dem Spanischen von Michaela Meßner. Wien: Karolinger 1992; Aufzeichnungen des Besiegten. Fortgesetzte Scholien zu einem inbegriffenen Text. Wien: Karolinger 1992; Notas. Unzeitgemäße Gedanken. Berlin: Matthes und Seitz 2006; Scholien zu einem inbegriffenen Text. Wien, Leipzig: Karolinger 2006; Scholien. Ein Nachtrag. Wien, Leipzig: Karolinger 2014

Von Werner Helmich, WernerHelmich, 27. November 2013 Nr. 93

Über die GD-Arbeit* will ich gar nicht weiter klagen, auch wenn sie mich nach wie vor stark beschäftigt. Sie müssen im Übrigen nicht die Befürchtung haben, das, was ich in meiner leidenschaftlichen Auseinandersetzung so über ihn sage, könne insgeheim auch auf Sie gemünzt sein: nein, nein! Sie denken und leben ganz und gar anders als er, vor allem gehen Sie mit den aphoristischen Verfahren völlig anders um, andererseits ist es aber für die Spannweite der Gattung schon interessant, dass Sie trotz aller tiefgreifenden Unterschiede doch beide kluge und erbauliche Aphoristiker sind (dass das bei mir einen eigenen Klang hat, wissen Sie) und Lust an der Pointe haben, also noch in ein gemeinsames Haus gehören. Es gibt immer noch gute Gründe, gegen Croce, BenedettoCroce und andere an der Vorstellung festzuhalten, es gebe so etwas wie Gattungstraditionen – die wüste Welt wird dadurch punktuell ein bisschen ordentlicher.

* Arbeit an dem Aufsatz über Gómez Dávila, NicolásGómez Dávila; siehe Anmerkung zu Brief Nr. 91

An Burkhard Talebitari, BurkhardTalebitari, 16. Dezember 2013 Nr. 94

Als mir H. G. Adler, Hans GünterAdler* mitteilte, er schriebe seine Gedichte auf der Schreibmaschine, empfand ich eine Abscheu gegen ihn; die Mitteilung, die nackte Tatsache, reichten mir, sein „Dichtertum“ in Zweifel zu ziehen. Warum in Zweifel ziehen, ist die eine Frage; wer in Frage gezogen werden soll – die andere. H. G. Adler, Hans GünterAdler galt als Schwieriger und hat sein Gelten verdient. Er hatte die Physiognomie seiner Bücher: nicht zu bestechen, nur zu erobern; zu bewundern, nicht zu lieben; mit der Liebe war es vorbei, auch mit der Toleranz, geblieben sind: der Rang und die wortkarge Bewährung. Ich besorgte mir eine Schreibmaschine. Die Füllfeder habe ich weder abgeschafft noch abgegeben, die Versuchung lag nah und sie zog nach sich das Versuchen und Üben. Das hat – weil Du mich fragst – mit meiner späteren Einstellung zu seinen Gedichten nichts zu tun, ich habe sie damals, zur Zeit unserer Freundschaft, gelesen, und zehn oder zwanzig Jahre später wieder, immer von Reuegefühlen begleitet darüber, dass ich ihm als Lyriker keinen Rang zuzusprechen vermochte. Die Frage des Ranges ist eine dringende, schwer zu entscheidende. Es kommt ja nicht selten vor, dass ein Dichter-ohne-Rang ein umwerfendes Gedicht schreibt, das man nicht wieder vergisst; nicht wenige dieser Art sind mir auf meinem Lebensweg begegnet, keines davon stammte von H. G. Adler, Hans GünterAdler. Aber auch das kommt vor und lässt sich kenntlich machen: ein Mensch von Rang, sein Leben tadellos, seine Prosa einwandfrei, seine Lyrik, um das eine Gedicht ringend – und ohne Erfolg. Aber was ist schon ein Gedicht gegen eine Romanfülle, die überwältigt? Nichts, nur ist Dichtung mit Adel verbunden, Prosa nicht. Auch der Gröbste leidet, wenn man ihm sagt, er wäre nicht von Adel. Nicht zu fassen, doch auch gefasst, ergäbe es keine Poesie.

* Siehe Anm. zu Brief Nr. 20

An Werner Helmich, WernerHelmich, 9. August 2015 Nr. 95

Ich spekuliere gern um die Romanistik herum. Germanistik denke ich mir als „Verband von“, Romanistik „als Kreis um“. Nicht alle Romanistik ist fein und nobel, Germanistik oft brutal, oft banausisch, was die Romanistik nicht zu sein „pflegt“. Ich selbst bin so gar nicht Romanist, mir ist sie die Entdeckung auf dem Weg zur Germanistik. Ein Romanist kann nicht schreiben, ohne sich zu porträtieren, was ihm mehr fremd als erwünscht ist, es geht nicht anders, wenn man immer mit der Waage schreibt. Germanistik kennt die Waage nicht, nur die falschen und echten, meistens die schweren, dicken und groben Gewichte (Steine). Es geht selten ums Gesicht, es geht fast nur ums Können, und wenn man endlich schreibt, dann – nieder!

Bei den Romanisten, die ich – eine ziemliche Anzahl von ihnen – liebe, fand ich dieses Niederschreiben nicht. Kritisch wohl, bis ätzend, allerwegs elegant. Und wie gut und hilfreich waren schon immer die deutschen Romanisten! Auch die Charakterschwachen, bis auf einzelne Gauner, die man kennt, weil auch sie nicht wirkungslos blieben.

An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 1. November 2015 Nr. 96

„Du / Eine Rühmung“ von Kurt Marti, KurtMarti* kenne ich nicht, das sei meinem nächsten Schweizer Aufenthalt vorbehalten. Ob ich mich zu einem Werkdialog mit Marti, KurtMarti bringen könnte, ist eine Frage, da ich mit Lebenden nicht spreche, das tu ich in meinen Tagebüchern. Dank Dir kann ich zum ersten Mal Bücher von Marti, KurtMarti lesen, ganze Bücher, und ihm nach und nach auf den Grund kommen. In seiner Art und Haltung steht er mir schon vor Augen, als Dichter muss er mir erst vertraut werden, so einheitlich seine Person auch ist – in ihren Aussagen; verschieden sind seine „Macharten“. Im Theologen Marti, KurtMarti dominiert der Gemeinsinn (er steht nicht nur in der Gemeinde und ihr vor, er geht ihr auch voraus, in dieser Rolle wirkt der Prediger als Einpräger und Imprägnierer); in der Poesie dominiert der Eigensinn. In der Theologie hat es Marti, KurtMarti – auch im Sinne der „Konkurrenz“ – leichter als in der Poesie, wo er sich besser und genauer umschauen – und sich „vorsehen“ muss; da sehen andere zu, wird ihm anders auf die Finger geschaut.

* Kurt Marti, KurtMarti: Du. Rühmungen. Stuttgart: Radius 2008; zu Marti, KurtMarti vgl. Anmerkung zu Brief Nr. 101

An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 13. November 2015 Nr. 97

Von Deiner Schwester* gabst Du mir in Bern** „Als sei ich von einem andern Stern / Jüdisches Leben in Montreal“ (2011)***, das ich auch gleich gelesen habe, ein lohnendes [Buch] (vom Ergreifenden braucht nicht geredet zu werden), aus lauter Distanzen kommend, lässt es sich als literarisch origineller Versuch betrachten. Die erzählenden Personen gingen mich alle an, interessiert hat mich vor allem Deine berichtende Schwester. Was mir bei ihr, an ihr gefällt: Sie pflegt eine Diktion der Anständigkeit. In der Literatur muss immer etwas gekrümmt, etwas zurechtgebogen werden. Davon bleibt sie frei, bleibt auch in ihrer strengen Freiheit. So war sie schon in den „Häutungen“. Dass sie zu leiden hat, tut mir weh, ich spüre es. Ich liebe ihre Anständigkeit, die weder Ab- noch Ausweichen kennt. Das kann man riechen.

* Verena Stefan, VerenaStefan, geb. 1947 („Häutungen“, 1975; „Fremdschläfer“, 2007; „Die Befragung der Zeit“, 2014), gestorben 2017 in Montreal

** Lesung in der Berner Synagoge, 22. Oktober 2015, mit Improvisationen von Daniel Glaus, DanielGlaus

*** Verena Stefan, VerenaStefan, Chaim Vogt-Moykopf (Hgg.): Als sei ich von einem anderen Stern. Jüdisches Leben in Montreal. Heidelberg: Das Wunderhorn 2011

An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 10. Dezember 2015 Nr. 98

Bewegt, gerührt und leicht erschüttert teile ich Dir mit, dass eben, am 5. Tag Chanukka, die helvetisch-martinische Ziegelbibel* bei mir eingetroffen ist, eine Aug- und Herzweide. Ich komme aus der ersten Bewunderung nicht heraus, man gewinnt den Eindruck, dass es nicht nur ein Leben birgt, sondern auch den angemessenen Lohn für ein beispielhaftes Leben. Du hast mich – auch noch leichenredend** – verwöhnt und reich – und Leich beschenkt, wie dankt man dafür?

Um einen solchen Marti, KurtMarti müssen Generationen beten. – „wa’ani lo jadati“ (und ich wusste es nicht), sagt Jakob nach seinem Erwachen (Gen. 28, 16). Mehr lohnt sich jetzt nicht zu sagen, den Dank sollst Du brühwarm erhalten.

* Kurt Marti, KurtMarti: Notizen und Details 1964–2007. Zürich: Theologischer Verlag 2007. Der Band ist mit 1422 Seiten im Bibelformat ziegelsteinschwer.

** Anspielung auf Kurt Marti, KurtMarti: Leichenreden. Neuwied: Luchterhand 1969; München: Dt. Taschenbuch-Verlag 2004

An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 14. Dezember 2015 Nr. 99

Das Fehlen Silja Walter, SiljaWalters bei Marti, KurtMarti* ist ein Faktum und unveränderlich. In dieser seiner Welt hatte sie keinen Raum. Gespräch und Bücherschrank sind andere Welten. Ich stellte – und nur, weil ich gerade auf sie stieß – ihr Fehlen einfach fest. Ich war darüber keineswegs „erschüttert“. Marti, KurtMarti muss Silja Walter, SiljaWalter nicht schätzen, ich – ob ichs Dir gestehen darf? – schätze manche Flächen bei ihr auch nicht. Sie ist nicht umsonst und nicht von ungefähr Schwester Hedwig geworden. Ich musste mit ihr ringen, mein Ringen gründete auf Freundschaft und Instinkt, mein Instinkt bewährte sich, das Ringen ward mir nicht erspart. Das alles hätte Kurt Marti, KurtMarti nicht nötig. Du weißt, dass ich ihn schätze und nun auch liebe, ich bin ziemlich blind für ihn, aber ich bin nicht blind gegen seine Schwächen, auch in den Notizen** gibt es Entbehrliches, das „man“ nicht gern entbehrte, weil dies sein Charme ist: sich möglichst viel vorzunehmen und nicht nachzulassen. Er spricht von allem, was ihm nicht fremd bleiben soll, denn er will nicht, dass etwas Menschliches ihm fremd bleibe, die Hauptsache bleibt, dass er spricht und nicht redet, und die Art seines Sprechens ist unter allen Umständen Nähe suchend.

* Schwester Otto F. Walter, SiljaWalters; vgl. Ulrike Wolitz, UlrikeWolitz; siehe das Verzeichnis der Briefpartner(innen)

** Zärtlichkeit und Schmerz. Notizen. 2. Auflage. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1979

An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 30. Dezember 2015 Nr. 100

Ich säumte lange mit diesem Brief, der zu einem Buch auszuwachsen drohte. Dann kam ich (bei mir) ins Gespräch mit Marti, KurtMarti, und das Schreiben erübrigte sich. Danach gab ichs auch auf: Was soll ich ihn mit Schriftzügen überfahren. Nun wollte ich ihm doch einen Gruß schicken, einen kleinen Dank aus der Verspätung heraus und aus dem Land seiner Bibel. Zum Neujahr erreicht es ihn nicht mehr, vielleicht über Dich aber schneller, jedenfalls sicherer. In den Neujahrspostsäcken gingen diese Zeilen für lange unter. Auf die Unterschrift kommt es sowieso nicht (mehr) an.

Wenn Du kannst, lese ihm die Zeilen oder lass sie ihm zukommen auf einem der kurzen Wege, die Du kennst.

30.12.2015

Lieber Dichter, verehrter Herr Marti, KurtMarti,

jede Zeit hat ihre Verspätung.* Der Satz könnte noch zu KoheletKohelet gehören, den Sie so lieben wie ich. Mit Ihrem Buch über ihn**, mit Ihrer Übersetzung seines Buches, habe ich meine – eben verspätete – Marti, KurtMarti-Lektüre begonnen. So sind Ihre Bücher – mir rührend herzlich von Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan geschenkt – eine Erinnerung nach vorn. Wo immer ich aufschlage, bin ich mittendrin. Marti, KurtMarti ist eine Stadt, wohnlich, für ein gutes Leben eingerichtet, das aber ehrlich verdient werden muss, wenn man sein Gesicht in der Stadt zeigen will. Es zeigt sich nicht in Marti, KurtMarti, es muss ein jeder sich zeigen können. Ich weile seit 2 Monaten in Marti, KurtMarti, lerne alle Quer-, aber auch alle Kreuzverbindungen.

Habe viele Bekannte schon, darunter alte und sehr alte, wie Ihren Freund Rainer Brambach, RainerBrambach, den ich in einem Buch zitiere, und zwar aus dem schmalen Band „Tagwerk“***, den Sie gerade aus dem Regal ziehen, da Sie vom Tode Brambach, RainerBrambach, RainerBrambachs hören, wobei – wie immer bei Ihnen, wenn Sie ein Buch aus dem Regel hervorholen – ein Zeitungsausschnitt herausrutscht. Eine schöne, mir vertraute, nicht ganz „gesunde“ Gepflogenheit, weil sie dem Buch nicht bekommt. Zeitungspapier, zwischen Buchseiten gepresst, hinterlässt Spuren. Nun gehören aber auch die eingefalteten Zeitungsauschnitte zu Ihrer Geschichte mit dem jeweiligen Buch. Man sieht Sie und sieht Ihnen zu, vor dem Regal stehend: Erinnerungen zusammenrufen, Gedanken sammeln, die Worte denkmalend. Etwas will heraus, etwas zum Stehen kommen. In Marti, KurtMarti ist gut spazieren, und Kurt Marti, KurtMarti begleite ich gern durch seine Stadt, in der er nie das Sagen hatte****, aber die nicht zu übersehende Unbeirrbarkeit in Wort und Schrift und Bild. Das Tintenfass gab alle Tropfen in Königsblau her, federführend soll ein anderer werden, doch wo nimmt man einen Pfarrer, der Gedichte spricht und nicht die Leviten liest. Vielleicht machen wir im nächsten Jahr noch einen kleinen Ausflug in Marti, KurtMarti oder mit Ihnen, bei Ihnen.

* Am 23. Oktober 2015 hatte sich eine persönliche Begegnung von E. B. mit dem hochbetagten Schriftsteller-Kollegen Kurt Marti, KurtMarti (1921–2017) ergeben.

** Kurt Marti, KurtMarti: Prediger Salomo: Weisheit inmitten der Globalisierung. Stuttgart: Radius 2002; vgl. Variationen über ein verlorenes Thema, S. 153f.

*** Anm. EB: Brambach, RainerBrambachs „Tagwerk“ ist 1959 bei Fretz & Wasmuth in der Akazienreihe erschienen, in der sollte auch ein Gedichtband von mir, mit einem Vorwort von Margarete Susman, MargareteSusman, erscheinen, wozu es aber nicht gekommen ist. Als Muster wurde mir Brambach, RainerBrambachs „Tagwerk“ geschickt, das mir bis heute lieb geblieben ist, das Zitat daraus lautet: „Ausgesungen ist das Miserere, / nichts als Schnee liegt auf dem leeren Dach“.

**** Kurt Marti, KurtMarti war von 1961 bis 1983 Pfarrer an der Nydeggkirche in Bern. Er engagierte sich im Kampf gegen Atomwaffen und die US-Intervention in Vietnam. 1972 verweigerte ihm der Regierungsrat des Kantons Bern aus politischen Gründen eine Professur für Homiletik an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bern.

An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 1. Januar 2016 Nr. 101

Marti, KurtMarti legt keinen Wert darauf, groß gedacht zu haben. Das zeigt sich in seinem Willen, kleinzuschreiben. Keiner Erscheinung abhold, zu Schattierungen neigend, ist ihm – wie einst dem Prediger Salomo – das Licht das Süße. Er kommt auf Gott nicht zu sprechen; nicht dafür wird er bezahlt, doch darum ist er Dichter geworden. Gott spricht, wenn wir zuhören. „Gott ist immer noch, nun auch immer wieder das Wunder“ (Spätsätze)*. Im Zurückhalten wie im Zuschlagen – der Prediger als Gentleman. Er lässt keinen sitzen, keinen fahren, läuft nicht mit und bleibt bei sich nicht stehen: Zeitgenosse rundherum und allerwegs. Dies zu bleiben, ist seine Aufgabe. Ob Marti, KurtMarti Aphoristiker ist? Er ist es als Prediger, als Prediger aber doch lieber Dichter. Dahin wollte er, dahin gelangte er, unbeirrbar und bibelfest. Ich kenne kein Aphorismenbuch von ihm, nur einzelne Aphorismen aus Friedemann Spicker, FriedemannSpickers Sammlung bei Reclam**, sie sind nicht überragend.

Kurt Marti, KurtMarti, Heilige Vergänglichkeit. Spätsätze

Das steigende Alter,

die zurückgelassenen Jahre.

Was bleibt einem Alten,

der seine Gedanken hinter sich hat

Im Alter sind auch die Gedanken nur noch Erinnerungen, eingezimmert, ausgeklammert. Die Lust zum Erwachen – auf null gesenkt. Spätsätze – Krümel; man glaubt ihm die Krümel, nimmt sie ihm ab, nicht mehr in den Mund. Die Unheimlichkeiten eines Altersheims sind nicht denkwürdig. Hier sitzen wir, im Altersheim, bei ihm, und freuen uns, wenn er ein Wort fallen lässt oder einwirft. Aus dem Irgendwo und Irgendwann seines Lebens herangedacht oder der Zigarette erzählt, die ihm zur Konzentration verhilft. Seine Gäste sind gemeint und dürfen mithören. Sie werden gehen, die Zigaretten bleiben. Er war noch keine 90, als er seine Spätsätze herausgab: Man sieht dem Buch kein Denken an. Noch ist alles kurz gesagt, doch nicht kürzer. Es fällt ihm schwer, die Silben zu zählen, die Längen zu messen. Er erzählt sich seine Sätze. Die Fragen, die er sich stellt, warten nicht auf Antwort; Warten ist die Antwort; Abwarten. Das Buch – Notizen eines altersschwachen Menschen, der poetisch anständig und fest im Leben stand, ganz im Leben: mit Weib und Wein und Bibel, die Buchstaben fest im Blick, in guter Stimmung auch sie; Prophetisches dämpfend, Gott selbst allein ist das Wunder. Was er im Altersheim denkt, ist nicht mehr wichtig, wichtig ist die – „Schlimme Entdeckung: Ich kann nicht mehr pfeifen“. Und: „Im Licht der langsam entgleitenden Abendsonne wird der Zigarettenrauch märchenhaft blau“. Sein letztes Glaubensbekenntnis:

„Ihm, JesusJesus, glaube ich Gott“. Das ist der letzte, würdige, aufrechte Marti, KurtMarti. Dazu gehört, dass er nicht Christus sagt. (Den Christus hat ihm PaulusPaulus verdorben, siehe S. 34) Seine Leser sind jenseits der Straße und wie hinterm Glas; sie hören ihn nicht, wenn er seine Zigarette raucht und nicht aus der Hand gibt. „Im Licht der langsam entgleitenden Abendsonne wird der Zigarettenrauch märchenhaft blau.“ Der blaue Zigarettenrauch spricht für ihn, das Märchenhafte ist auf keinem dieser Blätter zu finden. Es ging im Leben auf und verraucht nicht.

* Kurt Marti: Heilige Vergänglichkeit. Spätsätze. Stuttgart: Radius 2010

** Friedemann Spicker, FriedemannSpicker (Hg.): Deutsche Aphorismen. Stuttgart: Reclam 2012 (RUB 18695), S. 242f.

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